Raphael

Transcrição

Raphael
SASCHA-SANDRA RENGER
RAPHAEL
Der Engel, der nicht gehen konnte
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PROLOG
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Raphael ließ seine kurzen Beine in der Luft baumeln und hing, wie schon so oft, seinen Gedanken
nach. Die Langeweile, die ihn schon lange begleitete, führte ihn immer wieder zu seinem innersten
Wunsch: Einmal wollte er etwas Großes, Bedeutendes tun. Nur, was sollte das sein? Im Chor
mitsingen? Sicher, das war auch einer seiner Wünsche, doch ob das so bedeutend war? Und schließlich
würde das ja auch nicht so einfach sein, denn jedes Mal, wenn er sich traute, den Chor zu fragen, wurde
er nur ausgelacht. Man sagte, er hätte ein zu dünnes Stimmchen – und sowieso, er sei viel zu klein und
unbedeutend.
»Pah, die werden schon noch sehen, was sie davon haben, wenn sie mich nur immer
herumkommandieren!« Raphael machte dabei eine wegwerfende Handbewegung. Er wollte nicht länger
darüber nachdenken, denn etwas anderes hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Um besser sehen zu
können, legte er sich nun auf den Bauch und konnte so über den Rand seiner kleinen Wolke nach unten
gucken.
Ja, Raphael war ein kleiner einsamer Engel, der von den großen oft herumkommandiert wurde.
Eigentlich sollte er schon längst seiner Aufgabe als Instrumentenputzer nachgehen, doch er hatte
wieder mal keine Lust dazu. Lieber wollte er die Menschen beobachten. Diese Wesen faszinierten ihn.
Sie funktionierten ganz anders, als es sich Raphael von seinem Engelreich gewohnt war. Sie machten
so viele nutzlose Dinge – wobei Raphael seine Aufgabe ja auch als nutzlos empfand – aber das war
natürlich etwas ganz anderes… Die Menschen hatten wenig Zeit, redeten sehr viel und vergaßen oft,
dass in ihrem Innern ein Herz wohnte. Und genau das war es, was Raphael als seine »Mission« empfand.
Er träumte davon, die Herzen der Menschen zu berühren, damit sie sich wieder öffnen konnten. Auch
wollte er diesen wunderschönen Wesen zeigen, dass es doch noch so viel mehr gab, als sie mit ihren
Augen zu sehen vermochten.
»Irgendwann wird meine Zeit kommen«, sagte er sich wieder einmal aufs Neue, erhob sich und
trottete mit seinen etwas zu großen und zu schweren Flügeln davon.
Während Raphael nun die Saiten der großen Harfe reinigte, kam ihm eine Idee, mit deren
Konsequenzen er jedoch nicht im Traum gerechnet hätte. Die Harfe gehörte einem sehr großen Engel,
welcher Raphael gerne herumkommandierte. Nie war er mit Raphaels Arbeit zufrieden. Diese Idee kam
so blitzschnell, dass Raphael erst gar nicht überlegte, und er versteckte kurzerhand die Harfe. Danach
war er sehr beschwingt und stolz auf sich, denn schließlich hatte er sich etwas getraut!
Das Gezeter des Harfenbesitzers war wenig später nicht zu überhören. Der Chor war ratlos, denn
dass ein Instrument verschwand, hatte es noch nie gegeben. Eine Schar kleiner Engel, die sich »die
Eingeweihten von Raphael« nennen konnten, kicherten in sich hinein und amüsierten sich göttlich.
Leider gab es aber darunter einen kleinen Petzengel, der sich bei den Großen mal wieder
einschleimen wollte. Also flog Raphaels Tat auf und der verärgerte Harfenspieler schleppte ihn
kurzerhand zu einem höheren Engel, welcher sich die Geschichte nicht ohne ein kleines Schmunzeln
anhörte. Schließlich kannte er Raphaels Situation und insgeheim bewunderte er sogar seinen Mut.
Trotzdem durfte er diesen kleinen Scherzbold nicht einfach so davonkommen lassen. Vielleicht
wollte er Raphael aber auch nur einen Gefallen tun, um ihn eine Zeit lang von dem verärgerten
Harfenspieler wegzubekommen. Also verdonnerte der hohe Engel Raphael zum Sterneputzen.
Raphael mochte seine neue Aufgabe und machte sich auch mit großem Eifer daran. Doch schon
bald sehnte er sich nach dem Klang der Instrumente und den lieblichen Stimmen des Chors. So
musste es ja kommen, dass auch diese Arbeit ihn zu langweilen anfing. Kurzerhand kehrte Raphael
zurück und verkleidete sich, um nicht erkannt zu werden. Das ging erst auch ganz gut und Raphael
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fand es sehr lustig, dass niemand wusste, wer er war. Doch nicht sich selber sein zu können, war
langweilig und machte Raphael unglücklich. Also heckte der dreiste kleine Engel etwas Neues aus
und dachte sich:
»Wenn mich niemand kennt, könnte ich doch einfach im Chor mitsingen.« Er war ganz aufgeregt
und fand seine Idee umwerfend. Doch leider waren seine Gesangsqualitäten wirklich nicht sehr
hoch und seine Verkleidung flog auf. Diesmal waren alle großen Engel des Chors sehr verärgert. Sie
ließen sich nicht gerne an der Nase herumführen. Also schleppten sie Raphael ein weiteres Mal vor
den hohen Engel.
Dieser war etwas ratlos und wusste nicht recht, was er mit Raphael machen sollte. Sei es dem
göttlichen Plan zuzuschreiben oder einfach dem Zufall (was es eigentlich gar nicht gibt – schon gar
nicht im Himmel), dass ich gerade zu diesem Zeitpunkt ins Spiel komme. Vielleicht muss ich mich
erst einmal vorstellen:
Mein Name ist Melina, und ich bin ein Begleitengel. Meine Aufgabe besteht darin, Engel zu
begleiten, bis sie als Mensch gezeugt sind oder manchmal auch solange, bis sie geboren worden sind.
Ich habe lange genug zugehört, sodass ich weiß, was dieser kleine Engel angestellt hat, und ich habe
auch eine Idee. Raphaels größter Wunsch, Mensch zu werden, ist mir schon lange bekannt. Also
bringe ich dem hohen Engel Raphaels Anliegen vor und erkläre mich auch bereit, mich seiner
anzunehmen. Ich bin gerade frei, denn mein derzeitiger Schützling Benjamin konnte sich noch
immer nicht entschließen. Eigentlich sollte er schon lange geboren worden sein. Doch er hatte bis
anhin viel zu viel Angst. Ich glaube auch kaum, dass sich das so schnell ändern wird. Also kann ich
mich gut zuerst um Raphael kümmern, denn der Zeitpunkt für Raphaels Aufgabe wäre gerade
richtig. Ich werde mich jedoch davor hüten, Raphael dies auf die Nase zu binden. Während ich mit
dem hohen Engel verhandle, wartet Raphael geduldig auf sein »Urteil«.
Raphael war sehr aufgeregt und angespannt zugleich. Er war dann auch sehr still, als er vor den
hohen Engel treten musste. Dieser ließ ihn noch etwas zappeln und wies ihn erst einmal zurecht,
was sein Vergehen innerhalb des Chors anging. Raphael schämte sich sehr und beteuerte:
»Ich werde nie mehr etwas so Dummes tun. Ich weiß gar nicht, was über mich gekommen ist. Vor
allem war es nicht meine Absicht, jemanden zu verärgern oder zu verletzen.« Als er jedoch aufblickte
und in die strahlenden Augen des barmherzigen Engels sah, hatte er keine Angst mehr.
Der hohe Engel machte Raphael einen Vorschlag:
»Wir schicken dich auf die Erde als Menschen, damit du deine Aufgabe erfüllen kannst. Melina
wird dich vorbereiten und begleiten. Es gibt aber eine Bedingung: Du kannst erst wieder als Engel
zu uns gelangen, wenn du gelernt hast, wie man geht.«
Raphael lachte insgeheim und freute sich engelhaft. »Wenn es weiter nichts ist«, dachte er. Schließlich
beobachtete er die Menschen schon lange und wusste daher, dass diese auch Füße besaßen. Da
sollte es doch ein Leichtes sein, zu lernen, wie man damit geht...!
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DER ENGEL,
DER NICHT GEHEN KONNTE
1. KAPITEL
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Kate lag schweißgebadet auf dem breiten Bett und biss sich die Finger wund. Solche Schmerzen sollte
man nicht freiwillig ertragen müssen. Bei einer Geburt war dies jedoch unumgänglich. Die starken
Wehen hatten sie seit Stunden, so schien es ihr jedenfalls, ans Bett gefesselt. Es gab immer wieder kurze
Phasen, die es ihr erlaubten, sich etwas zu erholen, doch diese waren nie lange genug, um aufzustehen.
Kate hatte eigentlich gehofft, dass Ron, ihr Ehemann, rechtzeitig von seinem Fischzug auf hoher See
zurückkommen würde. Nun war sie auf sich alleine gestellt, denn der kleine Jeremy konnte ihr auch
nicht helfen. Er saß neben dem Bett seiner Mutter auf dem kalten Fußboden und sah sie mit seinen
großen braunen Augen an. Kate hatte nicht die Kraft, sich auf ihren Sohn zu konzentrieren. Ihre ganze
Aufmerksamkeit galt dem Ungeborenen. Jeremy würde schon zurechtkommen, versuchte sie sich
jedenfalls einige Male einzureden.
Jeremy hatte seine Mutter noch nie auf so erschreckende Weise erlebt. Doch aus unerklärlichem
Grund hatte er keine Angst. Das Einzige, woran er denken konnte, war, dass er sich jetzt still verhalten
sollte.
Das Häuschen der Familie stand unten am Fluss, und vom nächsten Dorf waren sie durch ein Stück
Wald getrennt. Auf Hilfe konnte Kate also kaum hoffen, da sie Jeremy nicht alleine losschicken wollte.
Die Telefonleitungen waren seit dem fürchterlichen Sturm vergangener Nacht immer noch tot. Sie
musste es alleine schaffen. Es war ja nicht das erste Mal. Bei Jeremys Geburt war nur die Hebamme
anwesend gewesen – einen Arzt hatten sie nicht gebraucht, denn alles war wie von selbst gegangen.
Doch jetzt, ohne Ron, war Kate der Verzweiflung nahe. Das Fruchtwasser war schon vor einer
Ewigkeit abgegangen und seither hatte sie nur noch Presswehen. Um Jeremy nicht allzu sehr zu
traumatisieren, riss sie sich zusammen, so gut es eben ging. Die Hoffnung auf ein baldiges Ende ließ
Kate durchhalten, und um sich abzulenken, versuchte sie sich daran zu erinnern was sie tun konnte,
um dem Kind den Weg auf die Welt zu erleichtern. Die Mühe lohnte sich, denn je mehr sie sich auf
das kleine Lebewesen unter ihrem Herzen konzentrierte, umso mehr vergaß sie ihre eigenen
Schmerzen. Kate sprach ihrem ungeborenen Kind gut zu:
»Mein lieber Schatz, hab keine Angst. Es wird alles gut. Wir warten und freuen uns auf dich. Lass
dich einfach fallen!«
Aus dem guten Zureden wurde ein Schreien, denn die Schmerzen wurden wieder unerträglich. Dann
ging alles sehr schnell, und das Gefühl der feuchten Wärme zwischen ihren Schenkeln und der
Erleichterung in ihrem Körper ließ sie wissen, dass es vorüber war. Erschöpft tastete sie mit den
Händen nach dem pulsierenden kleinen Körper, der nun in seiner ganzen Schönheit zwischen ihren
Beinen lag. Das kleine Mädchen gab keinen Laut von sich. Es lag in dem blutverschmierten Leinentuch
und starrte Kate mit einer Klarheit an, die ihr den Atem stocken ließ. Noch nie hatte sie bei einem
Neugeborenen einen solchen Ausdruck in den Augen gesehen.
Nach einer weiteren kräftigen Wehe, durch die die Nachgeburt ausgeschieden wurde, nahm sie den
kleinen Engel an ihre vollgefüllte Brust, deckte sich zu und schlief erschöpft ein.
Dass Jeremy zu ihnen unter die Decke kroch, bekam sie nur noch beiläufig mit.
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Raphael wunderte sich darüber, dass alles so eng und dunkel war, denn eigentlich war er an
Leichtigkeit und Licht gewöhnt. Und wieso konnte er nichts an diesem Zustand ändern? Das verwirrte
ihn sehr.
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»Verflixt und zugenäht, was ist bloß passiert?« Da wurde es plötzlich hell und Raphael schaute in das
wunderschöne Gesicht einer Frau, doch die Enge blieb. Das Gesicht war ihm nicht fremd, denn er
beobachtete es schon seit längerer Zeit. Doch bis jetzt war dies auf ganz andere Art und Weise
geschehen. Nämlich in einem Zustand vollkommener Freiheit und Schwerelosigkeit.
»Hier muss etwas total schiefgelaufen sein.« Er wusste nur nicht was. Gerne hätte er sein Gegenüber
gefragt, aber irgendwie konnte sie ihn nicht verstehen. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als sie ganz
genau zu betrachten.
Noch etwas war komisch. Er wusste um die Liebe dieser Frau. Doch jetzt konnte er diese Liebe auch
fühlen (er nahm einfach mal an, dass dies ein Gefühl sei).
Als Raphael mich neben dieser Frau erblickt, wird er ganz aufgeregt.
»Melina, halleluja, bin ich froh, dich zu sehen. Ich dachte schon, ich sei im falschen Film!« Raphaels
Euphorie bringt mich zum Lachen, und ich erkläre ihm feierlich:
»Dein Wunsch wurde erfüllt und du steckst nun endlich in einem Menschenkleid. In kurzer Zeit wird
der Schleier des Vergessens über dich fallen. Dein Licht in deinem Herzen brennt weiter. Orientiere
dich daran, um den Weg zurückzufinden – natürlich erst, wenn du herausgefunden hast, wie man geht.
Xenia wird dich begleiten und dir als Schutzengel zur Seite stehen. Du weißt, dass ich nur bis zur Geburt
zuständig bin, also verabschiede ich mich nun von dir und wünsche dir viel Glück. Ach, und noch
etwas, du bist ein Mädchen.«
Raphael konnte es kaum fassen.
»Das war es also!? Deshalb ist alles so eng!? Moment, was sagst du da, ein Mädchen? Das kann ja
lustig werden!« Raphael war ganz aufgeregt. Endlich hatte er eine Aufgabe. Endlich ging sein Wunsch
in Erfüllung. Etwas traurig war er jedoch darüber, dass er nicht selber darauf gekommen war. Um groß
darüber nachzudenken, fehlte es ihm aber an Konzentration – er war plötzlich sehr müde. Lächelnd
schlief er ein.
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Als Ron einige Stunden später nach Hause kam, traf er seine Familie eng zusammengekuschelt im
Schlafzimmer an. Auch er war erschöpft. Die raue See, der Sturm und die Sorgen um Kate, die ihn
dauernd quälten, hinterließen ihre Spuren. Umso glücklicher war er nun, als er die beiden wohlauf
antraf. Im ersten Moment war er sich des kleinen Wunders gar nicht bewusst. Als er sich jedoch über
Kate beugte, um sie zu küssen, und ihn zwei klare blaue Augen aus einem winzigen strahlenden Gesicht
anblickten, hielt er in seiner Bewegung inne.
»Kann es denn sein? Hat Kate dies ganz ohne Hilfe durchgestanden?«
Wenn sie bis anhin noch nicht seine Heldin war, dann jetzt ganz bestimmt. Wäre er ehrlich mit sich
selber gewesen, hätte er zugeben müssen, weshalb sie so abgeschieden am Fluss lebten. Er konnte es
nämlich nicht ertragen, wenn Kate von anderen Männern angeschaut wurde. Sie war sein Schatz und
niemand durfte sich daran bereichern. Ron hätte sein Kind gerne in den Arm genommen, wollte die
Schlafenden jedoch nicht stören. Deshalb verließ er das Zimmer und schloss leise hinter sich die Tür.
Was er jetzt brauchte, war eine Dusche und eine Tasse starken Kaffee. Er schaltete die Kaffeemaschine
ein und begab sich ins Badezimmer. Während das heiße Wasser über seinen gut gebauten Körper lief,
schweiften seine Gedanken immer wieder zu Kate.
Er konnte sich noch gut erinnern, wie er Kate das erste Mal begegnet war. Sie lebte mit ihren Eltern
im Städtchen, unweit seines Heimatdorfes. Als Sohn eines Fischers fuhr er einmal im Monat mit seinem
Vater zum Markt, um die gefangenen Fische anzubieten. An jenem Tag war er alleine unterwegs. Da
nicht viel los war, vertrieb er sich die Zeit damit, die vorbeigehenden Leute zu beobachten. Eine
Gruppe junger Studenten ging schwatzend und lachend an seinem Stand vorbei. Die gut angezogenen
jungen Herren machten sich über seine Fische und deren »Gestank« lustig. Ron ärgerte sich schon lange
nicht mehr darüber. Sollten diese feinen Leute doch denken, was sie wollten. Doch als er dieser
wunderschönen jungen Frau, die sich bei der Gruppe befand, direkt in die großen braunen Augen
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blickte, war es ihm äußerst unangenehm. Es war wie Magie. Er konnte seinen Blick nicht mehr von ihr
wenden, was den jungen Männern erst recht nicht gefiel. Einer löste sich von der Gruppe und wollte
auf Rons Fischstand zukommen, als die Unbekannte etwas zu ihm sagte, was Ron nicht verstehen
konnte. Daraufhin begannen alle zu lachen, und sie gingen weiter, ohne ihn noch einmal eines Blickes
zu würdigen. Ron schaute ihnen nach und wurde knallrot im Gesicht, als sich dieses bezaubernde
Geschöpf noch einmal umdrehte und ihm das schönste Lächeln zuwarf, das er je gesehen hatte.
Seither war es um Ron geschehen. Er wusste: diese Frau oder keine.
Hätte er gewusst, dass das Schicksal auf seiner Seite war, wäre er seiner Familie während des nächsten
Monats nicht dauernd auf die Nerven gegangen.
Das plötzliche Weinen aus dem Zimmer nebenan brachte Ron aus seinen Tagträumen zurück. Er
beeilte sich mit dem Abtrocknen, schlüpfte in seinen Jogginganzug und sah dann nach seiner Familie.
Freude erfüllte den Raum, und Kate war sichtlich erleichtert, als sie ihren Ehemann ins Zimmer
kommen sah.
»Ron, darf ich dir deine Tochter vorstellen?« Sie reichte ihm den kleinen verschmierten Körper, damit
er sich das neue Familienmitglied anschauen konnte.
»Na, wen haben wir denn da? Konntest du es nicht erwarten, auf diese Welt zu kommen?« Ron war
überglücklich, packte seine kleine Tochter in ein Laken und machte sich daran, sie von den Spuren der
Geburt zu säubern.
»Kate, bist du okay oder brauchst du Hilfe von der Hebamme?« Ron gab seiner Frau einen dicken
Kuss und gratulierte ihr, von seinen Gefühlen überwältigt.
»Ist schon in Ordnung, Ron. Ich glaube, wir haben das ganz gut hingekriegt. Es hat Zeit bis morgen,
um sie zu holen.«
»Wen holen?«, fragte Jeremy, der gerade aus seinem Tiefschlaf aufwachte. Als er seinen Vater
erblickte, jauchzte er, kletterte aus dem Bett, packte ihn am Hosenbein und rief übermütig:
»Papa heim, Papa heim!« Ron musste lachen, kniete sich nieder und zeigte Jeremy seine kleine
Schwester.
»Sieh mal, mein Sohn, nun hast du jemanden zum Spielen. Na, ist das nicht schön?« Jeremy klatschte
in seine Händchen, hüpfte erfreut im Zimmer herum und rief:
»heißen, heißen?« Kate und Ron sahen sich in die Augen und sagten gleichzeitig:
»Gwendolyn.«
»Oh, ja«, rief Jeremy, »Gwen, Gwen, Gwen...«
»So, mein Großer, jetzt lassen wir Mami noch etwas schlafen und kümmern uns um diesen kleinen
Engel.«
Somit verließen die beiden mit Gwendolyn den Raum und ließen Kate allein.
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Raphael staunte nicht schlecht, als man ihn mit Gwendolyn ansprach. Doch heute konnte ihn nichts
mehr umhauen. Er war ein Mädchen, hatte einen neuen Namen und, was ganz wichtig war, er war ein
Mensch!! Zwar noch etwas klein und unbeholfen, aber das würde schon werden.
»Wenn nur nicht alles so eng wäre! Das muss ich unbedingt ändern. Ich weiß nur noch nicht, wie.«
Einen kleinen Anflug von Leichtigkeit konnte er verspüren, als ihn dieser Mann, der jetzt sein Vater
war, in seine Arme nahm.
»Aber hallo, was ist denn jetzt? Wenn seine Finger über meine Haut streichen, ist das ein aufregendes
Gefühl. Jetzt fühle ich mich wieder hell und leicht.« Doch kaum wurde er in seine Kleider gesteckt, war
diese Enge wieder gegenwärtig. Andererseits wurde ihm jedoch auch warm. Raphael wusste einfach
nicht so recht, was er von alledem halten sollte. Also war es das Beste, wenn er noch eine Runde
schlafen würde.
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Kate war erleichtert, Ron wieder zu Hause zu wissen. Sie hatte immer ein ungutes Gefühl, wenn er
für längere Zeit auf See unterwegs war. Seit dem plötzlichen Tod ihrer Eltern fürchtete sie sich ständig,
von allen verlassen zu werden. Manchmal überkamen sie regelrechte Panikattacken, wovon sie Ron
jedoch nie erzählte. Sie wollte nicht, dass er sich Sorgen machte.
Als Kate Ron zum ersten Mal auf dem Fischmarkt gesehen hatte, wurde sie von seinen Blicken fast
aufgefressen. Obwohl er etwas komisch aussah in diesen gelben Stiefeln und dem Overall, hatte er
etwas Faszinierendes an sich. Sie wurde in der Schule von vielen Männern verehrt, doch alle waren aus
reichem Hause und sehr verwöhnt. Bei diesem jungen Mann wurde sie von einer gewissen Rauheit und
Männlichkeit gefesselt. Beim ersten Mal war sie in Begleitung einiger Freunde, die sich über den
Verkäufer mit seinen stinkenden Fischen lustig machten. Seinen Blick und seine Verlegenheit, als sie
sich beim Weggehen noch einmal umgedreht hatte, konnte sie jedoch nicht vergessen. So ging Kate
von da an öfters alleine zum Markt, in der Hoffnung, diesen Unbekannten noch einmal anzutreffen.
Als sie ihn dann endlich wieder sah, war es nicht schwierig, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Seine
Sympathie ihr gegenüber war ihm ins Gesicht geschrieben.
Die beiden jungen Leute wurden schnell Freunde und verbrachten immer mehr Zeit miteinander.
Kate fand seine Welt aufregend, denn die glich so gar nicht derjenigen, in der sie aufgewachsen war.
Bei ihr zu Hause herrschte immer so viel Hektik und es gab viel zu viele Leute, die ständig ein- und
ausgingen. Nie hatte sie Zeit und Raum für sich selber. Dass ihre Mutter gerne Empfänge gab, trug
auch nicht gerade zu mehr Ruhe in dem Haus bei. Dazu kam noch ihr strenger Vater. Bei ihm hatte sie
sowieso immer das Gefühl, etwas Falsches zu tun und seinen Ansprüchen nicht zu genügen.
So war es nicht verwunderlich, dass Kate immer mehr Zeit auf dem Lande bei Rons Familie
verbrachte. Sie liebte die Natur und die neue »Freiheit«, die sich ihr bot. Ob sie jedoch auch Ron liebte,
das hatte sie sich nicht bloß einmal gefragt. Natürlich hatte sie ihn gern, und er war das Beste, was ihr
passieren konnte. Ron war immer sehr liebenswürdig und zuvorkommend. Mit ihm konnte man
genauso gut lachen wie stundenlange Diskussionen führen – aber Liebe? Manchmal wünschte sich Kate
das Kribbeln im Bauch, wie es in Büchern immer so schön beschrieben wurde. Doch wenn sie dann
von Freundinnen hörte, wie schlecht sie von ihren Männern behandelt wurden, war sie froh, einen so
treuen und lieben Freund gefunden zu haben.
Rons Eltern waren einfache Leute – zum Leidwesen von Kates Vater. Dieser versuchte alles, um die
beiden auseinanderzubringen. Die Anforderungen an einen Schwiegersohn waren sehr hoch. Da passte
Ron mit seiner kleinbürgerlichen Abstammung überhaupt nicht in sein Bild. Des Öfteren versuchte er,
Ron irgendeine Liebelei anzuhängen. Doch mit Ron konnte er es nicht aufnehmen. Dieser war auf
seine Art genauso besessen von Kate. So kam es, dass Ron für Kate unten am Fluss ein Haus baute
und sie Mann und Frau wurden.
Zu Anfang war das alles ganz aufregend und schön. Doch wenn Ron tagelang auf See war, kam es
immer öfter vor, dass Kate unter Depressionen litt.
Ron war so verliebt und glücklich, dass er von alledem nichts mitbekam. Vielmehr wollte er auch
nicht. Er hatte ja die tollste und attraktivste Frau, um die ihn alle beneideten. Er wollte keine Schwäche
sehen – nicht bei Kate.
Mit der Geburt ihres ersten Kindes Jeremy hatte Kate eine wunderbare neue Aufgabe und alles schien
wieder in bester Ordnung zu sein. Kate ging in der Mutterrolle richtig auf, und wenn Ron unterwegs
war, fühlte sie sich nicht mehr so einsam. Sicher, ab und zu kam ein Anflug von Panik auf, doch sie
lernte mit der Zeit, damit umzugehen.
Als dann Kates Eltern bei einem schrecklichen Autounfall ums Leben kamen, zog sie sich mehr und
mehr in ihre eigene Welt zurück. Zuvor war sie immer zwischen Ron und ihren Eltern hin- und
hergerissen, doch nun konnte sie sich nicht mehr selber entscheiden. Das Schicksal hatte ihr diese
Möglichkeit genommen. Dies machte sie genauso wütend wie auch ohnmächtig.
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Zu ihren Geschwistern hatte sie keinen guten Kontakt. Diese warfen ihr vor, die Eltern ins Unglück
gestürzt zu haben. So kam es, dass sich Kate und der Rest ihrer Familie eher aus dem Weg gingen. Kate
war nicht sehr traurig darüber, denn sie hatte ja nun ihre eigene Familie.
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2. KAPITEL
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Die inzwischen fünfjährige Gwendolyn saß vor dem Hühnerstall auf einer kleinen Bank, die ihr Vater
aus einem Baumstamm gefertigt hatte. Die Sonne war noch nicht lange aufgegangen und Gwen schlang
ihr Strickjäckchen etwas fester um ihren kleinen Oberkörper. Im Innern des Stalls wäre es wohlig warm
gewesen, doch keine zehn Pferde würden sie jemals dazu bringen, diesen Stall zu betreten. Sie hatte
großen Respekt vor dem Hahn, der immer mit hoch erhobenem Kopf um seine Hühner herum
stolzierte. Kam man ihm zu nahe, konnte es schon mal vorkommen, dass er mit seinem spitzen
Schnabel versuchte, einem in die Beine zu picken. Aus diesem Grund vermied es Gwen, diesem
furchterregenden Ungeheuer zu nahe zu kommen. Sie wartete geduldig auf ihren Bruder, der sich daran
machte, die Eier aus den Nestern zu holen. Jeremy war viel mutiger, und er beschützte seine kleine
Schwester, wo er nur konnte.
»Gwen, ich hab sie!« Jeremy kam strahlend aus dem Stall. Das Eierkörbchen drückte er fest an sich,
um es ja nicht fallen zu lassen.
»Schnell, Gwen. Er kommt!« Keuchend kam Jeremy auf sie zugerannt, hinter ihm, wild flatternd, der
Hahn. Gwen sprang von der Bank, schloss die Tür des Geheges auf und feuerte ihren Bruder an. Sie
hüpfte vor Aufregung auf und ab. Nur noch ein paar Schritte und Jeremy hatte es geschafft! Bevor ihn
der Hahn einholen konnte, schloss Gwen eilig die Gittertür hinter Jeremy zu. Die beiden Geschwister
lachten und jubelten über ihren Sieg. Dieses Mal war Jeremy schneller gewesen.
Es konnte schon mal vorkommen, dass das Ganze nicht so glimpflich ablief. Gwen erinnerte sich
noch gut: Es hatte stark geregnet und der Boden war ganz aufgeweicht. Sie konnte nicht anders als
lachen – denn es sah wirklich lustig aus, wie Jeremy ausrutschte und der Länge nach hinfiel. Nicht nur,
dass er von oben bis unten mit Dreck verschmiert war, nein, die Eier hatte er auch noch zerdrückt.
Damals war es der Hahn, der jubelte, so konnte man meinen...
Mami hatte ganz schön geschimpft, sodass Gwen sich vor Jeremy stellen musste, um ihn zu
beschützen. Gwendolyn verstand ihre Mami nicht. Sie hätte ja die Eier selber holen können. Aber so
mutig war ihre Mutter sicher nicht.
Heute jedoch war der Sieg ihrer, und glücklich und stolz gingen die beiden zum Haus zurück, um mit
ihren Eltern zu frühstücken.
Gwen liebte es, wenn alle friedlich am Tisch saßen und füreinander Zeit hatten. Leider kam es viel zu
oft vor, dass ihr Vater tagelang unterwegs war. Doch heute war die ganze Familie in der Küche
versammelt, und die Kinder versuchten, sich gegenseitig mit ihren wilden Geschichten über das
Eierholen zu übertrumpfen. Gwen hatte die Angewohnheit, ihre Geschichten immer ein wenig
auszuschmücken, was ihre Eltern jeweils wohlwissend mit einem Lächeln zur Kenntnis nahmen.
Kate und Ron hatten heute eine ganz spezielle Überraschung für ihre Kinder parat, doch ihre zwei
Sprösslinge schnatterten die ganze Zeit über wie die Gänse. Also schenkte Kate erst einmal Kaffee
nach und beobachtete ihre Familie mit einem etwas zerrissenen Gefühl. Jeremy würde sich freuen, das
war sicher, aber Gwendolyn? Kate würde es gleich wissen, denn Ron stellte gerade seine Kaffeetasse
auf den Tisch zurück und klatschte in seine Hände. Blitzartig war es still im meistbenutzten Raum des
Hauses und vier große Kinderaugen waren voller Fragezeichen auf ihren Vater gerichtet. Dieser musste
sich beherrschen, um nicht laut herauszulachen. Zu komisch war das Bild, das sich ihm bot. Stattdessen
sagte er ernst und feierlich:
»Kinder, hört mal her. Eure Mutter und ich haben eine Überraschung für Euch.« Das Wort
»Überraschung« war schon alleine Grund genug, um die volle Aufmerksamkeit seiner Kinder auf sicher
zu haben.
»Ihr seid doch immer so alleine hier draußen«, setzte er seine Rede fort.
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Jeremy fühlte sich eigentlich nie alleine. Er fand immer irgendetwas, was seine Aufmerksamkeit
fesselte. Und dann hatte er ja noch seine liebe Schwester Gwen, mit der er viel Unfug treiben konnte.
Manchmal etwas zum Leidwesen seiner Eltern…
Gwen hatte einen sechsten Sinn und wusste gleich, dass Ärger im Anmarsch war. Sie rutschte nervös
auf dem Stuhl herum.
Ron konnte nicht wissen, was in den Köpfen seiner Kinder vorging. Er war voller Überzeugung, mit
dieser Neuigkeit allen eine Freude zu bereiten.
»Ihr kriegt ein neues Geschwisterchen!« Ron strahlte übers ganze Gesicht.
Betretene Stille – dann fragte Gwen zuckersüß und doch mit einem bitterbösen Unterton:
»Kannst du es wieder zurückgeben?«
Ron und Kate schauten sich an und mussten lachen. Diese Frage war wieder einmal typisch für
Gwendolyn. Die Kleine hatte dann jeweils einen ernsten Gesichtsausdruck, den man einfach nur süß
finden konnte. Das wiederum verstärkte nur noch ihren Ärger.
»Aber nein, mein Schatz, kleine Babys kann man nicht einfach zurückgeben. Das haben wir mit dir
ja auch nicht gemacht!« Ron gab seiner Tochter einen herzhaften Kuss auf die Stirn.
Jeremy brauchte immer etwas mehr Zeit, um zu reagieren. Doch die Botschaft war bei ihm nun auch
angekommen und er rief erfreut:
»Oh ja, vielleicht kriege ich einen Bruder. Mit dem kann man dann richtige Männersachen machen!«
Gwens Bauch krampfte sich zusammen. Sie fühlte sich verraten und verstoßen. Sie liebte Jeremy und
ihre Eltern so sehr. Da gab es keinen Platz für ein Baby. Sie hatte mal eines gesehen, bei ihrer Tante
Caroline, und aus irgendeinem Grund hatte ihre Tante plötzlich keine Zeit mehr für sie. Beleidigt sprang
sie vom Stuhl und rannte in ihr Zimmer. Kate wollte ihr nachlaufen, doch Ron hielt sie zurück.
»Lass nur, sie wird sich wieder beruhigen. Du weißt doch, wie schnell nach einem Gewitter bei ihr
die Sonne wieder zurückkommt. Wenn das Baby erst einmal da ist, wird sie es lieben.«
Kate kannte ihre Tochter nur zu gut und war sich da nicht so sicher. Sie sagte jedoch nichts – wie so
oft.
Gwendolyn schmetterte die Tür hinter sich zu und setzte sich auf ihr Bett. Sie wollte einfach alleine
sein. Immer, wenn sie wütend oder traurig war, erzählte sie ihre Sorgen und ihren Kummer ihrer besten
Freundin Xenia.
Xenia konnte gut zuhören, und Gwen liebte ihre manchmal etwas verrückten Ideen. Am liebsten
tollte und tanzte sie mit ihr herum.
Xenia gehörte ihr ganz allein, denn seltsamerweise konnten ihre Eltern und ihr Bruder sie nicht sehen.
Wenn Gwen sich langweilte, kam Xenia manchmal ganz von alleine. Ansonsten musste Gwen nur
ganz fest an sie denken, und schon war sie da.
»Xenia, wie findest du das? Mami und Daddy bringen eine Schwester oder einen Bruder zu uns.«
Xenia saß in ihrem wunderbar schimmernden, fast durchsichtigen Kleid auf Gwendolyns Bett und
kicherte vor sich hin. Sie war ein äußerst humorvoller Schutzengel und immer zu Späßen aufgelegt.
»Bist du verrückt, das soll lustig sein? Ich will niemanden zum Spielen. Ich habe doch dich und
Jeremy.« Jetzt kullerten Tränen über Gwens kleine rosa gefärbte Wangen. Sie war so außer sich wie
zuvor schon lange nicht mehr.
Xenia nahm Gwen sachte in den Arm und tröstete sie.
»Danke, Xenia, du bist lieb.« Gwen strich sich mit ihren kleinen Händchen über ihre feuchten Augen
und musste nun auch kichern.
»Ich hab’s: Ich werde einfach nicht mit diesem Eindringling spielen.« Schon fühlte sie sich wieder
besser, aber auch sehr müde. Dieser Morgen hatte seine Spuren hinterlassen.
Kate klopfte sachte an Gwens Zimmertür.
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»Gwen, Schätzchen, darf ich reinkommen?« Als sie keine Antwort bekam, öffnete sie langsam die
Tür und trat leise ein. Gwen lag auf dem Bett und schlief mit einem Lächeln im Gesicht. Kate kam
näher, deckte ihre kleine Tochter zu und setzte sich in den hellblauen Schaukelstuhl neben dem Bett.
»Wie süß sie doch aussieht, wenn sie schläft. Man könnte meinen, sie könnte keiner Fliege etwas
zuleide tun.« Kate versank in Gedanken. Sie selber war lange nicht so begeistert über den Nachwuchs
wie Ron. Manchmal wuchs ihr schon mit Jeremy und Gwen alles über den Kopf. Vor allem, wenn Ron
auf See war. Sie fühlte sich dann so einsam. Vieles wäre sicher einfacher gewesen, wenn Kate eine
richtige Freundin gehabt hätte. Klar, da gab es die Frauen von Rons Arbeitskollegen, doch irgendwie
hatte sie sich von den wenigen Einwohnern des kleinen Fischerdorfes nie recht akzeptiert gefühlt. Sie
war schließlich eine aus der Stadt, und was wussten die schon vom Fischen?
Viel zu oft hatte sich Kate schon gefragt, wie es gekommen wäre, wenn sie einen Mann aus der Stadt
geheiratet hätte. Doch solche Gedanken zerrten an ihren Nerven und brachten sie durcheinander.
Obwohl sich ihr Herz doch ab und an nach Wohlstand und feiner Gesellschaft sehnte, stellte sich der
Verstand jedes Mal mit großer Ausdruckskraft dagegen. Was wollte sie mehr? Sie hatte einen
liebenswerten Mann, der zu arbeiten wusste und ihre gemeinsamen Kinder über alle Maßen liebte. Also
wurden solche Sehnsüchte sachte wieder in ihrem Hinterkopf verstaut und weggesperrt.
Wenn sie nun an ihr drittes Kind dachte, kam die Panik wie ein Schleier auf sie zu und drohte, sie
einzuhüllen. Der Grund dafür lag noch viel tiefer, als sie überhaupt zu denken wagte…
Kate kam schlagartig wieder in den Alltag zurück, als die Tür aufgerissen wurde und Jeremy ins Zimmer
platzte.
»Gwen, komm doch bitte spielen. Es ist wunderschön draußen und wir wollten doch im Wald eine
Hütte bauen.«
Gwendolyn rieb sich die Augen und war ganz erstaunt, dass sie angezogen im Bett lag. Aber darüber
nachzudenken, dazu fehlte ihr jetzt die Zeit. Sie sprang vom Bett und jagte ihrem Bruder hinterher.
Kate blieb allein zurück und machte sich kurze Zeit später auf den Weg zur Küche, um aufzuräumen.
Ron war so lieb und hatte schon mal den Tisch abgeräumt, sodass Kate nur noch das Geschirr spülen
musste.
Sie stimmte summend in ein Lied ein. Die Sonne strahlte durch das Küchenfenster und vertrieb alle
trüben Gedanken. Nach getaner Arbeit nahm sie sich eine Tasse Kaffee und ging damit nach draußen
auf die Veranda – das Schmuckstück ihres Hauses.
Es war sowieso ein ganz besonderes Haus. Die Wände waren mit Holz verkleidet, himmelblau
gestrichen, und rote Holzläden umrandeten die Fenster. Viele Teile der Fassade waren mit
Kletterpflanzen bewachsen. Gleich neben dem Haus stand ein alter Baum mit mächtiger Krone. Von
einem seiner Äste hing eine Schaukel herunter und hoch oben thronte ein Baumhaus, das man über
eine Leiter, mit treppenähnlichen Stufen, spielend erreichen konnte. Ein beliebtes Spielobjekt der
beiden Kinder. Hinter dem Haus, etwas entfernt, befand sich ein Schuppen mit einem kleinen Stall für
das Pony und daneben hatte Ron den Hühnerstall angebaut. Kate liebte die Gartenarbeit, also durfte
der große Gemüsegarten auch nicht fehlen. Diese Beschäftigung brachte ihr eine gewisse Ruhe und
Ausgeglichenheit.
Die Holzschaukel auf der Veranda hatte Kate liebevoll mit großen Kissen ausgestattet. Sie konnte
stundenlang darin sitzen. Sei es, um den Sonnenuntergang zu genießen, ein Buch zu lesen, den Kindern
beim Spielen zuzuschauen oder einfach, um nichts zu tun.
Sie setzte sich nun in die Schaukel, schlug ihr Buch auf und fing an zu lesen. Weit kam sie jedoch
nicht. Ihre Gedanken schweiften immer wieder in die Ferne.
Wie um alles in der Welt sollte sie Ron erklären, was passiert war, als sie das letzte Mal in die Stadt
gefahren war, um das Grab ihrer Eltern in Ordnung zu bringen? Sie konnte es sich ja selber nicht
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erklären. Einerseits verabscheute sie sich dafür und andererseits ließ sie das Verlangen nach mehr nicht
mehr los.
»Mami, Mami, bitte komm schnell. Du musst es dir ansehen!« Die Worte sprudelten aus Jeremys Mund,
als er um die Hausecke gerannt kam. Kate brach in schallendes Gelächter aus, als sie ihren »Großen«
sah. Er war von oben bis unten mit Dreck verschmiert.
»Was, um Himmels Willen, ist denn mit dir passiert?«
»Daddy hat mit uns am Bach ein Zwergenhaus gebaut. Wir mussten doch die Wände mit Lehm
einschmieren. Weißt du, Mami, dann müssen die Zwerge nicht frieren!!« Jeremy sagte es so bestimmt,
dass Kate immer noch lachend ihr Buch zur Seite legte und aufstand.
Jeremy, der inzwischen die Verandatreppe hochgerannt war, packte seine Mutter an der Hand und
zog sie hinter sich her.
»Ich möchte ja nicht wissen, wie dann erst Gwen aussieht – und euer Vater. Ich glaube, ihr könnt
dann gleich alle miteinander in die Wanne steigen.«
Kate ging mit Jeremy über die Wiese zum Waldrand, wo sich ein kleiner Bach den Weg zum nahe
liegenden Fluss bahnte. Natürlich hatte sie auf diesem kurzen Weg schon alles über das neue Werk
erfahren. Das musste sie ihrem Ehemann lassen: Wenn er zu Hause war, tat er alles, um seine Kinder
glücklich zu machen. Beim Waldrand angekommen, bot sich ihr ein Bild von allerliebster Perfektion.
Ron hatte mit den Kindern ein wahres Meisterwerk von einem Zwergenhaus gebaut. Die Wände waren
wirklich schön mit Lehm verkleidet. Auf dem Dach lagen Baumrinden mit frischem Moos und einen
kleinen Garten hatten sie auch noch angelegt.
»Mami«, Gwen strahlte bis über beide Ohren, »ist das nicht wunderschön?« Sie klatschte in ihre
kleinen Händchen und tanzte um Kate herum.
»Ja, mein kleiner Engel, das sieht wirklich sehr einladend aus. Da werden die Zwerge Schlange stehen,
um hier einzuziehen!« Ron und Kate tauschten schmunzelnde Blicke.
»Mami, schau doch!« Gwen zupfte an Kates Rockzipfel. »Hinter dem Baum dort steht ein
freundlicher Zwerg mit seiner Familie. Wieso kommt er nicht und schaut sich das Haus an?«
Kate war es gewohnt, dass Gwen mit allerlei Sichtbarem und Unsichtbarem sprach. Obwohl sie selber
nicht den Zugang hatte, glaubte sie daran, dass es um sie herum noch viel mehr geben musste, als sie
mit ihren irdischen Augen sehen konnte. Aus diesem Grund hätte sie Gwen nie getadelt oder ihr erklärt,
dass solche Dinge nur in Märchen existieren würden. So gab sie ihrer Tochter zur Antwort:
»Er traut sich vielleicht nicht vorzutreten, da wir so groß sind und er uns nicht kennt. Was meinst du,
Gwen?«
»Herr Zwerg, ich bin Gwen und ganz lieb.« Gwendolyn neigte ihren Kopf leicht zur linken Seite,
woran man erkennen konnte, dass sie sich auf ein Gegenüber konzentrierte.
»Okay ich komme später wieder!« Gwen drehte sich um, nahm die Hand ihrer Mutter und zog sie
Richtung Haus.
»Was hat der Zwerg gesagt?«, wollte Ron wissen, während er mit Jeremy hinter den beiden herging.
»Das ist ein Geheimnis«, gab Gwen zur Antwort. Und somit war die Sache für sie erledigt.
Heute war einer dieser wirklich warmen Frühlingstage, sodass Ron beschloss, mit den Kindern im
Fluss zu baden. Auf diese Weise konnten sie sich die Badewanne ersparen, und Kate musste hinterher
nicht den ganzen Schmutz wegwischen.
Ron hatte letzten Sommer ein kleines seichtes Becken beim Fluss angelegt, damit sie baden konnten,
ohne von der Strömung mitgerissen zu werden. Es hatte zugleich auch den Vorteil, dass das Wasser
nicht ganz so kalt war wie im Fluss selbst.
Kate fand die Idee von Ron hervorragend und holte im Haus Badetücher für ihre Mannschaft.
Während diese sich im kühlen Nass vergnügten, legte sie sich in einen Liegestuhl, um ein kleines
Nickerchen zu machen. Bei dieser Schwangerschaft war sie viel schneller müde und fühlte sich öfter
unwohl. Sie nahm es zur Kenntnis, war jedoch nicht sonderlich beunruhigt. Wieso sollte sie auch?
Schließlich waren die beiden anderen Schwangerschaften ohne Komplikationen verlaufen.
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3. KAPITEL
Sechs Monate später
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Kate machte sich an diesem trostlosen Herbsttag mit den Kindern auf den Weg ins Dorf, um ihre
Schwiegereltern zu besuchen und einige Besorgungen zu machen. Die Sonne hatte sich seit einigen
Tagen nicht mehr gezeigt und Kate konnte eine Abwechslung gut gebrauchen. Zu lange war sie schon
wieder alleine mit den Kindern. Ron hielt sich auf See auf und die Schwangerschaft war doch schon
recht weit fortgeschritten.
In letzter Zeit dachte Kate öfters über die Geburt von Gwendolyn nach. Noch einmal alleine gebären
zu müssen, war nicht gerade das, was sie sich vorstellte. Ron hatte hoch und heilig versprochen, dass
er zum errechneten Geburtstermin längst wieder zurück sein würde.
Kate hatte Jeremy an diesem Morgen gebeten, den Leiterwagen aus dem Schuppen zu holen. Sie hatte
Lust auf einen Spaziergang und ließ deshalb den alten Chevy hinter dem Haus stehen. Gwen fand das
sehr aufregend, denn natürlich wollte sie nicht laufen, sondern, im Leiterwagen sitzend, gezogen
werden. Kate und Jeremy hielten beide zusammen die Deichsel, um die kostbare Fracht zu ziehen,
welche vor lauter Freude immer wieder lachte und ihre zwei Zugpferde, wie sie sie nannte, anfeuerte.
Im Wald war es merklich kühler, denn ohne Sonnenschein vermochten der feuchte Boden sowie die
Bäume nicht zu trocknen. Dafür lag ein herrlicher Geruch in der Luft. Kate liebte den Duft von
feuchter Erde. Was andere als modrig empfanden, erlebte sie als erfrischend und belebend. Sie war froh
über ihren Entscheid, den Wagen zu Hause gelassen zu haben, denn die frische Luft tat ihnen gut.
Vielleicht würden ja sogar die Bauchschmerzen wieder verschwinden, welche sie seit diesem Morgen
plagten. Bewegung hatte noch immer geholfen.
Sichtlich erschöpft, doch lange nicht mehr so trübsinnig wie in den Tagen zuvor, saß Kate eine halbe
Stunde später, zusammen mit ihren Kindern, gemütlich am Küchentisch ihrer Schwiegereltern und
trank eine Tasse Kaffee. Die Kinder hatten ihre Großeltern eine Zeit lang nicht gesehen und mussten
ihnen natürlich eine ganze Menge neuer Sachen erzählen. Laut und ungeduldig wurde durcheinander
gesprochen. Jedes der Kinder wollte als erstes dran kommen. Gregory, Kates Schwiegervater, hob
lachend die Hand und sagte laut:
»Stopp!«
Auf der Stelle war es mucksmäuschenstill und vier Kinderaugen starrten ihren Großvater an. Die
erste, die das Schweigen brach, war Kate, mit einem heftigen Schrei. Gleichzeitig musste sie nach Atem
ringen. Nun waren vier Augenpaare auf sie gerichtet. Stechende Schmerzen durchzuckten ihren Leib
und zwischen ihren Schenkeln wurde es nass und warm.
Das Baby war drei Wochen zu früh. Was Kate jedoch mehr beunruhigte, war, dass schon wieder ein
Kind in Abwesenheit ihres Ehemanns zur Welt kommen würde. Wenigstens musste sie es dieses Mal
nicht wieder alleine durchstehen. Gregory handelte als erster und führte Kate ins Nebenzimmer, um
ihr ins Gästebett zu helfen.
Mary, Kates Schwiegermutter, rief die Hebamme an und machte sich dann daran, alles vorzubereiten.
Jeremy und Gwen wussten nicht so recht, was sie davon halten sollten. Sie bekamen es etwas mit der
Angst zu tun, denn noch nie hatten sie Mami so schreien gehört. Als Großmutter ihnen erklärte, dass
ihr Geschwisterchen zur Welt kommen wolle und ihre Mami dadurch starke Schmerzen hätte, fühlte
sich Gwen bestätigt und sagte trotzig zu Jeremy:
»Siehst du? Ich hab’s ja von Anfang an gesagt. Das Baby macht nur Ärger! Sie hätten es doch besser
zurückgeben sollen!«
Jeremy lachte nur, strich ihr über das Haar und sagte mehr zu sich selbst:
»Meine kleine Gwen hat wohl noch immer nicht kapiert, wie das läuft!«
Großvater kam aus dem Zimmer und nahm seine zwei Enkel mit nach draußen. Die Frauen kamen
gut alleine zurecht. Er war schon immer der Ansicht, Gebären sei keine Männersache. Etwas
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Abwechslung würde den Kindern jetzt guttun. Deshalb ging er mit ihnen runter zum Hafen. Dort gab
es immer genügend zu tun und die Kinder halfen ihm gerne dabei.
Gwen hielt die raue Hand ihres Großvaters fest und trottete still neben ihm her. Sie war in Gedanken
versunken, was Gregory nicht entgangen war. Um sie etwas aufzumuntern, drückte er Gwens Hand
etwas fester und fragte:
»Na, mein kleiner Engel, freust du dich denn jetzt endlich auf das Baby?«
Gwen blieb abrupt stehen, verschränkte ihre Arme vor der Brust und sagte bockig:
»Nein!«
Dann ging sie mit gesenktem Blick und forschen Schrittes weiter.
Gregory musste lachen und lief gemächlich hinter ihr her.
»Warte nur, bis du es das erste Mal gesehen hast, dann wirst du gar nicht mehr genug davon kriegen!
Mit Babys ist das nämlich so eine Sache, weißt du? Hat man ein einziges Mal in sein kleines Gesichtchen
geschaut, ist man wie verzaubert und muss es einfach gern haben.«
Gwen brummelte etwas in sich hinein. Es war besser, dass Gregory das nicht hören konnte, ihm wäre
das Lachen sicher vergangen.
Wenn Gwen auf stur stellte, ließ man sie besser in Ruhe. Sie alleine war fähig, sich wieder aus ihrer
Verbohrtheit herauszuholen. Aber das konnte dauern.
Beim Hafen angekommen, mussten sie erst einmal Jeremy suchen, der schon vorausgelaufen war.
Das erwies sich jedoch nicht als schwierig, denn sein Lieblingsplatz war drüben bei den alten Fischern,
die dabei waren, die Netze zu reparieren. Diesen Männern konnte er stundenlang beim
Geschichtenerzählen zuhören.
Natürlich waren schon alle im Bilde, als Gregory mit Gwen auf sie zukam.
»Na, Gregory, hast du die schwierige Arbeit den Frauen überlassen und bist geflüchtet?« Gelächter
ging durch die Männerrunde.
»Weiberkram ist nichts für starke Männer«, antwortete Gregory schmunzelnd.
»Kommt Kinder, wir wollen versuchen, per Funk euren Vater zu erreichen.«
Das musste er nicht zweimal sagen. Lauthals johlend liefen die Geschwister los und Gwen konnte
sogar schon wieder lachen.
Wenig später versuchten die drei im kleinen Hafenbüro ihr Glück über das Funkgerät. Die Kinder
kreischten, als sie Rons Stimme im Lautsprecher hörten.
Er bedauerte, bei der Geburt nicht dabei sein zu können, und bat die Kinder, Kate von ihm einen
dicken Kuss zu geben.
In zwei Wochen etwa wäre er wieder zu Hause.
Dann war Daddy schon wieder weg und man konnte nur noch das Rauschen in der Leitung hören.
Jeremy vermisste seinen Vater immer sehr, er wollte es nur nie zeigen. Schließlich war er schon groß
und keine Heulsuse. Obwohl er Gwen über alles liebte, fehlten ihm die »Männergespräche«, die er nur
mit seinem Dad führen konnte. Natürlich konnte er das seiner Schwester nicht erzählen. Sie hätte es
sicher nicht verstanden.
Gregory gesellte sich zu seinen Freunden und stopfte sich seine Pfeife, um sie danach genüsslich zu
rauchen. Die Kinder setzten sich dazu und hörten dem Gespräch der Fischer zu. Normalerweise war
das Gwen viel zu langweilig und sie wäre schon lange wieder zurück zu ihrer Mutter gegangen. Doch
heute war sie froh, wenn sie das Zusammentreffen mit diesem kleinen Eindringling so lange wie
möglich herausschieben konnte.
Als die Dämmerung einsetzte, nahm Gregory seine Enkel bei der Hand und ging mit ihnen zurück
zu seinem Haus. Er wollte jetzt doch wissen, ob es schon ein neues Enkelkind zu begrüßen gab.
Jeremy zog an Gregorys rechtem Arm, um schneller vorwärts zu kommen, und Gwen bremste an
seinem linken. Das gab ein lustiges Bild ab und Gregory konnte nicht anders, als sich darüber zu
amüsieren. Er wusste genau, dass Gwen dann noch bockiger wurde, doch er liebte das Bengelchen
genauso wie das Engelchen in ihr.
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Auf dem Nachhauseweg trafen die drei auf einige Dorfbewohner, von welchen sie fröhlich gegrüßt
wurden. Gwen und Jeremy waren bekannt in dem kleinen Dorf und man freute sich immer, wenn man
sie wieder einmal zu Gesicht bekam. Da und dort ließ sich Gregory dann auch noch auf einen kleinen
Schwatz ein. Natürlich wollten alle wissen, wie es Kate ging. Wenn sie dann hörten, dass diese gerade
dabei war, das Kind zu gebären, wünschten sie viel Glück. Die kleine Gruppe erreichte das Haus mit
dem schönsten Vorgarten, wie Mary stets zu sagen pflegte, voller Spannung und Erwartung. Jeremy
rannte zur Haustür, doch als er diese aufstieß und gemeinsam mit den anderen eintrat, war es sehr still
im Innern. Gedämpftes Licht schien unter der Küchentür durch und leise Stimmen waren zu
vernehmen.
Die Hebamme saß mit Mary am Küchentisch. Als sie aufblickten, um zu sehen, wer zur Tür
hereinkam, stand Schmerz und Leid in ihren Augen. Gregory hielt sich die Hand ans Herz und fragte
leise:
»Was ist geschehen?« Dabei setzte er sich neben Mary und nahm sanft ihre Hand. Er musterte seine
Frau eindringlich und machte sich innerlich auf das Schlimmste gefasst. Jeremy und Gwen wussten
nicht, wieso alle so still waren. Langsam kamen sie auf ihre Großeltern zu und setzten sich auf deren
Schoß.
Mary hatte sichtlich Mühe, die richtigen Worte zu finden.
»Keine Angst, Kinder, eurer Mutter geht es gut.« Gregory atmete erleichtert auf.
»Das Baby«, setzte Mary wieder an und Tränen liefen nun über ihre Wangen.
»Das Baby – es hat …. es hat keine Füße.«
Nach langem Schweigen fragte Gregory mit ruhiger, gefasster Stimme:
»Wie nimmt es Kate auf?«
»Ganz gut, glaube ich. Sie hatte eine kurze, aber heftige Geburt und schläft jetzt. Ansonsten sieht
man dem kleinen Mädchen überhaupt nichts an. Es fehlen einfach die Füßchen. Der Arzt war auch
hier und sagte, mit der Kleinen sei sonst alles in Ordnung. Kate soll sich jetzt erst einmal ausruhen.«
Diesmal fing Großmutter richtig an zu weinen und drückte Gwen, die auf ihrem Schoß saß, ganz fest
an sich.
Jeremy wollte seine Mutter und seine neue Schwester sehen. Er fand diese Nachricht eher aufregend
als traurig.
»Wie das wohl aussieht? Wo hören dann die Beine auf?« Mit diesen Gedanken ging er in den Nebenraum
und stellte sich still und leise neben das Bett, in dem seine Mutter lag. Sie sah so wunderschön aus,
wenn sie schlief. In ihren Armen ragte ein winziges Köpfchen unter der Bettdecke hervor und sah ihn
aus großen Augen an.
»Egal, wie der Rest von dir aussieht, ich liebe dich sowieso!«
Gwen schaffte es nicht, so leise hinter Jeremy hereinzukommen, um Mami nicht aufzuwecken. Kate
lächelte ihre Kinder müde an und ließ den Blick dann zu ihrem kleinen Baby gleiten. Als Gwen ihre
Schwester erblickte, war sie entzückt von dem kleinen süßen Gesichtchen. Das wiederum löste in ihr
heftigste Widerstände aus. Niemals hätte sie so ohne Weiteres zugeben können, dass sie sich geirrt
hatte. Also zeigte sie nach außen keinerlei Interesse und ging wieder in die Küche zurück, um
Großmutter nach dem Abendbrot zu fragen.
Kate gab es einen kleinen Stich ins Herz, als sie Gwens verbitterte Mine sah, doch sie hatte nicht die
Kraft, sie zurückzurufen. Die vergangenen Stunden hatten ihr ganzes Leben über den Haufen
geworfen. Sie hatte noch nicht den Mut, an die Zukunft zu denken. Also wandte sie sich Jeremy zu und
genoss seine Nähe. Obwohl ihr Sohn erst acht Jahre alt war, kam er Kate schon immer viel älter vor.
Sie hätte sich jetzt gerne bei Ron ausgeweint, aber wer weiß, wann sie ihn wieder zu Gesicht bekam?
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4. KAPITEL
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Kate erwachte mitten in der Nacht. Ihre prall gefüllten Brüste schmerzten und die Milch hinterließ
schon kleine runde Flecken auf ihrem Nachthemd. Die kleine Florentina lag fest eingepackt neben ihr
und schlummerte vor sich hin. Wie süß sie doch aussah – ruhig und zufrieden. Immer wieder zuckte
ihr kleiner Mund. Noch bevor sie recht zu schreien anfangen konnte, hatte sie Kate schon in den Arm
genommen, und es dauerte nicht lange, bis Florentinas Mund Kates Brustwarze fest umschlossen hatte.
Sie fing genüsslich an zu saugen, was in Kates Bauch wiederum heftigste Nachwehen auslöste. Sie
wusste, dass dies ein wichtiger Vorgang war, damit sich ihre Gebärmutter wieder zurückbildete. Kate
konnte sich jedoch nicht daran erinnern, dass es bei ihren ersten beiden Kindern auch nur annähernd
so schmerzhaft gewesen war.
Eigentlich war Kate froh darüber, dass sie die ersten paar Tage bei ihren Schwiegereltern bleiben
konnte. Sie musste wieder zu Kräften kommen, um das, was vor ihr lag, durchstehen zu können. War
dies nun die Strafe für dieses eine Mal, als sie die Kontrolle verloren und sich ihrem Verlangen und
ihrer Lust hingegeben hatte? Wenn ja, geschah es ihr ganz recht. Wie konnte sie sich und ihrer Familie
das bloß antun? Ihr Verstand sagte ihr, dass sie etwas Unrechtes getan hatte, ihr Herz fing jedoch, nur
schon beim Gedanken daran, heftig an zu pochen und ihr Verlangen wurde wieder geweckt. Während
Florentina eifrig trank, schweiften ihre Gedanken ab zu jenem verhängnisvollen Nachmittag.
Es war an einem verregneten Sonntag. Kate fuhr ganz alleine in die Stadt, um das Grab ihrer Eltern zu
besuchen. Der Friedhof lag etwas außerhalb auf einem kleinen Hügel. Sie parkte ihren Wagen auf dem
Parkplatz und blieb noch sitzen, in der Hoffnung, dass der Regen bald nachlassen würde, denn der
Himmel hellte schon wieder etwas auf. Kate war froh, dass keine weiteren Autos auf dem Parkplatz
standen. Sie scheute sich immer davor, irgendwelche Bekannte von früher oder ihre Geschwister
anzutreffen.
Der Regen ließ wirklich bald nach und Kate stieg aus dem Auto aus.
Sie nahm die Blumen aus dem Kofferraum und ging langsam den kleinen Kiesweg entlang. Kate
musste schmunzeln, als sie den Grabstein schon von weitem sah. Man hätte meinen können, ihr Vater
hätte ihn persönlich anfertigen lassen, denn der Stein spiegelte genau seine Eigenschaften. Der Stein
war auffällig in seiner Größe und genauso protzig. Das Grab selber sah eher etwas vernachlässigt aus.
»Sieht so aus, als hätten meine Geschwister Besseres zu tun!«
Während Kate ihre mitgebrachten Blumen einpflanzte, erzählte sie ihren Eltern, wie es den Kindern
ging und was sich in letzter Zeit alles zugetragen hatte. Kate war mit ihrer Arbeit gerade fertig, als sie
Schritte hinter sich hörte. Noch bevor sie sich umdrehen konnte, vernahm sie eine altbekannte Stimme
– und ihr Herz fing auf unerklärliche Weise an zu rasen.
»Wenn das nicht meine schöne Kate ist?« Kate drehte sich langsam um und blickte in das grinsende
Gesicht von Tim Taylor, einem alten Schulfreund.
»Hallo Tim, schön dich zu sehen. Das muss ja eine Ewigkeit her sein. Neun oder zehn Jahre?« Tim
kam auf sie zu, und ohne ein weiteres Wort zu verlieren, nahm er sie einfach in den Arm.
»Ach Kate«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Es tut so gut, dich zu sehen. Dein Haar duftet noch immer so toll.« Jetzt hielt er sie an den Schultern
fest und trat einen Schritt zurück, um sie sich genauer anzuschauen.
»Und du siehst einfach umwerfend aus!« Kate versuchte ihre Fassung wieder zurückzugewinnen. Was
ihr jedoch erschreckend schwer fiel. Tim hatte schon damals eine besondere Wirkung auf Kate –
obwohl er für ihren Geschmack viel zu oberflächlich war. Er hatte während ihrer Schulzeit umwerfend
gut ausgesehen und dies traf, wie Kate feststellen musste, immer noch zu. Mehr noch, er wirkte
irgendwie interessanter als früher. Tim musste lachen, als Kate so sprachlos vor ihm stand. Das half
zum Glück, das beklemmende Gefühl bei Kate zu lösen.
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»Der Unfall deiner Eltern tut mir schrecklich Leid. Ich habe damals davon gehört, war aber
geschäftlich im Ausland tätig.«
»Du musst dich nicht entschuldigen.« Kate setzte sich in Bewegung, um zurück zum Wagen zu gehen.
Tim folgte ihr. Inzwischen hatte der Regen wieder eingesetzt und Tim spannte seinen Schirm auf.
Wortlos gingen sie nebeneinander her. Kate genoss das prickelnde Gefühl in der Magengegend, als sie
sich bei Tim einhakte und sie dabei kurz seine Hand streifte. Tim ergriff als Erster wieder das Wort.
»Kann ich dich zu einem Kaffee einladen oder musst du gleich wieder weiter?« Kate hätte tausend
Gründe gehabt, seine Bitte auszuschlagen. Doch irgendwo in ihrem Innersten erwachte ein lange
unterdrücktes Verlangen. Das Kribbeln im Bauch, nach dem sie sich schon immer sehnte, wurde
Wirklichkeit und benebelte ihren Verstand.
Also antwortete Kate auf seine Frage so gelassen wir nur möglich:
»Gerne, ich würde mich freuen.« Tim strahlte, hauchte ihr sanft einen Kuss auf die Wange und schlug
ein Café ganz in der Nähe vor. Wieder überkam sie dieses prickelnde, fast schon elektrisierende Gefühl.
Es nicht zu bemerken, wäre reiner Irrsinn gewesen!
Der Weg zum Wagen kam ihr plötzlich viel zu kurz vor. Sie hatte regelrecht Angst, dass, wenn sie ihn
losließ, sie dieses Gefühl nie mehr empfinden würde! Beim Parkplatz angekommen, versuchte Kate,
sich nichts anmerken zu lassen. Sie stieg in ihren klapprigen Kombi ein, um dann hinter Tim
herzufahren. Wie zu Teenagerzeiten stellte sie das Autoradio lauter und sang mit, während sie Tims
schnittigem Sportwagen folgte.
Das Café in der Nähe der Schnellstraße war um diese Zeit fast leer. Die beiden setzten sich in eine
kleine Nische, etwas weiter hinten im Raum, und bestellten bei der Kellnerin mit der viel zu hohen
Stimme zwei Cappuccinos. Kate war so nervös und verwirrt über ihre Gefühle, da kam es ihr gerade
recht, dass Tim die ganze Zeit über sich und sein Leben sprach. Eigentlich interessierte es Kate kaum,
was Tim Taylor ihr alles erzählte. Viel lieber hätte sie gewusst, was er bei ihrem Körper sonst noch für
Regungen auslösen konnte. Allein schon darüber nachzudenken, ließ ihr einen kleinen Schauer über
den Rücken laufen. Tim musste ihr wohl eine Frage gestellt haben, denn er hatte aufgehört zu sprechen
und sah sie fragend an. Da Kate keine Ahnung hatte, was er sie gefragt hatte, nickte sei einfach einmal.
So nahmen die Dinge ihren Lauf, und plötzlich fand Kate sich in einem schmuddeligen Motelzimmer
gleich neben dem Café wieder.
Normalerweise hätte sie sich geekelt, doch sie war von ihren Gefühlen und Regungen so gefesselt,
dass es nichts anderes mehr gab, das zählte. Die ganze Welt schrumpfte auf dieses Zimmer, auf sie und
Tim – und auf diesen Augenblick. Nie gekannte Leidenschaft nahm Besitz von ihr. Kate konnte kaum
atmen, als Tim die Knöpfe ihrer Bluse öffnete und langsam seine Finger unter den dünnen Stoff gleiten
ließ. Sie fühlte wie ihre Brustwarzen hart wurden, obwohl er diese noch gar nicht berührt hatte. Kate
sehnte sich danach, dass Tim davon kostete. Sie wollte seine Lippen überall auf ihrem Busen spüren.
An mehr wollte oder konnte sie jedoch noch nicht denken. Etwas unbeholfen fingerte sie am
Reißverschluss von Tims teurer Designerhose herum. Dabei konnte sie seine Männlichkeit deutlich
spüren. Sie wollte Dinge damit anstellen, von denen sie bis jetzt nur in billigen Romanen gelesen hatte...
Gefangen von ihren Gedanken, hatte Kate gar nicht bemerkt, dass sie nur noch im knappen Höschen
vor Tim stand. Als er ihr dieses nun herunterstreifte und dann seine Finger langsam an den Innenseiten
ihrer heißen nackten Schenkel emporstreiften, schrie sie lustvoll auf. Sie wollte sich ihm hingeben, wie
sie es bei keinem anderen Mann je getan hatte. Tim wusste eine Frau zu befriedigen. Bei Kate gab er
sich spezielle Mühe, denn seit er dieses wunderbare Geschöpf das erste Mal erblickt hatte, war er scharf
darauf, mit ihr ins Bett zu steigen. Tim hatte Kate als sehr gewissenhafte Person in Erinnerung, deshalb
wollte er auf Nummer sicher gehen und etwas nachhelfen. Es schien geklappt zu haben, denn die kleine
Tablette, die er zuvor in ihren Kaffee geschmuggelt hatte, zeigte Wirkung. Kates Wangen waren gerötet,
und während ihre Zunge mit derjenigen von Tim in ihrem Mund spielte, stieg die Leidenschaft
wellenartig immer höher und höher.
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Als Tim dann endlich in sie eindrang, so sachte und doch so bestimmt, war es vollends um die sexuell
frustrierte Kate Applegate geschehen. Während er sich leidenschaftlich in ihr bewegte, gab sie Laute
von sich, deren sie sich sonst geschämt hätte. Doch jetzt gab es weder Vernunft noch Grenzen. Es
zählte nur der pure Sex, der sich zwischen ihnen abspielte. Und es war außerordentlich guter Sex! Tim
machte Dinge mit ihr, von denen sie bis jetzt nicht einmal zu träumen gewagt hatte...
Zum ersten Mal in ihrem Leben wusste Kate, was es hieß, einen Höhepunkt zu erleben. Das Gefühl,
sich einfach ganz hingeben zu können und sich fallen zu lassen, war sehr befreiend und beglückend.
Es gab keine versteckten Frustrationen und gespielten Befriedigungen. Es war perfekt.
Eine Ewigkeit später, so schien es Kate, lag sie entspannt in den zerknitterten Laken und betrachtete
fasziniert den muskulösen Rücken von Tim, der auf der Bettkante saß und sich eine Zigarette
anzündete. Langsam drehte er sich um und betrachtete Kate eine Weile schweigend. Dann schaute er
direkt in ihre Augen und brachte sie mit den folgenden Worten jäh wieder in die Realität zurück:
»Kate, dieser Nachmittag war etwas ganz Besonderes, woran ich mich immer gerne erinnern werde.
Es wird aber bei diesem einen Mal bleiben, und ich bitte dich, keinerlei Anstrengungen zu unternehmen,
um mit mir Kontakt aufzunehmen. Ich gebe ganz offen zu, dass ich mit keiner Frau eine Bindung
eingehen will, weder als Partner noch als Geliebter!« Er zog genüsslich an seiner Zigarette und ließ Kate
nicht aus den Augen, um ihre Reaktion genau mitzubekommen.
Kate war es, als würde sie aus einer für sie real scheinenden Traumwelt durch eine Nebelwand in die
kalte, klare Realität zurückgerissen. Plötzlich war sie sich wieder bewusst, wer sie war und was sie getan
hatte! Sie dachte an Ron und die Kinder und fühlte sich auf einmal sehr schmutzig. Wie hatte sie bloß
dermaßen die Kontrolle verlieren können? Sie fand keine Erklärung dafür. Sicher, sie hatte in der letzten
Stunde Höhenflüge gemacht, die sie wahrscheinlich niemals wieder erleben würde. Aber was machte
das schon? Im Vergleich zu den Sicherheiten, die sie zu Hause hatte, und der Liebe, die ihr Ron
tagtäglich entgegenbrachte, war dies hier ein schmutziger Ausrutscher, den sich Kate nie verzeihen
würde. Von alledem ließ sich Kate nichts anmerken, sondern erhob sich vom Bett und schritt noch
etwas benommen, jedoch erhobenen Hauptes, Richtung Badezimmer. Bevor sie darin verschwand,
drehte sie sich zu Tim um und konterte:
»Keine Sorge, Tim, so gut warst du nun auch wieder nicht! Mit dir war ich heute Kaffee trinken und
alles andere hat es nie gegeben!«
»Schon wieder eine Lüge«, dachte sie und schloss die Badezimmertür hinter sich zu. Unter der Dusche
versuchte sie dann, allen Schmutz wegzuwaschen, doch die Schuldgefühle tief in ihrem Innern konnte
das Wasser nicht erreichen...
Kates Erinnerungen wurden unterbrochen, als Florentina zu weinen anfing, weil sie die eine Brust leer
getrunken hatte und noch nicht satt war.
Auf die andere Seite gelegt, sog sich der kleine Wurm auf ein Neues fest und vergaß sogleich alles um
sich herum. Kate betrachtete ihre jüngste Tochter mit gemischten Gefühlen.
»Du wirst nie wissen, wer dein richtiger Vater ist…« Dieser Gedanke führte dazu, dass irgendwo im Innern
von Kate ganz leise eine Tür aufging. Nur gerade soweit, dass man, wenn man genauer hinschauen
würde, die Panik bemerkt hätte, die sich zu befreien versuchte...
Doch Kate war eine Meisterin im Verdrängen. Also versuchte sie, nachdem Florentina satt und frisch
gewickelt war, wieder einzuschlafen. Sie würde sich ein anderes Mal darüber Gedanken machen. Doch
sie hatte vergessen, die Tür wieder zuzusperren...
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5. KAPITEL
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Eine Woche nach Florentinas Geburt kehrte die kleine Familie wieder in ihr Haus am Fluss zurück.
Kate hatte sich soweit gut erholt und fühlte sich körperlich stark genug, die Kinder alleine zu versorgen.
Sie wollte durch die räumliche Trennung auch vermeiden, dass ihre Schwiegereltern merkten, wie es
um ihre Psyche stand. Die Schuldgefühle hatten sich nämlich inzwischen schon so tief eingenistet, dass
es ihr manchmal schwerfiel, ihre Beherrschung zu bewahren. In den Nächten hatte sie deswegen schon
unzählige Tränen in ihr Kissen geweint. Mary und Gregory willigten nur unter der Bedingung ein,
zweimal in der Woche vorbeischauen zu dürfen, bis Ron nach Hause kam.
In ihrem eigenen Zuhause könnte Kate einen klaren Kopf kriegen, und alles würde besser werden –
da war sie sich ganz sicher!
Gwen war sich noch immer nicht im Klaren darüber, was sie von ihrer Schwester halten sollte.
Einerseits war sie ja süß und störte auch nicht beim Spielen mit Jeremy – andererseits hatte sie es ganz
schön drauf, mit ihrem Geschrei die volle Aufmerksamkeit zu kriegen. Manchmal musste sich Gwen
sogar die Ohren zuhalten, weil sie das Geschrei nicht mehr aushalten konnte. Es vibrierte dann jeweils
regelrecht auf ihrem Trommelfell, und dieses drohte zu platzen. Dazu kam, dass jedes Mal, wenn sie
etwas von ihrer Mutter wollte, Florentina sicher schneller war! Das alles wäre für Gwen Grund genug
gewesen, diesen kleinen Wurm zu hassen. Sie brachte es aber einfach nicht fertig, denn auf unerklärliche
Weise fühlte sich Gwen für ihre Schwester verantwortlich.
Seit sie wieder zu Hause waren, hatte Gwen ihre Mutter in der Nacht öfters weinen gehört. Wenn es
Mami schlecht ging, dann ging es ihr auch schlecht. Und daran war wieder Florentina schuld. Sie konnte
es drehen, wie sie wollte, es gab einfach keine befriedigende Lösung. Aus diesem Grund hatte sich
Gwen Rat bei Xenia geholt, doch in ihr fand sie längst keine Verbündete mehr. Xenia konnte nie ernst
sein und amüsierte sich jeweils prächtig, wenn Gwendolyn sauer war. Gwen hatte sogar den Verdacht,
dass Xenia ihre kleine Schwester lieber mochte, da sie ja keine Füße hatte und deshalb so
bemitleidenswert war.
Alles war plötzlich so schwierig, und Gwen wollte auf keinen Fall Ärger machen, denn sie hatte Angst,
dass Mami sie nicht mehr lieb haben würde. So wurde aus der quirligen, immer etwas zu lauten
Fünfjährigen langsam ein angepasstes und unnatürlich liebes Mädchen.
Kate hatte mit ihren Problemen, dem Haushalt und der schreikräftigen Florentina schon genug zu
kämpfen, da konnte sie nicht auch noch merken, was mit ihrer »großen« Tochter los war. Ganz im
Gegenteil, sie fand es großartig, dass Gwen plötzlich so umgänglich und zuvorkommend war. So kam
es, dass Kate das eine oder andere Mal zu Gwendolyn sagte:
»Gwen, Liebes, du bis ja schon so groß und vernünftig. Mami hat dich deshalb sehr lieb.«
Gwen wäre doch viel lieber weiterhin ihr kleines Mädchen gewesen, aber dies war jetzt scheinbar
nicht mehr möglich. Also freute sie sich schon mächtig auf Daddy, der ja bald mit seinem Schiff im
Hafen einlaufen sollte. Sie träumte jeden Abend davon, wie ihr Vater sie in die Arme schließen würde.
Doch wieder einmal kam alles ganz anders, als es sich Gwendolyn gewünscht hatte…
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6. KAPITEL

Der Tag begann für Kate mit heftigen Kopfschmerzen. Sie war übermüdet und ausgelaugt. Die
anfänglich so ruhige und süße Florentina hatte sich in ein regelrechtes Schreibaby verwandelt. Die
Nächte waren streng und tagsüber fand sie kaum Erholung. Der stetig anhaftende säuerliche Geruch
von Säuglingserbrochenem war ihr langsam zuwider und ekelte sie manchmal regelrecht an. Es gab
Tage, an denen ging es ihr recht gut und sie hatte sogar die Kraft, ihren Haushalt in Ordnung zu bringen.
An manchen Tagen kam Kate jedoch kaum aus dem Bett. Sie hätte sich dann lieber verkrochen, denn
ihr war alles zu viel. Sogar Florentinas Geschrei konnte sie dann kaum ertragen. In solchen Momenten
sehnte sie sich so stark nach der Geborgenheit ihres Mannes, dass es schmerzte.
Heute oder morgen müsste Ron endlich zurück sein. Diese Aussicht gab Kate Kraft. Trotz immer
noch leichter Kopfschmerzen stand sie am Herd und bereitete das Mittagessen vor. Florentina lag zur
Abwechslung einmal ruhig schlafend in ihrer Wiege und musste nicht die ganze Zeit herumgetragen
werden. So konnte sich Kate voll und ganz auf ihre zwei Großen konzentrieren, die am Küchentisch
saßen und sie mit allerlei Fragen löcherten. Zum Beispiel wollte Gwen wahrscheinlich schon zum
tausendsten Mal wissen, wieso ihre kleine Schwester keine Füße gekriegt hatte.
Was hätte sie darauf bloß antworten sollen? Dass sie dachte, es sei eine Strafe Gottes, weil sie ihren
Ehemann betrogen hatte? Sie selbst wusste ja nicht einmal, wie sie damit umgehen sollte. Also versuchte
sie, sich nicht allzu viele Gedanken darüber zu machen. Wenigstens jetzt noch nicht. Dafür blieb später
immer noch genügend Zeit. Schließlich sah man Florentina nichts an, wenn sie angezogen war. Kate
hatte versucht, diese Zeit ohne Ron irgendwie durchzustehen, ohne dabei durchzudrehen. Ärgerlich
gab sie Gwen zur Antwort:
»Gwen, ich hab dir schon tausendmal gesagt, dass es Dinge gibt, die wir nicht erklären können!«
Gwen wusste nicht, wieso ihre Mutter so schlechte Laune hatte und war gekränkt. Also machte sie das,
was sie in solchen Situationen am besten konnte, sie verschränkte ihre kleinen Arme vor der Brust und
fing an zu schmollen. Im selben Augenblick klopfte es an der Haustür. Jeremy rannte aus dem Zimmer,
um nachzuschauen, wer sie besuchen kam.
Kurze Zeit später kam er zurück in die Küche, gefolgt von einem Polizisten. Die Kinder hatten ihn
schon ein paar Mal im Dorf gesehen. Er war groß und trug einen Bart. Gwen hatte immer ein wenig
Angst, wenn sie ihm begegnete. Jetzt blieb sie jedoch still auf ihrem Stuhl sitzen und beobachtete den
Mann aufmerksam. Irgendetwas in seinem Gesichtsausdruck verursachte in ihrem Bauch ein komisches
Gefühl.
Der Mann trat in die Küche ein, nahm seinen Hut vom Kopf und hielt ihn sich vor die Brust. Dann
sprach er mit seiner tiefen Stimme:
»Guten Tag, Misses Applegate, hallo Gwen.«
Er trat zu Kate an den Herd und sprach so leise, dass Gwen und Jeremy nichts verstehen konnten.
Während er sprach, sackte Kate plötzlich in sich zusammen und musste sich am Herd festhalten, um
nicht zu stürzen. Ihre Augen waren weit aufgerissen und die Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.
Gwen konnte sich nicht regen und hörte beiläufig, wie Florentina in ihrer Wiege zu schreien anfing.
Von Mami hatte sie noch keinen Laut gehört. Doch wie sich Mami vor ihren Augen veränderte, jagte
Gwen panische Angst ein. Was hatte dieser böse Mann zu ihrer Mutter gesagt?
Gwen wäre gerne aufgesprungen, doch sie blieb reglos sitzen.
Jetzt bewegte sich ihre Mutter langsam auf das Küchenfenster zu und sah hinaus. Sie sprach nicht,
stand nur da und schaute hinaus in die Ferne.
Der Mann stammelte ein:
»Es tut mir Leid«, und verließ den Raum.
Jeremy lief als erster hinter ihm her und rief:
»Was tut ihnen Leid? Was haben Sie unserer Mutter gesagt?«
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Mami bewegte sich nicht, starrte nur weiter aus dem Fenster und Jeremy kam nicht wieder zurück.
Gwen war hin- und hergerissen. Sollte sie ihre Mutter mit Fragen bombardieren oder besser ihrem
Bruder hinterherspringen, da hörte sie, wie ihr Bruder schrie:
»Daddy!«
In Gwen erwachte wieder Leben. Alles um sie herum war vergessen. Sie rannte, so schnell sie ihre
kleinen Beine trugen, nach draußen. Auf der Veranda blieb sie abrupt stehen, denn dort bot sich Gwen
ein ungewöhnliches Bild.
Durch das Gatter im Hof fuhr langsam ein seltsam aussehender Wagen mit schwarzen Scheiben.
Dahinter schritten Männer mit finsteren Mienen und langsamen Schritten. Gwen konnte jedoch ihren
Vater nirgendwo sehen – auch Jeremy war plötzlich verschwunden. Und was wollten diese vielen Leute?
Das Gefährt kam vor ihrem Haus zum Stehen, und als der Fahrer ausstieg und die Rückseite des
Wagens öffnete, erblickte sie ihn. Daddy lag hinten im Wagen.
»Daddy!«, schrie Gwen und wollte gerade die Treppe runterlaufen, als Kate von hinten zu ihr trat
und sie zurückhielt.
»Nicht, Gwen, er kann dich nicht hören.«
»Wieso nicht, Mami? Ist er krank? Wieso weinst du denn? Freust du dich nicht, dass Daddy wieder
da ist?« Die Fragen sprudelten nur so aus der Kleinen heraus. Sonst herrschte beklemmende Stille vor
dem Haus.
Drinnen schrie noch immer die kleine Florentina.
Kate bückte sich hinunter zu ihrer Tochter, sodass sie ihr in die Augen sehen konnte, und sprach mit
gefasster Stimme:
»Schätzchen, wir müssen jetzt ganz stark sein. Daddy wird dich nie wieder hören. Daddy hatte einen
Unfall – er ist tot.«
Um Gwen herum wurde alles schwer. Ungläubig sah sie ihrer Mutter einen Moment lang in die Augen.
Dann drehte sie sich um, lief die Treppe herunter und rief trotzig:
»Das ist gar nicht wahr! Daddy ist nur müde und schläft!«
Kate konnte ihre Tochter nicht zurückhalten, ihr fehlte die Kraft und zu schmerzvoll war dieser
Anblick, wie Gwendolyn mit wehenden blonden Locken auf den Wagen zu rannte und nach ihrem
Vater rief.
Mary und Gregory, welche die ganze Szene bis jetzt wortlos mit angesehen hatten, traten nun hinter
dem Wagen hervor. An Gregorys Hand ging Jeremy, still weinend, neben ihnen her. Er hatte Großvater
gleich erkannt, als er zuvor der Gruppe entgegengerannt war. Dieser hatte ihn liebevoll in den Arm
genommen und ihm erklärt, was passiert war. Daraufhin hatte Jeremy voller Entsetzen laut geschrien,
was wiederum Gwen im Haus gehört hatte.
Mary versuchte Gwen vom Wagen wegzuzerren, was ihr jedoch sehr schwer fiel. Die Kleine hatte
eine ungeheuerliche Kraft und wollte um jeden Preis zu ihrem Daddy, um ihn wachzurütteln.
Kate kam dazu und gemeinsam gelang es ihnen, Gwendolyn festzuhalten und zum Haus
zurückzutragen. Diese schlug wild um sich und schrie immer wieder:
»Daddy schläft, Daddy schläft! Lasst mich zu ihm!«
Einige der Männer hoben Rons Leichnam aus dem Wagen und trugen ihn die Treppe hoch.
Gregory wies ihnen, zusammen mit Jeremy, den Weg ins elterliche Schlafzimmer.
Dort legten sie den leblosen Körper sachte auf das Bett und blieben dann noch einen Augenblick mit
gesenkten Köpfen stehen, um jeder auf seine Weise Abschied zu nehmen.
Kate stand mit Mary und den Kindern in der Küche, als die Männer wieder aus dem Zimmer kamen.
Das betretene Schweigen wurde durch erneutes Kindergeschrei unterbrochen. Florentina meldete sich
wieder, damit man sie auch ja nicht vergessen würde. Die Männer verabschiedeten sich schnell und
verließen das Haus, um wieder ins Dorf zurückzukehren.
Mary ergriff als Erste das Wort:
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»Kate, meine Liebe, geh nur rein zu Ron. Ich werde mich zusammen mit Gregory um die Kinder
kümmern.« Dankbar drückte Kate ihre Schwiegermutter kurz an sich und ging dann wortlos in ihr
Schlafgemach.
Kate schloss die Tür hinter sich und blieb einen Moment mit dem Rücken daran angelehnt stehen. In
ihrem Innern schrie es unaufhörlich: »Nein, nein!!«, doch nach außen machte sie einen gefassten
Eindruck.
Ron lag keine vier Schritte von ihr entfernt und war doch unerreichbar für sie. Sie hatte das Gefühl,
immer mehr den Kontakt zu sich selbst zu verlieren.
Seit dem Moment in der Küche, als sie die unglaubliche Nachricht erhalten hatte, nahm sie alles um
sich herum nur noch wie in Watte wahr. »Genickbruch« – das einzige Wort, das sich in Kates
Gedächtnis gebrannt hatte. Alles andere hatte sie nicht mehr klar aufnehmen können.
Kate spürte kein Gefühl von Leben mehr in sich. Die Tür in ihrem Innern stand weit offen und die
Panik breitete sich unaufhaltsam in ihr aus.
Langsam bewegte sie sich auf Ron zu und setzte sich auf die Bettkante. So, dass sie seine Hände in
die ihren nehmen konnte. Sie fühlten sich kalt an. Lange saß Kate schweigend da und sah ihren Mann
einfach nur an. Er sah wirklich aus, als würde er schlafen. Seine Gesichtszüge waren friedlich und
entspannt. Ganz sachte strich sie ihm eine Haarsträhne aus der Stirn. Um seinen Mund, aus dem sie
immer nur liebe Worte gehörte hatte, wucherte ein wilder Bartwuchs.
Es war schon fast zu einem Ritual geworden, dass Kate ihren Mann jeweils nach der Rückkehr von
seinen Fischfängen einer Rasur unterzogen hatte.
Also stand sie auf, machte alles bereit und rasierte Ron ein letztes Mal – still und ohne Eile. Sie
bemerkte nicht die Tränen, die ihre Wangen herunterliefen. Sie bahnten sich ihren Weg, um unter dem
Kinn zusammenzukommen und dann in gleichmäßigen Abständen auf Kates Bluse zu tropfen. Kein
Schmerz, kein Gefühl, nur einsame Tränen.
Nach getaner Arbeit legte sie sich neben Ron, schmiegte sich an ihn und lag einfach nur da – reglos,
gefühllos, gedankenlos.
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7. KAPITEL
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Mary und Gregory hatten alle Hände voll zu tun, um Gwen vom Schlafzimmer ihrer Eltern
fernzuhalten. Sie wollte einfach nicht glauben, dass ihr Daddy tot sein sollte. Doch nicht er, der immer
so stark und voller Leben gewesen war.
Die Großeltern fanden, dass ihre Mami jetzt diese Zeit mit Daddy alleine brauchte und es für Gwen
nur zu schmerzlich wäre, ihren Vater so zu sehen.
Natürlich kam es ihnen auch gelegen, dass sie sich um die Kinder kümmern konnten, das gab ihnen
die Möglichkeit, ihren eigenen Schmerz noch etwas aufzuschieben…
Gwen gab sich irgendwann geschlagen, aß etwas von dem Eintopf, den ihre Mutter zuvor gekocht
hatte, und ging dann in ihr Zimmer, um alleine zu sein. Gregory sah ihr mit gemischten Gefühlen
hinterher. Er machte sich Sorgen um seinen kleinen Sonnenschein. Unter dieser harten Schale steckte
ein so weicher Kern. Würde sie diese Tragödie verkraften? Gregory hatte da so seine Bedenken. Mary
räumte die Küche auf und kümmerte sich nebenbei um die schreiende Florentina. Wäre das nicht
Florentinas Hauptbeschäftigung gewesen, hätte man meinen können, der kleine Wurm hätte
mitbekommen, welcher Schatten sich heute über dieses Haus gelegt hatte.
Gregory ging nach draußen auf die Veranda. Er wollte in aller Ruhe eine Pfeife rauchen. Vielleicht
gelang es ihm dabei, das Ausmaß dieses Unfalls zu erfassen. Jeremy, der ihm nicht mehr von der Seite
wich, kuschelte sich auf der Schaukel eng an seine Seite und ließ seinen Tränen freien Lauf. So saßen
sie eine ganze Weile – mit einer Verbundenheit, die keiner Worte bedurfte. Für Fragen und Gespräche
würde noch genug Zeit sein.
Gwen warf sich auf ihr Bett und weinte hemmungslos in das geblümte Kissen hinein. Sie war traurig
und vor allem wütend. Ihr ganzer Körper zitterte und Gwen brauchte eine ganze Weile, bis sie Xenia
bemerkte. Diese saß in ihrem durchsichtig schimmernden Kleidchen auf dem Bett zu Gwens Füßen
und strahlte, als wäre heute der schönste Tag überhaupt.
Gwen strich sich mit ihren Händchen die Augen trocken. Sie wollte mit Xenia sprechen, sie ausfragen,
schimpfen, weinen und noch vieles mehr. Ihr Mund öffnete sich, doch sie brachte keinen Ton heraus.
Neben Xenia saß Daddy – genauso durchsichtig schimmernd. Auf eine so komische Art und Weise
hatte sie ihn noch nie gesehen. Auch er strahlte sie an und sprach, ohne seine Lippen zu bewegen.
»Meine süße kleine Gwen. Es tut mir so Leid, dass dir so viel Schmerz zugefügt wird. Meine Zeit in
meinem Menschenkleid war vorbei, deshalb kam es zu diesem Unfall. Ich kann dir aber versichern,
dass ich keine Schmerzen habe. Alles ist gut, wie es ist. Du wirst das nicht verstehen können, doch
deine Seele weiß genau, wovon ich rede. Vertraue mir und vertraue vor allem dir und deinen
Wahrnehmungen. Du bist noch klein, aber du bist stark und hast ein reines Herz. Sei nicht traurig,
Sonnenschein. Ich kann dich immer hören, wenn du zu mir sprichst. Es ist jedoch das einzige Mal, dass
du mich in dieser Form sehen kannst.«
Gwendolyn hatte gespannt zugehört. Sie fühlte sich mit ihrem Vater sehr verbunden und spürte seine
tiefe Liebe. Es war, als würde sie am ganzen Körper gekitzelt. Nicht in der Art, dass sie hätte lachen
müssen. Eher, als spürte sie jede einzelne Zelle in ihrem Körper vibrieren.
»Daddy, wie ist es, wenn man tot ist?« Für einen Moment konnte Gwen ihre Traurigkeit zur Seite
schieben, denn die Neugier bekam Überhand.
»Es ist, als hätte man ein anderes Kleid angezogen. Der Stoff ist leichter und für die meisten
Menschenaugen durchsichtig und…«
Gwen fiel ihm ins Wort. Ihr war etwas in den Sinn gekommen, das sie ihn unbedingt fragen musste:
»Daddy, Florentina ist ohne Füße auf die Welt gekommen. Kannst du nicht machen, dass sie noch
welche bekommt?«
»Ich weiß, meine kleine Gwen. Doch machen kann ich nichts, denn deine Schwester hat sich ihren
Körper genauso ausgesucht, wie er jetzt ist.«
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Gwen wollte widersprechen, doch diesmal sprach Ron einfach weiter:
»Es ist schwer für dich zu begreifen, aber glaube mir, alles hat seinen Grund. Als Mensch sieht man
nur immer einen kleinen Ausschnitt von etwas ganz Großem. Deshalb kann man vieles nicht
verstehen.«
Gwens Verstand konnte mit den Worten ihres Vaters nicht viel anfangen, aber das machte nichts. Sie
war glücklich, dass Daddy zu ihr gekommen war, auch wenn er viele komische Dinge gesagt hatte.
Jetzt war sie müde und wollte schlafen. Sie kroch unter die weiche, mit kleinen Veilchen übersäte
Decke und hörte noch, wie er sagte:
»Gwen, wenn du mich besuchen willst, dann mach das in deinen Träumen!«
Dann schlief sie ein und träumte von einer Welt, in der Daddy mit ihr und Jeremy spielte und wo
Florentina Füße hatte…
Draußen war es bereits dunkel, als Gwen aus ihrem Traum aufschreckte. Von weitem hörte sie
Florentinas Geschrei. Der Mond war so hell und rund am Himmel, dass sein Licht im Zimmer
unheimliche Schatten an die Wände zauberte. Gwendolyn ängstigte sich und stieg aus dem Bett. Der
Fußboden fühlte sich kühl an unter ihren nackten Füßen. Sie nahm ihre Puppe in den Arm und hielt
sie ganz fest an ihren Oberkörper gedrückt. So durchquerte sie im Mondschein ihr Zimmer und öffnete
die Tür. Mami musste noch wach sein, denn unter der Wohnzimmertür hindurch schien schwaches
Licht.
Florentina schrie jetzt lauter.
Gwen ging schnell durch den Flur und öffnete leise die Tür. Dort blieb sie wie angewurzelt stehen.
Irgendetwas hielt sie davon ab, das Zimmer zu betreten. Das Bild, das sich Gwen bot, machte ihr Angst.
Mami stand vor dem Kamin und hatte ihr den Rücken zugewandt. Sie hatte Gwen scheinbar gar nicht
bemerkt. Sie drehte sich jedenfalls nicht um.
Im Kamin brannte ein Feuer. Florentina schrie wie am Spieß. Gwen konnte sie jedoch nirgends sehen.
Mami war etwas nach vorne gebeugt und murmelte unverständliche Worte vor sich hin. Und dann war
da noch dieses hysterische Lachen. Ein Lachen, das Gwen noch nie zuvor bei irgendjemandem gehört
hatte. Ein Lachen, das durch Mark und Bein ging und einem das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Gwen drückte die Puppe noch etwas fester an sich. Sie war wie erstarrt und reagierte erst gar nicht,
als sie sah, wie ihre Mutter etwas ins Feuer warf. Erst, als das kleine Bündel in Feuer aufging und sie
erkannte, was es war, stieß sie einen lauten Schrei aus.
Kate drehte sich abrupt um und starrte ihre Tochter mit einem Blick, der einem wilden Tier glich,
entgeistert an.
Gwen starrte immer noch ins Feuer, wo Florentinas Schreie immer leiser wurden und zu einem
Wimmern übergingen, bis sie dann ganz verstummten.
Die Flammen züngelten wild empor und tanzten ihren Reigen. Sie kümmerten sich nicht darum, was
ihre Feuersbrunst schürte.
Gwen wollte ihre Schwester aus dem Feuer retten, wollte auf Mami einschlagen, wollte laut brüllen
und toben – doch sie blieb wie angewurzelt stehen und brachte keinen Laut mehr heraus.
Wie durch einen Nebel sah sie ihre Mutter auf sich zukommen. Das hysterische Lachen drang zu
Gwen durch und ließ sie abermals erschauern. Was sie in diesem Gesicht, das immer näher kam,
erblickte, war nicht ihre Mutter. Sie konnte es einfach nicht sein.
Das verzerrte Gesicht kam dem ihren näher und näher, bis es nur noch einen Hauch entfernt war.
Der Mund öffnete sich und eine Stimme, die Gwen fremd war, drang von weit her zu ihr durch:
»Gwen, Schätzchen, ich musste das tun, versteh mich doch. Es ist für alle das Beste – jetzt, da Daddy
nicht mehr da ist! Und Florentina habe ich einen Gefallen getan. Sie hätte sowieso nie laufen können!«
Wieder dieses hysterische Lachen. Kate hob mahnend den Finger und rief:
»Versprich mir, dass du nicht weinen wirst. Versprich es!«
Gwen sah noch den bösen Blick, dann brach sie zusammen.
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8. KAPITEL
1 Woche später
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In Zimmer 310 der Abteilung für Brandopfer in der städtischen Kinderklinik brannte noch Licht.
Eigentlich war Schwester Angelikas Schicht schon zu Ende, doch sie saß am Bett der kleinen
Gwendolyn Applegate und las ihr eine Gute-Nacht-Geschichte vor.
Obwohl Gwen die Augen geschlossen hatte, wusste Schwester Angelika, dass sie nicht schlief. Gwen
hätte sich nie den Schluss einer Geschichte entgehen lassen, auch wenn sie noch so müde war.
»...und der Bär zog sein kleines Baby ganz nah an sein dickes Fell heran, damit es nicht frieren musste.
So schliefen sie beide ein!«
Schwester Angelika klappte leise das Buch zu, erhob sich vom Stuhl neben Gwens Bett und hauchte
ihr einen Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn. Normalerweise öffnete Gwen dann kurz ihre Augen und
lächelte Schwester Angelika an, doch heute schien sie doch eingeschlafen zu sein. Also prüfte die
Schwester noch einmal, ob die kleine Patientin auch gut zugedeckt war, bevor sie zur Tür ging und das
Licht löschte.
Langsam ging sie den Flur entlang zum Schwesternzimmer, um ihre Jacke zu holen. Sie hatte sich
entschlossen, zu Fuß nach Hause zu gehen, um noch etwas kühle Herbstluft zu schnuppern. Als sie
aus dem Personaleingang trat, nahm sie erst einmal tief Luft und schüttelte sich. Dabei stellte sie sich
vor, dass alles, was an ihr haftete, wie Schmerz, Sorgen oder Krankheiten einfach von ihr abfiel. Das
war Schwester Angelikas Ritual, um »ihre Arbeit« nicht mit nach Hause zu nehmen. Meistens gelang
ihr das ganz gut, doch der Fall Gwendolyn machte Angelika zu schaffen. Zu tief war sie bewegt von
diesem Schicksal.
Die Straßen waren um diese Zeit menschenleer und der noch fast volle Mond am Himmel schien
heute besonders hell, als wolle er sagen:
»Komm, liebes Kind, ich leuchte dir den Weg…«
Angelika war nun seit über fünf Jahren Schwester auf dieser Station. Die Arbeit war anstrengend, und
es konnte schon mal vorkommen, dass man an seine physischen wie auch psychischen Grenzen stieß.
Doch seit Gwen vor rund einer Woche eingeliefert wurde, hatte sich etwas geändert.
Tief in Gedanken versunken, bemerkte Angelika nicht einmal, dass es leicht zu regnen begonnen
hatte.
Noch nie hatte sie eine Krankengeschichte eines Patienten so aufgewühlt wie die von Gwendolyn
Applegate. Es war furchtbar, daran zu denken, was sich im Elternhaus der kleinen Gwen abgespielt
haben musste. Man dachte immer, solche Geschichten gäbe es nur im Film. Und doch war es Realität,
Schicksal – wie man es auch immer nennen wollte.
Wie verzweifelt musste Gwens Mutter über den Tod ihres Mannes doch gewesen sein. Oder war sie
psychisch krank?
Man würde es nie herausfinden, denn Kate Applegate hatte das ganze Haus mitsamt ihrer Familie
angezündet.
Dass Gwen überlebt hatte – wenn auch in kritischem Zustand – grenzte an ein kleines Wunder.
Ihren vom Feuer zerschundener Körper fand man im Wohnzimmer, wo das Feuer zuletzt
eingedrungen sein musste. Die Ärzte machten sich keine großen Hoffnungen und staunten einfach
immer wieder darüber, dass sie noch lebte. Für die Polizei gab es bis anhin noch einige ungeklärte
Fragen. Zum Beispiel, wieso die Überreste des kleinen Babys im Kamin gefunden wurden und wieso
Gwen nicht wie alle anderen Personen in ihrem Bett lag.
Die Ermittler konnten mit Bestimmtheit sagen, dass Jeremy, der älteste der Kinder, in seinem Bett
mit einem Kissen erstickt worden war. Der Brand selber musste im elterlichen Schlafzimmer gelegt
worden sein. Dort waren die Leichen am meisten verkohlt und man fand die Frau, wie sie ihren bereits
am Morgen verstorbenen Ehemann eng umschlungen hielt.
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Der Schutzengel von Gwendolyn, da war sich Angelika sicher, hieß Gregory Applegate und war ihr
Großvater.
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Gregory und Mary hatten an jenem Abend die Familie ungern alleine gelassen. Doch Kate hatte darauf
bestanden und erklärt, dass sie sowieso alle müde seien und gleich schlafen gingen.
Gregory und Mary Applegate, selber völlig erschöpft und in tiefer Trauer, da an jenem Tag Ron, ihr
einziger Sohn, beim Anlegen im Hafen tödlich verunfallt war, machten sich also auf den Heimweg.
Die Familie des Fischers Ron Applegate lebte alleine an einem Fluss. Ihr Grundstück und das Dorf,
wo Gregory und Mary Applegate wohnten, waren durch einen Wald getrennt.
Gregory Applegate konnte an jenem Abend einfach nicht einschlafen. Er machte sich Sorgen. Vor
allem um seinen Enkel Jeremy, der den ganzen Nachmittag nicht mehr von seiner Seite gewichen war.
Jetzt im Nachhinein fiel ihm auf, dass dieser achtjährige Junge gar nichts mehr gesprochen hatte. Hatte
seine Schwiegertochter die Kraft, ihre Kinder aufzufangen? Gregory drehte sich lange Zeit unruhig im
Bett. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus und stand auf, um einen Schluck Wasser zu trinken. Er
hörte noch, wie Mary durch die Dunkelheit rief:
»Komm wieder ins Bett, du brauchst deine Kräfte für die Tage, die kommen.« Doch Gregory konnte
nicht, irgendetwas trieb ihn an, etwas zu tun.
Also zog er seine Kleider an, nahm sein Fahrrad aus dem Schuppen und fuhr los. Die kühle Nachtluft
tat ihm gut und der fast schon volle Mond leuchtete ihm durch den dunklen Wald. Noch bevor er
diesen verließ, bemerkte er, wie dicke Rauchschwaden und helle Flammen in den Himmel
emporstachen. Ein schreckliches Bild!
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Gregory Applegate musste um sein Leben geradelt sein, damit er das brennende Haus so schnell wie
möglich erreichen konnte.
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Es gelang ihm, durch das offene Fenster ins Wohnzimmer einzusteigen, wo er Gwendolyn am Boden
erblickte. Sie lag da, das Nachthemd in Flammen und schaute ihren Großvater an, als würde sie sagen:
»Danke, dass du gekommen bist.«
Gregory fand draußen auf der Veranda eine Decke, mit der er das Feuer, das sich in Gwens Fleisch
fraß, ersticken konnte.
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Schwester Angelika fröstelte, als sie daran dachte. Seither lag das kleine Mädchen nun bei ihnen im
Krankenhaus und hatte noch kein Wort gesprochen.
Und doch war es Angelika, als wäre es auf der Station heller und wärmer geworden seit der
Einlieferung von Gwendolyn.
Sie musste so viel durchgemacht haben und lag seit einer Woche im Krankenbett, dick eingepackt in
ihre Verbände. Doch in ihrem Gesicht stand immer ein Strahlen, dem man sich nicht entziehen konnte.
Nie hatte sie jemand weinen gesehen, trotz aller Schmerzen, die sie haben musste.
Wie durch ein weiteres Wunder waren ihr Gesicht und ihre langen blonden Locken vom Feuer
verschont geblieben.
Ihre ganze Ausstrahlung hatte etwas Engelhaftes.
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Angelika hatte auch schon von anderen Schwestern oder Ärzten dasselbe gehört. Alle waren der
gleichen Ansicht: Egal, ob man verärgert, traurig oder verzweifelt war, ein Besuch in Gwens Zimmer
reichte aus, und das Herz ging einem auf.
Auch Eltern von anderen Kindern hatten der Schwester schon oft erzählt, dass sie seither mit dem
Schmerz ihrer eigenen Tragödien auf andere Weise umgehen konnten. Dieses kleine Geschöpf in ihrem
zerschundenen Körper strahlte eine solche Kraft und so viel Licht aus, dass man sich ihrer Ausstrahlung
einfach nicht entziehen konnte.
Der Stuhl neben Gwendolyns Bett war deshalb selten leer. Es gab immer irgendjemanden, der dort
saß und sich einen kurzen Moment dieser fast schon mystischen Energie hingab.
Und dann waren da natürlich noch Gwendolyns Großeltern, die vom Schicksal schwer gezeichnet
waren. Sie kümmerten sich um ihren kleinen Sonnenschein – wie sie Gwendolyn immer nannten – so
rührend, dass manch einer einen Kloß im Hals spürte, wenn man sie beobachtete.
Angelika konnte über all dies nur staunen und fragte sich wie schon so oft, was wohl in diesem kleinen
Geschöpf vor sich ging…

Gwen sah den Bären bildlich vor sich, wie er sein kleines Baby an sich drückte und dann einschlief…
Sie hatte ihre Augen während der Erzählung fest geschlossen, denn so konnte sie besser in die Welt
der Märchen eintauchen.
Gwen spürte Schwester Angelikas Kuss auf ihrer Stirn. Doch dieses Mal mochte sie nicht, wie üblich,
die Augen öffnen. Sie blieb einfach still liegen. Auch als das Licht ausging, blieb sie noch eine Zeit lang
wach.
Xenia war bei ihr. Seit dem schrecklichen Tag war sie nicht mehr von Gwens Seite gewichen – oder
Gwen vermochte sie seither einfach permanent zu sehen. Xenia war aufgetaucht, als das Feuer um
Gwens Nachthemd züngelte, um sich seine Beute zu holen.
Gwen hörte ihre lichte Freundin immer sagen:
»Halte durch und beweg dich nicht. Es ist noch nicht Zeit für Dich. Ich habe nach deinem Großvater
geschickt. Er wird bald hier sein.«
Xenia strahlte eine solche Ruhe und Sicherheit aus, dass Gwen keine Angst verspürte und einfach
ruhig liegen blieb.
Sie spürte die Hitze, doch keinen Schmerz.
»Was hatte Daddy gesagt? Es ist nur ein Kleid, das wir irgendwann wechseln?«
Als dann Großvater durch das Fenster stieg, war Gwen dankbar und glücklich. Sie konnte jedoch
nichts weiter tun, als ihn anzuschauen. Dann fiel sie in einen tiefen traumlosen Schlaf und wachte
wieder in einem ihr fremden Zimmer auf. Die Wände waren voller farbiger Zeichnungen. Vor ihrem
Fenster stand ein wunderschöner großer Baum. Und dann war da noch dieses schöne Gesicht einer
jungen Frau, die ihr erklärte, dass sie Schwester Angelika hieße.
Großvater und Großmutter kamen sie jeden Tag besuchen. Sie sahen so traurig aus, dass Gwen nicht
anders konnte, als sie einfach anzulächeln. Sie hätte gerne mit ihnen gesprochen, ihnen gesagt, dass sie
ihre Herzen nicht verschließen sollten, doch seit jener Nacht hatte sie keinen Laut mehr von sich
gegeben. Alles, was ihr blieb, war, ihr eigenes Herz so weit wie möglich zu öffnen, damit alle ihre Liebe
spüren konnten.
Gwen wollte nicht, dass man auf ihre Mami böse war.
Xenia hatte ihr nämlich erzählt, wie alles gekommen war. Jeder hat seine eigene Geschichte. Jeder
seinen eigenen Weg. Gwen wusste auch, dass es Mami, Jeremy und Florentina gut ging, denn alle waren
zu Besuch gekommen. Genauso, wie damals ihr Daddy auf ihrem Bett gesessen hatte.
Deshalb konnte Gwen gar nicht traurig sein – außer, dass sie ihr Kleid, das zerfetzt war, auch ablegen
wollte.
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Doch wenn sie darüber mit Xenia sprach, was natürlich ging, da sie sich mit ihr gedanklich unterhalten
konnte, fing diese immer an zu kichern und sagte jeweils so komische Sachen wie:
»Du kannst erst zurückkehren, wenn du dich erinnerst, und du weißt noch immer nicht, wie man
geht.«
Das waren Momente, in denen bei Gwen das Bengelchen wieder durchdrang. Was sollte dieses
Geschwätz? Xenia wusste doch genau, dass das Feuer ihre Beine zum Teil mitgenommen hatte…
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Bevor Gwen nun an diesem Abend einschlief, sah sie eine Geschichte in ihren Gedanken.
Da war eine junge Frau, die einst mit einem großen Herzen durchs Leben ging. Darin befanden sich
Dinge wie Unbeschwertheit, Freude, Liebe, Offenheit, Wissensdurst, Hilfsbereitschaft, Lebenslust und
noch vieles mehr.
In all den Jahren, vom Leben und Erfahrungen geprägt, entstand um das Herz eine dicke Mauer aus
Angst, Verletzung und Schmerz.
Der Geist hielt strenge Kontrolle darüber. Wenn man dem Herzen zu nahe kam, ging der Geist auf
Abwehrstellung und reagierte mit Zorn, Groll, Überheblichkeit und was ihm noch so alles einfiel. Aus
der Unterdrückung heraus entstanden Schuldgefühle, Komplexe und Minderwertigkeitsgefühle.
Das Urvertrauen, das diese Frau am dringendsten gebraucht hätte, war so tief im Herzen eingemauert,
dass es keine Chance hatte, auszubrechen.
Der Geist fühlte sich mächtig und clever und hatte nicht damit gerechnet, dass sich ihm jemand
entgegenstellen würde.
Doch der Körper wollte nicht länger zusehen. Schritt für Schritt ging er in die Offensive und konterte
mit allerlei Krankheiten und Gebrechen. Er distanzierte sich immer mehr.
Das kratzte gewaltig am Ego des Geistes. Schließlich war er der Herrscher. So kam es, dass alles in
dieser jungen Frau zum Stillstand kam. Sie konnte weder geistig noch körperlich weitergehen. Der Geist
wollte nicht ohne Körper. Der Körper wollte nicht mehr auf diese Weise mit dem Geist. Und das Herz?
Das wurde ganz vergessen.
Da kam ein Licht und sprach zu den verfeindeten Parteien:
»Es gibt zwei Möglichkeiten für euch. Entweder ihr macht so weiter wie bisher und ihr werdet
untergehen. Oder ihr seht ein, dass es ohne den anderen nicht geht, schließt euch in Freundschaft
zusammen, und ihr werdet den Himmel auf Erden holen. Die Wahl liegt bei euch.«
Der Geist und der Körper hielten lange Zwiegespräche miteinander. Dadurch hatte das Herz etwas
Zeit, sich zu erholen. Es war jedoch zu geschwächt, um sich selber zu befreien.
Nach langem Hin und Her kamen der Geist und der Körper zu einer Einigung. Sie wussten jedoch,
dass sie es alleine nicht schaffen würden. Also baten sie das Licht um Hilfe. Das Licht war erfreut
darüber und entgegnete:
»Ich kann euch einen Rat geben. Umsetzen müsst ihr ihn aber alleine.«
Der Geist und der Körper willigten ein und waren gespannt, welche Aufgabe ihnen übergeben würde.
»Was ihr braucht, ist Glaube, Liebe und Vertrauen. In allem, was ihr macht, tut es zusammen und
bezieht das Herz mit ein. Nur so kann Frieden und Heilung entstehen. Wenn ihr es schafft, werdet ihr
geistig wie körperlich überall hingehen können – wie und wo es euch auch immer beliebt.« Das Licht
wollte sich wieder entfernen, als die beiden ihm hinterher riefen:
»Werden wir dich wieder sehen?« Das Licht lächelte und erwiderte:
»Ganz gewiss. Wenn ihr dem Herzen Zeit lasst und tief genug sucht.« Dann waren Geist und Körper
wieder alleine und machten sich daran, Freundschaft mit dem Herzen zu schließen. Das erwies sich
jedoch schwieriger als erwartet. Das jahrelang unterdrückte Herz musste erst wieder Vertrauen fassen
und lernen, sich selbst zu lieben und zu öffnen.
Doch je mehr Mühe sich die drei gaben, desto stärker regte sich etwas in der tiefsten und dunkelsten
Ecke des Herzens. Das Licht des Urvertrauens wurde wieder geweckt und bahnte sich langsam und
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stetig seinen Weg. Durch welche Gänge und Windungen es auch immer durchkam, es hinterließ, Licht,
Freiheit und Vertrauen! Das Herz wurde so weit und groß wie ein Ozean, und nichts konnte es mehr
erschüttern. Körper, Herz und Geist waren wieder vereint, und die junge Frau konnte ihren Weg auf
ganz neue Art und Weise weitergehen.
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Gwen war eingeschlafen und Raphael war wieder erwacht. Der Körper von Gwen war gegangen und
Raphael ging jetzt auch – zusammen mit Xenia zurück in den Himmel. Raphael hatte einen Weg
gefunden zu gehen. Nämlich:
Wenn Körper, Herz und Geist im Einklang stehen, können sie überall hingehen.
Seine Aufgabe war vollbracht, er hatte die Herzen der Menschen, die ihm als Gwendolyn begegnet
waren, berührt…
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