Tätigkeitsbericht 2012 - Portal Kanton St.Gallen

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Tätigkeitsbericht 2012 - Portal Kanton St.Gallen
Ma ri a Ma gda l e na
Tätigkeitsbericht
2012
Präventions- und Gesundheitsförderung für
Frauen im Sexgewerbe
MariaMagdalena, Beratungsangebot für Frauen im Sexgewerbe, Sternackerstrasse 10a, 9000 St.Gallen
Fon 058 229 21 67, Fax 058 229 21 68, [email protected], Postkonto 90-735716-8
www.mariamagdalena.sg.ch
Ein Präventions- und Gesundheitsförderungsprojekt des Gesundheitsdepartementes des Kantons St.Gallen
1
Vorbemerkungen
2
Prostitution und Gesetze
Im Jahr 2012 haben die Mitarbeiterinnen von MARIA MAG-
Die öffentliche Wahrnehmung einer zunehmenden Immigra-
DALENA rund 700 Frauen kontaktiert, davon gerade einmal
tion von Sexarbeitenden hat die Diskussionen um die Prosti-
acht Schweizerinnen. Das St.Galler Sexgewerbe wird ge-
tutionsgesetze europaweit wieder neu entfacht. In den politi-
prägt durch ausländische Frauen, in erster Linie aus Osteu-
schen Debatten wie auch in den Medien wird das Sexge-
ropa, aber auch aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Sie
werbe fast immer im Zusammenhang mit Menschenhandel
bringen anscheinend das «gewisse Etwas» mit, das sich
genannt. Das wirkt auf die Öffentlichkeit: Sexarbeit wird im-
Schweizer Freier wünschen.
mer mehr als ein störendes, immissionsreiches Gewerbe im
Dunstkreis krimineller Machenschaften wahrgenommen, als
Die Schweiz ist ein reiches Land, vor allem aus der Sicht
ein Gewerbe, das aus Opfern und Tätern besteht und wel-
Osteuropas, der Dritten Welt oder ganz global, aus der Sicht
ches abgeschafft gehört.
armer Menschen. Und so darf man sich nicht wundern, dass
Frauen ohne Einkommen, die vielleicht auch bereits in ihrem
Der öffentliche Meinungswandel ist nichts Neues: Der
Umgang mit dem käuflichen Sex schwankt seit je zwischen Toleranz und Repression.
Heimatland angeschafft haben, ihr Glück in der reichen
Schweiz suchen. Da braucht es nicht immer den «berühmten Zuhälter», der sie in die Schweiz holt. Ihre Notlage und
die Verpflichtung, für ihre Familie zu sorgen, ist oft Grund
genug für diesen Schritt.
Seit 1990 richtet sich in Schweden eine neue abolitionistiSeit einiger Zeit wird in der
sche1 Bewegung gegen die Prostitution: Prostituierte sollten
Schweiz wieder der Ruf nach
aus ihrer «Versklavung» befreit werden. Der Staat Schwe-
einem Verbot der Sexarbeit
den setzt Prostitution mit Gewalt gegen Frauen gleich und
laut. Mit Begeisterung wird
verneint, dass es freiwillige, selbstbestimmte Prostitution
dabei über das so genannte
gibt. Er setzt auf Freierbestrafung in der Hoffnung, die Pros-
Schweden-Modell
diskutiert:
tituierten, die ja immer Opfer sind, zu schonen. Langfristiges
Man könne doch einfach die
und erklärtes Ziel Schwedens ist die Abschaffung der Prosti-
Freier – wie so eigentlich nicht
tution.
Kunden? – bestrafen, dann ist
Die Geschichte zeigt, dass ein solches Unterfangen noch
das Problem gelöst. Und zwar
nie und nirgends gelungen ist. Überblickt man nur die letz-
auf Kosten der Freier, der Zu-
ten Jahrhunderte, fällt auf, dass sich Phasen der Repression
hälter, usw. und nicht auf Kosten der Opfer, der Sexarbeite-
immer wieder mit toleranteren Perioden abwechselten. Die
rinnen. Aber was dann mit jenen Frauen geschehen soll, die
Haltung der Bevölkerung und der Autoritäten war fast immer
sich dafür entschieden haben, ihr Leben – und oft auch das
durch Ambivalenz geprägt: Einerseits grenzte man die «Hu-
ihrer Familien – mit sexuellen Dienstleistungen zu finanzie-
ren» aus, andererseits wollte man auf ihre Dienste nicht
ren, wenn man die Kundschaft bestraft und quasi das Ge-
verzichten. Diese Ambivalenz besteht bis zum heutigen Tag
werbe verunmöglicht, darüber wird nicht gesprochen.
fort.
Sicher, es ist nachvollziehbar und auch legitim, über den
Die schwedische Vorgehensweise strahlt dennoch kräftig
heutigen und zukünftigen Umgang mit dem Sexgewerbe
auf Europa aus. Die Fachorganisationen aus verschiedenen
und entsprechende gesetzliche Regelungen zu diskutieren.
Ländern konstatieren eine deutliche Zunahme von Verbo-
Doch eine solche Diskussion darf nicht – auch nicht aus ei-
ten, Regulierungen und Ausgrenzungen und damit verbun-
ner ehrbaren Zielsetzung – zu weiteren Einschränkungen
den eine vermehrte gesellschaftliche Stigmatisierung von
oder gar zur Illegalisierung des Sexgewerbes führen. Im
Sexgewerbe und Sexarbeitenden.
Gegenteil, es soll dazu dienen, die Legalität des Gewerbes
zu festigen und die Stellung der Sexarbeiterinnen zu ver-
Die Bestrebungen zur Regulierung der Prostitution legen den Fokus auf die Bekämpfung von kriminellen Begleiterscheinungen.
bessern.
Wir wünschen eine spannende Lektüre.
Herbert Bamert
So wird das Sexgewerbe nicht auf den Weg eines normalen
Gesundheitsdepartement des Kantons St.Gallen
Gewerbes gebracht, sondern eher das Gegenteil erreicht:
1 Begriff des Abolitionismus hat seinen Ursprung in den USA in der Mitte des
19. Jahrhunderts und steht für die Bemühung, die Sklaverei aus humanitären,
sozialen und politischen Gründen abzuschaffen
1
Es gibt keine Gleichstellung mit anderen Erwerbstätigkeiten
teten, wie in der Antike, vor allem in Badehäusern. Im 12.
und keine Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Stattdes-
und 13. Jahrhundert wurden – damals Frauenhäuser ge-
sen werden rigide Anmeldungspflichten, komplizierte Bewil-
nannte – Bordelle geöffnet, welche unter der städtischen
ligungsverfahren, erweiterte Kontrollrechte. für die Polizei
oder kirchlichen Aufsicht standen. Die Stadträte verpachte-
u.a. eingeführt. Die rechtliche Sicherheit und der Zugang zu
ten die Bordelle an Hurenwirte, die sich im Gegenzug ver-
niederschwelligen Gesundheits- und Beratungsangeboten
pflichteten, gewissen Regeln, etwa Hygienebestimmungen
für Sexarbeitende stehen nicht zuoberst auf den politischen
oder Vereinbarungen über die Bezahlung der Frauen, nach-
Agenden – trotz der proklamierten Absicht, die Situation der
zukommen. So gab es z.B. in Zürich solche Frauenhäuser,
Sexarbeitenden zu verbessern.
die von einem «Frauenwirt» und in Bern von einem Henker
oder andernorts von Äbtissinnen geführt wurden. Weiter gab
Auch in der Schweiz besteht die Tendenz, das Sexgewerbe
es vor allem in ländlichen Gebieten häufige Gelegenheits-
vermehrt zu regulieren. Mit den Gesetzgebungen haben vor
prostitution sowie fahrende Prostituierte, welche im Umfeld
rund zehn Jahren die französisch- und italienischsprachigen
von Jahrmärkten, Messen, Pilgerorten und Konzilen anzu-
Gebiete begonnen, im Jahr 2012 zogen auch die Stadt Zü-
treffen waren.
rich, die Stadt Luzern und der Kanton Bern nach. Zudem liefen in den Kantonen Luzern, Solothurn und Wallis Vernehm-
Die Prostituierten wurden ih-
lassungen zu den Prostitutionsgesetzen sowie auf der Bun-
ren unsittlichen Lebenswan-
desebene die Vernehmlassung zur Abschaffung des Tänzerinnen-Statuts2. In einem Postulat unter dem Titel «Stopp
del wegen verpönt und stig-
dem Menschenhandel zum Zweck sexueller Ausbeutung3»
ten sie zum Stadtbild. Man-
wird vom Bundesrat verlangt zu prüfen, inwiefern ein Verbot
cherorts
der Prostitution und des Kaufs von sexuellen Dienstleistun-
Handwerker,
gen nach Schwedischem Vorbild in der Schweiz machbar
organisiert.
matisiert – trotzdem gehör-
wäre.
waren
sie,
wie
zunftähnlich
Erst zum Ende des Mittelal-
In Folgendem werden gesellschaftliche und gesetzgeberi-
ters und in den Anfangspha-
sche Versuche des Umgangs mit dem Phänomen Prostituti-
sen der Neuzeit kam es un-
on in der Geschichte dargestellt. Welche Auswirkungen auf
ter dem Einfluss der Refor
die Lebensrealitäten von Sexarbeitenden eine Illegalisierung
Abbildung: Imperia-Statue in Konstanz
und Kriminalisierung des Sexgewerbes haben kann, wird
sowie der Ausbreitung der Geschlechtskrankheit Syphilis zu
anhand des Schwedischen Modells sowie anhand von Er-
einer breiten moralischen Verurteilung. In der ganzen
zählungen verschiedener von uns in der Aufsuche vor Ort
Schweiz, wie auch in nördlichen Teilen Europas, wurden die
befragten Sexarbeiterinnen thematisiert.
Frauenhäuser geschlossen. Dirnen wurden verfolgt, einge-
mation und der Inquisition
sperrt, streng bestraft und verbannt. Während dessen flo2.1
Sexgewerbe in der Geschichte
rierte in Italien – die Zeit der Renaissance – neben Kunst,
Kultur und Wissenschaft auch das Kurtisanen-wesen, einer
In der Geschichte der Menschheit schwankte das Verhältnis
Form der gesellschaftlich akzeptierten Prostitution: Sich mit
zwischen käuflichem Sex und Gesellschaft von Epoche zur
einer Kurtisane in Begleitung an den öffentlichen Anlässen
Epoche, von Kultur zu Kultur. Mal war das Hurenwesen eine
zu zeigen, war ein Statussymbol für Adelige und Kirchen-
religiöse Haltung, mal war es illegal, mal war es das not-
fürsten. In Frankreich – und später in ganz Europa – waren
wendige Übel. Schon im Altertum gab es sogenannte Tem-
es die fürstlichen Mätressen, deren politischer Einfluss nicht
pelprostitution gegen «Geschenke» an den Tempel oder
unbedeutend war.
Opfergaben für die Gottheit, in der Antike gehörte sie zum
Alltag.
Im 18. und im 19. Jahrhundert, im Zeitalter der industriellen
Revolution, gab es wieder Bordelle und die ersten Rotlicht-
Im Mittelalter wurde Prostitution in der Schweiz, wie in ande-
viertel. Für Adelige und bürgerliche Leute aus den oberen
ren europäischen Ländern auch, religiös-moralisch verur-
Schichten wurde der Gang zu einer Prostituierten wieder sa-
teilt, aber rechtlich war sie erlaubt und im Spätmittelalter als
lonfähig.
«kleineres Übel» sogar institutionalisiert. Prostituierte arbei-
Mit dem massiven Zuzug vieler Arbeitsuchenden aus den
ärmeren ländlichen in die Industriegebiete, war Sex gegen
2 Dieses Statut gewährt Tänzerinnen aus Staaten ausserhalb der EU nicht nur
Zugang zum schweizerischen Arbeitsmarkt, es soll ihnen auch Schutz vor
Ausbeutung bieten. Denn mit dem Sonderstatut verbunden sind diverse Auflagen, an die sich Vermittlungsagenturen und Besitzer von Nachtclubs halten
müssen. Diese Bestimmung wurde vor vierzig Jahren erlassen und sie ist ein
Ausnahmefall im Ausländerrecht. Ansonsten erhalten Nicht-EU-Bürger bloss
als hochspezialisierte Fachkräfte eine Aufenthaltsbewilligung
3 Streiff-Feller Marianne, Nationalrätin Kanton Bern unter:
www.parlament.ch/D/Suche/Seiten/geschaefte.aspx?gesch_id=20124162
Geld zum Massenphänomen geworden. So verzeichnete
man im Jahre 1820 in Wien 20’000 Freudenmädchen. Im
Vergleich zur Stadtbevölkerung war das ein hoher Prozentsatz. Angeblich kamen im Jahr 1839 in London auf 800’000
Einwohner rund 80’000 Prostituierte. Armutsprostitution, die
2
Kriminalisierung des Milieus und die Verbreitung von Ge-
1942 drehte in der Schweiz der Wind wieder, und der käufli-
schlechtskrankheiten führten schliesslich dazu, dass in ganz
che Sex wurde legalisiert. Allerdings behielt man das Zuhäl-
Europa wieder verschiedene Anti-Prostitutionsgesetze ver-
tereiverbot bei, das die Ausbeutung der Prostituierten ver-
abschiedet wurden.
hindern sollte, sich jedoch kontraproduktiv erwies. Dies führte dazu, dass eine Prostituierte auf dem Wohnungsmarkt
keine Absteige bekam und – gegen teures Geld – auf Kuppler ausweichen musste. Schon das Zusammenleben mit einer Prostituierten war heikel; der Partner riskierte, als Zuhälter verdächtigt zu werden. Dadurch wurde sie weiter isoliert
und in die Hände der Unterwelt gedrängt. Das Gesetz förderte letztlich, was es unterbinden wollte, und wurde 1992
aufgehoben.
Als 1967 der Strassenstrich im Zürcher Seefeld boomte, griff
der Stadtrat zu einer neuartigen Methode: Männer, die aus
offensichtlichen Gründen im Quartier herumfuhren, wurden
in einem sogenannten Freierregister aufgeführt und wegen
«Unfug im Freien» gebüsst. Fünf Jahre später verfügte der
Stadtrat von Zürich ein Verbot des Strassenstrichs in Wohnquartieren. Das Gesetz ist heute noch in Kraft und besagt,
Abbildung: Im Salon der Rue des Moulins, Toulouse Lautrec
dass Strassenprostitution nur in Quartieren mit einem
In Deutschland entwickelte das Reichsgericht anfangs 20.
Wohnanteil von unter 50 Prozent zulässig ist.
Jahrhundert zudem eine Definition für das «Anstandsgefühl
Ab den neunziger Jahren setzte also in der Schweizerischen
aller billig und gerecht Denkenden», Prostitution war fortan
Rechtsprechung eine zunehmende Liberalisierung ein. Als
sittenwidrig, das Bordell war Ort der Unzucht. Prostitution
strafbar gelten heute die Förderung der Prostitution, die
passte nicht in eine tugendhafte, aufgeklärte Gesellschaft.
Ausnützung sexueller Handlungen, die unzulässige Aus-
Trotzdem liessen die Regierungen während des ersten und
übung und der Menschenhandel zum Zweck der Prostituti-
zweiten Weltkriegs an den Fronten Bordelle errichten. Der
on.
Aufenthalt in den Freudenhäusern sollte die Soldaten ein
wenig von dem schwierigen Alltag ablenken. Sich den bitte-
2.2
ren Alltag in einem Bordell ein wenig zu versüssen wurde
Das Schweden Modell
Seitdem 1999 das Gesetzespaket zur Bekämpfung von Ge-
langsam zu einer Normalität. Die Prostitution war zwar noch
walt gegen Frauen «Kvinnofrid» (übersetzt: Frauenfrieden)
verpönt, aber nicht mehr illegal.
in Kraft trat, ist der Kauf sexueller Dienstleistungen in
In den Schweizer Städten erlebte die Prostitution erneut Mit-
Schweden verboten. Damit werden ausschliesslich Kunden
te des 19. Jahrhunderts einen Aufwind, einerseits wegen
kriminalisiert, die SexarbeiterInnen bleiben hingegen straf-
der vielen zugewanderten ledigen Arbeiter, andererseits
frei. Dieses Gesetz galt damals als einzigartig und Schwe-
durch die weibliche Migrantinnen, die sich als Dienstmäd-
den präsentierte sich als ein Vorreiter in der Bekämpfung
chen oder Fabrikarbeiterinnen finanziell kaum über Wasser
der Ausbeutung und Gewalt gegen Frauen sowie der Re-
halten konnten. Es gab auch homosexuelle Bordelle. Zu
duktion von Prostitution. Jedoch werden seine Bewertung
dieser Zeit wurden wieder offizielle Freudenhäuser errichtet:
sowie Auswirkungen kontrovers betrachtet und der Nutzen
Allein in Zürich wurden zu dieser Zeit dreizehn gezählt. Be-
der damit verbundenen Massnahmen ist nach wie vor nicht
gründet wurde der Betrieb mit Argumenten der Transparenz
belegt.
und der Hygiene. Allerdings hielten sie sich nicht lange.
Ausgehend von London, gewannen christliche Sittlichkeits-
Zum Kontext der Gesetzgebung
vereine, die sich der «Ausrottung der Hurerei» verschrieben,
Im Rahmen der Gesetzesreform integrierte Schweden die
zunehmend an Terrain und setzten kurz vor 1900 die
Gesetzgebung zur Prostitution in ein Gesetzespaket gegen
Schliessung der staatlich überwachten Puffs durch. Wieder
Gewalt gegen Frauen. Unter Prostitution werden sowohl die
wurde die Prostitution in den Untergrund gedrängt. Bekannt
Erwerbstätigkeit als auch die Zwangsprostitution und der
waren beispielsweise die «Zigarreusen» – in den Hinter-
Menschenhandel, die Kinderprostitution und die Beschaf-
zimmern der Tabakläden trieben es die Kunden dermassen
fungsprostitution subsumiert. Unterschiede zwischen diesen
bunt, dass in der Stadt Zürich 1913 alle Zigarrenläden ge-
Bereichen werden nicht gemacht.
schlossen wurden. Strassenstrich gab es schon damals entlang der Sihl oder am Paradeplatz.
3
In einer Veröffentlichung4 der Regierung heisst es: «Die
Ergebnisse jedoch überwiegend positiv sind. So heisst es im
schwedische Regierung und das Parlament haben durch die
Bericht, dass die Strassenprostitution um die Hälfte vermin-
Einführung des Gesetzes bezüglich des Schutzes von Frau-
dert wurde, was als direktes Ergebnis der Kriminalisierung
en Prostitution als Männergewalt gegen Frauen und Kinder
der Käufer sexueller Dienste zu sehen ist. Es gibt keine Be-
definiert», Straftatbestand ist die «grobe Verletzung der In-
weise dafür, dass die Abnahme der Strassenprostitution zur
tegrität einer Frau».
Zunahme der Prostitution an anderen Orten geführt hat.
Weiter heisst es, dass sich anfängliche Befürchtungen, das
Schweden bestraft also die anonymen Täter, die Nachfrager, Männer, die Frauen und Mädchen zwecks Prostitution kaufen.
Gesetz würde die Arbeitsbedingungen der Sexarbeiterinnen
verschlechtern und Sexarbeit in den Untergrund drängen,
nicht bestätigt haben. In grösseren Städten gibt es vielfältige
Hilfsdienste für die durch Prostitution ausgebeuteten Frau-
Diese Gesetzgebung beruht auf dem öffentlichen Konsens,
en.
dass Prostitution Gewalttätigkeiten gegen Frauen fördert,
Laut Bericht zeigen Umfragen, dass weniger Männer sexu-
weil sie sexuelle Ausbeutung normalisiert, offiziell zur Norm
elle Dienstleistungen kaufen, da sie befürchten, dass ihre
erhebt. Dahinter steht die Grundannahme, dass Prostitution
Straftat bekannt werden kann. Mehr als 70 Prozent der
nicht freiwilliger Natur sein kann. Dies ist eine wichtige Vor-
schwedischen Öffentlichkeit unterstützen das Gesetz. We-
aussetzung für das Verständnis der Entwicklung in Schwe-
niger Männer geben in den Umfragen an, dass sie sexuelle
den, die durchgesetzt wurde, obwohl z. B. die in Hearings
Dienstleistungen kaufen. Der Schlüssel zur Effektivität des
befragte nationale Gesundheitsbehörde, die nationale Poli-
Gesetzes liegt also nicht so sehr in der Bestrafung dieser
zeibehörde, das Justizministerium, die Generalstaatsan-
Männer – allerdings wird nun vorgeschlagen, die Straf-
waltschaft und andere Vertreterinnen und Vertreter der Jus-
massnahmen zu erhöhen – sondern in der Aufhebung der
tiz die Kriminalisierung der Kunden ablehnten.
Anonymität der Frauenkäufer, da ihre Verbrechen öffentlich
Der Blick auf Prostituierte als eine Gruppe, die sich in einer
werden. Seither fürchten Männer, dass sie als Prostitutions-
Zwangslage befindet und der geholfen werden muss, ent-
benutzer bekannt werden.
spricht dem hier etablierten Verständnis von Geschlechter-
Auch wird erwähnt, dass auch die Polizei, anfangs kritisch,
gleichheit als hohem sozialen Wert, unabhängig davon, was
nun bestätigt, dass das Gesetz wirksam ist: Es entmutigt die
die in der Prostitution Tätigen selbst dazu meinen.
Organisatoren und Propagandisten für Prostitution, besonders Frauenhändler, da sie jetzt in Schweden ein intolerantes soziales Klima für den Verkauf von Frauen und Mädchen
zwecks sexueller Ausbeutung antreffen. Zufolge des National Criminal Police Report, ist Schweden das einzige Land
in Europa, in dem Prostitution und Frauenhandel während
der letzten zehn Jahre nicht zugenommen haben.
Unbeabsichtigte Auswirkungen
Im Falle der schwedischen Gesetzgebung stellt sich die
Frage nach unbeabsichtigten Auswirkungen auf die Situation derjenigen, die unmittelbar von den Konsequenzen betroffen sind, denn hier wurden nicht Straftatbestände aufgehoben, sondern ein neuer eingeführt.
Das prioritäre Ziel der polizeilichen Massnahmen war die
Postkarte: Only Rights can Stop the Wrongs Gestaltung: www.aninski.com, im
Auftrag vom PROKORE – Schweizerisches Netzwerk von Organisationen, Projekten und Einzelpersonen, welche die Interessen der Sexarbeitenden vertreten
Beseitigung der Strassenprostitution. Da jedoch unbekannt
ist, wohin die – ehemals auf der Strasse tätigen – Sexarbei-
Erfahrungen mit der Umsetzung
terinnen verschwunden sind, ist das Ergebnis nicht eindeu-
Die schwedische Regierung hält in ihrem Bericht vom Juli
tig. Tatsache ist jedoch, und dies wird selbst im Skarhed Be-
20105, zehn Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes fest,
richt bestätigt, dass der Sexmarkt im Internet zugenommen
dass zwar noch sehr viel getan werden muss, die bisherigen
hat.
Im Sinne des Gesetzes wäre aber der Wechsel der Sexarbeiterinnen in den legalen Arbeitsmarkt. Organisationen von
4 Report 2004, S. 45. Übersetzung SoFFI K. (vgl. auch Tatsachenbericht Prostitution und Frauenhandel des Stockholmer Ministeriums für Wirtschaft, Januar 2004
5 Skarhed, Anna (2010): Ban on the Purchase of Sexual Services. Der Bericht
über das Verbot des Kaufs sexueller Dienstleistungen im Auftrag der Schwedischen Regierung
bzw. für Sexarbeiterinnen kritisieren, dass nicht nur Sexarbeiterinnen und ihre Kunden aus der Öffentlichkeit verdrängt
wurden und sich Sexgewerbe in Innenräume verlagert hat,
4
sondern dass dies nur zu einer Verschiebung der Problema-
Auch seitens der Polizei wird berichtet, dass sich «normale»
tik geführt hat.
Kunden durch das Gesetz haben abschrecken lassen, während diejenigen mit sehr problematischen sexuellen Wün-
Ergebnisse verschiedener Studien, u.a. einer Untersuchung
schen bzw. die gefährlichen Kunden das Risiko eingehen,
des Sozialwissenschaftlichen Frauenforschungsinstituts in
belangt zu werden. Zudem sind sich die Kunden der schwie-
Freiburg6, des Berichtes des Center for Human Rights & Hu-
rigen Lage der Prostituierten bewusst und werden schneller
manitarian Low7, sowie der Studie der schwedischen Sozi-
brutal.
alwissenschaftlerinnen Susanne Dodillet und Petra Östergren8, zeigen die negativen Aspekte der schwedischen Ge-
Ein weiterer Kritikpunkt gilt der Zunahme der Zuhälterei,
setzgebung auf.
denn ohne Hilfe der Vermittler kommen die Frauen nur noch
schwer an Kunden heran. Das Gesetz könnte auch negative
Folgen für den Menschenhandel haben: Kriminalisierung
von Kunden führt dazu, dass «aufrichtige» Kunden aus
Selbstschutz potentiell gehandelte, also unfreiwillige Sexarbeiterinnen, nicht mehr bei der Polizei oder Beratungsstellen
melden. Die Wahrscheinlichkeit, Opfer von Menschenhandel
zu entdecken, ist also gesunken.
Ann Jordan vom amerikanischen Programm gegen Menschenhandel und Zwangsarbeit der Universität Washington,
hält das schwedische Modell für einen gross angelegten
Menschenversuch auf sehr fragwürdiger Grundlage. Denn
der Kauf sexueller Dienstleistungen und Gewalt sind voneinander völlig unabhängig und haben vom Grundsatz her
TAMPEP Europäisches Netzwerk für HIV/STI Prävention und Gesundheitsförderung im Sexgewerbe
nichts miteinander zu tun. Im Bereich der Zwangsprostitution verbindet sich beides miteinander. Diejenigen, die Frau-
Expertinnen kritisieren das Gesetz, vor allem da es die frei-
en gegen ihren Willen zu sexuellen Handlungen nötigen
willig ausgeübte Prostitution gleich wie Zwangsprostitution
oder zwingen, oder sie aufgrund ihrer Notlage ausbeuten,
behandelt. Dies hat zur Folge, dass Sexarbeiterinnen auf-
sollen strengeren strafrechtlichen Sanktionen unterliegen.
grund der drohenden Strafe für die Kunden weniger Zeit ha-
Ein transparentes, legales Sexgewerbe bildet die beste
ben, im Anbahnungsgespräch abzuklären, ob sie mit diesem
Grundlage dafür, Kriminalität und Menschenhandel deutlich
Kunden mitgehen wollen oder lieber nicht. Es ist schwer zu
einzugrenzen und angreifbar zu machen.
unterscheiden, ob der Kunde wegen der Strafandrohung
nervös oder gefährlich ist. Dass die Kunden wegbleiben,
Diskussion der unterschiedlichen Wege
mindert ihre Wahlmöglichkeiten. Zudem sehen sich vor allem SexarbeiterInnen, die keine Alternative finden, aufgrund
Einige der Argumente gegen das totale Sexkauf Verbot hat-
der verschlechterten Marktlage gezwungen, auch fragwürdi-
ten schon in der schwedischen Debatte eine Rolle gespielt,
ger wirkende Kunden zu akzeptieren und öfter ohne Kon-
vor allem die Zweifel an der Wirksamkeit. Sie sind auch in
dom zu arbeiten.
Schweden nicht entkräftet. Mit Ausnahme der Tatsache,
dass die Strassenprostitution aus dem öffentlichen Leben
Die Befragung der Sexarbeiterinnen zeigt, dass das Ge-
praktisch verschwunden ist, was viele Bürger begrüssen,
schäft gefährlicher und härter geworden ist: Die netten Kun-
lässt sich eine nachhaltige Wirkung auf den anderen Gebie-
den haben Angst, ertappt zu werden. Übrig geblieben sind
ten nicht nachweisen. Ob die sexuelle Ausbeutung von
die Schwierigen, mit denen man richtig weit raus fahren
Frauen durch Zuhälter zurückgegangen ist, wurde nicht be-
muss, damit die sich sicher vor der Polizei fühlen. Dort ist
legt. Und dass dem Frauenhandel, durch das schwedische
man ihnen dann ausgeliefert.
Gesetz die Basis entzogen ist, kann nicht behauptet werden. Die Prostitution ist, so die Experten, nur von der Strasse in den Untergrund gegangen.
Das Sexkaufverbot ist lediglich gegen die freiwillige Sexar-
6 «Auswirkungen des Prostitutionsgesetzes» Abschlussbericht Im Auftrag des
Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Sozialwissenschaftliches Frauenforschungsinstitut, Freiburg, Nov. 2005
7 Jordan, Ann: The Swedish Law to Criminalize Clients: A failed Experiment in
Social Engineering. Program on Human Trafficking and Forced Labor. Issue
Paper 4, April 2012
8 Susanne Dodillet, Petra Östergren, 2011: The Swedish Sex Purchase Act:
Claimed Success and Documented Effects. Die Recherchen für diesen Bericht waren Teil der internationalen Vergleichsstudie der Prostitutionspolitik in
den Niederlanden, Österreich und Schweden
beit wirksam. Der Prohibitionsansatz stellt eine grosse Gefahr für Sexarbeitende dar, da es freiwillige Sexarbeit als
Erwerbstätigkeit negiert. Die Frauen bewegen sich damit in
einem illegalen Raum, mit der Konsequenz, dass die SexarbeiterInnen automatisch mit kriminalisiert werden.
5
Die unterschiedlichen Wege, die in europäischen Ländern in
«If we’re worried about the harm caused by prostitution,
then policy-makers have to work together with sex
workers – we need to listen to the people involved.»
der Prostitutionspolitik eingeschlagen werden, sind Gegenstand teilweise erbitterter Auseinandersetzungen. Während
die einen unter Prostitution den Verkauf bzw. Kauf einer
Dienstleistung verstehen, sehen die anderen darin den Ver-
2.3
kauf bzw. Kauf von Frauen.
Erfahrungen der Sexarbeiterinnen
Bei unserer Tätigkeit vor Ort und in Beratungen treffen wir
In der Diskussion um Sexarbeit ist es zentral,
zwischen freiwilligen Sexarbeit und Frauenhandel
klar zu unterscheiden.
Frauen aus verschiedenen Ländern Europas sowie anderen
Kontinenten. Dabei erfahren wir von ihnen viel über ihre
persönlichen Hintergründe, beispielsweise auch, weshalb
sie Sexarbeit nicht in ihrem Heimatland machen und wie es
Eine selbstbestimmte Sexarbeiterin braucht gute Rahmen-
ihnen hier in der Schweiz mit der Arbeit geht.
bedingungen, von Arbeitszeitregelungen über hygienische
Aufgrund der beschriebenen Tendenzen in westeuropäi-
Bedingungen bis hin zu sozialen Rechten, damit sie die se-
schen Ländern, wollten wir von Sexarbeiterinnen aus Län-
xuelle Dienstleistung unter fairen Bedingungen anbieten
dern, in denen das Sexgewerbe verboten oder halb-legal ist,
kann. Die Erfahrung zeigt, dass sich repressive Regelungen
genauer erfahren, wie sich solche gesetzlichen Regelungen
im Sexgewerbe vor allem negativ auf die Arbeitssituation
auf die Lebensrealitäten der Sexarbeiterinnen auswirken.
der Sexarbeitenden in Bezug auf ihre Gesundheit, Sicher-
Wir haben mehrere Sexarbeiterinnen anhand Leitfadenin-
heit und Selbstbestimmung auswirken.
terviews über die Situation in ihren Heimatländern, befragt.
Hier einige ihrer Erzählungen9 zusammengefasst.
Die Verrechtlichung einer Arbeitssituation sei es als Selbstständige oder als Angestellte ist ein notwendiger Schritt,
damit Sexarbeit, wie jeder andere Arbeitsbereich auch, nicht
kriminalisiert wird. Will die Gesellschaft die Situation im
Sexgewerbe tatsächlich verändern, muss der Fokus der
Rumänien: Prostitution ist in Rumänien gesetzlich verboten,
Auseinandersetzung verschoben werden: Es soll weg vom
aber dennoch weit verbreitet.
Strafrecht und den ordnungspolitischen Massnahmen und
hin zu Zivilrecht – es sollen Gewerberecht, Arbeitsrecht und
Daniela arbeitete in verschiedenen Ländern Westeuropas,
Arbeitsschutz gelten. Nur dann haben Sexarbeitende die
nicht aber in ihrem Heimatland Rumänien. Durch ihre Be-
Möglichkeit, sich gegen schlechte Arbeitsbedingungen zu
kannten weiss sie, dass Sexarbeit dort verboten ist. Das
wehren und ihre Tätigkeit frei und ungehindert auszuüben.
Verbot wird jedoch kaum durchgesetzt. Die Frauen arbeiten
Diskriminierung abbauen, Sexarbeit rechtlich besserstellen,
in Bars, die oben Zimmer haben. Alle, Frauen und die Lo-
den Zugang zu sozialer Absicherung ermöglichen – mit die-
kalbetreiber, wissen, dass sie dafür bestraft werden können.
sen Absichten kann ein Mentalitätswandel in der Bevölke-
Bei Polizeikontrollen sagen die Frauen, dass sie dort woh-
rung erreicht werden, die Sexarbeit nicht länger als sitten-
nen. Meistens schmieren sie die Polizei mit Geld oder sexu-
widrig, sondern als Teil der gesellschaftlichen Normalität
ellen Gefälligkeiten. Die meisten Frauen gehen nicht regel-
anzusehen. Es soll die Konsequenz aus der Erkenntnis ge-
mässig zum Arzt, weil sie dann sagen müssten, was sie ar-
zogen werden, dass eine Sexarbeiterin nicht automatisch
beiten.
ein Opfer, ein Bordell- oder Agenturbetreiber nicht automa-
«Gut finde ich es in der Schweiz, aber noch besser in Öster-
tisch ein Zuhälter und die Branche nicht automatisch eine
reich, dort müssen sich die Frauen untersuchen lassen –
Hochburg der organisierten Kriminalität ist.
klar bezahlen das die Frauen selber, aber wer diese Arbeit
macht, muss auch das Geld für die Untersuche haben.»
Selbstbestimmung statt Fürsorgementalität –
Sexarbeiterinnen wollen weder kriminalisiert noch
zwangsgerettet werden!
Anna und Christina – Keine der beiden Frauen hat in ihrem Heimatland als Sexarbeiterin gearbeitet: «Wie dumm
müsste man sein, um dort als Sexarbeiterin zu arbeiten?!»
Und wenn für eine Frau keine andere Möglichkeit besteht?
Um einen funktionierenden, menschenrechtskonformen An-
«Sie muss trotzdem schauen, dass sie ins Ausland geht!»
satz zu erarbeiten, braucht es eine breite, wissensbasierte
Beide Frauen erzählen über die Willkür der Behördenvertre-
ethische Debatte auf allen Ebenen. Und, wie Petra
ter und Missstände gegen die sich Sexarbeiterinnen nicht
Östergren verlangt, eine gemeinsame Arbeit von PolitikerIn-
wehren können.
nen und SexarbeiterInnen:
9
6
Namen wurden geändert
Am schlimmsten finden sie den Strassenstrich: Polizisten
serdem nutzen die Polizisten ihre Position, wenn sie eine
wissen, wo meistens Frauen auf der Strasse stehen und
auf der Strasse erwischen und verlangen von ihr Geld oder
gehen extra dorthin, um Bussen zu verteilen und das Geld
gratis Sex.
für sich zu behalten. Oft nehmen sie den Frauen das ganze
Geld weg. Frauen können sich nicht wehren, sind einfach
froh, wenn sie nicht erwischt werden. Und dann sind die
Kunden auch noch gefährlich oder zahlen der Frau nachher
Frankreich: Prostitution ist in Frankreich nicht verboten, al-
nichts, weil sie wissen, dass Frauen illegal arbeiten. Es gibt
lerdings wird sie sehr restriktiv behandelt. So ist z.B. nicht
keine Hilfe und keine Beratungsstellen für Sexarbeiterinnen
nur aktives sondern auch passives Anwerben auf öffentli-
wie hier in der Schweiz.
chen Plätzen wie Anlächeln oder Blickkontakt zur Kontakt-
Anna ist in Norwegen zu Besuch bei einer Bekannten gewe-
aufnahme strafbar. Auch das Zusammenleben mit einer
sen, auch dort würde sie nie arbeiten gehen, weil es dort
Sexarbeiterin ist heikel; da der Partner als Zuhälter verdäch-
auch schlimm ist: Frau muss Zuhälter haben, die Einer Kun-
tigt werden könnte.
den bringen und dafür viel Geld verlangen, denn ohne sie
Julia hat mehrere Jahre in Frankreich gearbeitet. Seit einem
läuft sonst nichts. Auch für die Zimmer kassieren sie viel
Jahr hat sie in der Westschweiz eine kleine Wohnung, in der
und für alles andere – für alles müssen die Frauen extra
sie ihre Stammkunden aus Frankreich empfängt. Sie findet
zahlen. Sexarbeiterinnen können nicht wählen, wen sie
es schlimm, in Frankreich zu arbeiten, weil man dort als
nehmen und was sie anbieten. In der Schweiz ist es gut, wie
Sexarbeiterin riskiert, für alles Mögliche gebüsst zu werden.
auch in Deutschland.
Ausserdem sind die Zimmer nur zu Wucherpreisen zu haben, da die Vermieter die Gefahr, der Zuhälterei beschuldigt
zu werden, damit ausgleichen wollen. Julia erzählt mehrere
Beispiele: Am schlimmsten findet sie den Fall von einer gu-
Ungarn: In Ungarn ist Prostitution seit 1999 legal, darf aber
ten Arbeitskollegin, Studentin, welche aus der Wohnge-
nur in genehmigten Zonen ausgeübt werden. Bis jetzt gibt
meinschaft rausgeschmissen wurde, weil sie gelegentlich
es aber keine genehmigten Zonen. Die Prostitution ist somit
Sexarbeit macht. Die Mitbewohner haben gefürchtet, dass
nach dem Gesetz an sich legal, kann aber in der Praxis nur
man sie als ihre Zuhälter anklagen könnte und sie musste
illegal ausgeübt werden.
gehen. Jetzt hat sie keine Bleibe, kann nicht arbeiten und
hat kein Geld für ihr Studium.
Fiona hat nie in ihrem Heimatland als Sexarbeiterin gearbeitet und weiss nicht, wie es so mit der Prostitution dort ist –
Françoise stammt aus Marokko, arbeitete zuerst in ihrem
sie würde auch nie in Ungarn das machen, auch wenn sie
Heimatland und danach in Frankreich. Auf die Frage, wie es
denkt, dass das eine ganz normale Arbeit ist. Einfach, weil
so mit der Sexarbeit in Marokko ist, meinte sie, dass es ver-
ihre Eltern das nie akzeptieren würden. Alle Bekannten den-
boten ist: «Das ist dasselbe wie in Frankreich!: Es gibt keine
ken, dass sie hier in der Schweiz putzt. Ihr Mann weiss von
Bordelle, man darf nicht auf der Strasse stehen und man
ihrer Arbeit und ist damit einverstanden. Er weiss, dass das
darf nicht inserieren – wie kommt man denn sonst an die
für sie nur eine Arbeit ist. Diese Arbeit ermöglicht ihrer Fami-
Kunden heran?! – Natürlich ist Sexarbeit in Frankreich ver-
lie ein ganz normales Leben. In Ungarn verdient man nur so
boten! In Marokko auch».
viel, um Rechnungen zu zahlen. Nicht mehr.
Sie macht das vielleicht noch zwei Jahre lang und dann
kehrt sie zurück, vielleicht wird sie dort in ihrem Wohnort einen kleinen Laden öffnen.
Marokko: Offiziell gibt es in Marokko keine Prostitution.
Laura hat nie in Ungarn gearbeitet, trotzdem ist sie über-
Lilien ist Schweizerin und hat über 10 Jahre lang in Marok-
zeugt, dass es besser ist, im Ausland zu arbeiten: es gibt
ko gearbeitet. Dort ist die Prostitution verboten, trotzdem
mehr Geld und es sind nicht die eigenen Landsleute, die
gibt es viele Frauen, vor allem aus den ländlichen Gebieten,
Freier kennen sie nicht. Ihre Bekannten arbeiten in Ungarn
die in den Nachtlokalen ihre potenzielle Kunden suchen. Die
auf der Strasse. Meistens halten Lastwagenfahrer an und
reichen Saudis kommen an Wochenenden und wissen, wo
Frauen müssen mit ihnen in den Wald, wo Kameras aufge-
sie hingehen sollen, wenn sie eine Frau haben wollen.
stellt sind und die Zuhälter alles beobachten. Oft wollen die
Wenn die Polizei Kontrolle macht, nimmt sie die anwesen-
Kunden Sex ohne Gummi und die Frauen müssen fast das
den Frauen mit. Sie landen im Gefängnis, denn allein der
ganze Geld an den Zuhälter abgeben. Sonst dürfen sie nicht
Aufenthalt einer einheimischen Frau in so einem Lokal ist
mehr da arbeiten. Die Zuhälter haben gute Verbindungen
Beweis genug, dass sie die verbotene Prostitution ausübt.
zur Polizei, so dass die Frauen keine Chance haben. Aus-
7
3
Statistik
Anzahl der Frauen aus Thailand ist um rund einen Drittel
kleiner geworden, dafür trafen wir vermehrt Chinesinnen,
3.1
vor allem in den Salons, an.
Kontaktorte
Grundsätzlich hat sich im Kanton St.Gallen das Gesamtan-
Frauen aus Afrika treffen wir in unserer Arbeit eher selten
gebot der Lokale gegenüber dem Vorjahr nur geringfügig
an: 2012 waren es 14 im Vorjahr 7 und ebenso selten tref-
verändert.
fen wir auf Schweizerinnen.
4%
3%
3.3
7%
17%
59%
Anzahl der Kontakte
Salon
Im Jahr 2012 hatten die Mitarbeiterinnen von MARIA MAG-
Nachtklub
DALENA im Rahmen der Aufsuche 837 Mal (Vorjahr 729)
Kontaktbar
einen persönlichen Kontakt zu einer im Sexgewerbe tätigen
Bar
Person. Davon waren 697 Kontakte (Vorjahr 651) aus-
Sauna
schliesslich zu Frauen, welche Sexdienstleistungen anbie-
Table Dance
ten.
10%
Obwohl die Gesamtzahl der Lokalbesuche um rund einen
Viertel von 251 im Vorjahr auf 190 im Berichtsjahr abnahm,
hat sich die Anzahl der «Beratungen vor Ort» im Berichts-
Anzahl Kontakte (N=190)
jahr mit 67 Beratungen mehr als verdoppelt (im Vorjahr 30).
wordpreDrittel Salons, dies sind in der Regel Lokale in de-
Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass die Fluktu-
nen meist zwischen fünf und sieben Sexarbeiterinnen arbei-
ation unter den Frauen sehr gross ist, kaum eine ist länger
ten. Oft sind die Salons in einer Wohnung oder in kleineren
als ein Monat am Stück im gleichen Lokal anzutreffen. Dar-
Gewerberäumen eingemietet und bieten ein eher privates
um ergreifen sie möglicherweise die Gelegenheit «am
Ambiente.
Schopf», wenn eine Mitarbeiterin von MARIA MAGDALENA
das Lokal besucht, um diese um Rat zu fragen. Sie warten
Nachtclubs, Kontaktbars und Table Dance-Lokale machen
nicht einen zweiten Besuch ab oder melden sich telefonisch
mit 30 Lokalen rund ein Drittel aus – die Anzahl ist im Ver-
im Büro um einen Termin abzumachen, denn sie wissen oft
gleich mit dem Vorjahr wieder um etwa 4% gesunken. Die
nicht, wo sie den nächsten Monat arbeiten werden.
Anzahl der Bars und Saunas sind gleich geblieben.
3.2
3.4
Kontakte nach Passregion / Herkunftsländer
Gesprächsthemen vor Ort
Die nachfolgende Grafik gibt einen Überblick über die Inhal-
Von den 697 angetroffenen Frauen stammten rund 530 aus
te der vor Ort geführten Informations- und Beratungsge-
Europa, oder wiesen eine europäische Staatsbürgerschaft
spräche.
aus, das sind etwa 10% mehr als im Jahr 2011. Wir konnten
feststellen, dass die Anzahl der Frauen aus den neuen EU-
12%
50%
Ländern wiederum angestiegen ist.
4%
9%
8%
2%
Europa
Profession
Recht
14%
Andere
Finanzen
Mittel- und
Südamerika
Afrika
0%
Gesundheit
26%
Asien
Soziale Themen
Gesprächsthemen vor Ort (N=823)
75%
Die Gespräche mit den Sexarbeiterinnen drehten sich um
Themen wie Gesundheit, Recht, Familie und Arbeit. Rund
Kontakte nach Passregionen (N=697)
die Hälfte aller geführten Gespräche handelte von Präventi-
Angestiegen ist auch die Anzahl der deutschen Sexarbeite-
on (HIV, STI, Impfungen) und Gesundheit (Ernährung,
rinnen, ganz im Gegensatz zu den Frauen aus der Domini-
Krankheit, Arzttermine etc.).
kanischen Republik, deren Anzahl sich im Berichtsjahr rund
halbiert hat. Mit 9% ist die Anzahl der Frauen aus Asien
Nach wie vor war der Informations- und Beratungsbedarf bei
gleichgeblieben, allerdings liegt die Erklärung im Detail: Die
Themen, welche die Profession der Sexarbeiterinnen betref-
8
fen beträchtlich. In rund einem Viertel der Gespräche, die
Vernehmlassung des Bundes zur Abschaffung
des Tänzerinnen-Statuts
die Mitarbeiterinnen von MARIA MAGDALENA mit den
Frauen führten, waren Arbeitszufriedenheit, Arbeitsbedingungen, Arbeit als Sexarbeiterin und Kundenwünsche im
Aufgrund der Auswirkungen, welche eine Abschaffung des
Focus.
Tänzerinnen-Statuts auf Tänzerinnen haben kann, so wie
3.5
Beratung
sie aus Beratungen der Betroffenen sichtbar werden, hat
sich unsere Fachstelle gegen die Abschaffung ausgespro-
Im Berichtsjahr beanspruchten 34 Personen (Vorjahr 56) ei-
chen. Im Kanton St. Gallen wurde die Zulassung für Tänze-
ne weiterführende Beratung, welche in der Regel in den
rinnen aus Drittstaaten im Jahre 1995 abgeschafft, also fünf
Räumlichkeiten der Beratungsstelle stattfanden. Die häu-
Jahre bevor unsere Beratungsstelle gegründet worden ist. In
figsten Themen in den Beratungen waren Fragen zu den
unserer Stellungnahme bezogen wir uns auf unsere Erfah-
Arbeits- und Aufenthaltsbewilligungen, Sozialversicherun-
rungen aus der aktuellen Praxis im Kanton St. Gallen sowie
gen, Krankenkasse und Steuern. Die Anfragen zur Unter-
auf Erfahrungen der Beratungsstellen der anderen Kantone,
stützung betreffend selbständige Ausübung der Sexarbeit,
in welchen das Tänzerinnen-Statut noch zur Anwendung
oder Unterstützung bei einer Bewerbung für eine andere Tä-
kommt oder erst vor kürzerer Zeit abgeschafft wurde. Unse-
tigkeit, nahm im Berichtsjahr spürbar zu. Immer wieder äus-
re Erfahrung zeigt, dass es unter Cabaret Tänzerinnen auch
sern ratsuchende Frauen den Wunsch nach einer Arbeit
Frauen gibt, deren Aufenthalts- wie auch Arbeitsstatus nicht
ausserhalb des Sexgewerbes. Diesem Wunsch zu entspre-
geregelt sind. Da wir zu diesen Frauen nur selten Zugang
chen ist nicht immer einfach: Neben den oft mangelhaften
haben, ist es uns meistens nicht möglich, sie zu informieren
Deutschkenntnissen verfügen die Frauen kaum über die
und Präventionsarbeit zu machen. Zudem können sie sich
notwendigen Zeugnisse und andere, für eine optimale Be-
im Falle eines Missbrauchs – beispielsweise nichtbezahlte
werbung, benötigten Dokumente. Diese in den Heimatlän-
Löhne oder Zwang zum Alkoholkonsum – nicht wehren.
dern anzufordern, erfordert viel Zeit und Geduld – oft auch
Geld, denn die Unterlagen sollten in beglaubigter, deutscher
Beratungsstellen in anderen Kantonen, in welchen Tänze-
Übersetzung vorliegen. Dadurch dauert der Beratungspro-
rinnen-Statut angewendet wird, berichten über viele Frauen,
zess oft mehrere Wochen oder gar Monate – eine zu lange
die sich – weil legal – mit Hilfe der Arbeitsverträge erfolg-
Zeit, denn die Frauen wechseln häufig alle paar Wochen
reich gegen Missbräuche wehren. So konnte z.B. das FIZ
neben dem Arbeitsplatz meist auch die Region, wenn nicht
(Fraueninformationszentrum, Zürich) allein im Jahr 2011
sogar das Land.
107 Cabaret Tänzerinnen in arbeitsrechtlichen Fragen unterstützen.
Wir sind überzeugt, dass mit der Beibehaltung des Tänze-
4
Öffentlichkeitsarbeit und Vernetzung
rinnen-Statuts auf Bundesebene den Frauen aus Drittländern ein minimaler Schutz gewährt wird. Im Falle einer Bei-
MARIA MAGDALENA war im Jahr 2012 insgesamt 25 Mal
behaltung plädieren wir für die Ausweitung des Tänzerin-
in der Öffentlichkeitsarbeit tätig. Auszubildende verschiede-
nen-Statuts auch in unserem Kanton.
ner Berufsschulen nahmen unser Angebot für eine Unterstützung bei ihren Abschluss- oder Selbstvertiefungsarbeiten zum Thema Sexarbeit vermehrt wahr. In drei Referaten
konnte unsere Beratungsstelle ihr Fachwissen einem breiteren Publikum weiter geben.
Nebst der mehrfachen Präsenz in den Printmedien, gab es
vier Interviews für die regionale sowie nationale Radio- und
Fernsehsendern. Das Interesse der Medien bezog sich in
erster Linie auf aktuelle Themen wie Prostitutionsgesetze in
einigen anderen Kantonen oder die Vernehmlassung des
Bundes zur Abschaffung des Tänzerinnen-Statuts.
Im Bereich der Vernetzung engagierte sich MARIA MAG-
Die Vernehmlassung war nicht nur ein Thema der Medien –
DALENA auf nationaler Ebene in regelmässigen Austausch-
unsere Beratungsstelle erarbeitete eine schriftliche Stel-
treffen mit dem Fachverband ProKoRe und der Aids-Hilfe
lungnahme zu Händen des Gesundheitsdepartements.
Schweiz.
9
Auf regionaler Ebene konnte im Berichtsjahr die Zusam-
Nane Geel hat unser Beratungsangebot wesentlich mitge-
menarbeit mit den für das Sexgewerbe relevanten kantona-
prägt. Wir möchten an dieser Stelle Nane Geel für ihr lang-
len und kommunalen Stellen sowie mit den Lokalbetreiben-
jähriges Mitdenken und ihr unermüdliches Engagement zu
den intensiviert werden.
Gunsten der Sexarbeiterinnen herzlich danken. Auch wünschen wir ihr für ihre weitere private und berufliche Zukunft
Im Berichtsjahr wurden auf Anfrage von mehreren Personen
alles Gute.
Beratungsgespräche geführt, welche sich über die Voraussetzungen für die Eröffnung eines Lokals im Sexgewerbe informiert haben.
•
Nane Geel
70%
Inzwischen wird unsere Beratungsstelle im Zusammenhang
•
Susanne Gresser
80%
mit den Umnutzungs- bzw. Baugesuchen für Neu- oder Um-
•
Marija Jozic
70%
bau im Sexgewerbe regelmässig durch die kantonalen
•
Dobrila Geiger
40%
Fachstellen mit einbezogen. Bei den Beurteilungen wird unsere Stellungnahme zu den Bereichen Arbeits- und Hygienebedingungen gefragt.
6
Finanzielles
Die Betriebskosten des Jahres 2012 beliefen sich auf rund
Anfragen direkt von den Gemeinden
373'000.– Franken. Davon entfielen 92% auf Personalkosten und 8% auf Infrastruktur- und Sachkosten.
Vermehrt kommen aber auch Anfragen direkt von den Ge-
Die Finanzierung erfolgte vollumfänglich durch das Gesund-
meinden, die eine fachliche Beurteilung dieser speziellen
heitsdepartement des Kantons St.Gallen.
Fragestellungen wünschen.
In den behördlichen Entscheiden wird vermerkt, dass Mitarbeiterinnen von MARIAMAGDALENA jederzeit Zutritt zum
7
Lokal bzw. zu den Sexarbeiterinnen gewährt wird.
Dank
Wir danken den Sexarbeiterinnen, den Lokal Betreiberinnen
Diese Zusammenarbeit hat sich sehr bewährt, da wir einer-
und - Betreibern, den verschiedenen sozialen und medizini-
seits den Betreiberinnen und Betreibern eines Lokals prakti-
schen Fachstellen in der Stadt wie auch im Kanton, den lo-
sche Empfehlungen zur Verbesserung der Arbeits- und Hy-
kalen und kantonalen Behörden und last but not least dem
gienebedingungen abgeben können und andererseits die
Gesundheitsdepartement des Kantons St.Gallen für die
Behörden mit unserer Fachkompetenz und Erfahrung unter-
wohlwollende und tatkräftige Unterstützung unserer Arbeit.
stützen.
Nane Geel, Dobrila Geiger
5
Personelles und Strukturelles
Susanne Gresser, Marija Jozic
2012 war für das Team von MARIA MAGDALENA ein – mit
Ausnahme der letzten zwei Monate – eher ruhiges Jahr.
Nach fast neunjähriger Tätigkeit entschied sich Nane Geel,
ihre Stelle auf Ende Februar 2013 zu kündigen und sich neu
zu orientieren. So waren die verbleibenden Wochen im Jahr
2012 wie dann auch die folgenden Monate Januar und Februar 2013 von Übergang und Abschied geprägt. Die Übergabe der Region «Stadt St.Gallen» musste organisiert werden, den Sexarbeiterinnen sowie den Betreiberinnen und
Betreibern «auf Wiedersehen» gesagt werden.
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