Die Überwindung des Subjekts. Nishida Kitarôs (1870

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Die Überwindung des Subjekts. Nishida Kitarôs (1870
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University of Zurich
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CH-8057 Zurich
www.zora.uzh.ch
Year: 2011
Die Überwindung des Subjekts. Nishida Kitarôs ����� (1870-1945) Weg zur
Ideologie
Lange, Elena L
Abstract: Unbekannt
Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich
ZORA URL: http://doi.org/10.5167/uzh-56978
Originally published at:
Lange, Elena L. Die Überwindung des Subjekts. Nishida Kitarôs ����� (1870-1945) Weg zur Ideologie.
2011, University of Zurich, Faculty of Arts.
DIE
ÜBERWINDUNG
DES
SUBJEKTS
–
NISHIDA
KITARÔS
西田幾多郎
(1870­1945)
WEG
ZUR
IDEOLOGIE
Abhandlung
zur
Erlangung
der
Doktorwürde
der
Philosophischen
Fakultät
der
Universität
Zürich
vorgelegt
von
Elena
Louisa
Lange
aus
Deutschland
Angenommen
im
Frühjahrssemester
2011
auf
Antrag
von
Herrn
Prof.
Dr.
Christian
Steineck
und
Frau
Prof.
Dr.
Birgit
Recki
Zürich
2011
INHALT
EINLEITUNG ......................................................................................................................................1
KAPITEL I
DIE IDENTITÄT DER „REINEN ERFAHRUNG“. NISHIDAS ERSTLINGSWERK
ÜBER DAS GUTE (ZEN NO KENKYÛ 善の研究) (1911)............................................................... 11
1.
Grundschemata der Reinen Erfahrung ...................................................................................21
1.1.
Das ontologische Grundschema der Reinen Erfahrung ............................................................... 22
1.1.1. Der Begriff der Unmittelbarkeit ......................................................................................22
1.1.2. Selbstreferentialität..........................................................................................................29
1.2.
Das erkenntnistheoretische Grundschema der Reinen Erfahrung................................................32
1.2.1. Die paradoxe Temporalität.............................................................................................. 32
1.2.2. Selbstdifferenzierung ......................................................................................................34
1.3.
Die Konstitutionsproblematik des Selbstbewusstseins ................................................................ 37
1.3.1. Das Solipsismusproblem .................................................................................................41
1.3.2. Der Reflexionsbegriff......................................................................................................44
2.
Die Auslöschung aller „subjektiven Fiktionen“ ......................................................................50
2.1.
Die Ausprägung des Systems der Reinen Erfahrung ...................................................................51
2.1.1. Der Wille .........................................................................................................................53
2.1.2. Die intellektuelle Anschauung ........................................................................................55
2.2.
Der Kulminationspunkt: Religion und Gottesbegriff...................................................................58
2.2.1. Das Gute (zen 善) ............................................................................................................58
2.2.2. Vernunft und Freiheit ......................................................................................................61
2.2.3. Selbstnegation, prästabilierte Harmonie und Gott: überwundenes Subjekt? ..................64
KAPITEL II
DIE IDENTITÄT DES NICHTS. DIE AUFLÖSUNG DES SUBJEKTS IN DEN „ABSOLUT
FREIEN WILLEN“ UND DAS „ABSOLUTE NICHTS“ (1915-1926)...........................................70
1.
Die (Un-)Möglichkeit der Erkenntnis reinen Selbstbewusstseins. Von „Das Verstehen in
der Logik und das Verstehen in der Mathematik“ (Ronri no rikai to sûri no rikai
論理の理解と数理の理解) (1915) bis „Kunst und Moral“ (Geijutsu to dôtoku
芸術と道徳) (1923) ...................................................................................................................73
1.1.
Unendlichkeit in „Das Verstehen in der Logik und das Verstehen in der Mathematik“ (1915) .74
1.2.
Unmöglichkeit der Reflexion, Möglichkeit der „Setzung des Ich“. Kants „Paralogismus“,
Fichtes „Anschauung“ und ihre Bedeutung für Nishidas Subjektbegriff ....................................80
1.3.
Der „absolut freie Wille“ (zettai jiyû no ishi 絶対自由の意志) – die Totalität des
Selbstbewusstseins in Anschauung und Reflexion im Selbstbewusstsein (Jikaku ni okeru
chokkan to hansei 自覚に於ける直観と反省 ) (1917) .............................................................. 91
1.4.
„Kunst und Moral“ (Geijutsu to dôtoku 芸術と道徳) (1923) als Dokument der Innerlichkeit ..95
2.
„Ort“ (Basho 場所) (1926) - Zu einer intuitionistischen Logik .............................................99
2.1.
Die grundlegenden Aspekte des Ortes: Ausgang vom Selbstbewusstsein.................................103
2.1.1. Das „absolute Nichts“ (zettai mu 絶対無) als Substanz der „Leere“ ...........................109
2.1.2. Das „absolute Nichts“ als Prädikatsebene im Subsumtionsurteil .................................115
2.2.
Konsequenzen der Ort- oder Prädikatenlogik: Interpretationen ................................................124
2.2.1. Das „Problem der Vollständigkeit“ ..............................................................................125
2.2.2. Die Auflösung des Subjekts ins „absolute Nichts“ .......................................................131
2.2.3. Zum Kontrast – Das Programm der Hegelschen Logik ................................................136
KAPITEL III
DIE IDENTITÄT DES SELBSTBEWUSSTSEINS (JIKAKU自覚). VOM HOMO INTERIOR
ZUM HOMO EXTERIOR (1929-1931) ..........................................................................................141
1.
Die stille Auseinandersetzung mit der Phänomenologie.......................................................144
1.1.
Nishidas Kritik der Intentionalität.............................................................................................. 149
1.2.
Kein Noema ohne Noesis...........................................................................................................152
2.
Tanabe Hajimes Kritik am Homo interior ............................................................................154
2.1.
Wegen Marx kein Schlaf? .........................................................................................................155
2.2.
„Ich bitte Professor Nishida um Unterweisung“ (Nishida sensei no oshie wo aogu
西田先生の教えを仰ぐ) (1930) .............................................................................................. 160
2.2.1. Kritik am System des Selbstbewusstseins (Ortlogik-Kritik) ........................................162
2.2.2. Kritik am Geschichtsbegriff ..........................................................................................168
2.2.3. Kritik an der „Religionisierung“ der Philosophie .........................................................170
3.
Die Geburt des Homo exterior .................................................................................................172
3.1.
Die Wende nach Huh Woo-Sung ............................................................................................... 176
3.2.
Geschichte (Rekishi 歴史) (1931) – Annäherung an eine Hermeneutik
des Geschichtsmenschen ............................................................................................................180
3.2.1. Idee und Zeitlichkeit......................................................................................................183
3.2.2. Das Verstehen ...............................................................................................................186
KAPITEL IV
EXKURS IDEOLOGIEBEGRIFF ...................................................................................................191
1.
Ideologie an sich, für sich, an und für sich, oder: Where is Nishida’s Hamster? .............195
2.
Ideologie im Spiegel der Theorie Nishidas – Der Inversionsmechanismus im Waren- und
Substanzfetisch .........................................................................................................................198
3.
Adorno: Wiedergutmachung am Subjekt..............................................................................202
3.1.
Die „Urform von Ideologie“ ......................................................................................................205
3.2.
Subjekt und Objekt.....................................................................................................................210
3.3.
Grundzüge der Ideologienlehre..................................................................................................212
KAPITEL V
DIE IDENTITÄT DER KULTUR - DIE „CHIFFRE DES GROSSEN“ (1934-1944) ................216
1.
Die Verdinglichung der Kultur – Identitäts- und Hypostasierungszwang in „Die östlichen
und die westlichen Kulturformen in alter Zeit vom metaphysischen Standpunkte aus
gesehen“ (Keijijôgakuteki tachiba kara mita tôzai kodai no bunka keitai
形而上学的立場から見た東西古代の文化形態) (1934) ...............................................225
1.1.
Die „Kultur des Nichts“ gegen die „Kultur des Seins“.............................................................. 227
1.2.
Die Eingliederung der Nishida-Philosophie in den Kulturdiskurs.............................................230
2.
Das Problem der japanischen Kultur (Nihon bunka no mondai 日本文化の問題) (1940) Die Problematisierung von „Ost“ und „West“ als Scheingefecht ......................................232
2.1.
Der diskursive Ort von Das Problem der japanischen Kultur...................................................236
2.2.
Die Naturalisierung der symbolischen Ordnung – Der biologische Begriff der „Art/Spezies“
(shu 種) als Geschichtsparadigma ............................................................................................. 245
2.3.
Die realpolitische Dimension der Philosophie als philosophische Dimension der Realpolitik –
und umgekehrt: Nishidas Legitimation des Tennôismus ...........................................................249
2.4.
Die Argumente der Apologeten: Ueda Shizuteru, Michiko Yusa und
Christopher Goto-Jones..............................................................................................................260
3.
„Hin zu einer Religionsphilosophie mit der Idee der prästabilierten Harmonie als
Leitfaden“
(Yotei
chôwa
wo
tebiki
to
shite
shûkyôtetsugaku
e
予定調和を手引としての宗教哲学へ)
(1944)
–
Die
Vollendung
des Identitätsdenkens ..............................................................................................................273
3.1.
Widersprüchliche Selbstidentität und prästabilierte Harmonie als Prinzip der geschichtlichen
Struktur der Welt........................................................................................................................275
3.2.
Von der Identität von Selbst und Welt zur Identität von Selbst und Staat: Identitätsdenken als
Prinzip ethischer Gleichgültigkeit.............................................................................................. 280
SCHLUSSBEMERKUNG .............................................................................................................288
BIBLIOGRAPHIE DER VERWENDETEN SCHRIFTEN..................................................290
SCHRIFTEN VON NISHIDA KITARÔ..........................................................................................290
SCHRIFTEN ANDERER AUTORINNEN UND AUTOREN .......................................................292
VORBEMERKUNGEN
Personennamen
Namen japanischer Personen und AutorInnen werden in der in Japan üblichen Reihenfolge, also
Familienname vor dem Vornamen, wiedergegeben, mit Ausnahme der Namen der AutorInnen, deren
Publikationen in westlichen Sprachen erschienen sind. Bei Erstnennung des Namens folgen in der
Regel die Originalschreibweise sowie die Lebensdaten, sofern es sich um eine Persönlichkeit von
historischem Interesse handelt.
Japanische Zitierweisen und stilistische Konventionen
Alle japanischen Zitierweisen und stilistischen Konventionen richten sich nach dem Monumenta
Nipponica Style Sheet (Ausgabe Juli 2008). So wird japanische Terminologie in der Regel kursiv, mit
kleinem Anfangsbuchstaben und lateinischer Schrift, gefolgt von der japanischen
Originalschreibweise wiedergegeben. Ausnahme: häufig verwendete Substantive wie Jikaku und
Kokutai, sowie feststehende Begriffe wie Hakkô Ichiu werden mit großem Anfangsbuchstaben
wiedergegeben. Bezeichnungen von buddhistischen Schulen im Fließtext werden ebenfalls stets kursiv
und mit grossem Anfangsbuchstaben wiedergegeben. Ausnahme: das im westlichen Sprachgebrauch
bereits übliche Zen.
Titel von Monographien und Anthologien werden kursiv, essayistische und Zeitschriftentitel in
Anführungszeichen wiedergegeben. Ausnahme: Kurztitel von Essays oder Aufsätzen, die ebenfalls
kursiv wiedergegeben werden. Beispiel: „Die östlichen und die westlichen Kulturformen in alter Zeit
vom metaphysischen Standpunkt aus gesehen“ wird als Kulturformen wiedergegeben. Auf alle von
mir verwendeten Abkürzungen von Nishidas Einzelschriften und –ausgaben wird im Text gesondert
hingewiesen.
Siglen
NKZ
Nishida Kitarô Zenshû. Derzeit 24-bändige Werkausgabe der Gesammelten Schriften
von Nishida Kitarô. Iwanami (2002-). Die römische Ziffer (z.B. NKZ IV) weist auf
die Band-Nr. hin.
NKZ (1966)
Nishida Kitarô Zenshû. 19-bändige Werkausgabe der Gesammelten Schriften von
Nishida Kitarô. Iwanami (1966)
KrV (1923)
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781/1787). Bruno Cassirer, Berlin
(1923)
KrV (1998)
ders., Kritik der reinen Vernunft. Meiner, Hamburg (1998)
PhG
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807). Suhrkamp,
Frankfurt (1986)
WL (1966)
ders., Die Wissenschaft der Logik. Erster Band, Erstes Buch. Das Sein.
Faksimiledruck nach der Erstausgabe von 1812. Besorgt von W. Wieland.
Vandenhoeck und Reuprecht, Göttingen
WL I
ders., Die Wissenschaft der Logik I (1812). Erster Teil. Die objektive Logik. Erstes
Buch. Suhrkamp, Frankfurt (1986)
WL II
ders., Die Wissenschaft der Logik II (1813). Erster Teil. Die objektive Logik. Zweites
Buch. Zweiter Teil. Die subjektive Logik. Suhrkamp, Frankfurt (1986)
Enz. I-III
ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Erster
Teil bis Dritter Teil. Suhrkamp, Frankfurt (1986)
MEW
Marx-Engels-Werke. In 43 Bänden. Berlin (1956-)
MKZ
Miki Kiyoshi Zenshû. 19-bändige Werkausgabe der Gesammelten Schriften von Miki
Kiyoshi. Iwanami (1966-68)
THZ
Tanabe Hajime Zenshû. 15-bändige Werkausgabe der Gesammelten Schriften von
Tanabe Hajime. Keisôshobô (1963)
TJZ
Tosaka Jun Zenshû. 5-bändige Werkausgabe der Gesammelten Schriften von Tosaka
Jun. Keisôshobô (1966)
HKWM
Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Berlin (1995)
HWPhil
Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel (1998)
Eine vollständige Bibliographie mit allen zitierten und verwendeten Schriften findet sich im Anhang.
Falls im Text lediglich ein allgemeiner Verweis auf ein Werk vorkommt, findet sich die vollständige
Literaturangabe in der Fußnote. Falls aus nur im Internet zugänglichen Texten zitiert wird, findet sich
die vollständige http-Adresse ebenfalls in der Fußnote.
Diverses
Hervorhebungen von mir werden als solche gekennzeichnet.
Die Übersetzung von Zitaten aus japanischen Originaltexten stammt, wenn nicht anders angegeben,
von mir.
Die Zitate werden in alter Rechtschreibung übernommen.
Das Bild eines zeitlich oder außerzeitlich ursprünglichen
Zustands glücklicher Identität von Subjekt und Objekt aber ist
romantisch; zuzeiten Projektion der Sehnsucht, heute nur noch
Lüge.
T.W. Adorno, „Zu Subjekt und Objekt“
EINLEITUNG
Damit eine partikulare Welt (tokushuteki sekai 特殊的世界) entstehen kann, muss jemand die
zentrale Position besetzen und diese Aufgabe auf sich nehmen. In Ostasien kann das heute kein
anderes Land als Japan (waga nippon 我日本) leisten. So wie der Sieg der Griechen im
Perserkrieg bis heute die Richtung der Kulturentwicklung Europas bestimmt hat, wird der
heutige ostasiatische Krieg die Richtung der Weltgeschichte bestimmen.1 (1943)
Die Moral unseres Volkes besteht im Aufbau der geschichtlichen Welt [...] Ich denke, dass die
Grundlage des Denkens (shisô no kontei 思想の根底) unseres japanischen Volkes das Prinzip
der Selbstbildung der geschichtlichen Welt ist.2 (1940)
Diese Sätze schrieb Nishida Kitarô 西田幾多郎 (1870-1945) während des Zweiten
Weltkriegs. Nishida ist der meistrezipierte und weitaus wirkmächtigste Denker der
japanischen Moderne ab 1868. Er gilt gemeinhin auch als der bedeutendste Philosoph
Japans. In der Nishida-Rezeption der letzten zwei Jahrzehnte wird letztere Behauptung
weitgehend unkritisch hervorgebracht. 3 Kein Buch über die Kyoto-Schule, dessen
„Gründer“ er war, keine Monografie über japanische Philosophie, die nicht auf diesen
Umstand hinweist.4 Wer war aber der Philosoph Nishida Kitarô und für was stand er?
Nishidas philosophisches Hauptinteresse war das Phänomen des Selbstbewusstseins
(jikaku 自覚). Dabei gilt er als erster Denker, der einen „nicht-westlichen“ Zugang zu
diesem Phänomen entwickelt habe, indem er die Frage nach dem
(erkenntnistheoretischen) Verhältnis von Subjekt und Objekt und der (ontologischen)
Bestimmung des menschlichen Subjekts neu stellte. Nishidas Bekanntheit lässt sich aber
nicht allein auf die bewusstseinsphilosophischen Werke zurückführen: infolge der
autoritären politischen Agenda eines sich auf den Krieg vorbereitenden und ab 1937
offiziell Krieg führenden japanischen Staates liess er sich auch für staatstragende
Maßnahmen mobilisieren und formulierte 1943 im Auftrag der Militärregierung eine
geschichtsmetaphysische Philosophie der sogenannten „Neuen Weltordnung“ (Sekai
1
Aus „Prinzipien einer neuen Weltordnung“ (Sekai shinchitsujo no genri 世界新秩序の原理) (1943).
NKZ XI, S. 446.
2
Aus Das Problem der japanischen Kultur (Nihon bunka no mondai 日本文化の問題) (1940). NKZ IX,
S. 52.
3
Als Ausnahmen wären zu nennen: Uhl (2003/2009), Kobayashi (1996/2002), Kracht (1984/2001), Paul
(1993).
4
Hier nur einige Beispiele: in Gino Piovesanas/Naoshi Yamawakis einschlägigem Recent Philosophical
Thought, 1862-1996 (1997) heißt es zu Anfang des Abschnitts über „The Philosophy of Nishida Kitarô –
The Significance of Nishida’s Thought”: „A halt to the chronological sequence must be made here in
order to study the thought of the leading philosophers of Japan. I have chosen four of them […] No one
will object to the fact that the first is given to Nishida Kitarô and that a full chapter is devoted to him. He
is the only Japanese philosopher of recent times around whom a philosophical school has been formed.”
(S. 85) Desweiteren finden sich auch solche Zuschreibungen: „Nishida Kitarô, the founder of the socalled Kyoto school of philosophy, was the most influential thinker of modern (post-1868) Japan.“ Th.
Kasulis, in Wargo (2005), S. VII; „[..] Nishida Kitarô, the greatest of Japan’s twentieth century
philosophers [...]“ Heisig, Japanese Journal of Religious Studies, 32/1 (2005), S. 178; „Among [the
Japanese philosophers], Nishida Kitarô surely ranks as the single most influential.“ Graupe, Silja The
Locus of Science and its Place in Japanese Culture, in Heisig (2006), S. 70; „[...] the ‚father of Japanese
philosophy’, Nishida Kitarô […].“ Goto-Jones (2005), S. 1; „[Nishida] is generally considered the
founder of modern Japanese philosophy.“ Feenberg, in Heisig/Maraldo (Hg.) (1995), S. 151.
1
shinchitsujo no genri 世界新秩序の原理).5 Dieses fragwürdige Engagement wurde im
Zuge der neueren Rezeption des „politischen“ Heidegger ab den späten 1980er Jahren6
im Kontext der kritischen Auseinandersetzung mit den ideologischen Implikationen der
Kyoto Schule ebenfalls problematisiert. In der Veröffentlichung der Anthologie Rude
Awakenings. Zen, the Kyoto School, and The Question of Nationalism7 im Jahre 1995
fand diese Auseinandersetzung ihren Höhepunkt. Trotz vereinzelter kritischer
Untersuchungen über die „Stützung des Tennôismus durch die Philosophie“ 8 , die
Nishida durch seine politisch-philosophische Standpunktnahme während des Zweiten
Weltkrieges perpetuierte, scheint das Interesse an den politischen Implikationen seiner
Philosophie inzwischen abgenommen oder ganz verschwunden zu sein. Hierin dürfte
sich symptomatisch bemerkbar machen, dass sein philosophisches Engagement im
ultranationalistischen Japan ab den 30er Jahren die heutige Einschätzung Nishidas als
bedeutendster japanischer Philosoph nicht zu trüben scheint. Im Gegenteil: Bernard
Faures einsames Plädoyer für eine kritische Überprüfung derjenigen Elemente in
Nishidas philosophischem Denken, die sich unmittelbar in den staatsideologischen
Bekenntnissen widerspiegeln, wie auch sein Plädoyer für eine Notwendigkeit der
Ideologiekritik an den Philosophen der Kyoto Schule „and of their detractors“ bleibt
seit 1995 ungehört.9
Durchgesetzt hat sich stattdessen eine Lesart Nishidas, die keinen Zusammenhang
zwischen
den
Grundannahmen
seines
erkenntnistheoretischbewusstseinsphilosophischen Denkens und seinen Arbeiten zu einer philosophischen
Legitimation des japanischen Tennôstaates während des Zweiten Weltkriegs sehen will.
So sagt James Heisig:
One has, deliberately or otherwise, to ignore the greatest bulk of the writings of these thinkers
to arrive at the conclusion that anything approaching or supporting the imperialistic ideology
of wartime Japan belongs to the fundamental inspiration of their thought. Insofar as any of
them did willingly add support, it may be considered an abberation from their own intellectual
goals.10
Ich möchte mit der vorliegenden Untersuchung versuchen, einen Zusammenhang
zwischen Nishidas Bewusstseinsphilosophie und seiner geschichtsphilosophischen
Legitimation der japanischen Expansions- und Aggressionspolitik während des Zweiten
Weltkriegs herzustellen. Dabei setzte ich mich durchweg vom Rezeptionsansatz James
Heisigs ab, der das „philosophische“ vom „politischen“ Denken der Philosophen der
Kyoto-Schule, die er hier beiläufig zusammenfasst, unterschieden und die im
5
In NKZ XI, S. 444-450.
U.a. durch Victor Farias, Heidegger et le Nazisme, Èditions Verdier, Paris (1987) und Emmanuel Faye,
Heidegger, L’introduction du nazisme dans la philosophie, Albin Michel, Paris (2005).
7
Heisig/Maraldo (Hg.) (1995).
8
Kobayashi (1996).
9
Faure (1995), S. 269. Deutlich sagt Faure hier auch: „The ideological component of Nishida’s
philosophy is so explicit that philosophers can no longer overlook it.“
10
Heisig (2001), S. 6. Hervorh. i.O. Diese Lesart Heisigs dürfte inzwischen von der z.Zt. an Einfluss
gewinnenden Lesart Ch. Goto- Jones’ Konkurrenz bekommen haben. Goto-Jones’ Monographie Political
Philosophy in Japan. Nishida, The Kyoto School and Co-Prosperity (2005) wird in Kapitel V. dieser
Arbeit thematisiert. Für eine kritische Besprechung der von ihm herausgegebenen Anthologie Repoliticising the Kyoto School as Philosophy (2007) verweise ich auf meine Rezension in den Asiatischen
Studien LXIII, 3, Peter Lang Verlag, Bern (2009), S. 744-753.
6
2
Regierungsjargon verfassten Texte lediglich als „Aberration“ von ihren ursprünglichen
Ideen verstanden wissen will.
Das Ziel dieser Untersuchung ist eine philosophische Kritik an Nishidas Denken, das
seine Parteinahme für die Ideologie des japanischen Militärstaates in den 1930er und
40er Jahren als konsequente Vollendung seiner Selbstbewusstseinsphilosophie ausweist.
Diesen Zusammenhang verorte ich innerhalb seiner Philosophie des „Subjekts“, des
menschlichen Selbstbewusstseins. Um mein Vorgehen in dieser Arbeit zu erörtern,
möchte ich entsprechend zuerst einige einleitende Worte zu Nishidas
Bewusstseinsphilosphie und anschließend zum Ideologiebegriff sagen, wie ich ihn im
Kontext der vorliegenden Untersuchung bestimme.
Zum Vorgehen I:
„Subjektphilosophie“
Die
Problematisierung
der
Selbstbewusstseins-
bzw.
Meine Arbeit untersucht begriffsanalytisch-kritisch die Konzeption des denkenden und
handelnden Subjekts in der Entwicklung der Nishidaschen Philosophie. Diese ist nicht
etwa ein thematischer Nebenaspekt der „Nishida-Philosophie“, sondern ihre zentrale
Thematik, die sich übergreifend in allen Texten Nishidas reflektiert. Die Frage nach
dem Begriff des menschlichen Selbstbewusstseins im Verhältnis zu den, Kantisch
ausgedrückt, „Objekten möglicher Erkenntnis“– kurz, der Konstitutionsproblematik von
Subjekt und Objekt – ist also gleichzeitig die Frage nach dem Gehalt von Nishidas
Philosophie überhaupt. Der Verdacht, ein konflationärer Gebrauch der Begriffe Subjekt
und Selbstbewusstsein liege vor, ist an dieser Stelle nicht unberechtigt. Es ist indes ein
Ergebnis des analytischen Teils in Kapitel I und Kapitel II, dass Nishida selbst das
Verhältnis von Subjekt, Bewusstsein und Selbstbewusstsein unterbestimmt lässt bzw.
keine sinnvolle Bestimmung der Unterscheidungskriterien vornimmt. Meine
Interpretation lässt sich, paraphrasiert, an eine Bemerkung Walter Benjamins gegenüber
Alfred Sohn-Rethel anknüpfen11: mit Nishidas Begriff des „Selbstbewusstseins“ ist
gegenüber dem Begriff des „Ich denke, [das] alle meine Vorstellungen begleiten
können [muss]“ (KrV B132) nichts gewonnen. Im letzteren Sinne, d.h. als
„ursprünglich-synthetische Apperzeption“ bzw. als „transzendentale Einheit des
Selbstbewusstseins“ verstehe ich entsprechend den von mir (der Kürze halber)
verwendeten Subjekt-Begriff.
Genau hier muss man jedoch eine Zäsur setzen. Worum es Nishida geht, ist keineswegs
ein emphatischer Subjektbegriff gegenüber Objekten möglicher Erkenntnis. Nishida
geht es genau um diesen nicht: sein theoretisches Desiderat ist die Einheit (dôitsu 同一)
des Subjekts und des Objekts, ihre absolute Identität. In dieser fällt das Selbst mit dem
Ich, und diese wiederum mit der Welt ineinander. Auf noch näher zu bestimmende
Weise ist die „Einheit von Subjekt und Objekt“ für Nishida die Bedingung der
Möglichkeit von „Erkenntnis“ überhaupt. Um hier wiederum den Schwierigkeiten eines
rationalistischen, auf Urteilslogik beruhenden Erkenntnisbegriffs aus dem Wege zu
gehen, versteht Nishida Erkenntnis stets als intuitiv, als Ergebnis von
„Anschauung“ (chokkan 直観) oder „Empfindung“ (kankaku 感覚). Das Subjekt ist
darin selbst nichts weiter als das „letzte Irrationale“, etwas, das mit den Mitteln der
(Urteils-)Logik nicht eingeholt werden könne. Beide Aspekte des Nishidaschen
Subjektbegriffs: erstens, seine absolute Selbstidentität mit dem Objekt, und zweitens,
11
Siehe Benjamins Randbemerkungen zu A. Sohn-Rethels Warenform und Denkform (1971), S. 41.
3
seine Alogizität, bilden die in meiner Untersuchung kritisch anvisierten
Grundannahmen.
In einer seiner wichtigsten Thesen zum Selbstbewusstsein tritt Nishida desweiteren mit
dem Anspruch auf, ein nicht nach dem Schema des Subjekt-Objekt-Dualismus
konstituiertes Subjekt zu bestimmen, dessen wahre Struktur ein sogenanntes „absolutes
Nichts“ (zettai mu 絶対無) jenseits aller Dichotomien sei. Es geht dabei Nishida in
erster Linie darum, das Subjekt als nicht-dinghaft, nicht-substantiell zu begründen, oder
in seiner eigenen Terminologie, nicht als „bewusst gemachtes Bewusstsein“ (ishiki
sareta ishiki 意 識 さ れ た 意 識 ), sondern als „sich bewusst machendes
Bewusstsein“ (ishiki suru ishiki 意識する意識)12. Dieses sei unmittelbar mit sich selbst
ohne die Vermittlung eines Anderen identisch.
Die Problematisierung eines so verstandenen Subjektbegriffs bildet den ersten Teil
meiner Arbeit (Kapitel I-III). Dabei liegt meiner Kritik an Nishida und erweitert an
Nishidas positiver Bezugnahme auf Johann Gottlieb Fichte die Überlegung zugrunde,
dass hier die Allgemeinheit des Selbstbewusstseins mit seiner Unbedingtheit
verwechselt wird. Die Auffassung, das Subjekt sei ohne Vermittlung durch sinnliche
Anschauung unmittelbar und unbedingt mit sich sich selbst identisch, läuft meines
Erachtens auf erkenntnistheoretische wie auch auf logische Ungereimtheiten hinaus,
deren radikalste Konsequenz das Verschwinden eines (sich) noch irgendwie
bestimmenden/bestimmbaren Subjekts genannt werden dürfte. Meiner These zufolge
läuft daher Nishidas Versuch, das Subjekt durch Identität mit dem Objekt zu begründen,
auf die Demontage oder Suspension des Subjekts hinaus. Die verkürzte Behauptung,
dass ein Subjekt mit sich selbst identisch sein muss, um überhaupt zu denken, vergisst,
dass es „etwas“ denken muss, um zu denken. Kant hat in seiner Darlegung des
Paralogismus der rationalen Seelenlehre in der KrV gezeigt, dass dieses „etwas“ nicht
das Subjekt selbst sein kann. 13 Somit sind die Ergebnisse aus Kants kritischer
Philosophie auf der Ebene der Erkenntnistheorie im scharfen Kontrast zum
Identitätsdenken Nishidas zu lesen. Hier klingt bereits an, wie in der Frage nach
„Idealismus oder Materialismus?“ in Bezug auf Nishidas Position zu entscheiden ist.14
Rückt Nishidas Denken somit stärker in die Nähe der absolut-idealistischen Logik
Hegels?
Dies wäre eine ebenso verkürzte Behauptung, nur auf anderer Ebene. Die Kluft, die
zwischen Nishidas a-logischem Identitätsdenken und Hegels spekulativ-dialektischer
„Anstrengung des Begriffs“15 besteht, ist der Sache nach hier vielmehr bereits der
fundamentaleren (weil auch Kants Kategorien zugrundeliegenden) Logik als der
Erkenntnistheorie zuzuschlagen. Nishida versucht, Identität intuitiv-irrationalistisch zu
bestimmen – in der Empfindung, im freien Willen, in der im Künstlerischen oder
Religiösen begründeten, aber nicht begründbaren Anschauung. Der Begriff eines
Denkens, das seine Bestimmungen aus sich selbst heraus entwickelt und dieselben zur
12
Diese Formulierung Nishidas findet sich an vielerlei Stellen, so z.B. im Hauptwerk Ort (1926): „Wenn
bisher jemals über das tätige Bewußtsein nachgedacht wurde, so handelte es sich dabei um ein BewußtGemachtes und nicht um das tätige Bewusstsein selber.“ NKZ IV, S. 462, Elberfeld (1999a), S. 124.
13
Genauer in der Einleitung zur Problematik der rationalen Seelenlehre und im „Ersten Paralogism der
Substantialität“, KrV B 397-430 und A 349-A 351 (1998). Hiervon wird in der vorliegenden Arbeit noch
ausführlich die Rede sein.
14
Inwiefern sich Kants Philosophie gegen den Idealismus etwa Fichtes abgrenzt, wird im Laufe der
Arbeit für die Beurteilung der Nishidaschen Position relevant.
15
In der „Vorrede“ der PhG, S. 56.
4
Grundlage der Reflexion macht, liegt Nishida fern. Dagegen sagt Hegel in der Frage,
womit der Anfang der Wissenschaft gemacht werden solle: „Nur der Entschluß, den
man auch für eine Willkür ansehen kann, nämlich dass man das Denken als solches
betrachten wolle, ist vorhanden.“16 Hegels Absetzbewegung gegen Kants Begriff des
Selbstbewusstseins (oder in Hegels Worten: das „subjektive Ich“) und die sich daraus
ergebenden Probleme eines denkfremden Ding-an-sich einerseits17, und die Abgrenzung
gegen Fichtes Ich oder die intellektuelle Anschauung als „Prinzipien“ der
Wissenschaft 18 andererseits machen sich hier programmatisch bemerkbar. 19 Hegel
zufolge kann nur das Denken allein ein Prinzip sein – wobei es sich dieses selbst gibt.
Bei Hegel ist das Denken unhintergehbar, Nishida dagegen verwehrt sich gegen eine
Apotheose des Denkens. Diese wird bei ihm am Begriff der Intuition oder Anschauung
vollzogen.
Ausgehend von diesen Überlegungen untersucht diese Arbeit das Verhältnis der
Nishidaschen Theoreme zu Kants theoretischer Philosophie und Hegels Logik. Hier
möchte ich den analytisch-theoretischen Rahmen bestimmen, in dem ich meine Kritik
an der Selbstbewusstseinsphilosophie Nishidas verorte. In Bezug auf Kant und Hegel
gleichermassen zeigt die vorliegende Untersuchung, dass erstens aufgrund der strengen,
kein „sinnliches Material“ zu seiner Vermittlung zulassenden Identitätsannahme und
zweitens aufgrund seiner nicht-logischen Bestimmung das Subjekt bei Nishida abstrakt
und verdinglicht wird – und das entgegen seiner Behauptung, mit dem „absoluten
Nichts“ einen konkreten Begriff des Subjekts entwickelt und hiermit das
Substanzdenken überwunden zu haben. Die Einführung unreflektierter Voraussetzungen
bei Nishida führt meiner Auffassung nach dazu, dass sich das als subjekt- wie
objektüberhoben verstandene „absolute Nichts“ im Gegenteil als substanzhaft und das
Selbstbewusstsein dementsprechend als verdinglicht herausstellt. So ist Nishidas
Selbstbewusstseinstheorie meiner These zufolge der blinde Fleck seiner Philosophie
überhaupt, was umso dramatischer sein dürfte, als der Begriff des Selbstbewusstseins,
des Jikaku, Dreh- und Angelpunkt seines Denkens noch in den späteren kultur- und
religionsphilosophischen Schriften der späten 1930er, frühen 1940er Jahre ist.20 Hierin
sehe ich das Dilemma des Nishidaschen Ansatzes: insofern es Nishida gerade um eine
Hypostasis des Subjekts geht – wie er diese genau bestimmt, wird noch von Interesse
16
WL I, S. 68.
Hegels stets polemisch vorgebrachtes Ressentiment gegen Kants Ding-an-sich lässt sich an folgender
Stelle meines Erachtens am deutlichsten nachvollziehen: „[Kants] Hauptgedanke ist, die Kategorien dem
Selbstbewußtsein, als dem subjektiven Ich, zu vindizieren. Vermöge dieser Bestimmung bleibt die
Ansicht innerhalb des Bewußtseins und seines Gegensatzes stehen und hat außer dem Empirischen des
Gefühls und der Anschauung noch etwas, das nicht durch das denkende Selbstbewußtsein gesetzt und
bestimmt ist, ein Ding-an-sich, ein dem Denken Fremdes und Äußerliches, übrigbleiben; obgleich leicht
einzusehen ist, daß ein solches Abstraktum wie Ding-an-sich selbst nur ein Produkt des, und zwar nur
abstrahierenden Denkens ist.“ WL I, S. 59-60.
18
WL I, S. 76-77.
19
Mir scheint hier Hegel den wichtigsten Satz zur Methode der Kritik der reinen Vernunft übersehen zu
haben: es sei „nicht das mindeste gewonnen“, würde allein die Analyse des „Bewußtseins meiner selbst
im Denken überhaupt“ ebendieselbe Analyse als Objekt meinen: „Die logische Untersuchung des
Denkens überhaupt wird fälschlich für eine metaphysische Bestimmung des Objekts gehalten.“ KrV B
409 (1998).
20
Repräsentative Texte dieser Zeit– Die morgenländischen und abendländischen Kulturformen in alter
Zeit vom metaphysischen Standpunkte aus gesehen (Keijijôgakuteki tachiba kara mita tôzai kodai no
bunka keitai 形而上学的立場から見た東西古代の文化形態) (1934), Das Problem der japanischen
Kultur (Nihon bunka no mondai 日本文化の問題) (1938/40), und Hin zu einer Religionsphilosophie mit
der Idee der prästablierten Harmonie als Leitfaden (Yotei chôwa wo tebiki to shite shûkyôtetsugaku e
予定調和を手引として宗教哲学へ) (1944) – werden im letzten Teil der Arbeit (Kapitel V) behandelt.
17
5
sein –, er aber im Gegenteil seine Überwindung demonstriert, muss man konzedieren,
dass Nishida sein eigenes Vorhaben widerlegt.
Zwar lässt sich Nishidas Subjekt- bzw. Selbstbewusstseinsbegriff seiner Auskunft
zufolge methodisch weder auf die Grundannahmen einer Hegelschen spekulatividealistischen Logik, noch auf die Reflexionskategorien der Kantischen Erkenntniskritik
zurückführen, sondern muss in der intuitiven Ganzheitlichkeit religiöser oder
künstlerischer Erfahrung gesucht werden. Jedoch sollte Nishidas Zugang eine
analytische Auseinandersetzung mit seinen Kategorien nicht von vornherein in Abrede
stellen. Der Vorwurf, eine begriffsanalytische Kritik an Nishidas Verfahren „verfehle
ihren Gegenstand“, weil Nishida selbst nicht begriffsanalytisch vorgehe, muss
zurückgewiesen werden: Kritik sprengt gerade den Rahmen der von ihr verhandelten
Terminologie, weil sie sich an der „Sache“ und nicht an der Methode abarbeitet. Der
Plausibilitätsanspruch der Nishidaschen Kategorien allein ist für meine Untersuchung
entscheidend, nicht, ob er dafür die richtige Methode gewählt habe. Innerhalb seines
eigenen Denkens kann Nishidas Methode – der Versuch, die Selbstbezüglichkeit des
Subjekts durch denkvorgängie Intuition zu bestimmen – gar nicht falsch sein. Allein der
Begriff des Subjekts sträubt sich dagegen. Nishida führt in seinem Denken das Kantsche
Wort von der „Subreption des hypostasierten Bewusstseins“ 21 so unbewusst wie
eindringlich vor. Wie dieser Mechanismus sich in die Struktur seines Denkens
einschreibt, versucht diese Arbeit aufzudecken.
Zum Vorgehen II: Die Problematisierung der Ideologie
Hier ist gleichzeitig der Ort, den Ideologiebegriff geltend zu machen. Den in dieser
Arbeit vorliegenden Begriff von Ideologie verstehe ich, in einer Anlehnung an Georg
Lukács, als „doppelt dialektisch“: einerseits sehe ich bereits in der Nishidaschen
Subjektüberwindung
gegen
seine
eigene
Intention
eine
dezidiert
„ideologische“ Denkstruktur, zum anderen muss auch in der Geschichtsmetaphysik und
im Kulturnationalismus in seiner Spätphilosophie von einer Annäherung an das
Ideologische – hier vielleicht offensichtlicher – gesprochen werden. In dieser
Untersuchung liegt der Akzent jedoch auf der ersteren, durch seine Verankerung in der
erkenntnistheoretisch-logischen Problematik von der zweiten zu unterscheidenden
Ausprägung von Ideologie.
Meinem Verständnis nach besteht Nishidas ideologische Operation darin, seine eigenen
Denkvoraussetzungen beiseite zu lassen und so, anstatt den Beweis für seine These
anzutreten, den Beweis der Gegenthese zu liefern. Ich nenne dieses systematische
Verhängnis Nishidas die Verkehrung von Intention und Explikation. Dass dies nicht ein
bloßer Denkfehler ist, zeigt sich darin, dass Intention und Explikation nicht nur kein
wohlgeformtes Argument bilden, sondern sich kontradiktorisch ausschließen. Die
„Demarkationslinie“ zwischen bloßem Denkfehler und ideologischer Operation kann
nicht endgültig sein, weshalb ich letztere als äußersten Fall eines Denkfehlers verstehe.
Ich möchte im Folgenden dennoch kurz eine Erklärung versuchen, worauf es mir hier
beim Begriff des ideologischen Fehlers im Gegensatz zu einem logischen Fehlschluss in
Form einer petitio principii (wobei auch ein anderer Fehlschluss in Form eines
Kategorienfehlers denkbar wäre) ankommt. Am Begriff der Einsicht lässt sich das,
denke ich, gut nachvollziehen.
21
KrV A 402 (1998).
6
Für einen logischen Fehlschluss ist die Einsicht in seinen Fehlercharakter geradezu
konstitutiv, weil der Sprecher hierbei die Regeln der Logik befolgt. Dagegen wird sich
eine ideologische Operation niemals als „ideologisch“ (falsch, verkehrt) bestimmen.22
Bei Nishida lässt sich zeigen, dass seine ideologische Operation von einem Fehler
insofern zu unterscheiden ist, als sie eine Einsicht in die Inversion von zu Beweisendem
und Bewiesenem durch die strukturelle Verstellung seiner eigenen Prämissen
verunmöglicht. Sie führt dazu, dass sein eigenes Realitäts- bzw. Subjektverständnis –
die Identifikation einer „objektiv“ gegebenen Wirklichkeit mit den Formen der
Subjektivität – sich hintergeht.
Den theoretischen Hintergrund für die Analyse des Problems bildet die Marxsche
Theorie des Warenfetisch, die mir als Modell für das strukturelle Phänomen der
Inversion dient (Kapitel IV). Bekanntlich ist Marx’ Analyse der Ware und speziell des
Warenfetisch der in der neomarxistischen Literatur, insbesondere in Lukács’ Geschichte
und Klassenbewußtsein, verhandelte locus classicus der Ideologiekritik. Ich möchte
dagegen nur versuchen, dieses Theoriemodell als heuristisches Mittel zur
Verdeutlichung eines bestimmten Paradigmas der Nishida-Philosophie heranzuziehen.
So lässt sich Nishidas System als entsprechend „ideologisch“ im Sinne einer Theorie
des, dem Wort Friedrich Engels zufolge, „falschen Bewusstseins“ deuten, als ihr „die
eigentlichen Triebkräfte, die [sie] bewegen [...] unerkannt [bleiben] [...].“ 23 Der
ideologische Prozess bei Nishida drückt sich somit darin aus, als er sich „falsche oder
scheinbare Triebkräfte [imaginiert]“24, sei in seiner Theorie des Selbtbewusstseins Gott,
der absolut freie Wille oder das „absolute Nichts“.
Das Marxsche Inversionsmodell dient mir allerdings nur zur Analyse der formalen Seite
des Ideologieproblems bei Nishida. Für die Analyse seiner inhaltlich bestimmten
Erscheinungsform beziehe ich mich auf die Erkenntniskritik Adornos, die hier den
theoretischen Kontrapunkt zum Denken Nishidas bildet. Adornos Verständnis von
Erkenntniskritik als Gesellschaftskritik und umgekehrt stellt hier entsprechend den
theoretischen Rahmen meiner Problematisierung der Ideologie bei Nishida her.
Insbesondere, weil ein emphatischer Begriff des Subjekts wie des Objekts und die
erkenntnistheoretische Methode für Adorno nicht obsolet sind, ist dieser Ansatz für
meinen Zugriff auf Nishida relevant. Adorno zufolge spiegelt sich die Dynamik von
Subjekt und Objekt selbst dort wieder, wo Ideologie als totalitär hypostasiert wird:
Denn der Begriff Ideologie ist sinnvoll nur im Verhältnis zur Wahrheit oder Unwahrheit dessen,
worauf er geht; von gesellschaftlich notwendigem Schein kann einzig im Hinblick auf das
gesprochen werden, was kein Schein wäre und was freilich im Schein seinen Index hat. An
Ideologiekritik ist es, über den Anteil von Subjekt und Objekt und seine Dynamik zu urteilen.
Sie dementiert falsche Objektivität, den Fetischismus der Begriffe, durch die Reduktion aufs
gesellschaftliche Subjekt; falsche Subjektivität, den zuweilen bis zur Unsichtbarkeit verhüllten
Anspruch, was ist, sei Geist, durch den Nachweis seines Betrugs, seines parasitären Unwesens
ebenso wie seiner immanenten Geistfeindschaft. Das Alles des unterschiedslos totalen
22
Hier lehne ich mich an ein Theorem Althussers in Ideologie und ideologische Staatsapparate an: „Wir
haben es hier mit einem der Effekte der Ideologie zu tun, dem der praktischen Verneinung des
ideologischen Charakters der Ideologie durch die Ideologie. Die Ideologie sagt nie: ‚Ich bin
ideologisch.’“ Althusser (1970), S. 143.
23
Engels in einem Brief an Franz Mehring vom 14.07.1893. In: Mehring, Franz: Geschichte der
deutschen Sozialdemokratie, Bd. I, Stuttgart: Dietz 1919, S. 386.
24
Ebd.
7
Ideologiebegriffs dagegen terminiert im Nichts. Sobald er von keinem richtigen Bewusstsein
unterscheidet, taugt er nicht länger zur Kritik von falschem. 25
Über den Anteil von Subjekt und Objekt kann aber nur dann sinnvoll gesprochen
werden, wenn Subjekt und Objekt als fundamentale epistemologische Größen anerkannt
sind. Dass Nishida zumindest in seinem ersten zusammenhängenden Werk Über das
Gute (Zen no kenkyû 善の研究) (1911) kein erkenntnistheoretisches Subjekt anerkennt,
auf dieses in seinen späteren Schriften – etwa Anschauung und Reflexion im
Selbstbewusstsein (Jikaku ni okeru chokkan to hansei 自覚に於ける直観と反省)
(1917) – implizit aber stets Bezug nimmt, kommt erschwerend hinzu. Hier besteht die
Aufgabe des Analysanden darin, Subjekt und Objekt innerhalb dieser Texte
wiederzubeleben und die „Dynamik“ sichtbar zu machen, die das Verhältnis von
Subjekt und Objekt charakterisiert.
Mein Verständnis von Ideologie weicht, wie hiermit deutlich geworden sein sollte, von
den „gängigen“ (soziologischen, politologischen) Ideologietheorien ab, wird aber
ebenso wie etwa bei Adorno auf dem Feld der Dynamik von Subjekt und Objekt
ausgefochten. Gleichzeitig zeigt sich das dialektische Moment eines solchen
Verständnisses darin, dass es zur Interpretation der Ideologie als falsches Denken,
verhärtetes Bewusstsein im Realen – des Politischen und des Geschichtlichen – in
einem stetigen Begründungsverhältnis steht. Der oben skizzierte rein formale
Ideologiebegriff muss sich daher auch in der Sphäre des Empirischen, Nishidas
Verstrickung in die Denkformen der seinerzeit politischen Realität des imperialistischen
und kulturnationalistischen Diskurses, ausweisen. Hier wäre das komplementäre, zweite
dialektische Moment des „doppelt dialektischen“ Mechanismus, eine erneute
Verkehrung von Intention und Explikation auf nächster Stufe. In seinen geschichts- und
kulturmetaphysischen
Schriften
versucht
Nishida,
eine
„logischbegriffliche“ Begründung für die „Essenz“ der als irrational geltenden japanischen
Kultur, die er im Tennôsystem erblickt, erliegt aber bereits durch diese Intention der
offiziellen Ideologie, die sich in der Explikation folgerichtig nur noch als
Legitimationsdenken ausweisen kann (Kapitel V).
Wenn es aber einen deutlich erkennbaren Zusammenhang gibt, der sich begrifflich wie
sachlich ausweisen lässt, wie ist er gestaltet? Anders gefragt: welche Annahme bei
Nishida kann für sein „Abfallen in Ideologie“ verantwortlich gemacht werden? Ich sehe
diese Annahme in seinem hypertrophen Idealismus: das Zusammenfallen einer
objektiven Realität und eines Selbstbewusstseins in diesem Selbstbewusstsein selbst –
die unvermittelte Identität von Subjekt und Objekt im Subjekt. Mit Idealismus meine
ich hier entsprechend eine Philosophie des Primats der Ideen, nicht die
Subjektphilosophie per se.26 Eine Philosophie des Subjekts macht nur gegenüber dem
Begriff des Objekts Sinn – klassischerweise im Kantischen System – wohingegen man
bei einer Aberkennung der Faktizität der Objektsphäre, für die Nishida sich ausspricht,
auch sinnvollerweise nicht mehr von einer „Subjektphilosophie“ sprechen kann. Der
Nishidasche Idealismus, wie ich ihn hier ausschliesslich als Primatsetzung der Idee,
nicht aber als Subjektphilosophie verstehe, zeitigt das Dilemma, dass, wenn es für die
Beurteilung des Selbstbewusstseins keine Realität mehr gibt, die dieser zum Kriterium
25
Adorno (1966), S. 198.
Zur Unterscheidung des „Idealismus“ zum einen in eine „philosophy of the primacy of ‚ideas’“, zum
anderen in eine „philosophy of subjectivity“, siehe Balibar (1995), S. 25.
26
8
werden kann, das Sein der äusseren Existenz konsequenterweise zum Sollen erklärt
werden muss. Schliesslich findet sich als Endpunkt der Genese der Nishida-Philosophie
das Individuum in einer Welt religiöser Erscheinungsformen wieder, die sich als
prästabilierte Harmonie erweist. Hier ist kein Denken der Differenz, eines Risses, eines
materialistischen Gegengewichts zum lückenlos gedachten „Subjekt“ als Idee möglich.
Folgerichtig wird die gesamte Realität, zu der auch die politische Realität des
japanischen Kaiserstaats und seiner Aggressionspolitik zählt, in eine Harmonie
„widersprüchlicher
Selbstidentität“
aufgehoben.
Hier
sind
sinnvolle
Unterscheidungskriterien sowohl von Subjekt wie auch von Objekt verunmöglicht und
ihre Überwindung vollbracht. In einem dezidierten Sinne wird dabei auch das
„bourgeoise“ Element in Nishidas Denken offenbar, wie Tosaka Jun 戸坂潤 (19001945), ein marxistischer Schüler Nishidas, meinte.27
Als
Gegenmodell
zu
Nishida
versuche
ich
entsprechend,
ein
„deflationäres“ Verständnis von Materialismus zu veranschlagen. Dabei stütze ich mich
auf ein bestimmtes Verständnis von Materialismus als kritischer Grenzbegriff zum
Idealismus, ein Verständnis, das nichts mit positivistischem oder gar
kognitionswissenschaftlichem „Materialismus“ gemein hat. Der Materialismus als
kritischer Grenzbegriff, wie ich ihn hier verstehe, hat sogar nichts mit „Materie“ im
strengen Sinne zu tun. Er ist, im Rückgriff auf die Marx-Lesart Etienne Balibars,
originär metaphysisch-erkenntnistheoretisch:28
Marx’s materialism has nothing to do with a reference to matter – and this will remain the case
for a very long time, until Engels undertakes to reunite Marxism with the natural sciences of the
second half of the nineteenth century [...] If Marx declared that it was a principle of materialism
to change the world, seeking at the same time to differentiate his position from all existing
materialism (which he terms „old“ materialism and which depends precisely on the idea that
everything has ultimately to be explained in terms of matter – which is also an ‚interpretation
of the world’ and contestable as such) this was clearly in order to take the contrary stance to that
of idealism. [...] For the idealism criticized here [in den Feuerbachthesen, EL], the world is the
object of a contemplation which seeks to perceive its coherence and its „meaning“ and thereby,
willy-nilly, to impose an order on it.29
27
Tosaka Jun charakterisierte in seiner Kritik an der Nishida-Philosophie diese konsequent als
„bourgeois“. 1935, als sich viele Intellektuelle bereits vom nationalistischen Pathos gefangen nehmen
liessen, schreibt er: „Glaubt man, die Philosophen verausgaben sich für die ‚Wahrheit’ (shinri 真理), irrt
man sich gewaltig. Denn entweder bewusst oder unbewusst unterstützen sie die faschistische Ideologie,
oder ihr Denken läuft effektiv darauf hinaus [...] In summa, alle Philosophen sind bourgeoise Ideologen.
Und ich denke, es wird immer deutlicher, dass für die bourgeoise Philosophie in ihrer Essenz als
bourgeoise Ideologie in Japan heute nichts so repräsentativ ist wie die Nishida-Philosophie.“ Tosaka
(1966), S. 341.
28
Balibar zufolge ist Marx nicht nur kein Gegenphilosoph der subjektphilosophischen Aufklärung,
sondern muss im Gegenteil als der theoretische Abschluss der Subjektphilosophie in der Tradition Kants,
Fichtes und Hegels gelesen werden: auch er vertrete die Dimension eines Subjekts, allerdings eines
historischen Subjekts, dessen Essenz in der praktischen Tätigkeit bestehe (welche für ihn selbstredend
durch das Proletariat verkörpert werde). Mit dem feinen Unterschied, dass „by identifying the essence of
subjectivity with practice, and the reality of practice with the revolutionary activity of the proletariat
(which is one with ist very existence), Marx transferred the category of subject from idealism to
materialism.“ Balibar (1995), S. 26. Auf die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten, wie hier von einem
(strengem) erkenntnistheoretischen Materialismus gesprochen werden kann – eine Schwierigkeit, die
Balibar durchaus bewusst ist – möchte ich der Kürze halber verzichten. Die Problematik MaterialismusIdealismus wird im Laufe der Arbeit, insbesondere im Kapitel über die kritische Philosophie Adornos (in
Kapitel IV) noch zur Sprache kommen.
29
Balibar (1995), S. 23-24.
9
Der Begriff des Materialismus, wie ich ihn hier meine, lässt sich als eine Philosophie
des Subjekts verstehen, die sich aus ihren materiell-sinnlichen, nicht-gedanklichen
Konstituenten begreift. Somit ist er ein Gegenbegriff zum Idealismus, aber kein
Gegenbegriff zur Subjektphilosophie. Er versucht, die Wechselbeziehung von Subjekt
und Objekt zu thematisieren und ist somit per definitionem erkenntnistheoretisch. Dabei
kommt im besten Falle die Dialektik von Bewusstsein und Gegenstand zur Sprache und
soll nicht von einem begrifflichen Determinierungsüberschuss verdeckt werden, der,
wie oben skizziert, schliesslich auf die Suspension des Subjekt-Begriffs durch die
Hypostase seiner unmittelbaren Identität hinausläuft.
Die Struktur der Arbeit
In vier Stufen zeichnet diese Arbeit den Weg nach, den Nishidas Demontage des
Subjekts geht: erstens zeigt sie sich in der Identität von Subjekt und Objekt in der
„Reinen Erfahrung“ in seinem Erstlingswerk Zen no kenkyû (1906-1911) (Kapitel I),
zweitens in ihrer Identität im „absoluten Willen“ und „absoluten Nichts“ in zwischen
1915 und 1926 entstandenen Texten, u.a. Anschauung und Reflexion im
Selbtbewusstsein (1917) und „Ort“ (Basho 場所) (1926) (Kapitel II), drittens in der
Identität des Selbstbewusstseins mit den Formen des „objektiven Geistes“ der
Geschichte in den Texten der Wende vom Homo interior zum Homo exterior (19271931) – der expliziten Form der Identität von Subjekt und Objekt (Kapitel III) –, und
viertens in der identitätsstiftenden Ideologie eines autoritären Kulturnationalismus
(1934-1944) in den Texten Die morgenländischen und abendländischen Kulturformen
in alter Zeit vom metaphysischen Standpunkte aus gesehen (Keijijôgakuteki tachiba
kara mita tôzai kodai no bunka keitai 形而上学的立場から見た東西古代の文化形態)
(1934), Das Problem der japanischen Kultur (Nihon bunka no mondai 日本文化の問
題) (1938/40) und Hin zu einer Religionsphilosophie mit der Idee der prästabilierten
Harmonie als Leitfaden (Yotei chôwa wo tebiki to shite shûkyôtetsugaku e 予定調和を
手引として宗教哲学へ) (1944), in denen Kultur und Geschichte als „Chiffre des
Großen“ (Adorno) markiert sind (Kapitel V).
Kapitel IV meiner Arbeit stellt einen Exkurs zum Begriff der Ideologie dar. Er lässt sich
gut an die Darstellung der expliziten Identifikation der Formen des Selbstbewusstseins
mit den Bestimmungen zur „Geschichte“ (rekishi 歴史) und somit an die systematisch
vollzogene idealistische Operation Nishidas anschliessen. Hier wird zunächst Marx’
Theorem des Warenfetisch als Darstellung des Inversionsmechanismus idealistischer
Denkprozesse als analytische Heuristik auf Nishidas Inversion angewendet.
Anschliessend möchte ich mit Adornos Kritik an der Identitätskategorie als „Urform
von Ideologie“ auch ein kritisches Gegenmodell zu Nishida in Anschlag bringen.
Die Kritik in mikroanalytischen Zusammenhängen kommt daher zwar bereits im Laufe
der Arbeit notgedrungen zur Sprache, ihr wesentlicher Gehalt dagegen kann erst im
Zuge der Ideologiereflexion erfolgen. Nicht geht es darum, die Anerkennung
parochialer Geltungsansprüche, etwa der Logik, bei Nishida einzufordern – wenn es
teilweise auch unvermeidbar ist –, sondern die „Kritik des konstitutiven Bewußtseins
selbst“30 als Entkleidung verdinglichter Denkstrukturen und somit als Möglichkeit ihrer
Veränderung zu verstehen.
30
Adorno (1966), S. 151.
10
KAPITEL I
DIE IDENTITÄT DER „REINEN ERFAHRUNG“. NISHIDAS
ERSTLINGSWERK ÜBER DAS GUTE (ZEN NO KENKYÛ 善の研究) (1911)
If philosophy implies a purely rational and
theoretical system based on logical
thinking, as in the case of Descartes, Kant,
and Hegel, then there has been no
philosophy in Japan. But if philosophy
indicates an existential, religiously oriented
discipline
as
seen
in
Augustine,
Schopenhauer and Kierkegaard, then there
has surely been philosophy in Japan.31
Masao Abe
Nishidas Erstlingswerk Zen no kenkyû32 – im folgenden ZnK33 – erscheint 1911. Diese
„Untersuchung über das Gute“ ist thematisch weniger an einer Untersuchung des „guten
Verhaltens“ ausgerichtet, wie wir sie etwa aus den Aristotelischen Ethiken kennen,
sondern stellt die Frage nach der „Quintessenz“ der Wirklichkeit und des Lebens. Peter
Pörtner, der über ZnK die meiner Kenntnis nach bislang systematisch und inhaltlich
anspruchsvollste Einzelarbeit verfasst und 1990 zugleich die erste deutsche Übersetzung
vorgelegt hat, stellt die Schrift in einen kulturgeschichtlichen Zusammenhang und fügt
ihr Kitamura Tôkokus 北村透谷 (1868-1894) Aufsatz „Über das innere Leben“ (Naibu
seimei ron 内部生命論) bei – Lebensphilosophie in Japan war zu dieser Zeit das
beherrschende Thema, auch wenn Bergson und auch Dilthey für Nishida erst kurz nach
ZnK wichtige Einflüsse wurden.34 Dieses „Verlangen nach Leben“ (James Heisig)35, in
ZnK schriftlich niedergelegt, zerfällt darin in recht unterschiedliche, geradezu
zusammenhanglose 4 Teile: Teil I untersucht den Begriff der „Reinen
Erfahrung“ (junsui keiken 純粋経験), der die in ZnK inhaltlich zentrale Stelle als
„absolutes Prinzip“ des Lebens und der Wirklichkeit einnimmt, in Teil II, „Die Realität“,
erfährt man von Nishidas ontologischem und erkenntnistheoretischem
Bewusstseinsmonismus, der konsequenterweise keine Realität außer sich anerkennt,
Teil III, thematisch dem Titel des Gesamtwerks am nächsten, untersucht unter
moralphilosophischen Gesichtspunkten das „Gute“36 und schließlich widmet sich der
31
„Introduction“ zu An Inquiry into the Good, übersetzt von M. Abe und Ch. Ives (1990).
Heute in NKZ I, S. 3-159.
33
Ich behalte die Abkürzung des japanischen Originaltitels bei, da sich diese auch in der
Forschungsliteratur in westlichen Sprachen durchgesetzt hat.
34
Siehe Pörtner (1990), S. 143-152.
35
In einem Gespräch mit der Verfasserin in Nagoya, Januar 2007.
36
Das „Gute“ ist im japanischen das im Titel des Gesamtwerks enthaltene Zen. Dies ist symptomatisch
für Nishidas Interesse an Lebensphilosophie zu verstehen, wie er im Vorwort zur Erstausgabe von 1911
Auskunft erteilt: „Ich habe dieses Buch insbesondere darum Studie über das Gute genannt, weil –
gleichwohl die philosophische Forschung die eine Hälfte des Sache ausmacht – das Problem des
menschlichen Lebens meines Erachtens Zentrum und Abschluss ist.“ Elberfeld (1999a), S. 21. Die Frage
nach dem „menschlichen Leben“, das „innere Leben“ (Kitamura Tôkoku), und das Gute als Prinzip dieses
Lebens waren relativ neue, und daher sehr modische Strömungen im japanischen philosophischen Diskurs.
Eine andere Erklärung für die Wahl dieses Titels legt Fujita Masakatsu 藤田正勝 nahe: Nishidas Verlag
zu dieser Zeit, Kôdôkan – später sollte auch Nishida durch das renommierte Iwanami-Haus vertreten
werden – wünschte diesen Titel in Anlehnung an Josiah Royces „Studies of Good and Evil, A Series of
Essays upon Problems of Philosophy and of Life (New York, 1898), das wohl in Japan erfolgreich war.
NKZ I, Nachwort (Kôki 後記), S. 464-465.
32
11
abschließende IV. Teil der „Religion“ und dem Gottesbegriff. Publikationsgeschichtlich
ist ZnK eine einzelne Studie wert37. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Teil II,
„Die Realität“, und Teil III, „Das Gute“, bereits 1906 entstanden, Teil I, „Die Reine
Erfahrung“ etwa um 1907 und Teil IV, „Die Religion“, 1908.38 Alle Teile von ZnK
wurden bereits in verschiedenen philosophischen bzw. religionswissenschaftlichen
Fachzeitschriften publiziert39, bevor Nishida 1907 erstmalig an ein Buch dachte. In
einem Brief an Suzuki Daisetsu 鈴木大拙 vom 13. Juli heißt es:
[…] was ich Dir neulich schickte [die Einzelaufsätze zu „Realität“ (jissairon 実際論) und eine
frühere Fassung, die „Über die Realität“ (jissai ni tsuite 実際に就いて) betitelt war] ist
vollkommen scientific [engl. im Orig.]. Ich denke, ich sollte versuchen, meine Gedanken noch
einmal in entwickelter Form zusammenzubringen. Wenn das gelingt, möchte ich sie in einem
Buch zusammenfassen. Bislang war die Philosophie meist auf einen logischen Standpunkt
gegründet. Ich möchte versuchen, die Psychologie zur Grundlage zu machen.40
Dabei ist hier kein emphatischer Begriff von Psychologie gemeint, wie noch zu zeigen
sein wird. Für die vorliegende Arbeit ist ebenfalls wichtig, dass Nishida den Teil „Reine
Erfahrung“, der den I. Teil von ZnK ausmacht, ursprünglich als letzten Teil – nach der
Behandlung der „Realität“, des „Guten“ und der „Religion“ – vorgesehen hatte, wie in
37
Nishida machte sich bereits als Lehrer für Ethik an der Hochschule Nr. 4 in Kanazawa (IshikawaPräfektur) an eine schriftliche Ausarbeitung seiner Ethik und „Realitätstheorie“ zum besseren
Verständnis für seine Schüler des 3. Jahrgangs unter dem Titel: „Herrn Nishidas Realitätstheorie und
Ethik“ (Nishida shi jissairon oyobi rinrigaku 西田氏実際論及倫理学) – über deren Inhalt und was
davon genau in der Endfassung wieder erscheinen sollte, es wiederum sehr auseinandergehende
Meinungen gibt. Fest steht jedenfalls, dass der Teil über das Gute – die „Ethik“ – im engen
Zusammenhang mit dem Teil über die Realität entstand, wenn diese aus publikationstechnischen Gründen
auch wieder auseinandergerissen wurde. So erschien im März 1907 in der Tetsugaku zasshi 哲学雑誌
(„Philosophiezeitschrift“) Nr. 24, vol.1 der Teil „Über die Realität“. Der Teil über die Ethik wurde als
Serie über „Ethische Lehren“ (rinrigaku setsu 倫理学説) in der Zeitschrift Tôa no hikari 東亜之光 („Das
Licht Ostasiens“) vom März bis August 1908 in Druck gegeben. Der erste Teil, der im später „Reine
Erfahrung“ betitelten ersten Teils von ZnK enthalten war, erschien ebenfalls bereits unter dem Titel
„Reine Erfahrung, Denken und Wille“ (Junsui keiken to shi’i oyobi ishi 純粋経験と思惟及意思), wobei
der „Wille“ (ishi), mit den Kanji 意思 geschrieben, eher in der Begriffsbedeutung „Absicht“ zu verstehen
ist, und nicht wie in der späteren und Endfassung mit 意 志 – Wille (ebenfalls ishi) im Sinn
voluntaristischen Denkens. Er erschien in der Zeitschrift Hokushinkai zasshi 北辰会雑誌 („Zeitschrift
des Polarstern-Freundeskreises“), Nr. 5, vol 2 am 22. Juni 1908. Der zweite Teil wurde erstmalig unter
dem Titel „Wille und intellektuelle Anschauung“ (Ishi to chishikiteki chokkan 意思と知識的直感) in
derselben Zeitschrift am 24.Juni wie in der Fassung von ZnK abgedruckt. Der IV. Teil von ZnK über die
Religion wurde schließlich in den Beiträgen zum Ethikseminar des Chôsei Ethikzirkels (Chôsei rinrikai
rinrikôenshû 丁西倫理会倫理講演集) als „Über die Religion“ (Shûkyô ni tsuite 宗教に就いて) am 10.
Mai 1909 veröffentlicht. Referenzen: NKZ I, „Nachwort“, S. 457-467.
38
Im Tagebucheintrag vom 29.Okt. 1908 heißt es: „Ich habe angefangen, die Religionsabhandlung
(Shûkyôron宗教論) zu schreiben.“ NKZ I, „Nachwort“, S. 461.
39
Darauf weise auch Klaus Kracht in einem Vortrag hin, wie Pörtner uns wissen lässt. Pörtner (1990), S.
200 (Fußnote). Für Kracht sei daher entscheidend, die Episodenhaftigkeit von ZnK nicht zu unterschätzen,
die „eine zwingende Abfolge der einzelnen Abhandlungen nicht nahelegt.“ Zum anderen spiele „weder
unter den einzelnen Abhandlungen noch innerhalb der jeweiligen Kapitel das Prinzip der hierarchischen
Subsumption eine nennenswerte Rolle [...].“ Zit. in Pörtner (1990), S. 201. Pörtner möchte darin einen
Hinweis auf die „Modernität“ , weil „Anti-Systematizität“ des Nishidaschen Denkens erkennen, doch die
profanere Tatsache, dass die tatsächliche Abfolge nicht streng konzipiert ist und somit eher Kracht
zuzustimmen wäre, wird durch Nishidas Selbstauskunft erhärtet: „Zuerst erstellte ich den zweiten und
dritten Teil, und erst später wurden der erste und der vierte Teil hinzugefügt. Im ersten Teil versuchte ich
den Charakter der reinen Erfahrung, die das Fundament meines Denkens bildet, zu klären; jedoch sollte
man beim ersten Lesen diesen Teil besser auslassen.“ NKZ I, S. 6. Elberfeld (1999a), S. 20.
40
NKZ I, „Nachwort“, S. 462.
12
einem Brief vom 21. Okt. 1910 an den Philosophen Kihira Tadayoshi 紀平正美 (18741949) der die Verlegertätigkeit für ZnK übernommen hat, klar wird.41 Dass die „Reine
Erfahrung“ in der Druckfassung schließlich an den Anfang gestellt wurde, gibt ihr im
Werkzusammenhang ein „ontologisches Vorrecht“ etwa über den Begriff der Realität.
Insgesamt lässt sich sagen: die Frage nach der Wirklichkeit und des „Lebens“ stellte
Nishida im Zusammenhang mit der Frage nach dem menschlichen Selbstbewusstseins.
Der Begriff der „Reinen Erfahrung“ steht dabei im systematischen Mittelpunkt von ZnK.
Sie bezeichne nicht nur die Erfahrungswirklichkeit als Ganze, sondern auch die
Phänomenologie des Bewusstseins, was, wie gleich zu zeigen sein wird, für Nishida in
der Sache dasselbe meint. Daher gibt es für Nishida auch keine
Bedeutungsverschiedenheit von Reiner Erfahrung und Bewusstsein. Ein solcher
Zusammenhang läuft konsequent auf die komplexen Fragen von Realität,
Selbstbewusstsein und die Möglichkeit der Konstitution derselben hinaus. Insofern aber
Nishida dieser „Realität-qua-Bewusstseins-Problematik“ klar epistemologischen
Charakter zuspricht, ist seine Theorie der Reinen Erfahrung auch im ideenhistorischen
Umfeld „westlichen Philosophierens“ anzusiedeln:
Insofern das Problem der (Selbst-) Konstitution des (Selbst-) Bewußtseins bzw. das Subjekt das
zentrale und – nach Dieter Henrich – noch immer theoretisch ungeklärteste Problem auch der
europäischen Geistesgeschichte ist, hat Nishida mit seinem System der Reinen Erfahrung, wie
er es in Zen no kenkyû darlegt, auf den neuralgischen Punkt und eigentlichen Fokus des
westlichen Denkens gezielt.42
Das klärte die Relevanz des Nishidaschen Themas. Ob Nishidas Ausführungen dazu
tatsächlich erhellend sind und als Beitrag des „östlichen Denkens“ neue, weiterführende
Ansätze zeigen, soll kritisch hinterfragt werden. Interessant ist, dass Nishida seine
eigene spätere Philosophie als Herausforderung an das „westliche Denken“ gesehen hat,
und zwar in der Konzeptionierung seiner „Logik des absoluten Nichts“ um 1926. Zur
Zeit von ZnK spielte diese Absetzbewegung noch keine Rolle. Im Gegenteil wollte
Nishida hier auf gleicher Augenhöhe mit den großen Denkern der westlichen
Philosophiegeschichte ein eigenes System etablieren: das der Reinen Erfahrung.
Was kann „reine“ Erfahrung überhaupt bedeuten? Der Begriff ist offensichtlich ein
Oxymoron – Erfahrung als solche ist schon niemals mehr rein und selbstbezüglich, da
sie, um als Erfahrung überhaupt sich konstituieren zu können, Erfahrung „von
etwas“ sein können muss, ihres Materials bedarf. Als Reine Erfahrung wird sie bei
Nishida im Gegenteil zum gegenwärtigen Zustand des menschlichen Bewusstseins als
solches, in dem es noch keine Unterscheidung von wahrgenommener Empfindung und
wahrnehmendem Ich – keinen Unterschied von Erkennendem und Erkanntem – gebe:
„Das meint zum Beispiel, dass wir in dem Augenblick, in dem wir eine Farbe sehen
oder einen Ton hören, weder überlegen, ob es sich um Einwirkungen äußerer Dinge
handelt, noch ob ein Ich diese empfindet.“43 Insofern läuft Nishidas terminologische
Neubestimmung Reiner Erfahrung dem traditionellen Erfahrungsbegriff zuwider.
41
NKZ I, „Nachwort“, S. 464. Allerdings hatte Nishida Bedenken, dass das Werk mit dieser
Kapitelanordnung zu erkenntnistheoretisch und philosophisch ausfallen könnte, was bei der Leserschaft
„keine großen Emotionen wecken“ – also nicht gut „ankommen“ – würde.
42
Aus dem Vorwort zu seiner Übersetzung von ZnK. Pörtner (1989), S. 26.
43
Pörtner (1989) [= ZnK], S. 29.
13
Nishida fasst das Erfahren als Erkennen „des Tatsächliche[n] als solche[n], ohne alles
Mitwirken des Selbst nach Maßgabe des Tatsächlichen“ auf und die Reinheit als
„Zustand einer wirklichen Erfahrung als solcher, der auch nicht eine Spur von
Gedankenarbeit anhaftet.“44 Hier ist ein wesentlicher Unterschied zum Begriff der „pure
experience“ bei William James in dessen Essays in Radical Empiricism (1905-1907) zu
sehen. James behauptet, dass alle Vorgänge des Denkens und Wahrnehmens auf
Erfahrung und auf den Relationen der Erfahrungen untereinander beruhen, ohne dass
diese Erfahrungen sich auf etwas anderes als Erfahrungen selbst beziehen können. So
sind Gedachtes (object-thought-of) und Gedanke (thought-of-an-object) in dieser sie
vereinigenden „reinen Erfahrung“ oder „Erfahrung an sich“ dasselbe. Bei James geht es
nicht darum, dass Erfahrung primär „rein“ ist – im Gegenteil: eine „reine
Erfahrung“ kann es im strengen Sinne nicht geben, außer bei Toten und Bewußtlosen.
Insofern ist Erfahrung überhaupt stets „impure“. Es ist James zufolge vielmehr nichts
anderes als Erfahrung, die Wissen – und Denken – konstituiere.45
Wissen und Denken nehmen bei Nishida dagegen eine untergeordnete Rolle ein, wie
noch zu zeigen sein wird. Primär ist es bei ihm die Reinheit der Erfahrung, ihr
Ununterbrochensein von jedweden äußeren Einflüssen, die das Bewusstsein in seinem
unmittelbaren Zustand konstituiere. Insofern ist Reine Erfahrung auch unmittelbare
Erfahrung. Programmatisch ist die Unterschiedslosigkeit von Subjekt und Objekt
(shukaku no kubetsu no nai koto 主客の区別のないこと): „In der unmittelbaren
Erfahrung des eigenen Bewußtseinszustands gibt es noch kein Subjekt und kein Objekt.
Die Erkenntnis und ihr Gegenstand sind völlig eins. Das ist die reinste Form der
Erfahrung.“46 Sie ist im emphatischen Sinne bedeutungslos.47 Der ganze Zweck eines so
radikal vereinheitlichten Erfahrungsbegriffs jenseits jeglicher Subjekt-ObjektDichotomie liegt für Nishida darin, dass er hier die unmittelbare Realität erfasst sieht:
„Zur unmittelbaren Sicht der Realität ist zu sagen, dass in allen Zuständen unmittelbarer
Erfahrung Subjekt und Objekt ungeschieden sind, und diese Zustände sich in allen ihren
Aspekten wechselseitig auf die Realität beziehen.“ 48 Reine Erfahrung ist Nishida
zufolge die Realität. Diese wiederum sei das Bewusstsein. „Subjekt und Objekt
existieren nicht losgelöst voneinander, sie sind die zwei aufeinander bezogenen Seiten
der einen Realität. […] (Objekt bedeutet hier keine vom Bewußtsein losgelöste Realität,
sondern nur ein Bewußtseinsphänomen.)“49
44
Ebd.
vgl. William James, Essays in Radical Empiricism (1905-1907) die Abschnitte „Does Consciousness
Exist?” und „The World of Pure Experience”, in: James (2007), S. 1-38 und S. 39-91. Gegen den Begriff
des „Bewusstseins” - „consciousness” – habe der Begriff der Erfahrung den Vorteil, den Dualismus von
Bewusstsein als Form und Bewusstseinsinhalt zu umgehen. James versteht Erfahrung vornehmlich als
Funktion. In seinem Beispiel eines wahrgenommenen Zimmers macht er anschaulich, dass dieses sowohl
“Gedanke” wie auch “Gedachtes” (dt. i. O.) sei: “It plays two different rôles, being Gedanke and
Gedachtes, the thought-of-an-object and the object-thought-of, both in one; and all this without paradox
or mystery, just as the same material thing may be both low and high or small and great […] What
represents and what is represented is here numerically the same; but we must remember that no dualism
of being represented and representing resides in the experience per se. In its pure state, or when isolated,
there is no self-splitting of it into consciousness and what the consciousness is ‘of’. Its subjectivity and
objectivity are functional attributes solely, realized only when the experience is ‘taken’ […] The instant
field of the present is at all times what I call ‘pure’ experience.” James (2007), S. 22/23. Keineswegs will
James mit dem Begriff anzeigen, dass Erfahrung ohne die “Spur einer Gedankenarbeit” oder “unmittelbar”
im Sinne einer prälogischen Dimension sei.
46
ZnK, S. 29.
47
Ebd., S. 30.
48
Ebd., S. 65.
49
Ebd., S. 102.
45
14
Die Konsequenzen aus dieser Haltung lassen sich erahnen. „Außerhalb“ des
Bewusstseins existiere nichts. Da aber das Bewusstsein sich selbst generiere und
entfalte, sei es imstande, alle Formen der Realität anzunehmen: es sei keine statische
Einheit, sondern verändere sich stets. So sagt Pörtner über die Reine Erfahrung zwar,
sie sei „die einzige, unmittelbare und selbstdeterminierte einheitliche Realität. Als
unmittelbare liegt sie vor jedem Urteil (und ist doch zugleich auch ihr
Ermöglichungsgrund). Eingebettet in die Indifferenz von Subjekt und Objekt ist sie ein
einfaches, einheitliches Ganzes.“50 Aber dieses Ganze ist eine Aktivität, deren paradoxe
Charakteristika noch von Interesse sein werden.
Auf der Ebene der Entwicklung seines Begriffs der Reinen Erfahrung in ZnK gibt es für
Nishida drei Prämissen51: erstens, Bewusstseinsphänomene sind die einzige Realität.
Insofern gibt es für Nishida keine „objektive Realität“, die einer „subjektiven
Realität“ gegenüberstünde. Zweitens, die Realität ist eine sich selbst bestimmende
Einheit. Drittens, die eine selbstbestimmte Realität entwickelt sich einer Ordnung
gemäß. In einigen einleitenden Bemerkungen zum Begriff der Reinen Erfahrung hat
zunächst die erste Prämisse zu interessieren. Was für Konsequenzen kann eine solche
Annahme haben?
Das Problem ist evident: Nishida scheint Berkeleys subjektiven Idealismus und sein
Prinzip des esse est percipi unkritisch und mit all seinen theoretischen Schwierigkeiten
zu übernehmen. So sagt Nishida selbst: „In der Tat verhält es sich so, wie Berkeley
gesagt hat: esse est percipi. Unsere Welt ist nur aus den Tatsachen der
Bewußtseinsphänomene zusammengesetzt“, um wenige Sätze später genau dies zu
widerrufen: „Auch Berkeleys esse est percipi stimmt nicht mit dem von mir Gemeinten
überein. Die unmittelbare Realität ist nichts Passives, sie ist eine unabhängige,
selbstbestimmte Tätigkeit. Daher wäre es treffender zu sagen: esse est agere.“ 52
Allerdings erfährt der Leser nichts zum Prinzip des „esse est agere“ („Sein ist
Handeln“), was den epistemologischen Schwierigkeiten Berkeleys entgehen könnte.
Nishida führt diese differenzierende Nuance nicht weiter aus. Stattdessen geht er so weit
zu behaupten, dass ein Stein, wenn wir ihn sehen, nichts als eine „Kontamination
unserer Sinnesempfindung“ 53 sei. Pörtner sieht hier die „realitätskonstituierende
Scharnierfunktion
des
Bewußtseins“
am
Werk.
Insofern
muss
die
„Bewusstseinstatsache der Reinen Erfahrung, die an die Stelle des für unmöglich
erkannten commercium zwischen Ich-Bewußtsein und Welt-Wirklichkeit tritt,
gleichsam als Statthalter der Konvergenz von esse und percipi [herhalten].“54 Was das
konkret heißt, hat Folgen für Nishidas Verständnis von Raum, Zeit und Kausalität: nicht
nur sind Zeit und Raum für Nishida keine Formen der Anschauung a priori für Nishida,
sondern sie entstehen erst durch die Reine Erfahrung – das Bewusstsein ist ihnen
vorgelagert. Mehr noch, eine gewisse „Intuition“ – wie Nishida an einer Stelle sagt – ist
erst ihr Ermöglichungsgrund: „Vom strengen Standpunkt der Reinen Erfahrung her
gesehen, wird die Erfahrung nicht von Formen wie der der Zeit, des Raumes und des
Individuums restringiert, diese werden vielmehr von einer sie transzendierenden
Intuition erst konstituiert.“ 55 Dies gelte ebenso für das Kausalitätsgesetz: das
50
Pörtner (1990), S. 213.
Pörtner sieht diese Prämissen als Prämissen von Nishidas Philosophieren überhaupt. Pörtner (1990),
S. 13.
52
ZnK, S. 78-79.
53
Ebd., S. 111.
54
Pörtner (1990), S. 15.
55
ZnK, S. 65. Hervorh. EL.
51
15
Bewusstsein – also die Realität – falle nicht darunter56, da das Kausalitätsgesetz nicht
mehr als ein „Habitus unseres Denkens“ 57 sei, der die Veränderungen der
Bewusstseinsphänomene zum Ursprung habe. Vom Kantischen Standpunkt aus
betrachtet, liegt hier allerdings kaum mehr als eine Verwechslung der Unerkennbarkeit
der Dinge, wie sie an sich sind, mit ihrer Nicht-Existenz vor. So sagt Kant in seiner
Widerlegung Berkeleys in der KrV (1781/1787):
Wenn ich sage: im Raum und in der Zeit stellt die Anschauung sowohl der äußeren Objekte […]
beides vor, so wie es unsere Sinne affiziert, d.i. wie es erscheint, so will das nicht sagen, dass
diese Gegenstände ein bloßer Schein wären. Denn in der Erscheinung werden jederzeit die
Objekte, ja selbst die Beschaffenheiten, die wir ihnen beilegen, als etwas wirklich gegebenes
angesehen, nur dass, sofern diese Beschaffenheit nur von der Anschauungsart des Subjekts in
der Relation des gegebenen Gegenstandes zu ihm abhängt, dieser Gegenstand als
Erscheinung von ihm selber als Objekt an sich bloß unterschieden wird […] Es wäre
meine eigene Schuld, wenn ich aus dem, was ich zur Erscheinung zählen sollte, bloßen Schein
machte. 58
Nishida seinerseits würde Kant entgegenhalten, dass dieser schon immer von der
„dogmatischen Annahme“ des Subjekt-Objekt-Gegensatzes ausginge, sowie davon, dass
die Erfahrung nur durch die sinnlichen Formen der Anschauung a priori gegeben sei.59
Anders als Berkeley allerdings sieht Nishida konsequenterweise keine objektive Realität
in den Dingen. Aber Nishida würde sich nach Kant eines viel weitreichenderen
Vergehens schuldig machen. Denn die Annullierung der objektiven Realität hat und
kann nur eine Konsequenz haben: die Annullierung des Subjekts. Wie diese sich in ZnK
vollzieht, will das vorliegende Kapitel deutlich machen.60 Bevor eine Darstellung der
sich aus Nishidas System ergebenden Paradoxien erfolgt, muss jedoch die Bestimmung
des Subjektbegriffs – oder von Nishida äquivok gebraucht: des Selbstbewusstseins –
zum einen in ZnK, zum anderen in einem kurzen Abriss über seinen Gebrauch in der
modernen japanischen Philosophie genauer gefasst werden.
In weiten Teilen von ZnK vermeidet Nishida es, von Selbstbewusstsein zu sprechen,
während doch die einzelnen Begriffe „Selbst“ und „Bewusstsein“ konstituierende
Elemente seiner Theorie der Reinen Erfahrung sind. Erst in seinem zweiten
zusammenhängenden Werk Anschauung und Reflexion im Selbstbewusstsein (Jikaku ni
okeru chokkan to hansei 自 覚 に お け る 直 感 と 反 省 ) (1917) wird das
56
„Im Bewußtsein gelten die qualitativen Bestimmungen der Zeit, des Orts und der Kraft nicht, folglich
steht es auch nicht unter der Herrschaft eines mechanischen Kausalitätsgesetzes. Alle diese Formen oder
Schemata werden umgekehrt von der Bewußtseinseinheit erst konstituiert.“ ZnK, S. 82.
57
ZnK, S.81.
58
KrV B 67-69 (1923).
59
NKZ I (1966), „Denken und Erleben“ (Shisaku to taiken 思索と体験) (1915), S. 226. Hierin meint
auch Robert J.J. Wargo den Unterschied zwischen dem Nishidaschen und dem Berkeleyschen System
ausgemacht zu haben: „For Berkeley the subject-object distinction is fundamental, while for Nishida, pure
experience is prior to any such dichotomy.“ Wargo (2005), S. 35.
60
Pörtner dagegen sieht die epistemologischen Gefahren des radikalen subjektiven Idealismus bei
Nishida nicht, obgleich er die in der Sache enthaltenen Probleme anerkennt. Eine Konsequenz der
Prämisse, dass eine objektive Realität nicht existiere, bzw. dass die Bewußtseinsphänomene die einzige
Realität seien, wäre eher ein „Panpsychismus“: eine „Denkweise, die zwar annimmt dass alles, was ist,
nur ist, insofern es Bewußtsein ist, aber nicht fordert, dass es zum Beweis oder Erweis seiner Existenz
wahrgenommen werden müsse: Ein Punkt, der den Panpsychismus vom Idealismus
unterscheidet.“ Pörtner (1990), S. 164.
16
Selbstbewusstsein ausdrücklich thematisch. An dieser Stelle wäre kurz darauf
einzugehen, dass das Selbstbewusstsein als Jikaku für einige Nishida-Interpreten schon
in ZnK, wenn noch nicht vollständig konzipiert, so doch antizipiert ist. Der Jikaku wird
von Anfang an eine außergewöhnlich prominente Rolle im gesamten Werk Nishidas
zugesprochen, quasi als Grund seines Philosophierens überhaupt, und teilweise sogar
eine
spezifisch
kulturdifferenzierende,
weil
den
westlichen
Begriff
„Selbstbewusstsein“ gleichsam subversiv unterwandernde Rolle hypostasiert. 61
Darüberhinaus gibt es nicht unerhebliche Berührungsängste mit diesem als
Neologismus „spezifisch Nishidaschen“ Begriff, der nur ungern mit dem
philosophischen Terminus Selbstbewusstsein bzw. self consciousness bzw. conscience
de soi wiedergegeben wird.62 Jikaku ist aus den chinesichen Schriftzeichen für ji 自
(Selbst) und kaku 覚 (erwachen, gewahren, aufmerksam sein) zusammengesetzt und
könnte daher mit „Selbstgewahren“ übersetzt werden. Hier ginge allerdings der von
Nishida ausdrücklich erhobene philosophische Anspruch verloren und würde durch eine
Art religiöses „Selbsterwachen“ ersetzt. Auch „Selbstwahrnehmung“ geht nicht auf das
von Nishida Intendierte. Pörtner merkt dazu an: „Der Begriff der ‚Selbstwahrnehmung’
des Bewußtseins soll hier (nur) terminologisch gebraucht werden, da das Bewußtsein
für sich nicht die Form einer Wahrnehmung annehmen kann. Selbstwahrnehmung weist
auf ein bestimmtes Selbstverhältnis des Bewußtseins, das nichtsdestotrotz – im
Gegensatz zur Selbstreflexion – als einstellig gedacht werden kann.“63
Für den Augenblick ist für den Jikaku-Begriff einzig festzuhalten, dass er das
menschliche Bewusstsein meint, wie es sich auf sich selbst bezieht. In dieser für die
vorläufige Heuristik minimalistischen Bedeutung geht er also nicht auf ein Hegelsches,
durch die Herr-Knecht-Dialektik erwirktes Für-sich-sein des Bewusstseins oder auf ein
Sartresches durch die ursprüngliche Negation konstitutiertes être pour soi. Es ist einfach
das Bewusstsein dessen, der sich selbst seiner selbst bewusst ist. Ich wähle daher die
Übersetzung „Selbstbewusstsein“. In seiner mittleren Phase Ende der 20er Jahre
verwendet Nishida Jikaku auch einfach für „Selbstbewusstsein“, um es gegen das
Bewusstsein (ishiki 意識) abzugrenzen.64 Nishida selbst hat in einem frühen Text –
„Vorschlag für eine Ethik“ (Rinrigakusôan 倫理学草案)(1906) darauf aufmerksam
gemacht, dass Jikaku mit „self-consciousness“ übersetzt werden kann.65
61
„If there is one notion that seems to run like a golden thread throughout the entire, rich tapestry that
Kyoto philosophers have woven, it is that of jikaku 自覚 or self-awareness. Indeed, it served Nishida as a
critical tool for resisting the self-understanding being urged on Japan from the outside world […]”. Heisig
(1990), S. 18.
62
“One of the central notions in the philosophy of Nishida Kitarô is that of jikaku 自覚 (self awareness),
a notion as difficult as it is pervasive.” J. C. Maraldo (2006a), S. 143. Siehe in demselben Band den
Beitrag von Uehara Mayuko „The Conceptualization and Translation of Jikaku and Jiko“, der sich
akribisch mit den Übersetzungsmöglichkeiten von Jikaku auseinandersetzt. In Heisig (Hg.) (2006), S. 5569. Auch der Kritiker der Kyoto-Schule Hiromatsu Wataru macht die erste Phase von Nishidas Schaffen
– von ZnK bis zu „Kunst und Moral“ (Geijustu to dôtoku 芸術と道徳, 1923) als „voluntaristische jikakuLehre“ aus. Hiromatsu (1979), S. 154.
63
Pörtner (1990), S. 14.
64
So fast durchgängig in „Das selbstbewusste System des Allgemeinen“ (Ippansha no jikakuteki gentei一
般者の自覚的体系) in NKZ IV.
65
In NKZ XVI (1966), S. 169. Zit. in Heisig (Hg.) (2006), S. 58-59. Da Uehara die Textstelle nur auf
Französisch und Japanisch wiedergibt, hier die deutsche Übersetzung der relevanten Stelle: „Weil die
Einheitskraft des Bewusstseins die grundlegende Bewusstseinsform ist, wiederholt sich in allen geistigen
Phänomenen der identische vereinheitlichende Akt (dôitsu no tôitsu sayô 同一の統一作用). Dieser Akt
ist das auf das, was Bewusstsein ist, deutende Jikaku 自覚 (self-consciousness) [engl. im Orig.].“
17
Der Begriff des Selbstbewusstseins bzw. des menschlichen Subjekts ist deshalb für die
vorliegende Untersuchung so wichtig, weil nicht ohne weiteres von einem Subjekt, wie
man es aus der westlichen Geistesgeschichte kennt, gesprochen werden kann. Das soll
keinesfalls bedeuten, dass man das „japanische“ Subjekt mit einem eine verschiedene
Bedeutung indizierenden Aspekt verstehen muß – eine derartige Sicht förderte wieder
den Exklusivitätsanspruch zutage und verschleierte die Tatsache, dass japanische
Erkenntnistheorie mit denselben Begriffen operiert wie deutsche, englische oder
französische. Allerdings lag der Begriff des Subjekts begriffsgeschichtlich nicht
ungefragt vor. So weist Naoki Sakai darauf hin, dass die Gewinnung des Begriffs des
Subjekts
geistesgeschichtlich
durchaus
aus
der
„Ontologie
der
Selbstwahrnehmung“ (jikaku sonzairon 自覚存在論) gedacht werden muß.66 Obwohl
es vor dem Import westlichen philosophischen Vokabulars in der Meiji-Zeit (1869-1912)
kein Äquivalent zum epistemologischen Subjekt in Japan gab, wurde ein die
„Selbstwahrnehmung“ oder das „Selbst“ indizierendes Subjekt durchaus angenommen,
z.B. in buddhistischen Diskursen. Die Etablierung des Subjektbegriffs wurde schnell zu
einer Frage der Übersetzung. Es sollte sich dennoch vielmehr um ein Problem
philosophischer, weniger linguistisch-philologischer Art handeln, wie Sakai herausstellt.
Denn der grammatikalische Nominativ hatte bereits seine festgeschriebene
Entsprechung in shukaku 主格, wie auch das logische Subjekt einer Präposition in
shugo 主語. Verkompliziert wurde dies Verhältnis noch dadurch, dass auch das Agens,
der Täter einer Handlung zum Subjekt – shutai 主体 – wurde, und das Denk- bzw.
Gesprächsthema als Subjekt zu shudai 主題, während sich darüberhinaus noch ein
epistemologisches Subjekt als shukan 主観 etablierte, sodass man im Japanischen fünf
verschiedene Begriffe zur Verfügung hat, die im Deutschen mit Subjekt (engl. subject,
franz. sujet) wiedergegeben werden können.67 Als philosophisches Problem generierte
sich der Begriff des Subjekts in Japan, als unter dem Einfluss der Philosophie des
Deutschen Idealismus die Frage der Selbst-Wahrnehmung bzw. des Denkens (neu)
gestellt wurde. Sakai sieht dieses Problem im Begriff des Denkens begründet, der zwei
verschiedene Interpretationen zulasse:
One is confined to the formation of knowledge, so that the subject of thinking is exclusively
epistemological; this sort of subject was rendered as shukan. In contrast, the other is linked to
the issue of action and subsequently to praxis in general, and, as thinking was taken to be an act
(as in “thinking act”), the verb “to think” was included in the group of verbs “to do”, “to make”,
“to act”, “to speak”. The consequence is that the subject of thinking is taken to be the subject of
action. In this case, the term was translated shutai.68
Als Agens sei das shutai vom epistemologischen shukan durch die Tatsache getrennt, so
Sakai weiter, dass es nicht in der Subjekt-Objekt-Dichotomie reflektiert sei. Doch
werden in der japanischen Philosophie seit jeher – seit der Etablierung japanischer
Philosophie als tetsugaku 哲 学 – shutai und shukan parallelisiert, in der Folge
wechselseitig verwendet und sind schließlich nicht mehr strikt trennbar. Das dürfte in
66
Sakai (1997), S. 80.
In seiner „Begriffserklärung“ nimmt Elberfeld die nicht sehr erhellende Unterscheidung vor: „Shugo
bezeichnet das grammatikalische Subjekt, shukan das abstrakte philosophische Subjekt im Sinne Kants
und shutai das konkret erlebende Subjekt im Sinne der Lebensphilosophie.“ Elberfeld (1999a), S. 305.
Vor allem läßt er unbegründet, inwiefern das Kantische Subjekt sich als abstrakt und das Subjekt der
Lebensphilosophie etwa Bergsons sich als konkret auszeichnet.
68
Sakai (1997), S. 80.
67
18
der Struktur der jeweiligen Signifikate selbst begründet sein: denn inwiefern kann das
handelnde – also im Sinne des Subjekts als shutai denkende – Subjekt von einem
Subjekt, das sich der Welt der Objekte gegenüber verortet – dem Subjekt als shukan –
terminologisch auseinandergehalten werden? 69 Es macht wenig Sinn,
Bedeutungsverschiedenheit zu implizieren, wenn die Sache dieses Verhältnis nicht
hergibt.
Nishida spricht in ZnK konsequent vom erkenntnistheoretischen Subjekt als shukan,
während er in seiner späteren Geschichtsmetaphysik diesen Begriff aufgibt – hier ist das
Subjekt ist als solches nicht mehr das, was es noch in seiner Bewusstseinsphilosophie
war, und selbst als shutai kommt es – insgesamt gesehen – nur noch sporadisch vor.
Zunächst besteht die Schwierigkeit einer genauen Begriffsbestimmung von Subjekt auf
der Ebene von ZnK darin, dass es der Philosophie der Reinen Erfahrung anathema ist
und dennoch voraussetzt: als Überwundenes – zu Überwindendes bleibt es in der
Ununterschiedenheit seiner vom Objekt erhalten.
Nishidas System scheint sich so als ein idealistisch überhöhter, und so paradoxerweise
„umgekehrter“ Hegelianismus herauszustellen. Im Gegensatz zum Hegelschen System
ist bei Nishida nicht die „Anstrengung des Begriffs“ als Prozess des Bewusstseins, sich
selbst im Auseinandertreten mit sich als Selbstbewusstsein zu erkennen und zum
absoluten Wissen zu werden, die Motivation der Reinen Erfahrung, sondern letztlich
einen Bewusstseinszustand zu erreichen, der vollkommen undifferenziert weder Subjekt
noch Objekt, weder Ich noch Welt kennt und die Realität intuitiv, „ohne eine Spur von
Gedankenarbeit“ erfasse. Tatsächlich finden wir bei Nishida sowohl am Anfang als
auch am Ende eine Ebene vor, die der Hegel der PhG noch als „abstrakteste und ärmste
Wahrheit“ bezeichnet hatte. 70 Trotz der Beteuerungen des Prozess- und
Systemcharakters in ZnK bleibt die Reine Erfahrung in sich selbst statisch. Weist man
noch auf den strukturellen Aufbau des Werkes hin – Nishida hatte den Teil über die
Reine Erfahrung ursprünglich als letzten Teil von ZnK konzipiert – so wird klar, dass
die absolute Indifferenz, der Verschmelzungspunkt von Subjekt und Objekt nicht (nur)
Ausgangspunkt, sondern auch Ziel seiner Untersuchung ist.
Der Vergleich mit Hegel kommt nicht von ungefähr. Nishida selbst führt Hegel als
Stichwortgeber vieler seiner Gedanken an:
Hegel hat mit äußerstem Nachdruck behauptet, dass das Wesen des Denkens nicht abstrakt,
sondern konkret sei; dies gilt in dem von mir beschriebenen Sinne fast genauso für die Reine
Erfahrung […] Die Allgemeinheit eines Begriffs [ist] vielmehr die vereinheitlichende Kraft der
konkreten Tatsachen. Auch Hegel sagt, dass das Allgemeine die Seele des Konkreten sei (Hegel,
Wissenschaft der Logik III, S. 37).71
Im Zusammenhang mit Hegel ist es der Begriff der „Unmittelbarkeit“, der an
prominenter, das heißt an erster Stelle einer Analyse der ontologischen Grundschemata
69
Hinzuweisen wäre darauf, dass Sakai hier eine Kritik an Watsuji Tetsurô 和辻哲郎 (1889-1960) im
Auge hat, der trotz seines Insistierens auf dem Unterschied von shukan und shutai, in dem er shutai
shukan vorzieht, theoretisch das Kantische erkenntnistheoretische Subjekt zu Grunde legt. Sakai (1997), S.
72-117.
70
PhG, S. 82. Streng genommen tritt dieser „Zustand vollkommener Indifferenz“ – Nishidas Absolutes –
noch hinter Hegels „sinnliche Gewißheit“ zurück, da ihr nicht einmal die sprachlichen Ausdrücke des
„Dieses“ und des „Ich“ zukommen.
71
ZnK, S. 48. Allgemein lässt sich übrigens feststellen, dass kein anderer Autor in den von mir
untersuchten Werken Nishidas so oft genannt wird wie Hegel.
19
der Reinen Erfahrung, zu diskutieren ist (I. 1.1.1.). Die Problematik eines
unreflektierten, unmittelbaren „Selbstgewahrens“ im System Reiner Erfahrung soll in
diesem Abschnitt mit Hegels hoch“vermitteltem“ Begriff der Unmittelbarkeit aus dem
Anfang der PhG bzw. WL kontrastiert werden. Dabei sollten auch die Probleme und
Paradoxien deutlich werden, die Nishidas Begriff von Unmittelbarkeit und
„Direktheit“ der Reinen Erfahrung zu Grunde liegen. Daraus ergibt sich im folgenden
die Diskussion eines weiteren ontologischen Grundschemas der Reinen Erfahrung: die
Selbstreferentialität des Nishidaschen Systems (I. 1.1.2.). Hier wird die Frage der
sinnvollen Begründung eines absolut immanenten, selbstreferentiellen Systems Hegels
Begriff der Selbstgenerierung gegenübergestellt, um zu zeigen, dass die
Voraussetzungslosigkeit eines Systems schon wieder eine Voraussetzung genannt
werden kann – ein Verhältnis, das von Hegel durchaus reflektiert worden ist.
Während die Darstellung der ontologischen Grundschemata der Reinen Erfahrung den
Begiff der Reinheit – qua Unmittelbarkeit und Selbstreferentialität –kritisch begleitet,
will die Darstellung der erkenntnistheoretischen Grundschemata des Systems der
Reinen Erfahrung (I. 1.2.) anschließend diejenigen Strukturen der Reinen Erfahrung
offenlegen, die ohne den Begriff der Erfahrung nicht denkbar sind. Hierbei wird von
der paradoxalen Temporalität in Nishidas System zu sprechen sein, die der Reinen
Erfahrung eine Gleichzeitigkeit von „noch nicht“ (imada 未 だ ) und „schon
immer“ (sude ni 既に) beilegt (I. 1.2.1). Dennoch enthalte Nishidas System, ungeachtet
seiner Selbstreferentialität, auch ein Potential zur Differenzierung. Wie und ob dieses in
seinem Verhältnis zur Selbstreferentialität begründet und ob es überhaupt einen
Gegensatz zu diesem darstellt, will ich in I. 1.2.2. erläutern. Nishida führt hier zur
Erklärung den Willen, die intellektuelle Anschauung und die Intuition ein, allein die
Frage bleibt, ob Selbstdifferenzierung somit überzeugend dargelegt werden kann.
Unter dem Abschnitt „Die Konstitutionsproblematik des Selbstbewusstseins“ (I. 1.3.)
soll das sich hier ergebende Problem eines zeitüberhobenen Intuitionismus im
Anschluss an der Frage vertieft werden, wie in Nishidas System das Verhältnis von
Intersubjektivität denkbar ist. Ist in einem atemporalen, letztlich auch nicht-räumlich zu
denkenden erkenntnistheoretischem Entwurf die Existenz anderer überhaupt möglich?
Dieser Frage soll in Abschnitt I. 1.3.1., „Das Solipsismusproblem“, nachgegangen
werden. Ohne eine kritische Erläuterung des Reflexionsbegriffs muss meines Erachtens
eine Analyse eines metaphysischen Systems – das das System der Reinen Erfahrung
letztlich präsentiert – unvollständig bleiben, insbesondere, weil es die
Konstitutionsproblematik direkt betrifft. Daher möchte ich bereits in einem relativ
frühen Abschnitt dieser Arbeit dem Reflexionsbegriff einige Aufmerksamkeit schenken
(I. 1.3.2.). In diesem Zuge werden klassische konstitutionstheoretische Motive der
Philosophie wie das Paralogismusproblem im Hinblick auf Nishida im ersten Ansatz
problematisiert.
Abschnitt 2 dieses Kapitels will – kritischer als Abschnitt 1 – zentrale Terminologien
bei Nishida, den Willen (I. 2.1.1.) und die „intellektuelle Anschauung“ (I. 2.1.2.) als
Hilfsmittel zur „Auslöschung aller subjektiven Fiktionen“, deutlich hinterfragen. Die
Konfundierung von (im Sinne des Neukantianismus) psychologischen Annahmen und
ausdrücklich metaphysisch konnotierten Phänomenen – Kausalität – wird dabei auch
zur Diskussion gestellt. Die Rolle der intellektuellen Anschauung in Nishidas System
wird hier deutlich entlang Fichtes Begriff problematisiert, da er für Nishida auch in
späteren Schaffensphasen wichtiger Stichwortgeber sein wird. Hier ist allerdings ein
20
religiöses Moment für Nishida bedeutender als die erst um 1913-14 einsetzende FichteDiskussion. Es wird in I. 2.2., „Religion und Gottesbegriff“, diskutiert. Hauptfokus
meiner Kritik ist in der Konsequenz der in den letzten Abschnitten von ZnK diskutierte
Selbstnegations- und Gottesbegriff als „Kulminationspunkt“ des Systems. Die Illusion
des Ich bzw. Selbst und die Aufgehobenheit in „Gott“ werden von Nishida als
unverrückbare „Tatsachen“ proklamiert. Diese lassen sich schließlich nur noch als
prästabilierte Harmonie verstehen. Dieses in Nishidas Immanenzsystem sich als roter
Faden erweisende Paradigma wird dem System zufolge als Sieg über ein autonomes
Subjekt verstanden. Dieser gilt der primäre Fokus meiner Kritik an Nishida, zumal sie
weit über die Schaffensphase von ZnK hinausreicht.
Zunächst jedoch zu den Grundschemata des Systems Reiner Erfahrung in ZnK, des
„bislang ersten und wahrscheinlich einzigen philosophischen Werk eines Japaners“72,
wie der Phänomenologe Takahashi Satomi 高 橋 里 美 (1886-1964) Nishidas
Erstlingswerk kurz nach seinem Erscheinen einschätzte.
1.
Grundschemata der Reinen Erfahrung
Der Immanenzgedanke ist Dreh- und Angelpunkt von ZnK. Die Rolle, die Nishida der
Intuition dabei zuweist, führt allerdings nicht wie bei Bergson zum Versuch einer
Destruktion des szientivistischen Weltbildes, zu einem – wie Adorno behauptet – gegen
das Dinghafte des rational-logischen Absolutismus gewendetes irrationalistisches
Aufbegehren, 73 sondern zu reiner Identitätsphilosophie. Die Nichtbeachtung der
Kategorien der Negation und der Nicht-Identität resultiert daher nicht nur in einer
Unterbestimmung von Subjektivität, sondern ist der erste Schritt zu einer quasiTheologisierung von Unmittelbarkeit als Garant für die Wahrheit der zu erprobenden
Erfahrung. Das unzulässige logische Verfahren der Petitio principii die sich hinter
dieser Voraussetzung verbirgt – Unmittelbarkeit als solche soll bezeugt werden, verliert
aber so gerade den Charakter der Unmittelbarkeit – wird von Nishida nicht reflektiert.
Ebensowenig kann bei Nishida auf die Einsicht in die realen Konsequenzen der
Apotheose der Unmittelbarkeit gehofft werden. Wo das Subjekt durch den Begriff der
Reinen Erfahrung ersetzt wird, folgt der Solipsismus auf dem Fuße: wo es nichts mehr
gibt, das den Zustand einer Welt garantieren kann, weil es keine Welt mehr gibt, in der
ein Ich zu Hause wäre, bleibt nur noch das Subjekt über, aber ein monistisches,
einzelnes, sich selbst äußerliches. Gewiß versucht Nishida auch hier, die Idee der
Differenzierung und des Widerspruchs für sein „System“ mit einzubeziehen, doch erst,
nachdem er den ontologischen Ort, an dem diese überhaupt erst zu denken wären, für
nichtig erklärt. Wie sich Nishidas Grundwiderspruch im einzelnen ausdrückt, soll der
folgende Abschnitt zeigen, der sowohl seine ontologischen als auch
72
Takahashi (1912), S. 48.
Doch selbst dieses Aufbegehren gehorche noch den Spielregeln rationaler Wissenschaftlichkeit: „[…]
die lebendige Erkenntnis, um deren Rettung es Bergson geht, [verfügt] an sich keineswegs über ein
andersgeartetes Erkenntnisvermögen. Dessen Annahme vielmehr reflektiert selber die dem Bergson
verhaßten Bereich angehörige Spaltung von Methode und Sache; mit dem bürgerlichen Denken hat
Bergson den Glauben an die isolierbare und wahre Methode gemein, nur dass er dieser eben jene
Attribute zuteilt, welche ihr seit Descartes abgesprochen wurden, ohne zu durchschauen, dass man, indem
man eine wohldefninierte Methode gegenüber ihren wechselnden Gegenständen verselbständigt, bereits
die Starrheit sanktioniert, welcher der Zauberblick der Intuition lösen soll.“ Adorno (2003a), S. 8.
73
21
erkenntnistheoretischen Aspekte und im Anschluß das Problem der Konstituierung des
Selbstbewusstseins diskutiert.
1.1.
Das ontologische Grundschema der Reinen Erfahrung
Die Reine Erfahrung ist bislang als realitätskonstitutierendes „Bewusstsein überhaupt“,
das keine objektive Realität „außer sich“ zulasse, ausgemacht worden. An den Begriffen
der Unmittelbarkeit sowie der Selbstreferentialität kann die Reinheit der Erfahrung als
ontologische Konstante behauptet werden. Dabei dürfte der von Nishida nicht
begriffslogisch verstandene Begriff der Unmittelbarkeit umso schwieriger zu fassen sein,
da seine psychologische Funktion immer wieder mit seiner ontologischen Bedeutung
vermischt wird. Dennoch soll hier eine an Hegels Anfang der PhG sowie der WL
angelehnte begriffsanalytisch-logische Kritik versucht werden, die auch zur Klärung der
von Nishida selbst unternommenen Konflation von psychologischen und logischen
Motiven beitragen dürfte. Die Analyse der Selbstreferentialität der Reinen Erfahrung
wird sich im weiteren an Pörtners Schema orientieren, die darüberhinaus die Frage nach
der Möglichkeit vollständiger Selbstreferentialität stellt, wie sie von Nishida behauptet
wird. Die Analyse will zeigen, dass ohne ein ihr selbst äußerliches Moment zur
Voraussetzung die behauptete Selbstreferentialität der Reinen Erfahrung jedoch ad
absurdum geführt wird. Hegels Begriff von der Voraussetzungslosigkeit, die sich
voraussetzt, ist hier das heuristische Mittel der Kritik.
1.1.1. Der Begriff der Unmittelbarkeit
Für Nishida ist die Reinheit der Erfahrung begrifflich gleichzusetzen mit ihrer
Unmittelbarkeit. Die Reine Erfahrung sei da, „bevor wir das Urteil hinzufügen, was für
ein Ton, was für eine Farbe das sei. Somit sind Reine Erfahrung und unmittelbare
Erfahrung identisch.“74 Pörtner sieht ZnK und die 1915 publizierte Essaysammlung
Denken und Erleben (Shisaku to taiken 思 索 と 体 験 ) 75 , die im nahen
publikationsgeschichtlichen Zusammenhang auch thematische Nähe aufweist, als
„systematische Darstellung des als ereignishaft gedachten Zustands der Unmittelbarkeit
der Selbstwahrnehmung.“76 Unmittelbarkeit hat für Nishida eine geradezu axiomatisch
ontologische Dignität. Während Reflexion und Urteil die Einheit der Reinen Erfahrung
zerstören, sieht Nishida in der Unmittelbarkeit von „Vorstellungen“ bzw. in dem, „was
als Vorstellung erfahren wird“ (hyôshôteki keiken 表象的経験) – im Gegensatz zu
Hegel, für den Vorstellungen naiv-objektivistisch sind – gerade die Qualität der Reinen
Erfahrung.77 Ähnlich wie die Intuition einen höherwertigen Geisteszustand darstelle, sei
74
NKZ I, S. 9.
in NKZ I (1966), S. 203-426.
76
Pörtner (1990), S. 200. Hervorh. EL.
77
„[Es mag] scheinen, dass selbst das, was als Vorstellung erfahren wird, so einheitlich es auch sein mag,
zu den subjektiven Inszenierungen gehört und deshalb nicht Reine Erfahrung genannt werden kann.
Jedoch müssen wir auch eine Erfahrung in Gestalt einer Vorstellung, wenn ihre Einheit sich notwendig
und von selbst herstellt, als Reine Erfahrung ansehen (hyôshôteki keiken de atte mo sono tôitsu ga
hitsuzen de mizukara ketsugô suru toki ni ha wareware ha kore wo junsui no keiken to minakerebanaranu
表象的経験であっても其の統一が必然で自ら結合する時には我々は之を純粋の経験と見なけれ
ばならぬ).“ NKZ I, S. 14, ZnK, S. 34.
75
22
die Vorstellung ein „reines“ Bewusstseinsphänomen, dessen „Reinheit“ im Erleben
gegenwärtiger Erfahrung bestehe. Insofern sollte auch deutlich sein, dass „rein“ (junsui
純粋) nicht „apriorisch“ meint wie bei Kant, sondern „echt, unverfälscht, ungetrübt“.
Ebenso wie zum Beweis der Ganzheit der spontalen Selbstentfaltung der Erfahrung
zieht Nishida den Traum als Beispiel für einen reinen Bewusstseinszustand, bzw. für
eine reine Vorstellung heran 78 : „Wenn zum Beispiel wie im Traum keine äußere
Einwirkung ihre Einheit [die Einheit der Vorstellung, EL] stört, ist sie von einer
Wahrnehmungserfahrung nicht zu unterscheiden. Ursprünglich existiert für die
Erfahrung weder ein Innen noch ein Außen. Was sie rein macht, liegt in eben dieser
Einheit, nicht in der Art.“79 Gerade das Unvermischtsein der unmittelbaren Vorstellung
mit dem Gedanken mache die Reinheit der Erfahrung aus. Konkret stellt sich Nishida
das Erleben der unmittelbaren Erfahrung so vor: „Es ist gleichsam, wie wenn unser
Herz, von einer schönen Musik betört, sich und die Welt vergißt und das ganze
Universum zu einem einzigen Klang wird. In diesem Augenblick ist die sogenannte
wahre Realität präsent.“80 Ohne jegliche gedankliche Anstrengung ist der Zustand der
Ungeschiedenheit von Subjekt und Objekt, das unmittelbare Erfahren, etwa beim
Felsklettern zu entdecken, „oder wenn ein Musiker ein perfekt einstudiertes Stück
spielt“ – dann könne man von einem „perceptual train’, einer Wahrnehmungskontinuität,
sprechen (George Frederick Stout, Manual of Psychology, 1898, S. 252).“81
Pörtner weist in diesem Zusammenhang auf die Studie Das Flow-Erlebnis des
ungarisch-US-amerikanischen Soziologen Mihaly Csikszentmihalyi hin, dessen
Forschungsergebnisse verblüffende Ähnlichkeiten mit dem von Nishida Beschriebenem
haben:
Im flow-Zustand folgt Handlung auf Handlung, und zwar nach einer inneren Logik, welche kein
bewußtes Eingreifen von Seiten des Handelnden zu erfordern scheint. Er erlebt den Augenblick
als ein einheitliches Fließen von einem Augenblick zum nächsten […] (Flow läßt sich) in jeder
Aktivität erleben, sogar in solchen, welche kaum Vergnügen implizieren: an der Front, an einem
Fließband, oder auch in einem Konzentrationslager (sic).82
Doch meint Nishida kaum, dass Tätigkeiten, die kein „Vergügen implizieren“ zu den
Erlebnissen der Reinen Erfahrung gezählt werden können: es sind durchaus angenehme,
weil eine größere Einheit – nämlich mit Gott – implizierende Erlebnisse. Die
Unmittelbarkeit bei Nishida hat vielmehr Ähnlichkeit mit dem cogito préréflexif bei
Sartre, dem prä-reflexiven Bewusstseinszustand. Doch während bei Sartre das cogito
préréflexif ständiger Hintergrund und Begleiter des thetischen Bewusstseins – des
cogito réfléxif – ist, der „Sinn“ des athetischen Bewusstseins also im thetischen
Bewusstsein besteht83, wird die Prä-Reflexivität des Bewusstseins bei Nishida zum
78
„Ein Beispiel dafür ist, dass Goethe im Traum intuitiv gedichtet hat.“ ZnK, S. 34.
Ebd.
80
ZnK, S. 84.
81
ZnK, S. 32-33. Es läßt sich vermuten, dass der von Nishida selbst später kritisierte Psychologismus von
ZnK an diesen Stellen auszumachen ist.
82
Mihaly Czikszentmihalyi, Das Flow-Erlebnis. Klett-Kotta, Stuttgart (1985), S. 59.
83
„Mein unmittelbares Bewußtsein, wahrzunehmen [das präreflexive Cogito, EL] läßt kein Urteilen,
Wollen oder Sich-Schämen zu. Es erkennt meine Wahrnehmung nicht, es setzt sie nicht: alles, was es an
Intentionen in meinem aktuellen Bewußtsein gibt, ist nach draußen gerichtet, auf die Welt. Umgekehrt ist
dieses spontane Bewußtsein von meiner Wahrnehmung konstitutiv für mein Wahrnehmungsbewußtsein
[das reflexive Cogito, EL]. Mit anderen Worten, jedes objektsetzende Bewußtsein ist gleichzeitig nichtsetzendes Bewußtsein von sich selbst“ Sartre (1993), S. 21 Ebenso: „So hat die Reflexion keinerlei
79
23
ausgezeichneten Erkenntnismodus „wahrer Realität“ erklärt. Yoko Arisaka und Andrew
Feenberg sehen folgendes Problem:
Nishida appears to be heading toward a theory like Sartre’s, in which some sort of nonpositional self-consciousness inherently attached to action is analyzed as a further object of
knowlegde. But in fact he moves in quite a different direction and attempts to bring into
philosophy this self-consciousness in all its immediacy and particularity.84
Allerdings bezieht sich diese Interpretation auf Nishidas späteres Werk, „Ort“ (Basho
場 所 ) (1926), das im Laufe der Untersuchung von Interesse sein wird.
Arisakas/Feenbergs Vermutung lässt sich hier aber auch für das Projekt von ZnK
bestätigen: Das unmittelbare, prä-reflexive Bewusstsein sei die „wahre“ Realität,
während im reflektierten Sein ein durch abstraktes Denken zustandegekommenes
Derivat der wahren Realität gesehen werden muss. Im Unterschied zu Sartre, den das
cogito préréflexif weniger interessiert, und der sich in Das Sein und das Nichts (1943)
primär dem être pour soi zuwendet, scheint es bei Nishida nun um genau diesen
unanalysierbaren, „bei den Dingen seienden“ Bewusstseinszustand des cogito
préréflexif zu gehen. Nur ist das Nishidasche cogito préréflexiv niemals etwa „bei den
Dingen“, im Gegenteil, es ist immer nur bei sich selbst, weil es außer ihm im Sinne
einer objektiv erfahrbaren Realität nichts gibt. Diesem kommt die entsprechende
Dignität zu, dass alle Anstrengung – oder besser: Nicht-Anstrengung der intuitiv
erfahrbaren Realität – zum Ursprung zurückkehren müsse: „D.h, der Ursprung wird
retrospektiv als das zu erreichende Ideal gedeutet.“85 Gleichzeitig ist doch eine gewisse
(Denk-)Arbeit erforderlich.
Letztlich geht es Nishida darum, die durch das Urteil zustandegekommende
Ausdifferenziertheit des Bewusstseins als Einheit zu sehen: „Durch allmähliche Übung
gewinnen die Urteile eine strenge Einheit und nehmen ganz die Form der Reinen
Erfahrung an. So wird zum Beispiel beim Erlernen einer Kunstfertigkeit das anfänglich
Bewußte im Laufe der Vervollkommnung unbewußt […] Differentiation und
Entwicklung sind Funktionen einer größeren Einheit.“ 86 In diesem Zitat ist die
Konflation logischer und psychologischer Motive ganz deutlich: Nishida spricht von der
„strengen Einheit“ der Urteile. Als Beispiel dieser gilt ihm das „Erlernen von
Kunstfertigkeiten“, ein psychologischer Vorgang.
Obgleich Nishida die Darstellung der Unmittelbarkeit der Reinen Erfahrung nicht
logisch deduziert, ein Unterschied von logischen und psychologischen
„Tatsachen“ auch gar nicht erst in das Blickfeld seiner Untersuchung gerät – es ist ja
alles eine einzige Einheit – möchte ich kurz auf die Problematik der logischen Negation
eingehen, die sich am Begriff der Unmittelbarkeit – der Vermittlung via negationis - zu
stellen scheint. Kobayashi zufolge lasse die Reine Erfahrung hier bereits den Schluss zu,
es handele sich bei ihr um „das Negative“. Dagegen möchte ich im Folgenden
Einspruch erheben: es dürfte sich zeigen lassen, dass diese von Nishida nicht nur nicht
gedacht wurde, sondern über Nishida hinaus als Thematisierung des Unterschieds von
Primat gegenüber dem reflektierten Bewußtsein. […] Ganz im Gegenteil, das nicht-reflexive Bewußtsein
ermöglicht erst die Reflexion: es gibt ein präreflexives Cogito, das die Bedingung des kartesianischen
Cogito ist“. Sartre (1993), S. 27.
84
Arisaka/Feenberg (1990), S. 190.
85
Pörtner, (1990), S. 229.
86
ZnK, S. 39.
24
logischer und ontologischer Dimension eine genauere Betrachtung verlangt, bei der
auch von Hegels Begriff von Unmittelbarkeit zu sprechen ist.
Die Einheit des Bewusstseins ist bei Nishida eine durch und durch positive. Ein Sein –
die Reine Erfahrung – generiert ein anderes – die Bewusstseinsphänomene – strikt
durch sich selbst, ohne eine Spur der Negation. Daher ist „das Reine“ auch nicht „das
Negative“, wie Kobayashi nahelegt.87 Dass der „unwillkürliche Zustand’, in dem sich
‚kein Denken findet’ […] weder Subjekt noch Objekt kennt“, deutet nicht auf die
Negation alles Seienden hin. Im Gegenteil: strikte Seinsbejahung ist ihr Sinn. Das
Denken einer Unterschiedslosigkeit von Subjekt und Objekt, das „Denken des
Nichtdenkens“ ist vor-logisch und somit vor-ontologisch. 88 Das Urteil bzw. die
Reflexion führt erst die Negation – die „Spaltung“ – ein. Daher „ähnelt [dieser
Vorgang] dem Zweifel Descartes und der theoretisch direkt an ihn anschließenden
‚phänomenologischen Reduktion’ Husserls“89, wie Kobayashi meint, nicht nur nicht: er
steht ihm konträr gegenüber. Nishida suchte in ZnK nicht „das Nichts zu erreichen“,
sondern das Sein: reine „Positivität“ 90 . In ZnK gibt es noch keinen Ort für eine
systematische Diskussion des Negationsbegriffs oder gar des Nichts. In ZnK hat das
Nichts keine Relevanz. „UN-mittelbarkeit“, von Nishida emphatisch als
seinskonsituierend gebraucht, wäre aber nach Kobayashi die erste Negation. Zwar
suggeriert der Begriff via negationis die Negation von Vermitteltheit, da aber hier noch
kein angemessenes Begriffswerkzeug vorliegt, um Negation überhaupt denkbar zu
machen, bleibt es bei der Sichselbstgleichheit reinen Seins.
Zu vergegenwärtigen wäre auch hier der Anfang in Hegels WL. Im Begriff der Reinen
Erfahrung wird, um mit Hegel zu reden, nur die Seite der Unmittelbarkeit abgehandelt,
das „Sein, reines Sein – ohne alle weitere Bestimmung“ in seinem berühmten
Anakoluth des Anfangs und „Nichts, das reine Nichts“. Die Bestimmungen der
Unmittelbarkeit sind hier reines Sein und reines Nichts emphatisch als „unbestimmt
bestimmte“. Sie sind in ihrer Gleichgültigkeit gegeneinander weder positiv noch negativ,
weder logisch noch ontologisch begriffen. Erst in ihrem gegenseitigen Bezug bzw.
aufgrund ihres Aufeinander-Bezogenseins, kommen reines Sein und reines Nichts in ein
widersprüchliches Verhältnis.91 Die Dialektik des Begriffs nimmt hier ihren Anfang als
Dialektik des Beziehens von verstandesmässig begrifflich Beziehungslosem. Sein und
Nichts widersprechen sich nicht, weil sie unterschiedlich sind, sondern gerade weil sie
als Identische, Sichselbstgleiche, als unbestimmt Bestimmte aufeinander bezogen
werden. Hierin besteht eine kurz zu erwähnende wichtige Pointe: die Schwierigkeit des
Anfangs der WL mit dem reinen Sein und dem reinen Nichts liegt in besonderen Masse
gerade in der Präsupponiertheit der Begriffe, denn ohne einen Begriff von Widerspruch
kann auch der Fortgang von reinem Sein und Nichts zum Werden nicht einmal erahnt
werden. Hier liegt auch der tiefere Sinn der pragmatisch-semantischen Differenz, von
der noch zu sprechen sein wird. 92 Am Anfang tragen die Begriffe eine schwere
87
Kobayashi (2002), S.57.
Über das Verhältnis von Logik und Ontologie wird am systematichen Ort in Kapitel II.2. die Rede sein.
89
Ebd. Kobayashi selbst weist darauf hin, dass das cartesianische Cogito das sum „übriglasse“, was für
Nishida inakzeptabel sei: „Descartes` Aussage ist keine Tatsache der Reinen Erfahrung mehr (sic!), da sie
bereits den Schluss „Ich bin“ enthält.“ ZnK, S. 74.
90
Dieser Ausdruck ist irreführend, suggeriert er sein Gegenteil, „Negativität“. Ich verstehe ihn hier
lediglich im Absatz gegen „negatives Sein“.
91
Dieses wird als solches noch nicht begrifflich expliziert, sondern ist in diesem Zustand erst noch
präsupponiert. Der Widerspruch ist Thema der Wesenslogik.
92
Vgl. D. Wandschneider (1995), S. 26 ff.
88
25
semantische Last mit sich, die sie erst im Laufe der Bewegung zugunsten eines
Ausgleichs mit ihrer pragmatischen Dimension abwerfen können. Konkret heißt das:
reines Sein meint nicht sich selbst. Es meint sein Gegenteil – für Hegel unschlagbarer
Beweis dafür, dass Semantik und Pragmatik am Anfang der Bewegung sich nicht nur
unterscheiden, sondern sich gegenseitig radikal ausschließen: Sein schlägt um in sein
eigenes Nichts. Erst im Laufe der Bewegung rücken Logik bzw. Semantik und
Ontologie bzw. Pragmatik näher aneinander, sodass am Schluss – der der Schwierigkeit
halber zugleich Anfang ist – im Begriff die logische mit der ontologischen Dimension
verschmilzt. Von der Stufe der „ärmsten Abstraktion“ des reinen Seins aus ist der
Begriff am weitesten entfernt. Im Begriff erst fallen Logik und Ontologie, Pragmatik
und Semantik zusammen. Daher läßt sich auf der Stufe des reinen Seins überhaupt von
einem Unterschied von Logik und Ontologie reden, der auf der Stufe des Begriffs
obsolet geworden ist: dort wäre ein logischer Fehler ein ontologischer. In Nishidas
System Reiner Erfahrung, das der Unmittelbarkeit eine ausgezeichnete ontologische
Dignität zuspricht, zu der freilich auch stets „zurückzukehren“ ist, kann es
Begriffsbeziehungen untereinander und somit die Beziehung von Sein und „etwas, das
es nicht ist“ nicht geben. Un-mittelbarkeit, die Nishidasche Reine Erfahrung, ist
ontologisch gesehen das reine Sein schlechthin, bar jeder Spur von Negation.93 Hierin
dürfte auch die merwürdige Statik von Nishidas selbstbezüglichem Denken der
Immanenz bestehen.
Doch auch hier ist Dialektik am Zuge: der Versuch der Konstruktion reiner
Subjektivität wird zu ihrer Dekonstruktion. Dazu später mehr. Im Folgenden zunächst
eine Bestimmung des Begriffs der Unmittelbarkeit bei Hegel, der in seinem Kontrast zu
Nishida nun deutlich gefasst werden kann:
Die ontologische Dignität des unreflektierten, unmittelbaren Selbstgewahrens bei
Nishida, die an einigen Stellen – ungeachtet der Chronologie – an Heideggers
Seinsbeschwörung erinnert, steht im krassen Gegensatz zu Hegels Bestimmung der
Unmittelbarkeit als absolut defizienter Modus94 des Seins. In seiner WL von 1812, wie
auch auf der Ebene der Erfahrung des Bewusstseins, von der die PhG (1807) handelt,
mussten Sein und Nichts gleich zu Anfang untergehen, weil das Denken schon nicht
mehr unmittelbar, weil Unmittelbarkeit nicht zu denken ist.95 Am Anfang der PhG, wo
in der „sinnlichen Gewißheit“ dem Bewusstsein das „Diese(s) und das Meinen“ als
höchstes Gut gilt, konstatiert Hegel, dass weder das eine (Ich) noch das andere (Dieses)
„nur unmittelbar, in der sinnlichen Gewißheit ist, sondern zugleich als vermittelt; ich
habe die Gewißheit [des Einen, EL] durch ein Anderes, nämlich die Sache; und diese ist
93
Daher sind bei Hegel reines Sein und reines Nichts nicht einfach nur dasselbe: reines Sein ist
„unbestimmte Unmittelbarkeit“, reines Nichts das schon nicht mehr. WL I, S. 82.
94
Pörtner merkt zum Defizienz-Begriff in einer Fußnote erhellend an: „Defizienz bedeutet bei Hegel ‚die
Verborgenheit des Scheincharakters’ [...] der Unmittelbarkeit.“ Urs Richli, den Pörtner hier anführt, sehe
darüberhinaus eine Potentialität im An-sich-sein. Es sei ebenso „die substantielle Sache, das
Unvergängliche und Unbeschränkte“ wie auch bloße Potenz. Richli, Urs: Form und Inhalt in G.W.F.
Hegels ‚Wissenschaft der Logik’. R. Oldenbourg, Wien und München (1982), zit. in Pörtner (1990), S.
210. Das Gesetztsein, das Für-sich-sein, müsse dagegen die Potenz verbraucht haben: seine ontologische
Valenz bzw. sein retroaktiv zu deutender Sinn bestehe also im An-sich-sein. Die Potentialität der
Unmittelbarkeit ist in der Tat immens, aus ihr entwickeln sich schliesslich die logischen
Denkbestimmungen. Allerdings muss sie dafür untergehen und sich nichten, da Unmittelbarkeit nicht
gedacht werden kann, ohne eine Bestimmung einzuführen, was Hegel sehr wohl wusste.
95
WL I, S. 82.
26
ebenso in der Gewißheit durch ein Anderes, nämlich durch Ich.“96 Auf der Ebene der
PhG also, die noch nicht die Radikalität der WL aufweist, meint Unmittelbarkeit bei
Hegel das unbewusst-unbestimmte Zusammenfallen von Ich und Dieses in der naiven,
instantanen Gewissheit der sinnlichen Erscheinungsform – im Objekt.97 Es ist nun aber
gerade die reine, d.h. unreflektierte Sinnlichkeit, die das Verhältnis als unbewusstes
erscheinen lässt. Erst wenn „wir“ reflektieren, d.h. über die Sphäre der unmittelbaren
Sinnlichkeit denkend hinausgehen, verobjektiviert sich das vermeintlich in einfacher
Harmonie Zusammengefallene als bloß äußerliches Verhältnis, dem in der Reflektion
darauf „die Negation und die Vermittlung wesentlich ist“ und nun als vom Subjekt
geleistete erkannt wird. 98 Die radikale Konsequenz daraus lautet: Unmittelbarkeit als
solche ist niemals sie selbst. Oder: als Unmittelbarkeit ist Unmittelbarkeit bereits
vermittelt. Hegel hat das reine Sein als unbestimmt bestimmt. Eine „unendliche
Kontamination von ‚Unmittelbarkeit’ und ‚Vermittlung’“99, wie W. Marx meint, kann
es auch für Hegel nicht geben. Unmittelbarkeit ist nicht, weil es nicht einmal zum
Subjekt eines prädikativen Urteils werden kann.
In Nishidas frühem Hauptwerk dagegen nimmt eine Quasi-Fetischisierung des
Reinheits- und Unmittelbarkeitsgedankens ihren Anfang. Hier ist sicherlich der größte
methodische wie auch systematische Unterschied zu Hegel zu sehen, mit dem sich
Nishida über weite Strecken von ZnK doch eher verbunden fühlt100. Der Anfang aus
Hegels Enzyklopädie zur Naturphilosophie (1830) ist hier aber als programmtisch für
sein philosophisches Glaubensbekenntnis zu lesen: „Diese Einheit der Intelligenz und
der Anschauung, des Insichseins des Geistes und seines Verhaltens zur Äußerlichkeit,
muß aber nicht Anfang, sondern Ziel, nicht eine unmittelbare, sondern eine
hervorgebrachte Einheit sein“101 So kann die Differenz Nishidas zu Hegel kaum größer
sein. Pörtner verortet Hegels Begriff der Vermittlung wiederum in der Nähe Nishidas:
„Bedenkt man aber, dass bei Hegel das Unmittelbare sich zuletzt als immer schon
vermittelt herausstellt, und das Vermittelte letztendlich als (und aus der) Form der
96
PhG, S. 83.
Ein Perspektivwechsel für den Unmittelbarkeitsbegriff, wenn auch in typisch Hegelscher Lesart, findet
sich bei Georg Lukács. Für Lukács stellt nicht das unreflektierte Zusammenfallen im Objekt, sondern
gerade die starre Entgegensetzung von Subjekt und Objekt das Unmittelbarkeitsverhältnis dar. „Aber
dieser Schein [des geschichtlichen Entwicklungsprozesses als „objektive“ Totalität] entsteht selbst
ebenfalls aus den Denk- und Empfindungsgewohnheiten der bloßen Unmittelbarkeit, in der die
unmittelbar vorgefundenen Dingformen der Gegenstände, ihr unmittelbares Dasein und Sosein als das
Primäre, als das Reale, das Objektive, ihre ‚Beziehungen’ hingegen als etwas Sekundäres, bloß
Subjektives erscheinen.“ Lukács (1968), S. 336. „Damit [der doppelten Erscheinungsform der Arbeitszeit
als Objektsform und bestimmende Existenzform seines Daseins] ist aber die Unmittelbarkeit und ihre
methodische Folge: das starre Gegenüberstehen von Subjekt und Objekt noch keineswegs gänzlich
überwunden.“ Ebd. S. 351. Eine solche Bestimmung der Unmittelbarkeit setzt aber bereits den Gebrauch
der Reflexionsbestimmungen voraus, die für ihn nur „verwirrende“ Abstraktionen bürgerlichen Denkens
sind, und „die echte Gegenständlichkeit auf der Stufe eines bloß unmittelbaren, unbeteiligten,
kontemplativen Verhaltens entstellt haben.“ Ebd. S. 350. Das Problem der Unmittelbarkeit besteht Lukács
zufolge demnach im Charakter verdinglichter Subjektivität – deren Verdinglichungscharakter ihr
selbstredend vorborgen bleibt – während bei Hegel der Fehler unmittelbaren Bewußtseins darin besteht,
dem Objekt eine unabhängige Realität zuzuschlagen und „an sich“ und „für uns“ zu trennen.
98
Ebd., S. 85. Ich kann hier nicht im Einzelnen auf den Anfang der PhG bzw. der WL eingehen, im Laufe
der Arbeit kommt er wiewohl genauer zur Sprache.
99
Marx (1972), S. 11.
100
„Im Bewußtsein ist alles qualitativ; ein latentes Etwas, das sich selbst entwickelt. Das Bewußtsein ist
das, was Hegel ‚das Unendliche’ nannte.“ ZnK, S.82. Auch im Vorwort findet sich ein Bezug auf Hegel:
„Aber wie der Philosoph Hegel sagte, er sei dazu verdammt zu philosophieren, so muß derjenige Mensch,
der einmal von der verbotenen Frucht gekostet hat, die Schmerzen ertragen.“ Elberfeld (1999a), S.21.
101
Enz. III,, S. 18.
97
27
Unmittelbarkeit erkannt werden muß, wird die Entfernung zu Nishida geringer […]“102
Das setzt aber voraus, dass für Nishida der Begriff eine ontologisch valente Größe sein
muß. Vielmehr muss dem Unterschied zwischen Hegels Begriff der Unmittelbarkeit als
defizienter Modus und Nishidas Unmittelbarkeit als „scholastisch anmutender ordoGedanke, in dem freilich nicht die Nähe zu Gott über die dignitas entis entscheidet,
sondern ihr Grad der Einheit […]“ 103 eine ganz anders geartete Gemeinsamkeit
konzediert werden:
Unmittelbarkeit kann, „technisch“ gesehen, als positives Prinzip einer Prima
Philosophia und somit Metaphysik herhalten, und zwar gegen die „Furie des
Verschwindens“ in Hegels absolutem Subjekt. So nimmt Adorno a contre coeur
Nishida gegen Hegel in Schutz, wenn er zu Gunsten der Unmittelbarkeit sagt:
Vermittlung sagt keineswegs, alles gehe in ihr auf, sondern postuliert, was durch sie vermittelt
wird, ein nicht Aufgehendes […] Der Triumph, das Unmittelbare sei durchaus vermittelt, rollt
hinweg über das Vermittelte und erreicht in fröhlicher Fahrt die Totalität des Begriffs, von
keinem Nichtbegrifflichen mehr aufgehalten, die absolute Herrschaft des Subjekts.104
Mit anderen Worten, nicht, weil Vermitteltheit schon immer Unmittelbarkeit
voraussetzt, wäre Hegels Vermittlung in die Nähe der Nishidaschen Unmittelbarkeit
gerückt, sondern, weil totale Vermittlung totale Unmittelbarkeit bedeuten muss: in
demselben „ontologischen Ort“ des absoluten Subjekts. Das ist der Grund für die
Identität (im Hegelschen Sinne) vom „armen, abstrakten“ Sein und „absoluter Idee“.
Eine Kritik an diesem paradoxen Hegelschen Paradigma – und somit am Hegelschen
System – ist nur als materialistische möglich.105 Sie muss zugleich berücksichtigen,
102
Pörtner (1990), S. 202.
Pörtner (1990), S. 215. Hegel sieht dagegen nicht Unmittelbarkeit als Gottesnähe, sondern im
Gegenteil: „Die wahre Erkenntnis Gottes fängt damit an, zu wissen, dass die Dinge in ihrem
unmittelbaren Sein keine Wahrheit haben.“ Enz. I, S. 234.
104
Adorno (1966), S. 174.
105
Trotz oder vielleicht wegen ihres, wie man heute sagen würde, close reading der Hegelschen WL
müsste die kritische Untersuchung von Wolfgang Marx eine materialistische sein. Der Autor versucht
jedoch, diesen Verdacht nicht erst aufkommen zu lassen. Ein Missverhältnis macht sich aber bemerkbar:
einerseits möchte Marx zeigen, dass das Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermittlung „immer ein
‚unmittelbares’, ein ‚Gegenstand’ für beliebig viele weitere Vermittlungen“ sei, also eine, „e n d l i c h e “,
keine „unendliche“ Kontamination von Unmittelbarkeit und Vermittlung in der Hegelschen
Kategorienentwicklung stattfindet und behauptet: „Dieser Nachweis wird geführt werden, ohne dass
beansprucht wird eine ‚Instanz’, die dem Bereich ‚reines’ Denken transzendent ist.“ Marx (1972), S. 11.
Andererseits scheint mir das stärkste Argument, das Marx gegen Hegels Vermittlungsgedanken aufbringt,
genau diesem Programm – zumindest was seine konsequente Ausführung betrifft – entgegenzustehen:
„Der ‚Schein’ mit ‚Fremdartigem behaftet’ (PhG, S. 69) zu sein, ist nicht nur durch den Prozeß der
Vermittlung abzulegen, sondern es muß auch bewiesen werden, dass ein Begriff des Geistes zu denken
möglich ist, der den Modus der E n t f r e m d u n g seiner von sich selbst zulässt.“ Marx (1972), S. 47.
[Hervorh. EL]. Hiermit kann nichts anderes als ein dem „Bereich ‚reines Denken
transzendent(es)“ Moment gemeint sein, soll es ja nicht einfach „durch Vermittlung“ (Denken, Reflexion)
ermittelbar sein. Die Ermittlung dieses - durchaus denkbaren, aber nicht einfach vollständig im Denken
aufgehenden – Modus der Entfremdung des Geistes von sich selbst wäre die Aufgabe einer
materialistischen, durchaus immanenten Hegelkritik. In dieselbe Richtung weist Marx’ Kritik an der
„Selbstbewegung“ und der „Selbstaufhebung“ der Denkformen bzw. des Begriffs (Marx 1972, S.18, S. 45,
S. 46). Sollen die Formen sich nicht „selbst“ aufheben, muss ein vermittelndes Subjekt gegenüber durch
es vermittelter Objekte (die Begriffe) geben, womit der Bereich des reinen Denkens als Selbstvollzug des
Gedankens dualistisch-materialistisch unterwandert würde. Bereits vorher heisst es bei Marx, dass die
„Immanenz der Entwicklung“ der (Denk)formen „notwendig“ (!) eine Einschränkung impliziere, und
zwar eine Einschränkung „durch sich selbst.“ ebd. Streckenweise scheint Marx eine Kritik im Blick zu
haben, die diese Paradoxie einer zwar denkbaren, aber nicht vermittelbaren Instanz versucht, begreifbar
103
28
dass das reine Denken nur durch sich über sich selbst hinausweisen kann: diese
Paradoxie zu denken ist die Herausforderung an eine materialistische
Subjektphilosophie.
Nishidas sichselbstgleiches Immanenzdenken, das versucht, einen präreflexiv
vorlogischen Zustand zu denken und diesen gleichzeitig als psychologisch
konstatierbare Unmittelbarkeit zu behaupten, kann indes einer Hegelschen Kritik nicht
standhalten. Sie setzt mit der Frage an, wer den Zustand der Unmittelbarkeit überhaupt
bezeuge und fragt weiter, ob das Bezeugen nicht schon den Unmittelbarkeitscharakter
des zu Bezeugenden zerstöre. In einem Satz: die Leugnung eines reflektierenden und als
reflektierendes Unterscheidungen einführenden und somit negierenden Subjekts führt
sich selbst ad absurdum. Nicht anders ist es um ein metaphysisches System bestellt, das
sich durch total-immanente Selbstbezüglichkeit bestimmt.
1.1.2. Selbstreferentialität
In diesem Abschnitt wird zu überprüfen sein, ob ein selbstreferentielles System, das
jede Form von Selbstreflexion ausschließt, seine eigene „Bedingtheit“ einzuschließen
und somit seine Voraussetzungslosigkeit und Selbstbezüglichkeit zu behaupten
imstande ist.
Pörtner schlägt vor, für die genaue Analyse der Selbstreferentialität des Systems der
Reinen Erfahrung die folgenden drei Charakteristika geltend zu machen, die ich
erklärend zu ergänzen für wichtig halte:
1. Autonomie, Autorefentialität. Der System der Reinen Erfahrung wird von äußeren
Kräften nicht beeinflust. Es ist sich selbst generierend und in Bewegung. Gleichzeitig
ist es sich selbst „voraus“ – in selbständiger „Vorzeitigkeit“ (dokuritsu jizen 独立事前).
2. Bewusstseinsimmanenz. Die Reine Erfahrung erkennt nur bewusstseinsimmanente
Faktoren an und tritt nur durch diese in Erscheinung. Sie ist der direkte Ausdruck der
Leugnung einer bewusstseinstranszendenten Realität.
3. Selbstabbildlichkeit, Automorphismus. Nach Pörtner: „Das System umfaßt in sich
selbst nur selbst-analoge, im Verhältnis 1:1 selbst-isomorphe [automorphe, EL]
Teile.“106 Eine elegante Bezeichnung dafür, dass die „Teile“ des Systems, genauer: die
Bewusstseinsphänomene ihre eigene Selbstbildung durch Selbstbezüglichkeit aus der
quasi übergeordneten Struktur der Reinen Erfahrung schöpfen. „Isomorphismus“,
übertragen auf die Erscheinungsform des Bewusstseins, setzt hingegen voraus, dass die
Bildung der Bewusstseinsphänomene zwar strukturell auf der Reinen Erfahrung beruhe,
sie aber dadurch – durch ihre Selbstgeneration – verändere.
Im Folgenden wäre genau zu klären, wie in der Reinen Erfahrung Autorefenz oder
Selbstabbildlichkeit zu verstehen sind – im Unterschied zur in ZnK negativ besetzten
Selbstreflexion als Modus der Selbstrefentialität. Für eine genauere Begriffsbestimmung
ist ein Blick auf den locus classicus dieser Thematik in Hegels WL hilfreich.
zu machen, allein lässt er sich nicht tiefer auf die Diskussion der Paradoxie ein. Sie kann meines
Erachtens auch nur unter dem Vorzeichen eines materialistischen Subjektbegriffs möglich sein, den Marx
nicht thematisiert, obgleich er seine Prämissen anerkennt. Von diesem Subjektbegriff ist in Kapitel IV
auch wieder im Hinblick auf Nishida die Rede.
106
Pörtner (1990), S. 198.
29
Hegels gesamte WL sah sich mit dem Problem der Selbstreferentialität konfrontiert.
Indem er behauptete, die Logik sei „die Darstellung Gottes […] wie er in seinem
ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist“, scheint
er den „ontologischen Ort“ ante factum eliminiert zu haben, in dem allein sein logisches
System begründet ist: das Selbst oder das Ich. Bekanntlich bezeichnet Hegel die Logik
als „Wissenschaft des reinen Denkens“. Reines Denken ist für ihn aber an ein Dasein
geknüpft, das jenem entsprechend thematisch wird. So nennt Hegel den ersten Teil der
Seinslogik die Logik des Daseins. Das Wort von der „Darstellung Gottes“ gilt hier nur
insofern, als Hegel die Logik als Fundament nicht nur von Natur und Geist, sondern
auch des Denkens sieht. Die Logik ist somit insofern „Darstellung Gottes“ als sie sich
selbst generierend darstellt – und auf sich selbst bezieht. Das enge Verhältnis von
Selbstreferentialität und Selbstgenerierung wurde entsprechend von Hegel erkannt,
wenn er an einer Stelle konzediert, dass der absolute Geist am Ende mit Freiheit
entäußernd
zur Schöpfung einer Welt sich entschließt, welche alles das enthält, was in die Entwicklung, die
jenem Resultate vorangegangen, fiel und das durch die umgekehrte Stellung mit seinem Anfang
in ein von dem Resultate als dem Prinzip Abhängiges verwandelt wird.107
Auch wenn Hegel hier darauf hinaus will, dass man sich das System der Logik als
Kreisbewegung vorstellen müsse, ist hier, modern ausgedrückt, die Frage nach der
Selbstreferentialität als Frage nach der Selbstgenerierung gestellt. Logik als
Wissenschaft des Denkens stellt dabei einen Sonderfall des Problems der
Selbstentwicklung dar. Die Reflexion-in-sich-und-Anderes setzt hier ein dreistufiges
Verhältnis voraus: dass sich das Bewusstsein 1. selbst weiß, 2. vom Reflektierten
absetzt und 3. diesen Unterschied reflektiere. Im dritten ist sie die bestimmende
Reflexion, die „indem sie in dem Aufheben der Voraussetzung zugleich voraussetzend
ist“108, Reflexion überhaupt möglich macht und bestimmt. So sei die Reflexion „[i]m
Aufheben der Voraussetzung zugleich voraussetzend“ – der Sonderfall des Denkens als
paradoxale, der Sache nach grunddialektischen Tatsache. Auf der Ebene des Wesens
lässt sich mit Hegel sagen: „Es ist das Aufheben seiner Gleichheit mit sich, wodurch das
Wesen erst die Gleichheit mit sich ist.“109 Der dreifache Sinn des Begriffs Aufhebung
kommt hier gut zur Geltung: zum einen wird die Identität „eliminiert“: das Wesen
reflektiert seine Identität mit sich, wird sich aber im selben Zuge ungleich: Reflektiertes
und Reflektierendes fallen auseinander – dadurch aber wird Identität „aufbewahrt“: die
Reflexion des Begriffs der Identität kommt hier zu seinem vollen Recht.110 Schließlich
geht eine solche Reflexion der Identität über in den Unterschied, tritt er präsupponiert
107
WL I, S. 70.
WL II, S. 25.
109
Ebd., S. 27. Hegel sagt weiter: „Es setzt sich selbst voraus, und das Aufheben der Voraussetzung ist es
selbst; umgekehrt ist dies Aufheben seiner Voraussetzung die Voraussetzung selbst.“ Diese Stelle wird
klarer, wenn man sich vor Augen führt, dass die ersten von Hegel behandelten Reflexionsbestimmungen
Identität, Unterschied und Widerspruch sind. Der Grund – auch eine Reflexionsbestimmung – für die
Schwierigkeit der Wesenslogik besteht u.a. darin, das Wesen der Negation konsequent zuendezudenken.
110
In der relevanten Stelle der WL II, S. 41, heisst es: „Die Identität ist also an ihr selbst absolute
Nichtidentität. Aber sie ist auch die Bestimmung der Identität dagegen. Denn als Reflexion-in-sich setzt
sie sich als ihr eigenes Nichtsein; sie ist das Ganze, aber als Reflexion setzt sie sich als ihr eigenes
Moment, als Gesetztsein, aus welchem sie die Rückkehr in sich ist. So als ihr Moment ist sie erst die
Identität als solche als Bestimmung der einfachen Gleichheit mit sich selbst, gegen den absoluten
Unterschied.“ Bestimmung meint bei Hegel ein reflektiertes Verhältnis.
108
30
bereits im Auseinanderfallen von Reflektierendem und Reflektiertem zutage – die
Gleichheit wird auf eine ‚höhere’, d.h. begrifflich komplexere Stufe gehoben.111 Anders
formuliert: die Identität enthält immer den Unterschied in sich – als Unterschied vom
Unterschied. Sie muss, um zu sein, was sie ist: sich zu bestimmen, ihre eigene
Voraussetzung, sich als „nichtidentisch“ mit dem Unterschied zu bestimmen, aufheben.
Sie ist so in der Aufhebung der Voraussetzung voraussetzend. Die Reflexion über seine
eigenen Denkvoraussetzungen wird dem Hegelschen System gleichsam zum Motor
einer Denkbewegung, die ihre sie voraussetzenden Momente immer wieder neu zu
erarbeiten hat.
In der Reinen Erfahrung, wie sie von Nishida als emphatisch unbewusstes Verhältnis
der Reflexion der Voraussetzungen und Selbstreferentialität konzipiert ist, findet diese
wichtige Überlegung für die Entwicklung eines selbstreferentiellen System nicht statt.
Sie müsste thematisieren, dass ein System, welches streng genommen keine
Bezugnahmen zu machen imstande ist, diese, und sei es auch als Reflektierte,
voraussetzt und somit nicht mehr einfach nur einstellig und voraussetzungslosselbstbezüglich ist. Auch eine „Entwicklung“ des Nishidaschen Systems ist gerade
aufgrund seiner radikalen Selbstbezüglichkeit nicht denkbar. Dagegen sieht Pörtner hier
die Möglichkeit einer Entwicklung: in der Autoreferenz die „Latenz“, in der
Heteroreferenz den „Inhalt“ und in der Selbstreferenz den „Akt der Selbstprädikation“.
Diese Entwicklung ist allerdings dem Urteil zuzuschreiben, das im System der Reinen
Erfahrung eine nicht so prominente Rolle spielt wie Pörtner behauptet. Besonders
interessant wird dieser Punkt, wenn man Pörtners Übersetzung an einer wichtigen Stelle
mit dem Original vergleicht. In Pörtners Übersetzung heißt es: „Jede Art Bewußtsein ist
im Zustand strengster Einheit immer Reine Erfahrung, einfache Tatsache. Wenn es aber
seine Einheit verliert, indem es in Beziehung zu anderem tritt, entstehen Bedeutung und
Urteil.“ Es geht um das Wort (seine Einheit) verlier[en] . Das japanische Original
spricht direkter von zerstörter, zerrissener, auseinandergebrochener Einheit: „ […]
wenn seine Einheit [die des Bewusstseins, EL] aber zerrissen ist (kono tôitsu ga
yabureta toki この統一が破れた時), […] entstehen Bedeutung und Urteil.“112 Wenige
Sätze später spricht Nishida wieder von „zerbrochener“ (hakai 破壊) Einheit des
Bewusstseins: die Bedrohung der Einheit durch Urteil, Bestimmen und Denken ist in
Nishidas System eine reale Gefahr. Hier muss auch, wie Pörtner selbst konzediert, der
Zusammenhang von Selbstreferentialität und Selbstreflexion gesehen werden. Die
Reine Erfahrung ist nicht nur selbstreferentiell – sie ist „reine“ Selbstreferentialität: sich
selbstabbildende Selbstwahrnehmung. Ebenso vehement würde Nishida der Reinen
Erfahrung in ihrem ursprünglichen Zustand aber eine durch das Urteil 113
zustandegekommene Selbstreflexivität absprechen. Nishida übersieht, dass die
Selbstreflexion hier Bedingung für die Selbstreferentialität wäre: die Bestimmung
„selbstabbildend/selbstwahrnehmend“ setzt ja bereits ein Doppeltes voraus.
Das Dilemma liegt also in der widersprüchlichen Bestimmung der Reinen Erfahrung
zwar als selbstrefentielles System, aber eines selbstreferentiellen Systems, das keinen
Raum für Selbstreflexivität zuläßt. Nishidas System erfährt so schon den zweiten
„Sprung“ (Reflexion-in-Anderes) nicht mehr und bleibt somit in sich, als leere Einheit,
hermetisch. Kann es hier über die Reinheit der Erfahrung hinaus eine Entwicklung
111
Diese dreifache Bedeutung der Aufhebung ist nicht temporal aufeinanderfolgend zu verstehen.
Verkompliziert wird sie dadurch, dass man sie gleichzeitig zu denken hat.
112
NKZ I, S. 14.
113
Durch Taritsu 他律,eigentlich „Heteronomie“.
31
geben, die auch nicht-selbstreferentielle Momente hat? Dabei müsste zunächst das
Verhältnis von „reinem“ Denken und Erfahrung in ZnK geklärt werden.
1.2.
Das erkenntnistheoretische Grundschema der Reinen Erfahrung
Nishida zufolge beinhaltet die Reine Erfahrung das Denken als einen ihrer Aspekte.
Qualitativ wird es allerdings ebenso bestimmt wie die reine Erfahrung, da es sich,
eigenen Gesetzen folgend, spontan in sich selbst entwickele. Aber das Denken hat eine
Aufgabe: das „Sichtbarmachen der Wahrheit.“114 Nishida kündigt daraufhin an, dass
eine genaue Untersuchung der Bedeutung von Objektivität, Realität und Wahrheit
notwendig sei – vernachlässigt diese aber. Stattdessen hadert er mit dem Verhältnis von
Denken und Erfahren, wenn er unvermittelt behauptet, dass die Funktion des
„reflexiven Denkens“115 sekundär aus den Zuständen der Reinen Erfahrung hervorginge,
gleichzeitig aber behauptet, dass das Denken die Einheit der Reinen Erfahrung
verwirkliche. Nishida scheint hier die Reine Erfahrung als formales Prinzip für das
„Material des Denkens“ zu bestimmen. Pörtner schlägt vor, den Begriff des
„Erlebnisses“ zur Klärung des Verhältnisses von Denken und Erfahrung hinzuzuziehen.
So habe die Reine Erfahrung „zwei fundamental verschiedene Seiten, die sich in
Opposition, aber nicht kontradiktorisch gegenüberstehen.“ 116 Das drücke sich im
Erlebnis aus, das eine konkrete Erfahrung sei, sowie im Urteil, das wiederum das
Denken konkretisiere. Ihre gemeinsame Grenze sei demzufolge der Übergang von
Selbstreferentialität zur Selbstreflexivität, mit anderen Worten der Punkt, an dem die
Reine Erfahrung auseinanderbreche und Urteile zulasse. Doch behauptet Nishida nicht,
dass jeder Bewusstseinszustand, also auch das Urteilen, eine Tatsache der Reinen
Erfahrung sei? Der Begriff des Übergangs – Denkbestimmung aus der Hegelschen
Seinslogik als gesetzte erste Stufe der Reflexion in der Wesenslogik – ist hier
problematisch. Da Übergehen nur in der Zeit möglich ist, wäre die „paradoxale
Temporalität“ der Reinen Erfahrung näher zu betrachten.
1.2.1. Die paradoxale Temporalität
Die Vereinigung von Subjekt und Objekt ist gleichzeitig Ausgangspunkt und Ziel der
Reinen Erfahrung. Insofern impliziert sie ein „zeitüberhobenes“ Moment117, als sie die
Zeit gleichsam voraussetzt. Pörtner sieht hier die paradoxe oder paradoxale
Temporalität von 1.) sude ni 既に(bereits, immer schon) 2.) imada 未だ (noch nicht)
und 3.) voller Entfaltung zugleich. Nishida: „In der unmittelbaren Erfahrung des
eigenen Bewußtseinszustands gibt es noch kein Subjekt und Objekt.“118 Selber gibt
Nishida etwas von der Paradoxalität der Gleichzeitigkeit von Subjekt und Objekt zu,
114
ZnK, S. 45.
ZnK, S. 46.
116
Pörtner (1990), S. 207.
117
Wäre sie eindeutig zeitüberhoben, könnte man eine wichtige Parallele zur Hegelschen Logik ziehen,
die – ihrem Anspruch nach – die „reinen Denkbestimmungen“ ohne jeglichen Zeitbezug darstellt, da die
Zeit im Hegelschen System erst der Naturphilosophie zuzuordnen ist. Dass die Anfangsbestimmung des
„Werdens“ gleich zu Anfang der Daseinslogik allerdings auch nicht ohne einen Bezug zur Zeit auskommt
– denn wie könne der „Übergang“ sonst gedacht werden - , zeigt an, dass der Anspruch nicht lückenlos
ohne dieses rein formale Prinzip der Erkenntnis auskommt.
118
ZnK, S. 29.
115
32
wenn er später ihre Vereinigung als „ursprüngliches Bedürfnisziel“ bestimmt und
gleichzeitig sagt, dass die Einheit von Subjekt und Objekt der „ursprüngliche Zustand
des Bewußtseins selbst“119 sei120. Dies ist ein wichtiger Punkt, da das Thema Zeit bei
Nishida immer wieder eine wichtige Rolle spielen wird, so zum Beispiel im Begriff der
„Selbstbestimmung der ewigen Gegenwart“ (eien no ima no jiko gentei 永遠の今の自
己限定), der sich ab den 20er Jahren als bestimmend für Nishidas Philosophie der
prästabilierten Harmonie erweist. Hier wird der Begriff der ewigen Gegenwart – gerade
in Bezug auf die paradoxe Temporalität der Vereinigung von Subjekt und Objekt als
ideal-vereinigt im Ursprung und ideal-vorausgesetzt im Endpunkt – eindeutig
antizipiert.121 Doch imada (noch nicht) und sude ni (schon immer) drücken Pörtner
zufolge ein weitaus komplexeres Verhältnis aus:
Im sude ni will die Indifferenz eine Geschichte durchlaufen haben, auf eine Art „transzendentale
Vergangenheit“ zurückblicken können, die im imada noch gar nicht begonnen haben soll.122
Ursprünglich habe die Reine Erfahrung kein „Anderes ihrer selbst“, kein Material, an
dem sich abgearbeitet zu haben die einzige Erklärung für den Rückblick auf eine
„transzendentale Vergangenheit“ wäre. Eine transzendentale Dimension gibt es bei
Nishida nicht, da das System als unendlich bestimmt ist, ohne „Schranke“. Wie ist das
„Noch Nicht“ als dem System transzendentes Moment also möglich? Pörtner schlägt
folgende Hilfsüberlegung vor: wenn man das Erlebnis als Substanz der Reinen
Erfahrung zu Grunde lege und dem Urteil zugestehe, die Form der Reinen Erfahrung
auszumachen, dann wäre ein Schema möglich, das der Problematik der
Transzendentalität Rechnung trage. So fallen Subjekt und Objekt zwar zusammen, aber
im Erlebnis als Substanz des „sude ni“, der Indifferenz von Subjekt und Objekt, und im
Denken der Differenz von Subjekt und Objekt als Form ihres Auseinandertretens im
Urteil sei ein quasi ewiges Noch Nicht möglich, das als ein ständig verzögerter Moment
das Außerhalb der Reinen Erfahrung als imago in sich trage.123 Das wäre auch eine
Umschreibung für Nishidas Idee der „ewigen Gegenwart“. Mit anderen Worten: zu
sagen, Subjekt und Objekt seien in der Reinen Erfahrung „noch nicht“ getrennt, behält
diesen Zustand als einen ihrer Momente und führt in widerstandlos in das „Immer schon
vereint“ ein. Insofern wäre das Indifferenz-Schema das substantielle und das Schema
der Differenz das formale Prinzip der Reinen Erfahrung. In einer „Dialektik“ von sude
ni und imada, wenn man das primitive Schema von These, Antithese und Synthese
zugrundelegte, wäre die Synthese auf der Seite des Immer Schon – dem das Noch Nicht
119
ZnK, S. 193. Hervorh. EL. Dennoch konzediert Shimomura Toratarô下村寅太郎 (1902-1995) die
Unerkanntheit des Problems durch Nishida, eine Kritik, die auf Tahahashi Satomis Hauptkritik an ZnK
zurückgeht. Takahashi zufolge sei die Erklärung der verschiedenen Ebenen der Reinen Erfahrung allein
durch die Unmittelbarkeit und Gleichzeitigkeit nicht zu klären. Siehe Shimomura (1965), S. 97 ff.
120
Zu bemerken wäre an dieser Stelle, dass gerade die Nishidas Position affirmierenden, vehementesten
Nishida-Exegeten und –Apologeten sich dieser Paradoxalität nicht bewußt sind. So sagt J. Heisig: „[I]t is
the notion of „pure experience“ – namely, experience prior to the distinction of subject and object – that
carries his esteem for the Zen experience into the world of logic.” Heisig (1990), S. 21. Einige Abschnitte
weiter verkündet er: „In the first place, we have Nishida`s idea of pure experience – that is, immediate
experience in which the subject-object-dichotomy has been overcome, […]“ (Hervorh. EL).
121
Auch Nishitani sieht Gemeinsamkeiten zwischen dem harmonischen Zustand des Erlebens Reiner
Erfahrung und dem Leibnizschen Begriff: „In an instinctive, impulsive, unconsious act like an infant`s
first nursing at the breast, as in things prior to the separation of subject and object, we may be able to see
a cosmic ‚pre-established harmony’[…] Nishitani (1991), S. 128.
122
Pörtner (1990), S. 208.
123
Ebd.
33
als „bildliche Potenz“ inhärent wäre – zu verbuchen. Das Noch Nicht entspräche also
„immer schon“ dem Immer Schon. Eine reale Entzweiung, auf die das Noch Nicht
antizipierend hinweist, das das „Noch Nicht“ Transzendierende, welches die Mitte wäre,
bevor es sich im Immer Schon auflöst, ist in strictu sensu nicht möglich: das imada ist
ein verkapptes sude ni.124 Verkompliziert wird dieses Verhältnis durch die Tatsache,
dass das Erlebnis als Substanz nicht, wie bei Hegel, Subjekt, sondern bloß Objekt der
Reinen Erfahrung ist.
Insgesamt überzeugt dieser Plausibilisierungsversuch Pörtners nicht, zumal Nishida
selbst an keiner Stelle „Substanz“ und „Form“ zur Klärung des widersprüchlichen
Verhältnisses von Noch Nicht und Immer Schon einführt. Ausserdem scheint die
Lösung, die Pörtner anbietet, eine nicht zulässige Überdehnung der Rolle des Denkens
der Differenz in Nishidas System.
Dennoch ist der substantielle Charakter der Reinen Erfahrung durch die denkfremde
Unmittelbarkeit ihres reinen „Da“-Seins offensichtlich. Sie ist als Substanz volle
Positivität und Einheit, sich nicht wiederherstellend, sondern schon immer
wiederhergestellt seiend, statisch und dinglich. Selbst mit der behelfsmäßigen Wendung,
dass dem Erlebnis das „Objekt“ und dem Denken die Bestimmung
„Subjekt“ zuzuordnen wäre, sind beide Bestimmungen doch wieder in das ganze
„Sein“ der Reinen Erfahrung jenseits ihrer Denkmöglichkeit eingefasst. Dass die
paradoxe Temporalität doch wieder auf der einen Seite des Immer Schon, des sude ni,
einzuordnen ist, womit der Widerspruch sich als bloß scheinhafter herausstellt, ist ein
weiteres Indiz der Reinen Erfahrung, dass die notwendigen Denkbestimmungen der
Negativität und des Widerspruchs nicht einmal als Momente zu ihrer Konstituierung
herhalten.
1.2.2. Selbstdifferenzierung
Bezogen auf Aktivität und Passivität hieße das eben Erörterte für die Reine Erfahrung,
dass sie als aktives Erlebnis im Denken „passivisch strukturiert“125 wäre – als Erlebtwerden. Pörtner meint Folgendes: um dem selbstwidersprüchlichen Verhältnis der
Temporalität der Reinen Erfahrung gerecht zu werden, muss es ein aktives Element
geben, das sich selbst als passives enthält: das Denken. Dieses erinnert nicht von
ungefähr an das Bild vom Ertrinkenden, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu
ziehen versucht. Er ist aktiv, insofern er auf sich selbst wirkt, passiv, indem die
Bedingung für sein aktives Wirken seine eigene Passivität voraussetzt, ein Paradigma
für radikale Selbstbezüglichkeit. Doch bei Nishida soll diese radikale
Selbstbezüglichkeit auch Selbstdifferenzierung generieren. Wie ist das möglich, ohne
die Reflexion einzubeziehen? Pörtner sieht hier eine Möglichkeit für Reflexion, indem
Selbstdifferenzierung als „spontane Selbstentfaltung“ diese ermöglicht, ohne sich in die
naheliegenden Widersprüche zu verfangen. In drei Stufen soll Selbstreflexion letztlich
erreicht werden, wobei Pörtner voraussetzt, dass es sich um einen überzeitlichen
Prozess handelt. Am Schluss stellt sich in Folge dieses Schemas jedoch ein reflektiertes
124
Ähnlich sieht es Shimomura: „Das Noch-Ungetrennt-Sein und das Immer-Schon-Ungetrennt-Sein von
Subjekt und Objekt (shukaku imada mibun naru mono to shukaku sude ni mibun naru mono 主格未だ未
分 な る も の と 主 格 既 に 未 分 な る も の ) werden nicht unterschieden, sondern sind unmittelbare
Identität.“ Shimomura (1990), S. 81.
125
Pörtner (1990), S. 208.
34
Immer Schon als Synthese her, womit der Prozess nicht nur zeitlich gedeutet werden
kann, sondern muss: 1.) die Stufe der Indifferenz von Subjekt und Objekt auf der Ebene
der Reinen Erfahrung ist die vorreflexive Stufe (Noch Nicht). 2.) die Opposition ist die
reflexive Stufe (Reflexion des Erlebnisses als Selbstbestimmung und
Selbstreflexion). 126 In der dritten Stufe findet sich 3.) die transreflexive Stufe der
„Wiedervereinigung von Subjekt und Objekt“, das Immer Schon. Dass die am Schluss
erreichte Harmonie immer schon eine prästabilierte ist, wird klar, wenn Nishida den
Standpunkt der Religion einnimmt und darin das Ziel der ganzen Bewegung, das
freilich auch Ursprung ist, sieht. Somit gibt Nishida dem im Wort Religion
etymologisch enthaltenen „religere“ eine neue Bedeutung – es ist die harmonisch
organisierte prästabilierte Verbindung von Subjekt und Objekt, die hierin ihren Sinn hat.
Insofern führt die zweite Stufe der Reflexion auch nicht „den Schmerz bei sich“, das
Andere seiner Selbst von sich als Bedingung seiner selbst zu trennen, wie es etwa bei
Hegel der Fall ist. Sondern „Differentiation und Entfaltung des Bewußtseins bedeutet
im Gegenteil geradezu eine Suche nach größerer Einheit […] das religiöse Bedürfnis ist
das Bedürfnis nach einer Bewußtseineinheit in diesem Sinne; ein Bedürfnis nach
Vereinigung mit dem Universum.“ 127 Ungeklärt bleibt nach wie vor, wie das
Bewusstsein bzw. die Reine Erfahrung sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen
kann, durch welchen Einschnitt in diesem radikal selbstbezüglichen
Bewusstseinsmonismus Selbstdifferentiation überhaupt möglich ist. Denn wenn eine
plötzliche, instantane Reflexion – ein Urteil – auftritt, muss diese bereits das Potential
zur Selbstnegation, letztlich logische Voraussetzung für Differentiation, enthalten. Aber
diese Möglichkeit zieht Nishida nicht in Betracht.
Die Reine Erfahrung ist bei Nishida das Ganze. Sie sei als „ungeteilt-einheitlicher
Ursprung des Bewußtseins“ immer im Hintergrund, und zwar 1. als
„Gegenwartsbewußtsein“ im Zustand der Teilung und der Opposition und 2., als ideale
Reine Erfahrung. Darin „besiegelt sie den Zustand 1.) zuerst der angestrebten, 2.) dann
der verwirklichten Überwindung der Trennung und Wiedervereinigung.“128 Aber selbst
Pörtner muss zugeben, dass der Verlust der ursprünglichen Einfachheit und Ganzheit
der Reinen Erfahrung auf nicht näher erklärte Weise vonstatten geht.
Die Frage bleibt: ist die Theorie der Reinen Erfahrung mehr als eine radikale
Immanenztheorie des Bewusstseins? Pörtner meint, man unterschätze mit einer solchen
Annahme das Ziel dieses Projekts, dem es mit seinem metaphysisch-ontologischen
Empirismus um „holistische Erfahrung“ gehe. 129 Begründet wird dies durch die
Feststellung, dass die Reine Erfahrung nicht nur „einzige Realität“ sei, sondern die
„Existenz als solche“. Trotz der Ausschließlichkeit, mit der sich Nishida um eine
ontische Bestimmung der Reinen Erfahrung bemüht, wird das Subjekt-ObjektVerhältnis
immer
wieder
thematisch,
wenn
der
Versuch
einer
immanenzphilosophischen Begründung bei Nishida strukturell auch vorherrschend ist.
126
Nishida sagt zu diesem Punkt selbst ausführlich: „Um zu klären, warum diese Funktion entsteht,
müssen wir davon ausgehen, dass […] das Bewußtsein ursprünglich ein System und dessen natürlicher
Zustand ein spontanes Sich- Entwickeln und Sich-Vervollkommnen ist; im Verlauf dieser Entwicklung
ergeben sich Widersprüche und Kollisionen zwischen verschiedenen Systemen: dies sind die Momente, in
denen das reflektierende Denken in Erscheinung tritt.“ ZnK, S. 47.
127
ZnK, S. 193.
128
Pörtner (1990), S. 211.
129
Pörtner (1990), S. 215.
35
Nishidas bewusstseinsmonistisches System repräsentiert letztlich eine Art
Vulgäridealismus.130 Das wäre nicht weiter erstaunlich, wenn Nishida sich nicht so
vehement gegen die „Einseitigkeiten“ 131 sowohl des Materialismus als auch des
Idealismus aussprechen und seine Philosophie der Reinen Erfahrung jenseits dieses
fundamentalen Widerspruchs verorten würde. Mehr noch: sein System überwinde das
Materialismus-Idealismus-Problem.132 Zur Begründung reicht ihm die Tatsache, dass
der Monismus des Systems – die Ununterschiedenheit von Subjekt und Objekt – die
„einzige Realität“ sei. Allerdings ist genau diese Annahme idealistisch und mitnichten
das „tertium comparationis“ (Pörtner) zu Materialismus und Idealismus.133
Dafür dürfte auch symptomatisch sprechen, dass Nishida aus seiner Geringschätzung
für die materialistische Position – die er wiederum mit einem verkürzten Materialismus
identifizierte, wie später gezeigt werden soll – keinen Hehl machte: „So kann etwa ein
Mensch mit hohen geistigen Ansprüchen sich nicht mit dem Materialismus
zufriedengeben, und ein Mensch, der an den Materialismus glaubt, wird Zweifel an
hohen geistigen Ansprüchen entwickeln.“134 Nishidas Anstrengung in ZnK besteht darin,
ein anti-materialistisches System zu begründen, das die Probleme des subjektiven
Idealismus
überwindet.
Eine
weitere
Konsequenz
aus
Nishidas
bewusstseinsmonistischem Idealismus wäre aber, dass die Entwicklung zum Ideal aus
dem System der Reinen Erfahrung ausgeschlossen bleibt. Der Motor einer Entwicklung
wäre Negation oder die Penetration des Systems durch den Widerspruch. Fatalerweise
läßt sich gerade deshalb hier keine Widerspruchsfreiheit deduzieren: sie setzt voraus,
dass in einem System oder eine Sprache verschiedene Elemente in Beziehung gesetzt
würden. Weil das System der Reinen Erfahrung darüberhinaus weder den Kriterien der
Korrespondenztheorie noch denen der Kohärenztheorie der Wahrheit entspricht, kann
von keinem Urteil (in diesem System) Wahrheit oder Falschheit ausgesagt werden.
Bleibt einem nur zweierlei: zu konzedieren, dass Nishida sich der fatalen Konsequenzen
seines Systems (noch) nicht bewusst war und die Feststellung, dass eine solche Totalität
sich selbst verunmöglicht. Dass die „Philosophie des absoluten, totalen Subjekts
130
Thomas Nipperdey wendet diesen von Fritz Stern stammenden Begriff in seiner Deutschen Geschichte
nicht erkenntnistheoretisch, sondern gesellschaftspolitisch auf die politische Kultur des deutschen
Bildungsbürgertums um 1914. Er gilt als solcher ohne Abstriche ebenfalls für Nishida und die
paternalistisch-elitäre Haltung seiner eigenen Klasse. Siehe Niperdey (1990), S. 815. Siehe auch Ende
dieses Kapitels, wo ich diesen Aspekt noch einmal aufgreife. Auch Komatsu Setsurô 小松摂郎, einer der
ersten Kritiker der Kyoto Schule in der Nachkriegszeit, konstatierte: „Der instrumentelle Materialismus
(kikaiteki yuibutsuron 機械的唯物論) beschäftigte sich hauptsächlich mit Fragen der Natur und des
Menschen, war aber ein Idealismus, sobald es um die Gesellschaft ging. Die Philosophie Machs in ihrem
Versuch, subjektivistisch beides zu vermitteln, war ebenfalls ein solcher Idealismus. Auch in Japan gehört
die Philosophie Nishidas, Tanabes und Mikis zu dieser Kategorie. Allerdings war ihre Philosophie,
ungeachtet ihres ‚subjektiven Bewusstseins’, nichts anderes als Idealismus.“ Komatsu (1948), S. 28.
131
ZnK, S. 103.
132
Wargo scheint zu den wenigen Nishida-Rezipienten zu gehören, die sich dieses Widerspruchs von
Anspruch von Wirklichkeit bewußt sind. Wargo:„ Nishida is forceful in insisting that he is not an idealist,
and that his position locates him beyond the materialist-idealist clash. Yet, […] there seems reason to
argue that Nishida does in fact fall into the ‘idealist trap’. In particular, his method of overcoming the
dichotomy of subject and object is to pierce the veil of subjectivity”. Wargo (2005), S. 35.
133
Pörtner: „[Nishida] versteht den Monismus der unmittelbaren Erfahrung als ein tertium comparationis
zum Materialismus und zum Idealismus [...] Es ist schwer, Nishida in diesem Punkt zuzustimmen. Da er
offensichtlich unter ‚unmittelbarer Erfahrung’ oder ‚Erlebnis’ Bewußtseinszustände versteht, repräsentiert
sein ‚Bewußtseinsmonismus’ letztlich eine Art Idealismus.“ Pörtner (1990), S. 216. Die Frage ist, ob
Nishida sein System als tertium zu Materialismus und Idealismus versteht. Die Reine Erfahrung scheint
mir weniger das Dritte des Vergleichs zu sein als die „korrekte Sicht“ auf die Realität; Idealismus und
Materialismus sind für Nishida fehlerhafte Denksysteme.
134
ZnK, S. 71.
36
partikular“ ist, wie Adorno in Bezug auf Hegel feststellt 135 , wäre dann bloß ein
Euphemismus für das weitaus katastrophalere Szenario, das sich darstellt, wenn man
Nishidas System zu Ende denkt.
Bislang ging es vornehmlich um die Probleme und Paradoxien der ontologischen und
der erkenntnistheoretischen Grundschemata der Reinen Erfahrung bzw. des
Bewusstseins. Das größte theoretische Problem wird sich im Folgenden jedoch in der
Konstituierung des Selbstbewusstseins ergeben.
1. 3.
Die Konstitutionsproblematik des Selbstbewusstseins
Der Immanenzcharakter des Bewusstseins bzw. der Reinen Erfahrung136 setzt voraus,
dass es im Vollzug der Selbstreflexion – mit all ihren logischen bzw. epistemologischen
Problemen – nicht auf ein anderes als es selbst, sondern höchstens auf das Andere seiner
selbst treffe. Diese Minimalbedingung muss in Nishidas System für die Konstitution des
Selbstbewusstseins herhalten: Nishida behauptet zwar, dass sich die Reine Erfahrung in
einem spontanen Akt der Selbstbildung selbst differenziert, erklärt aber nicht, durch
welche grundlegende Einsicht, durch welches motivierende Moment Subjekt und Objekt
auseinandertreten. Dies ist oben als „formal-differenzierender“ Akt des Denkens
ausgemacht, der sich selbst stets voraus ist und daher nie in Erscheinung treten kann,
weshalb das „Noch Nicht“ und das „Immer Schon“ der Trennung bzw. Vereinigung von
Subjekt und Objekt zusammenfallen. Es fragt sich, wie die Reine Erfahrung als
„Inbegriff der Unmittelbarkeit“137 gleichzeitig ein ausgezeichnetes Selbst konstitutieren
soll. Pörtner behauptet: „[D]iese fast mathematisch-intolerante […] Setzung der Reinen
Erfahrung […] versucht ‚mit einem Schlage’, wie nicht zufällig ein Lieblingsausdruck
Fichtes lautet, alle Probleme der Konstitution des Selbstbewusstseins zu lösen.“138
Andererseits liegt auch hier der Schlüssel zum Verständnis der theoretischen
Tantalusqualen, die Nishida angesichts der Subjektkonstitution leidet. Doch zunächst:
wie streng bzw. wie „mathematisch- intolerant“ kann ein realitätskonstituierender
Bewusstseinsmonismus sein? Mit folgendem Beispiel möchte Nishida, einem naiven
Begriff von objektiver Realität folgend, diese beweisen:
Hier steht zum Beispiel eine Lampe. Solange nur ich sie sehe, kann ich sie auch für eine
subjektive Illusion halten. Erst wenn alle sie auf gleiche Weise erkennen, wird sie zu einer
objektiven Tatsache. Die objektive, unabhängige Welt entsteht aus diesen allgemeinen
Eigenschaften.139
Dass Bewusstseinsimmanenz nicht die einzige Realität ist, zeigt sich auch darin, dass
„ein gutes Verhalten nicht nur ein bewußtseinsimmanentes Faktum ist, sondern zum
Ziel hat, ein gewisses Resultat in der tatsächlichen Welt zu bewirken […].“140
135
Adorno (1969), S. 145.
Wie bereits angedeutet, gibt es für Nishida keine Bedeutungsverschiedenheit in seiner Bestimmung
von Bewußtsein, Reiner Erfahrung und wahrer Realität: „Der Bewußtseinszustand der Einheit von
Wissen, Fühlen und Wollen, in dem Subjekt und Objekt gleichsam untergegangen sind, ist die wahre
Realität.“ ZnK, S. 88.
137
Pörtner (1990), S. 216.
138
Ebd.
139
ZnK. S. 91.
140
ZnK, S. 177. Hervorh. EL.
136
37
Nishida spricht von „äußeren Dingen“ 141 , von „intellektuellen antizipierenden
Vorstellungen zur äußeren Welt“142, sogar ausdrücklich von der „objektiven Realität“143.
Insofern bedeutet der „Selbstvollzug“ der unmittelbaren Erfahrung auch
Selbstobjektivation: ein künstlich hypostasiertes, Hegelisch „rein gesetztes“,
unreflektiertes verobjektiviertes Selbst, das paradoxerweise gleichzeitig als setzendes,
subjektives Selbst fungiert. Somit liege die „Reine Erfahrung […] vor jeder
Orientierung auf einen Einheitspunkt und danach, zumindest wenn man, wie etwa Kant,
unter diesem Einheitspunkt das Selbstbewusstsein eines, der denkt, versteht. Bei
Nishida bleibt der Einheitspunkt in einem nur beschworenen Außerhalb, von dem
nichtsdestoweniger angenommen wird, dass es im Zentrum aller auch nur potentiellen
Realität liegt.“144
Doch Pörtner mag diesem „Dezentralismus“ des Selbstbewusstseins als philosophische
Position eine gewisse Attraktivität nicht absprechen. So verortet er mit Nakamura
Yûjirô Nishidas System der Reinen Erfahrung in der Nähe poststrukturalistischer
Philosophie.145 Doch gerade hierin liegt das Problem. Es mag zwar sein, dass „die
Zeiten – des Cartesius –, als die Tatsache der Selbstgewissheit allein schon als
Deduktionsprinzip akzeptiert wurde […] unwiderrufbar vorbei [sind]“, aber nur weil
Heidegger das menschliche Sein als „sich selbst in Frage stehendes Dasein“ theoretisch
etabliert hat und Althusser in der Folge Lacans das Subjekt abgeschafft haben will –
ganz zu schweigen von den diversen Ansätzen der „poststrukturalistischen“ oder
„postmodernen“ Philosophie insbesondere Derridascher und Lyotardscher Provenienz,
die das Subjekt durch Textualität, Sprache, Schrift etc. ersetzt zu haben glaubt, heißt das
noch nicht, dass in der Sache das Subjekt – das Selbstbewusstsein – als Bezugs- und
Ausgangspunkt ad acta gelegt werden kann. Im Gegenteil scheint in den öffentlichen,
auch populärphilosophischen Diskursen die Verabschiedung des Subjekts durch die
Neurowissenschaften eine neue Diskussion des Subjektbegriffs angeregt zu haben146,
konsequent nach Chestertons Wort, dass alles um so „länger existiert, je mehr es seine
Existenz verleugnet“147 oder seine Existenz verleugnet wird.
Auch Nishida hat auf seine Weise gegen das cartesianische bzw. kantische Subjekt
rebelliert, doch nicht, um es – dem Anspruch der modernen Bewusstseinsphilosophen
nach – aus dem Gefängnis unreflektierter Voraussetzungen zu befreien und auf ein, je
nach
Geistesrichtung
„dialektisches“,
„fundamentalontologisches“
oder
„dezentriertes“ Sein zu stützen, sondern, um es ganz aufzugeben und durch die Reine
Erfahrung, das „Höhere“, in dem Ding und Ich eins sind, zu ersetzen. Das schützt
seinen Begriff von Realität, in dem Subjekt und Objekt, Wissen und Wollen, Ich und
Welt gleich sind, allerdings nicht davor, ebensolche autoritären – oder, in Pörtners
Worten, „mathematisch-intoleranten“ Verhärtungen anzunehmen.
141
ZnK, S. 174.
ZnK, S. 57.
143
ZnK, S. 116 ff.
144
Pörtner (1990), S. 218.
145
Pörtner (1990), S. 287.
146
Ich denke hier insbesondere an die neueren populärphilosophischen Bestseller etwa Richard David
Prechts (Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Eine philosophische Reise. Goldmann, Stuttgart 2007),
sowie die 3Sat-Reihe Scobel, die mit ihren Themen „Wer bin ich? – Identität in der Gegenwart“ (Sendung
vom 22.07.2010), „Der Weg zum Ich“ und „Woher komme ich?“ auf populärwissenschaftliche Weise
neue Zugänge zum Subjektivitätsproblem vorstellt. http://www.3sat.de/delta/ (Zugriff am 28.10.2010)
147
„Everything is prolonging its existence by denying that it exists.“ In G.K. Chesterton, The Return of
Don Quixote. House of Stratus, Cornwall (2008), S. 123.
142
38
Der
Diskussion
der
Konstitution
des
Selbstbewusstseins
wäre
die
(post)strukturalistische Theorie mit ihren theoretischen Voraussetzungen in der
Psychoanalyse Lacans an die Seite zu stellen, welche hier allerdings undiskutiert
bleiben muss. Ein Blick auf Lacans Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion148
lässt jedoch eine auffällige Parallele zu Nishidas Bildung des Selbst erkennen, die kurz
zu thematisieren wäre. So sagt Lacan, dass das Kleinkind beim Anblick seines eigenen
Spiegelbildes dieses „jubilatorisch“ aufnehme:
Die jubilatorische Aufnahme seines Spiegelbildes durch ein Wesen, das noch eingetaucht ist in
motorische Ohnmacht und Abhängigkeit von Pflege, wie es der Säugling in diesem infansStadium ist, wird von nun an – wie uns scheint – in einer exemplarischen Situation die
symbolische Matrix darstellen, an der das Ich (je) in einer ursprünglichen Form sich
niederschlägt, bevor es sich objektiviert in der Dialektik der Identifikation mit dem anderen und
bevor ihm die Sprache im Allgemeinen die Funktion eines Subjekts wiedergibt [...] Aber von
besonderer Wichtigkeit ist gerade, dass diese Form vor jeder gesellschaftlichen Determinierung
die Instanz des Ich (moi) auf einer fiktiven Linie situiert, die das Individuum allein nie mehr
auslöschen kann, oder vielmehr: die nur asymptotisch das Werden des Subjekts erreichen wird,
wie erfolgreich immer die dialektischen Synthesen verlaufen mögen, durch die es, als Ich (je),
seine Nichtübereinstimmung mit der eigenen Realität überwinden muß.149
Die unkoordinierte „Einheit“ des Körpers des Kindes mit dem eigenen Spiegelbild –
erkenntnisthoeretisch gesprochen: die Einheit von Subjekt und Objekt – wird von
Lacan allerdings nicht wie bei Nishida zur letzten bzw. „höchsten“ Realität erklärt.
Vielmehr versteht Lacan die „Nichtübereinstimmung“ zwischen dem Ich und seiner
eigenen Realität als konstitutiv für Subjektivität, als „Instanz“ auf dem Weg zur Bildung
des Ego. Eagletons Lesart Lacans gibt zugleich den Hinweis, dass das Erkennen des
Selbst zugleich ein Verkennen sei:
In diesem Essay [Das Spiegelstadium…] behauptet Lacan, dass das Kleinkind, mit seinem
Spiegelbild konfrontiert, einen Augenblick der jubilatorischen Verkennung seines konkreten,
physisch unkoordinierten Zustandes erlebt, in dem es das Bild seines Körpers aufnimmt, der
einheitlicher als in der Wirklichkeit erscheint. In diesem imaginären Zustand hat die
Unterscheidung in Subjekt und Objekt noch nicht eingesetzt: das Kind identifiziert sich mit
seinem Bild, es hat das Gefühl, zugleich im Spiegel und vor dem Spiegel zu sein, so dass
Subjekt und Objekt in einem geschlossenen Kreislauf unablässig ineinandergleiten.150
Eagleton will in dieser Interpretation Lacans zwar auf das „ideologische
Subjekt“ hinaus. Aber dieses hat als „imaginäres Subjekt“ durchaus Ähnlichkeit mit
dem Selbst der wahren Wirklichkeit im Zustand Reiner Erfahrung bei Nishida.
Nishida macht dagegen diesen Zustand emphatisch als affirmativen Realitätsbegriff
geltend. Die Selbstprädikation des Bewusstseins, von der Pörtner nur deswegen
sprechen kann, weil er der Reflexion eine im Zusammenhang von ZnK unangemessen
prävalente Rolle zuspricht, ist ohne das Außen, das bei Nishida nur ein
148
Orig: „Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je telle quelle nous est révélée dans
l’experience psychoanalytique.“ Communication faite au XVIè Congrès international de psychanalyse, à
Zürich, le 17 juillet 1949. Lacan (1973), S. 61-70.
149
Lacan (1973), S. 64. Hervorh. EL.
150
Eagleton (2000), S. 166-167. Hervorh. EL.
39
„beschworenes“ bleibt, unmöglich. Vor allem aber verbirgt sich im Begriff der Reinen
Erfahrung eine radikale Subjektivität. Diese zuzugeben setzt Adorno zufolge auch
Objektivität voraus. Mit anderen Worten: es folgt daraus, dass es
keine Erkenntnis über das Objekt ohne erkennendes Subjekt gibt, kein ontologisches Vorrecht
des Bewußtseins. Jegliche Behauptung, dass Subjektivität irgend „sei“, schließt bereits eine
Objektivität ein, die das Subjekt vermöge seines absoluten Seins erst zu begründen vorgibt. Nur
weil das Subjekt seinerseits vermittelt, also nicht das radikal Andere des Objekts ist, das dieses
erst legitimiert, vermag es Objektivität überhaupt zu fassen.151
Die Pointe, dass das Subjekt gerade durch die Vermitteltheit nicht das radikal Andere
des Objekts ist, wurde von Nishida ebensowenig wie von denjenigen Rezipienten
Nishidas gesehen, die behaupteteten, in der Philosophie der Einheit von Subjekt und
Objekt drücke sich ein genuin ostasiatisches Denken im Gegensatz zur westlichen, stets
den Subjekt-Objekt-Dualismus zugrundelegenden Philosophie, aus. 152 Die Tatsache,
dass das Subjekt-Ich eben nicht das Absolut- oder Radikal-Andere des Objekt-Dus ist,
ist für ein analytisches Verständnis des Verhältnisses von Ich und Du jedoch
unentbehrlich. Kobayashi, der interessante Parallelen zwischen Nishidas (theoretischer)
Solipsismus-Falle und dem Krankheitsbild von Schizopherenen und Autisten sieht,
bemerkt:
Auch hier kann die psychopathologische Erfahrung aufschlußreich sein, derzufolge
Schizophrene gerade deshalb zu Autisten werden, weil sie den anderen gegenüber zu offen sind.
Das ‚Offen-sein-gegenüber-Anderen’ als Seinsverfassung kann also durchaus mit dem
phänomenalen ‚In-sich-geschlossen-Sein’ koexistieren.153
Das wäre die „Vermitteltheit“ des Subjekts radikal zu Ende gedacht. Bei Nishida verhält
es sich in der Tat umgekehrt: der autistische Selbstbezug mündet in einer Schizophrenie,
der das eigene Ich weder natürlich noch selbstverständlich ist. Dieser Zustand ist bei
Nishida nicht als krankhafter ausgemacht, sondern im Gegenteil als positiv bewerteter
und notwendig sich zu generierender.
151
Adorno (1969), S. 186.
Nishitani spricht von Nishidas System der Reinen Erfahrung sogar als „Neue Metaphysik“, und drückt
sich in der Explikation des „Neuen“ an Nishidas Metaphysik - im Gegensatz zur traditionellen,
„westlichen Metaphysik –mehr als nur unklar aus, wenn er behauptet: „This is where the horizon of a new
metaphysics opens up. The transcendence entailed here is not an entry into a world transcending
experience, as is the case with traditional metaphysics […] The work of psychologists like Wundt and
James forms the foundation for An Inquiry Into The Good, as it had also for Bergson´s Essai sur les
donneés immédiates de la conscience. Yet Nishida was not arrested by what these thinkers had in mind by
pure experience, but exerted himself further to see the notion of true pure experience through to the end,
as something lived prior to the distinction of subject and object.” Nishitani (1991), S. 80-81. Auch hier
scheint wieder ein ungenügendes Verständnis des Verhältnisses von Begrifflichkeit und dem, was
Nishitani „the disctinction of subject and object“ nennt, durch: der Begriff („the notion“) der Reinen
Erfahrung ist ohne Subjekt-Objekt-Unterscheidung nicht zu haben. Hier wäre Nishida gegen die Lesart
seiner Nachfolger zu verteidigen, da Nishida es nahezu unterlässt, vom „Begriff“ zu sprechen.
153
Kobayashi (2002), S. 43.
152
40
1.3.1. Das Solipsismusproblem
Bei Sartre ist das cogito préréflexif der Ermöglichungsgrund thetischen Bewusstseins –
also eines Bewusstseins, das sich selbst setzt: Selbstbewusstsein. Das hängt eng mit der
oben erwähnten Interdependenz von Immanenz und Transzendenz zusammen, die bei
Nishida durch das reine Setzen der Immanenz verunmöglicht wird. Nishida ist in
seinem Bewusstseinsmonismus bzw. seiner Immanenztheorie konsequent, wenn er
behauptet, dass die Reine Erfahrung, also das Bewusstsein qua Realität, das Individuum
transzendiere:
Vielleicht hört es sich abwegig an, aber die Erfahrung übertrifft Zeit, Raum und Individuum,
weil sie Zeit, Raum und Individuum wissend umgreift. Das Individuum geht nicht der
Erfahrung voraus, sondern die Erfahrung dem Individuum. Die individuelle Erfahrung ist nur
ein besonderer, kleiner, begrenzter Bereich innerhalb der Erfahrung.154
Der Körper ist konsequent nur etwas als ein Bewusstseinsphänomen Wahrgenommenes.
Daher „[wohnt] das Bewußtsein nicht im Körper, sondern der Körper wohnt im
Bewußtsein.“ 155 Dass vor einem solchen Hintergrund ein Selbstbewusstsein, dass
meines genannt werden könne, nicht möglich ist, versteht sich von selbst. Die
Behauptung, dass es die Erfahrung nicht gibt, weil es das Individuum, sondern das
Individuum sei, weil es die Erfahrung gebe, ist nicht so zu verstehen, dass die Menge
aller meiner Erfahrungen letztendlich so etwas wie meine „Selbstidentität“ und meine
„Persönlichkeit“ bilden. Denn was wäre nach diesem Schema als „meine“ Erfahrung zu
identifizieren? Nishida hat die Reine Erfahrung als paradigmatisches System der
selbstkonstitutiven Selbstbezüglichkeit konzipiert, darin aber die Möglichkeit des
Individuums, „Ich“ zu sagen, vergessen. Das „Ich denke“, das alle meine Vorstellungen
muss begleiten können, löst sich in der alles umgreifenden Substanz der Einheit der
Reinen Erfahrung auf. Wie soll sich hier ein Selbstbewusstsein – und in der Tat ein auf
die Person gehendes Selbstbewusstsein – generieren? Zur Erinnerung:
Denn die mannigfaltigen Vorstellungen, die in einer gewissen Anschauung gegeben werden,
würden nicht insgesamt meine Vorstellungen sein, wenn sie nicht insgesamt zu einem
Selbstbewußtsein gehöreten, d.i. als meine Vorstellungen (ob ich mich ihrer gleich nicht als
solcher bewußt bin), müssen sie doch der Bedingung notwendig gemäß sein, unter der sie allein
in einem allgemeinen Selbstbewusstsein zusammenstehen können, weil sie sonst nicht
durchgängig mir angehören würden.156
Bei Kant ist die schlichte Tatsache, dass Vorstellungen einem Selbstbewusstsein
angehören müssen, maßgeblich für die Identität des Bewusstseins überhaupt: das
Mannigfaltige gegebener Vorstellungen kann nur aufgrund der synthetischen Einheit
der Apperzeption analysiert werden. In etwa in das dasselbe, was auch Sartre unter
Verwendung einer anderen Begrifflichkeit sagt. Zwar gibt Nishida wenn auch nicht
ausdrücklich zu, dass das Individuum eine eigene, persönliche Erfahrung „hat“. Aber
wie kann man einen weiteren Erfahrungshorizont jenseits der eben auch körperlich
bedingten Sphäre des Individuums plausibel machen?
154
ZnK, S. 51.
ZnK, S. 77.
156
KrV B 132-134 (1923). Hervorh. EL.
155
41
Folgendermaßen stellt sich Masao Abe das Verhältnis von Erfahrung und Individuum
bei Nishida vor:
Diagram 2
Experience
2
Self or
Individual
Experience
1
Im Gegensatz zur Vorstellung, dass „Erfahrung existiert, weil es ein Individuum gibt“,
zeigt dieses Diagramm an, dass bei Nishida ein „Self or Individual“ existiere, weil es
Experience 1 gebe – genauer: „Experience in which not only things but also the self or
the individual is experienced (Experience 1 in Diagram 2) is direct, whereas experience
that is experienced by a presupposed self is indirect (Experience 2 in Diagram 2). A
direct experience goes beyond the individual – it is fundamentally trans-individual.”157
Inwiefern die äußere Sphäre der Erfahrung (Experience 1) direkter sein soll als die
innere Sphäre (Experience 2), bleibt im Dunkeln. Abe fährt fort: „Direct experience is
pure experience in Nishida`s sense, and this is why he says the notion of pure
experience enabled him to avoid solipsism.”158
Diese Behauptung ist alles andere als evident. Um den Solipsismus, der behauptet, dass
nur das eigene Ich mit seinen Bewusstseinsinhalten als das einzige Wirkliche gelten
kann und alle anderen Personen meine Vorstellungen sind, zu überwinden, muss gezeigt
werden, dass der Andere – mein Anderer – real existiert. Sartre hat das anhand des
„Blicks“ des Anderen, der mich selbst auf meine Potentialität als Objekt zurückwirft,
eindrucksvoll belegt, Hegel hat mit der Genese des Selbstbewusstseins durch das HerrKnecht-Verhältnis eindringlich das „falsche Bewusstsein“ des Solipsismus aufgezeigt,
157
158
Abe (1990), S. xvii.
Ebd.
42
Levinas durch seine an der Auslegung des Talmud orientierten Theorie den Solipsismus
sogar moralisch diskreditiert. 159 Wie kann Nishidas das einzelne Individuum
„umwölbende“, transzendierende Erfahrung das leisten?
Nishida selbst ist überzeugt, dass eine Analogie möglich ist zwischen dem Verhältnis
einzelner Individuen zueinander und dem Verhältnis meines heutigen – gegenwärtigen
Bewusstseins – zum vergangenen:
Wenn es möglich ist, in einem individuellen Bewußtsein eine Einheit zu sehen, weil das
gestrige und das heutige Bewußtsein – auch wenn sie unabhängig voneinander sind – nur einem
System angehören, dann wird man dasselbe Verhältnis auch zwischen dem eigenen und dem
fremden Bewußtsein entdecken können.160
Der Unterschied zwischen vergangenem und heutigem bzw. fremdem und meinem
Bewusstsein wird der Einheit untergeordnet. Daher lassen sich zwischen alter und ego –
das sagt Nishida ausdrücklich – „keine absoluten Trennlinien ziehen“161. Auf diesem
Weg holt Nishida den Solipsismus wieder in sein System, denn die Vorstellung, dass
der Andere nur eine Fiktion ist, setzt voraus, dass es eine Bewusstseinseinheit gibt, die
garantiert, dass eine Unterbrechung der Bewusstseinskontinuität, ein Riss, ein mir
gegenüberstehendes Anderes, eine Negation meines Ich qua definitionem unmöglich ist.
An keiner Stelle kann die Reine Erfahrung – oder nach dem Diagramm „Experience
1“ – einen Riss in der Kontinuität, zeitlich gesprochen, oder im Umfang, räumlich
gesprochen, zulassen. Deshalb ist Nishidas System der Reinen Erfahrung in einem noch
näher zu fasenden Sinn solipsistisch und Intersubjektivität nicht möglich. Genauer:
gerade weil die Trennung zwischen Ich und Anderem in der Reinen Erfahrung schon
immer überwunden ist, macht es keinen Sinn, von einem Individuum als einzelner
Realität innerhalb der Reinen Erfahrung zu sprechen. So kollabiert die
Konstitutionsmöglichkeit des individuellen Bewusstseins in der Reinen Erfahrung.
Konsequent zu Ende gedacht bleibt ein Solipsismus, der nicht einmal
„meinem“ Bewusstsein zugerechnet werden kann, im besten Fall eine Art
überindividuelles Bewusstsein, im schlimmsten Fall eine Art „unpersönlicher
Solipsismus.“ So sagt auch Pörtner: „Wie ein bewußtseinsimmanenter Monismus es
verlangt, gelten alle Aussagen über die Struktur des Bewußtseins ohne Modifikation
auch für die Realität.“ 162 Die Pointe dieser Aussage steckt im Begriff Monismus.
Hiermit wären nicht nur Bewusstsein und Realität als eins gesetzt, sondern auch Ich und
Du. Da in ZnK aber jeglicher Bezug auf das Selbstbewusstsein und daher auf die Person
fehlen, versäumt Nishida, das Problem der Intersubjektivität zu thematisieren. Ein
individuelles Bewusstsein ist nur noch als riesiger solipsistischer Schlund denkbar, in
den alle „anderen“ Bewusstseine als meine „Vorstellungen“ abstürzen.
Nishida hat einen ontologischen Monismus als hintergründige Energie für alle
Phänomene der Realität – die per definitionem Bewusstseinsphänomene sind angenommen. Auf die Probleme eines unterbestimmten Reflexionsbegriffs ist oben
bereits eingegangen worden. Wurde aber die Rolle, die der Reflexion im System der
Reinen Erfahrung zugeschrieben wird, unterschätzt? Schließlich gibt Nishida zu, dass es
159
Am deutlichsten in Totalität und Unendlichkeit – Versuch über die Exteriorität. Karl Alber Verlag
München, (2002) (Orig. Totalité et Infini, Martinus Nijhoff, 1961).
160
ZnK, S. 80.
161
ZnK, S. 79.
162
Pörtner (1990), S. 219.
43
im System im Laufe seiner Entwicklung zu „Widersprüche[n] und Kollisionen“ komme
und dass diese die Momente seien, „in denen das reflektierende Denken in Erscheinung
tritt.“163 Eine weitere Frage wäre, ob die Reflexion, wenn sie denn eine prominente
Rolle spielt, das System vor seinen strukturellen Widersprüchen schützen kann.
1.3.2. Der Reflexionsbegriff
Jeder Versuch, die Konstitution des Selbstbewusstseins in ZnK sinnvoll zu begründen,
muss die von Nishida ausdrücklich verwendete Terminologie überschreiten und
mögliche Strukturen freilegen, die implizit zur Klärung des verhandelten Problems
beitragen können. Die Entfaltung der Systems ist nur begründbar, wenn der
Reflexionsbegriff darin eine Rolle spielt. 164 Nur so können innerhalb der Reinen
Erfahrung oppositionelle Teile zustandekommen, deren Entwicklung maßgeblich für die
Weiterentwicklung des Systems –konkret: die Schaffung der Wirklichkeit, wie wir sie
kennen (Gegenstandswelt, Natur etc.) - ist. Sueki Takehiro 末木剛博 zieht eine
mengentheoretische Parallele, wenn er die Reine Erfahrung mit einer Menge A
vergleicht, „die in zwei Teilmengen B und Nicht-B eingeteilt ist. B und Nicht-B stehen
in einem Widerspruchsverhältnis zueinander, bilden aber als Teilmengen von A eine
Einheit.“165 Das lässt sich am Nishidatext nicht nachvollziehen, denn schließlich wäre –
nach Suekis Bild – hier der Endpunkt; bei Nishida findet dagegen eine stufenweise
Entwicklung mit immer differenzierenderen Einheiten statt, die ausdrücklich
„unendlich“ ist.166
Die Realität ist eine Einheit, die den Widerspruch in sich faßt. Wenn es hier eine Realität gibt,
dann gibt es dort notwendig eine ihr widersprechende andere Realität. Aber in diesem
wechselseitigen Widerspruch sind diese beiden keine unabhängigen Realitäten, sondern müssen
zu einer Einheit zusammengefaßt sein. D.h. sie müssen sich aus der einen Realität differenziert
und entwickelt haben. Wenn beide dann vereinheitlicht sind und als eine Realität erscheinen,
muß ein neuer Widerspruch auftreten. Aber auch in diesem Augenblick muß in ihrem
Hintergrund eine Einheit wirken. Auf diese Weise bringt die Entwicklung eine unendliche
Einheit hervor.167
Pörtner stellt die Unbegrenztheit der Entwicklung als „wahres Unendliches“ vor. Doch
wenn sich innerhalb der Reinen Erfahrung – und es gibt nur ein Innerhalb – Subjekt und
Objekt, Sehendes und Gesehenes trennen, dann ist die Opposition dieser nicht die
163
ZnK, S. 47.
Weder das Problem des Selbstbewusstseins, wie oben bereits angedeutet, noch das der Reflexion spielt
im Rahmen von ZnK eine prävalente Rolle. Erst in Nishidas zweitem zusammenhängenden Werk werden
beide Begriffe thematisiert, woraufhin bereits der Titel Anschauung und Reflexion im Selbstbewusstsein
(1917) hindeutet. Es ist nicht abwegig, dass die nach ZnK eintretende verstärkte Beschäftigung mit Fichte
– dessen Selbstsetzung und Tathandlung in Anschauung eine wichtige Rolle spielt – ein Grund war,
genau diesen Problemen zu begegnen.
165
Sueki Takehiro 末木剛博 Nishida Kitarô. Sono tetsugaku taikei 西田幾多郎 .その哲学大系
Shunjûsha (1983-88), S. 43. zit. in Pörtner (1990), S. 219.
166
Ein weiteres Problem dieses Vergleichs liegt darin, dass – spielte die Negation eine Rolle, was sie
nicht tut – alle Elemente innerhalb des System ihre Negation, quasi als Konstitutionsgrund ihrer selbst,
haben, das System selbst aber nicht. Es wäre eine reine Setzung. Der mengentheoretische Vergleich kann
diese nicht begründen.
167
ZnK. S. 101.
164
44
einzige: die Reine Erfahrung stellt unmittelbar diesem Gegensatzpaar gegenüber eine
erneutes oppositionelles Verhältnis her: ein sehendes Subjekt, das das sehende Subjekt
sieht (objektiviertes Subjekt) und so zum „Subjekt des Subjekts“ wird. Bei Nishida gibt
es im thematischen Zusammenhang von Znk noch keine Fichtesche Setzung des Ich.
Das System in ZnK erhält sich erst durch diesen „Widerspruch ins Unendliche“. Das
Selbst, das ausdrücklich zu einem Gegenstand des Selbst gemacht werden kann, wird
zum Ausgangspunkt des Problems der Selbstreflexion erst in Das Verstehen in der
Logik und das Verstehen in der Mathematik (1915), wo Nishida sich intensiv mit dem
Problem der Unendlichkeit, bzw., modern ausgedrückt, der „unendlichen
Iteration“ (Klaus Düsing) auseinandersetzt.168 Der locus classicus für diese Problematik
ist bekanntlich Kants „Paralogismus“-Kapitel aus der Transzendentalen Dialektik in der
KrV. Kant hat in seiner Kritik an der rationalen Psychologie den „Paralogismus der
reinen Vernunft“ als Unmöglichkeit der Deduktion des „Ich denke“ ausgemacht,
welches nur reine, d.h. nicht-empirische Prädikate enthalten soll. Denn das Ich denke ist
die „Erkenntnis des Empirischen überhaupt“ und gehöre zur „Untersuchung der
Möglichkeit einer jeden Erfahrung, welche allerdings transszendental ist.“169 Weiter
schränkt Kant aber diese „Erkenntnis des Empirischen überhaupt“ ein, das uns nur über
seine Prädikate, niemals aber als Begriff gegeben sein kann und
um welches wir uns daher in einem beständigen Zirkel herumdrehen, indem wir uns seiner
Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urteilen; eine
Unbequemlichkeit,die davon nicht zu trennen ist, weil das Bewußtsein an sich nicht sowohl eine
Vorstellung ist, die ein besonderes Objekt unterscheidet, sondern eine Form derselben
überhaupt, sofern sie Erkenntnis genannt werden soll; denn von der allein kann ich sagen, dass
ich dadurch irgendetwas denke.170
168
“[...] dass wir das Selbst zu einem Gegenstand des Selbst machen”, in NKZ I, S. 264. Pörtner faßt den
Regress folgendermaßen zusammen: „[…] wir können nicht nur das Selbst zu einem Gegenstand des
Denkens des Selbst machen, sondern auch dieses Gegenstandwerden des Selbst für das Denken können
wir wiederum zu einem Gegenstand des Denkens des Selbst machen – ad infinitum.“ Diese Textstelle
stammt aus Das Verstehen in der Logik und das Verstehen in der Mathematik ( Ronri no rikai to sûri no
rikai 論理の理解と数理の理解) (1915). Wiederum eine zuverlässige Übersetzung bietet Pörtner in
Pörtner (1990), S. 303-318. Dieser Nishida-Text ist u.a. deshalb so interessant, weil Nishida zwar die
Grundthese von ZnK, dass die Realität eine „Selbstentfaltung des Allgemeinen“, eine „innere
schöpferische Kraft“ sei, beibehält, jedoch zum ersten Mal über die romantisierende Redeweise von ZnK
hinausgeht. In Das Verstehen behauptet Nishida, dass die rein logischen drei Denkprinzipien (Satz der
Identität, Satz des Widerspruchs, Satz vom ausgeschlossenen Dritten) unvollständig seien, wenn man die
Leistung des Bewusstseins, die das Eine und das Andere – repräsentiert durch A und Nicht-A- überhaupt
erst vereinheitlicht und in Beziehung setzt, vernachlässige. Nishidas Kritik am Satz der Identität erinnert
stark an Hegels Polemik gegen diesen: „Was sich also aus dieser Betrachtung ergibt, ist, dass […] der
Satz der Identität oder des Widerspruchs, wie er nur die abstrakte Identität, im Gegensatz gegen den
Unterschied, als Wahres ausdrücken soll, kein Denkgesetz, sondern vielmehr das Gegenteil davon ist
[…]“ (Hervorh. EL) WL II, S. 45. Siehe auch WL II, S. 237 ff. Nishida: „Eine Aussage wie ‚A ist A’ (kô
wa kô de aru) hat vielleicht als Prinzip der Logik eine gewisse Bedeutung, ist aber als Prinzip der Realität
völlig bedeutungslos.“ Pörtner (1990), S. 304. Deutliche Reminiszenzen an Hegel finden sich in folgender
Formulierung: „So ist der Widerspruch in sich selbst das innere Wesen des Allgemeinen, ja die
eigentliche Wahrheit (shinsô) des logischen Verstehens […] Dass A und Nicht-A keinen Vermittler
zulassen, kann man nur sagen, weil es ein deren Beziehung allererst ermöglichendes Drittes gibt.“ Ebd.,
S. 307.
169
KrV B 401 (1923).
170
KrV B 404 (1923). Hervorh. EL. Für Kant ist die Selbsterkenntnis eine „Unbequemlichkeit“, keine
Unmöglichkeit, was meines Erachtens ein weiterer Hinweis darauf ist, dass Kant die logische Möglichkeit
der Deduktion des Ich durchaus für gegeben hält. Mehr noch als das scheint mir das gesamte Programm
der Deduktion diese Möglichkeit nicht nur zu sehen, sondern die logische Faktizität der Apperzeption
ausdrücklich zu thematisieren.
45
Klaus Düsing weist darauf hin, dass Kant – obgleich er den Begriff des Zirkels
verwendet – nicht etwa behauptet, dass jede logische Definition des Selbstbewusstseins
zirkulär und somit ungültig sei. Schließlich sei die reine Apperzeption das Grundprinzip
formaler und somit auch transzendentaler Logik, die Erkenntnis begründe. Die reine
Subjektivität als Prinzip der Logik ist in der Tat durchaus bestimm- und daher
erkennbar, nichts anderes führt die Deduktion vor. Der Zirkel besteht für Kant demnach
nicht in der „denkenden Selbstbeziehung“, sondern in der Behauptung, dass in der
reinen Erkenntnis – d.h. einer Erkenntnis ohne jegliche Relation zu den Anschauungen
und Begriffen – meiner selbst durch mich irgendetwas gewonnen bzw. Erkenntnis
überhaupt möglich sei. Für Kant gibt es keinen Erkenntnisfortschritt – keinen
synthetischen Satz a priori – in diesem metaphysischen Beweis, er ist zirkulär und somit
leer.171 Daher liegt in dem „Bewußtsein, um welches wir uns […] in einem beständigen
Zirkel herumdrehen“ auch keine petio principii vor. Vielmehr wäre dieser erst ein
sekundäres oder nachträgliches Resultat der primären Erkenntnis, überhaupt keine
Erkenntnis über das sich rein denkende Selbst gewinnen zu können. Soweit stimme ich
den Ausführungen Düsings zu.172
Im Paralogismen-Abschnitt geht es darum, dass die rationalen Psychologen der
Verwechslung des Subjekts als „begleitendes Substrat“ des Denkens mit dem Subjekt
als Substanz anheimfallen. Dabei setzen die rationalen Psychologen in Kants
Überlieferung nur das „Ich denke“ als „alleinigen Text“ ihrer Wissenschaft, „aus
welchem sie ihre ganze Wahrheit auswickeln soll“173, sehen jedoch nicht, dass eben jene
Wissenschaft sich zum Teil auf empirischen Beobachtungen gegründet ist – schließlich
werde das Ich als „Substanz“ gedacht, ein empirisches Prädikat. Genau in der
Unmöglichkeit der Formulierung eines vernünftigen Schlusses aus dem alleinigen „Ich
denke“ liegt jedoch die Zirkelhaftigkeit. Es ist die „dürftige Abstraktion“ des Ich denke,
die den Zirkel begünstigt. Anders gesagt: ein Zirkel ergebe sich nur dann, wenn dieser
„alleinige Text“ des „Ich denke“ als „reines“, d.h. wahres Ich gefasst werde, dem keine
empirischen Prädikate beigegeben werden dürften. Insofern gibt es ein Zirkelproblem
nur in der Form des Arguments: „Nur dann, wenn dieses Ich sich rein denken soll, dreht
es sich in einem beständigen Zirkel herum.“ Das ist der Grund dafür, dass Kant „einen
Zirkel in einem metaphysischen Beweis über die denkende Seele und ihr Sein im
Auge“ habe.174 Für Kant folgt, dass „ich dasjenige, was ich voraussetzen muß, um
überhaupt ein Objekt zu erkennen, nicht selbst als Objekt erkennen kann.“175 Hiermit
meint Kant das Ich als reines Objekt, frei von empirischen Prädikaten. Wenn dies zwar
nicht die Generierung des Selbstbewusstseins zu erklären bemüht ist, kann man doch
leicht einsehen, dass die Erkenntnis des Begriffs – in welcher jene enthalten sein muss –
als vorausgesetzt einen Anfang setzt, aus dem sich dann die „Erkenntnis des
Empirischen überhaupt“ erklärt, an der – oder an deren „epistemologischen
Jokerfunktion“176 – Kant primär interessiert war.177
171
Kant unterscheidet zwei Begriffe von „synthetisch“, allerdings nicht ausdrücklich. Zum einen sind die
synthetischen Urteile diejenigen im Gegensatz zu den analytischen, die einen Erkenntnisfortschitt
ermöglichen – diese sind hier gemeint - , zum anderen ist die synthetische Einheit der Apperzeption als
„Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können“ selbstverständlich auch das Prinzip der
analytischen Urteile. Vgl. Düsing (2002), S. 168.
172
Düsing (2002), S. 119 ff.
173
KrV B 401 (1998).
174
Ebd.
175
KrV A 402 (1998).
176
Pörtner (1990), S. 233.
46
Nishida dagegen stürzt sich in die epistemologischen Probleme, die sich für die
Konstituierung des reinen Selbst(bewusstseins) ergeben, wenn man dessen prinzipielle
Erkennbarkeit postuliert und sich so in den unendlichen Regress begibt. Einen
absoluten Anfang sucht man bei Nishida vergebens. Fichte dagegen war sich des
infiniten Regresses, dem Nishida unvermeidlich begegnen musste, bewusst, weshalb für
ihn der Akt der Selbstsetzung notwendig ist178. Fichtes Ich ist unmittelbar a priori
gegeben und nicht objektivierbar. Dieter Henrich (1966) und Robert Pippin (1989)
haben darauf aufmerksam gemacht, dass diese Selbstsetzung des Ich letztlich das
Problem eines absoluten Anfangs nur terminologisch verschiebt, wenn Subjekt und
Objekt durch das Handelnde und das Produkt der Handlung ersetzt werden.179 Die
intellektuelle Anschauung, die bei Nishida primär das Wunder der Einheit von Subjekt
und Objekt zu fassen imstande ist, hat Fichte als das Absolute bestimmt.180 Wie Fichte
in der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre von 1797 sagt, ist es die „Form der
177
Die Interpretation des Paralogismus-Kapitels war Naoki Sakai zufolge wesentlich für die
Konzeptuierung des Selbstbewusstseins und des Nichts-Begriffs bei Watsuji und sogar bei Nishida:
„Following Kant´s paralogisms of pure reason, Watsuji demonstrates the fundamental mistake involved
in the application of categories to the „vehicle of those categories“ […] Therefore, the transcendental “I”
or transcendental personality must be mu or nothingness insofar as it is sought for as an object (taishô to
shite wa mu) .“ Sakai räumt im demselben Zug das Vorurteil aus dem Weg, dass der für die japanische
Philosophie so zentrale Nichts-Begriff nicht aus einem – wie von den auch japanischen Rezipienten stets
behauptet – “orientalisch-religiösen” Verständnis stammt, sondern aus der Lektüre Kants durch Watsuji:
„It is worth noting that mu or nothingness, which would repeatedly be appealed to in the wartime and
postwar culturalist discourse as if, from the outset, it had been the mystical concept issued from some
profound Oriental religious consciousness, was first given as a philosophical term in the reading of Kant.”
Sakai (1997), S. 82 In der Fußnote führt Sakai aus: “In fact, Watsuji simply borrowed this use of mu from
Nishida Kitarô. But Nishida too formulated this term in his reading of Kant […] Watsuji`s anthropology
could never dislogde itself from the ontology of subjectivity or what Nishida called ronri-teki shugoshugi
(logical subjectivism).” Was Sakai hier nicht sagt, ist, dass der Nichts-Begriff erst mit der Prädikatenlogik
des Ortes, um 1926, bei Nishida auftaucht – seine Kant-Kritik aber um einiges älter ist, nämlich bereits in
Anschauung und Reflexion im Selbstbewusstsein 1917 einsetzt. Leider gibt Sakai auch keine Belege für
die These an, dass Nishida den Nichts-Begriff durch seine Kant-Lektüre und -Kritik gewinnt – er sagt nur,
dass er im Kontext von Nishidas Kritik an Husserls Phänomenologie auftaucht. Darüberhinaus war es
Nishida selbst, der den Begriff des Nichts als „orientalisch/östlich“ eine dem westlichen, auf das
„Sein“ begründeten Philosophie entgegenhält (siehe NKZ VI, S. 427 ff.). Nakais These verliert dadurch
an Überzeugungskraft.
178
In “Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie 1794“ begründet
Fichte seinen absoluten Anfang mit Ich aus der Logik, genauer mit dem Satz der Identität: „Nemlich der
Satz: A=A gilt ursprünglich nur vom Ich; er ist von dem Satz der Wissenschaftslehre: Ich bin Ich,
abgezogen; aller Gehalt also, worauf er anwendbar sein soll, muss im Ich liegen, und unter ihm enthalten
sein […] Ist ferner das Ich gesetzt, weil es gesetzt ist, so ist alles, was im Ich gesetzt ist, gesetzt, weil es
gesetzt ist; und wenn nur etwas im Ich Gesetztes ist, so ist es gesetzt, wenn es gesetzt ist […]“ Fichte
(1845), S. 69-70. Fichte begründet hier weniger den Anfang mit Ich als den Satz der Identität überhaupt:
tautologisch – weshalb die Begründung kritischer Ranküne gegenüber anfällig wurde. Henrichs FichteExegese sieht freilich die zwei Glieder in Fichtes Satz der Identität als verschiedene Bestimmungen
desselben Aspekts, wobei das Identitätsurteil Fichtes ausdrücklich nicht als Reflexionsurteil verstanden
werden darf: „Während aber die Relata der Reflexion ihrem Inhalt nach gleichwertige sind, gilt im Falle
des ‚Setzens’ das Gegenteil.“ Henrich (1966), S. 200. Doch die Schwierigkeit besteht in der Abgrenzung
des Identitätsurteils von der Reflexionsbestimmung „Identität“. Man muss kein Hegelianer sein, um das
Problem zu sehen, und Henrich sieht es auch. Mehr dazu in Kapitel II 1.2.
179
Pippin (1989), S. 49: “[…] Fichte is still wedded to the bipolarity of the reflective model. Even though
that relation is now one of activity and result, rather than of subject and object, there is still such a relation.
Fichte tried to deny this result by claiming that the I does not exist prior to or as a result of this positing,
that it just is such self-positing, but he gave us no clear way of how that could be described.”
180
Pörtner weist in einer Anmerkung auf W. Menninghaus hin, der das Fichtesche Absolute in Abhebung
zur herkömmlichen Reflexion als Reflexion sui generis verstanden wissen will. W. Menninghaus,
Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter
Selbstreflexion. Suhrkamp Frankfurt a.M. (1987), S. 87. Damit wäre jedoch dem Problem, das Ich nichtreflexiv zu denken, nicht abgeholfen.
47
Ichheit“ als eines in sich zurückgehenden Handelns, das sich freilich in dieser
Anschauung „auch selbst zum Gehalte desselben wird.“181 Damit wird das Problem des
Zirkels nur auf einer anderen Ebene wiederholt.182
Hegel hat eine andere Nuance in seiner Fichtekritik betont, die aber in den
Zusammenhang einer Diskussion des Reflexionsbegriffs gehört: das Fichtesche Ich
müsse (solle!) zwar rein und unmittelbar (vergleiche die Nishidasche Reine Erfahrung!)
sein, um absoluter Anfang zu sein, da es aber „zugleich ein Konkretes [sei], oder Ich ist
vielmehr das Konkreteste […]“ erfordere die reine Setzung „die Absonderung dieses
Konkreten […] allein dies reine Ich ist nun nicht ein unmittelbares, noch das bekannte,
das gewöhnliche Ich unseres Bewußtseins.“183 Weil die Bewegung zum unmittelbaren
Ich in der Tat keine unmittelbare Bewegung mehr ist,
geht gerade der Vorteil verloren, der aus diesem Anfange der Philosophie entspringen soll, dass
er nämlich etwas schlechthin Bekanntes sei, was jeder unmittelbar in sich finde […] jenes reine
Ich ist vielmehr in seiner abstrakten Wesenheit etwas dem gewöhnlichen Bewußtsein
Unbekanntes, etwas, das es darin nicht vorfindet.184
Hegel will sagen, dass jeder scheinbar vorausssetzungslose Anfang in der Philosophie
voller Voraussetzungen ist. Hier interessiert der Aspekt des infiniten Regresses, der in
Nishidas Setzung der Reinen Erfahrung auftritt und eben kein wahres Unendliches
181
Fichte (1984), S. 102.
Siehe auch die Bemerkung von Georg Lukács, der in Fichtes selbstsetzender Tathandlung „die
Unlösbarkeit der Fragestellung der klassischen deutschen Philosophie“ überhaupt erblickt: „Es gilt also
das Subjekt der ‚Tathandlung’ aufzuzeigen und von der Identität mit seinem Objekt ausgehend alle
zweiheitlichen Subjekt-Objekt-Formen als von ihr abgeleitet, als ihr Produkt zu begreifen [...] In dem
Augenblick nämlich, wo die Frage nach dem konkreten Wesen dieses identischen Subjekt-Objekts
auftaucht, ist das Denken vor folgenden Dilemma gestellt: einerseits ist nur in dem Akt des ethischen
Handelns , in der Beziehung des ethisch handelnden (individuellen) Subjekts zu sich selbst diese Struktur
des Bewußtseins, diese ihre Beziehung zu ihrem Gegenstand real und konkret auffindbar, andererseits ist
für das ethische Bewußtsein des handelnden Individuums die unüberbrückbare Zweiheit der
selbsterzeugten, aber rein nach innen gewendeten Form (der ethischen Maxime bei Kant) und der
verstandes- und sinnesfremden Wirklichkeit, der Gegebenheit, der Empirie in noch schrofferer Weise
vorhanden als für das kontemplative Subjekt der Erkenntnis.“ Lukács (1968), S. 302.
183
WL I, S.76. Allerdings bezieht sich Hegel hier lediglich auf die erste Fassung der Wissenschaftslehre
aus dem Jahr 1794. Fichte selbst scheint Henrich zufolge in den spätereren Fassungen - spätestens in der
Fassung von 1801, in der das Ich als „Tätigkeit, der ein Auge eingesetzt ist“ verstanden wird – diesen
unmittelbar-selbstevidenten Zugang zum Ich relativiert zu haben. Diese letzte Fassung sei voller, auch
Fichte bewußter Voraussetzungen. Vgl. Henrich (1966), S. 206 ff. Doch erst der ganz späte Fichte habe
um 1812 diese Tatsache des Ich in einigen Sonetten – also nicht als Teil seines philosophischen Systems
– vollends reflektiert: „Denn das Nächste, wir selbst, das Ich-Wissen, ist das Dunkelste für unsere
diskursive Erkenntnis. Fichte hat diese Erfahrung seines Lebens in einem kleinen Manuskript
niedergelegt. Dies Manuskript ist eine Folge von drei Sonetten […] Sie kommen einer philosophischen
Biographie im Zeichen der Wissenschaftslehre gleich […]“ Das zweite Sonett lautet folgendermaßen:
182
Dies ist`s. Seit in Urania’s Aug’, die tiefe
Sich selber klare, blaue, stille, reine
Lichtflamm’, ich selber still hineingesehen;
Seitdem ruht dieses Aug’ mir in der Tiefe
Und ist in meinem Seyn, – das ewig Eine
Lebt mir im Leben, sieht in meinem Sehen.
Zur Interpretation des Sonetts verweise ich auf Henrich (1966), S. 217. Hier muß aber eine Grenze der
philosophisch-systematischen Anwendung dieser Selbsterkenntnis-Thematik Fichtes gesehen werden. Sie
gehört nicht mehr in den thematischen Zusammenhang der Wissenschaftslehre.
184
WL I, S. 76.
48
darstellt. Zwar erwähnt Nishida selbst den fundamentalen Unterschied, wenn er in
seiner „Antwort auf die Kritik von Dr. Takahashi (Satomi) an meiner Schrift ‚Zen no
kenkyû’“185 behauptet, dass „das wahre Unendliche (shin no mugen 真の無限) nicht
wie bei Hegel das Endlose (d. i. O.)“ sei, sondern „das Unendliche (d. i. O.) sein muss,
vom Charakter her wie im Denken von Dedekind und anderen das System im Inneren
des Selbst (jibun no naka ni 自分の中に) das Selbst abbildet – in diesem Sinne ist im
direktesten Akt des Selbstbewusstseins die Struktur der Unendlichkeit zu finden.“186
Nishida scheint hier das Problem des infiniten Regresses, das Hegel in der
Unendlichkeitsdialektik entwickelt, zu entgehen.187
Das Unendliche ist deshalb so wichtig bei Hegel, weil es „als eine neue Definition des
Absoluten angesehen werden“188 könne. Die Endlichkeits-Unendlichkeitsdialektik, wie
sie zentral in der Daseinslogik betrachtet wird und auf die hier im einzelnen einzugehen
nicht der Ort ist, ist paradigmatisch für die Dialektik überhaupt, die die Begriffe, wie sie
an sich sind, was sie von sich her bedeuten, betrachtet – und das nicht losgelöst vom
jemandem, der denkt, und sei es auch Gott. Das ist ein deutlicher Vorteil gegenüber
allen Setzungsproblemen der Selbstbewusstseins, weil hier ohne jeglichen Spagat
zwischen vermittelter Unmittelbarkeit und unmittelbarer Vermittlung, allein der
Entschluß zu denken am Anfang steht: nirgendwo wird eine voraussetzungslose,
„unvoreingenommene“, reine Entität postuliert, durch deren Vollzug erst die
Möglichkeit des Denkens gegeben wäre.
Auf der Ebene von ZnK spielt die Philosophie der Frühromantik in der Tat eine
wichtige Rolle. 189 Nishida wollte dem intuitiven Empfinden, der ursprünglichen
Intuition, wie man von Novalis oder explizit von Fichte kennt, aber auch Schlegels
Gemüt-Begriff, eine, um zwei Lieblingsausdrücke Nishidas zu verwenden, „tiefere und
größere“ (fukaku dai de aru 深く大である) philosophische Ausdruckskraft verleihen.
Bei diesem wie auch bei Nishidas Schaffen bis zuletzt sollte aber die „Einheitskraft der
Realität“ die allem übergeordnete Rolle spielen:
Nicht nur die jeweilige Individualität der verschiedenen Wissen gilt es zu entfalten, sondern es
muss etwas Vereinigendes geben. Der heutige Zeitgeist verlangt ebenfalls nach Fichte,
Schleiermacher und Novalis. Wann entdeckt die heutige Philosophie die „blaue
Blume“ Novalis`?190
185
Takahashi (Satomi) bungaku shi no seccho ’Zen no kenkyû’ ni tai suru hihyô ni kotau, 高橋里美 文学
士の拙著『善の研究』に対する批評に答う. NKZ I (1966), S. 299-316.
186
NKZ I, S. 245.
187
Heisig schließt aus den Werken dieses frühen Stadiums bei Nishida, dass dieser Hegel „not so well at
the time“ kannte. Heisig (2001), S. 47.
188
WL I , S. 149.
189
Später sollte Goethe, den Nishida in ZnK bereits erwähnt, wichtiger werden. 1931 schreibt Nishida
den Text „Der Hintergrund Goethes“ (Gete no haikei ゲーテの背景), von Schinzinger unter dem Titel
„Der metaphysische Hintergrund Goethes“ ins Deutsche übertragen. Hier bevorzugt Nishida Goethe
gegenüber Novalis. Dieser Essay ist auch repräsentativ für Nishidas Wende zum Geschichtlichen. Siehe
Nishida, Die intelligible Welt. Drei philosophische Abhandlungen (1943).
190
NKZ I (1966), S. 368, in „Die Philosophie der Gegenwart“ (Gendai no tetsugaku 現代の哲学) (1916).
Kobayashi stellt Nishidas Interesse an den Dichtern der Frühromantik und auch an Goethe in
Zusammenhang mit seiner frühen Philosophie, was einiges an Unklarheiten beseitigt und vor allem
Nishidas philosophische Motivation offenlegt. Siehe Kobayashi (2002), S. 50 ff.
49
Insofern die Intuition bzw. die intellektuelle Anschauung bei den Dichtern und
Philosophen der Frühromantik eine wichtige Rolle spielt, nimmt auch Nishida diesen
Begriff als fundamentalen in seine Philosophie der Reinen Erfahrung mit auf.
2.
Die Auslöschung aller „subjektiven Fiktionen“
Auch eine begriffsanalytische Untersuchung, wie sie diese Arbeit darstellt, muss die
Frage nach der realen pragmatischen Dimension von Theoremen stellen. Wie bei
Nishida gezeigt werden konnte, ist die Annahme einer Realität, in der Subjekt und
Objekt „noch nicht getrennt“ und „schon immer vereint“ sind, logisch und
erkenntnistheoretisch nicht haltbar. Die logische Kritik aus der Hegelschen Perspektive
dürfte zudem gezeigt haben, dass die Thematisierung von „Ungeschiedenheit“ oder
„Ungetrenntheit“ – die Identität – von Subjekt und Objekt als Reine Erfahrung eine
Reflexionsbestimmung geltend macht, durch die Nishidas Reine Erfahrung ja gerade
„zerstört“ werde. Die Paradoxalität der von Nishida behaupteten Prämissen und des
Selbstvollzugs der Reinen Erfahrung ist unübersehbar: die Voraussetzungen seines
Systems – strenge Einheit, Selbstbezug, ein Zustand des Nicht-Denkens,
„Unendlichkeit“ – kann das System selbst nicht erfüllen, da jede prädikative Aussage
über dasselbe den ‚harmonischen’ Zustand, wie Nishida ihn versteht, verunmöglichen
würde.
Schlicht, das Subjekt lässt sich nicht wegdenken. Allerdings ist die ungelöste Frage nach
der (Selbst-)konstituierung des „Ich denke, das alle meine Vorstellungen muss begleiten
können“ bei Nishida nicht die einzige. Es wäre nach dem pragmatischen Grund für die
Anstrengung zu fragen, das cartesianische und das kantische Subjekt überwinden zu
wollen. Zumindest auf der Ebene von ZnK muss dieser in einem Nishida zufolge
rechten Gottesverständnis gesehen werden. Nishidas naive Vorstellung lautet: Wer an
die Illusion eines Subjekt-Objekt-Dualismus glaube, sei auch der Eingang in das Reich
Gottes verwehrt. Das Subjekt sei bloß eine Fiktion, die das Selbst an der Erfüllung
seines wahren Bedrürfnisses, nämlich des religiösen, hindere. Selbst (jiko 自己) und
Subjekt (shukan 主観) werden hier stark kontrastiert.
Das wahre Selbst tritt erst dann vor Augen und seine wahren Bedürfnisse können erst dann
erfüllt werden, wenn alle subjektiven Fiktionen ausgelöscht wurden und das Selbst und die
Dinge zu einem geworden sind.191
Das Selbst steht in Nishidas Denkweg terminologisch von nun an für das „gereinigte“,
von seinen differenzierenden und reflektierenden Funktionen „befreite“ Subjekt. In
seinen auf ZnK folgenden Werken nennt Nishida es das Selbstbewusstsein, das Jikaku.
Der Zustand des Sich-den-Dingen-Überlassens ist das Desiderat einer
Identitätsphilosophie, die jede Möglichkeit der analytischen Selbstüberprüfung ante
factum in Abrede stellt. Dieser Zustand drückt sich auch in Nishidas positiver
Bewertung des Willens und der intellektuellen Anschauung aus, die im folgenden als
Ausprägung des Systems diskutiert werden. Anschließend soll der Kulminationspunkt
des Systems in Nishidas Ideen zur Religion, prästablilierten Harmonie und zum
191
ZnK, S. 174.
50
Gottesbegriff dargelegt und als Nishidasches Ressentiment gegen das denkende Subjekt
identifiziert werden.
Oben wurde bereits gezeigt, dass ein Plausibilitätsproblem der Theorie der Reinen
Erfahrung auch in der Konflation von psychologischen und ontologisch-logischen bzw.
erkenntnistheoretischen Motiven besteht. Die Überdehnung von psychologischen
Motiven in ein formal eindeutig auf Realität und Seinsstrukturen bezogenes, also
ontologisch verstandenes, Erkenntnissystem dürfte an sich bereits die
Überzeugungskraft der Reinen Erfahrung mindern. Nishidas Übertragung des Systems
auf eine Art „Philosophie religiöser Empfindung“ geht in punkto Konflationierung noch
einen Schritt weiter und dürfte zeigen, dass die Reine Erfahrung als philosophisches
System der Erkenntnis von Realitätsstrukturen kaum aufrechtzuerhalten ist.
2.1.
Die Ausprägung des Systems der Reinen Erfahrung
Nishida macht in ZnK keinen signifikanten Unterschied zwischen Realität und
Realitäten. Im Abschnitt „Die wahre Realität besitzt immer dieselbe Form“ in Teil 2,
„Die Realität“, nimmt Nishida sich die Klärung der „Form und Struktur dieser einzigen
Realität“ (kono yuitsu jitsuzai no seiritsu suru keishiki 此の唯一実在の成立する形式)
vor, um wenige Sätze später zu folgern: „Wahre Realitäten sind alle nach demselben
Schema strukturiert (mina dôitsu no keishiki ni yotte seiritsu suru no dearu 皆同一の形
式に由って成立するのである).“192 Es bleibt weiter unklar, warum Nishida neben der
einzigen Realität, der Reinen Erfahrung, noch weitere annehmen sollte.
Wahrscheinlicher ist, dass die eine Realität als übergeordnete Struktur fungiert, unter
die sich ihre Ausprägungen - einzelne, konkrete, aber unvollkommene Realitäten –
subsumieren lassen:
Zunächst erscheint das Ganze implizit, dann differenziert und entwickelt sich sein Inhalt bis zu
dem ultimativen Punkt, an dem das Ganze der Realität verwirklicht und vollendet ist. Mit einem
Wort gesagt, ein Etwas entwickelt sich in sich selbst bis zur Vollendung.193
Die Entwicklung der Realität kenne weder Außen(-welt) noch Innen(-welt), sei
strukturell weder vor- noch nachzeitig, setze weder Objekt noch Subjekt. Trotzdem
werde aus ihr alles, was „da“ ist, generiert. Die Realität bringt Nishida zufolge als
„latente Triebkraft“ die Welt der Bewusstseinsphänomene hervor oder ist vielmehr
selbst ein Bewusstseinsphänomen, die als solche in einem gewaltigen Akt der
Selbstprädikation sich selbst schafft. Die Realität der Reinen Erfahrung ist monistisch
und so im ausgezeichneten Sinne deterministisch.
Pörtner sieht hier eine weitere hermetische Entität am Werk, das „wahre Selbst“: das
„latente, absolut-ursprüngliche, jeder Erscheinung vorausliegende und sie dennoch
atemporal und akausal in sich einschließende Proto-Subjekt“194. Das wahre Selbst ist
jedoch nur ein weiterer Name für die Reine Erfahrung. Dem Begriffsreigen der
192
ZnK, S. 88. Es stimmt zwar, dass es im Japanischen keine Unterscheidung zwischen substantivischen
Plural und Singular gibt, aber am Satz läßt sich meist erkennen, welcher Numerus gemeint ist. Nishida
verwendet den Ausdruck „alles, alle diese“ (mina 皆) in Bezug auf die „wahre(n) Realitäte(n)“ –
(shinjitsuzai 真実在).
193
ZnK, S. 88.
194
Pörtner (1990), S. 228.
51
Synonyme Reine Erfahrung – (wahre) Realität – Bewusstsein schließt sich entspechend
noch das wahre Selbst an. In weiteren Textabschnitten werden die „Persönlichkeit“, das
„Gute“ und schließlich „Gott“ folgen. Die ihnen gemeinsamen Merkmale sind auch hier
Einheit und Unendlichkeit:
Wie ich schon gesagt habe, ist das, was wir, wenn wir uns nach innen wenden, irgendwie als
eine Art Selbst empfinden, nicht das wahre Selbst. Diese Art selbst ist zu keiner Tätigkeit
imstande. Nur wenn die Einheit der Realität im Innern wirkt, beherrschen wir die Realität wie
ein Ideal unseres Selbst, ist das Selbst in freier Tätigkeit. Da darüber hinaus die
Einheitsfunktion der Realität unendlich ist, empfinden wir unser Selbst als unendlich – als
umfasse es das Universum.195
Überraschend ist es daher, wenn Nishida von der Natur sagt, auch sie besitze „eine Art
Selbst“196. Dieses drücke sich darin aus, dass alle Naturphänomene – die nach Nishida
Bewusstseinsphänomene sein müssen – ihre Funktion im System und ihre Beziehung
zum Ganzen haben. Die zweckmäßig eingerichtete Natur diene der Entfaltung der
Einheit, jedes Tier, jede Pflanze, sogar unbelebte Kristalle haben Nishida gemäß darin
den ihnen zugewiesenen Platz, folgen der ihnen zugewiesenen Bestimmung und gehen
darin zugrunde, um noch größere Einheiten entstehen zu lassen. Die Harmonie ist
prästabiliert. Der menschliche Geist erhält in der stufenweisen Entwicklung dabei eine
besondere Rolle: „Beginnend mit den Kristallen der anorganischen Substanzen bis zu
den Organismen der Pflanzen und Tiere tritt das Selbst bzw. die Einheitsfunktion der
Natur immer deutlicher hervor (das wahre Selbst wird erst im Geist sichtbar.)“197 Es
drängt sich hier wie an anderen Stellen die Überlegung auf, dass Nishida von Hegels
Einteilung des Systems in Logik, Naturphilosophie und Philosophie der Geistes
profitiert haben könnte. Dass Nishida versäumt hat, ZnK ein logisches System
zugrundezulegen – er wird seiner Philosophie erst 16 Jahre später mit seiner Ortlogik
ein solches zugrundezulegen versuchen –, macht sich jedoch als systematisches Manko
bemerkbar.
Für Nishida gibt es trotz aller prinzipiellen Gemeinsamkeiten wesentliche Unterschiede
zwischen der Natur als Bewusstseinsphänomen und den psychischen Funktionen als
Bewusstseinsphänomen. In einem Angriff gegen die Naturwissenschaften, die Nishida
demselben philosophischen Ort wie dem Materialismus zuordnet198, behauptet er, dass
die Natur „kein Selbst“ und nur einen „zufälligen Zusammenhang in der Zeit und im
Raum“ habe.199 Ganz anders die geistigen Phänomene. Unter diesen haben der Wille
und die intellektuelle Anschauung eine hervorragende Bedeutung. Beide sollen in der
Folge näher erläutert werden.
195
ZnK, S. 115-116.
ZnK, S. 108.
197
ZnK, S. 108.
198
Nishidas Abwehrhaltung gegen den Materialismus ist auf einen primitiven Materialismusbegriff
gegründet und nicht anti-marxistisch: Nishida hatte Marx zur Zeit von ZnK noch nicht gelesen. Später,
wenn er zugeben wird, „wegen Marx“ nur schlecht schlafen zu können (seine Schüler Tosaka Jun und
Miki Kiyoshi werden Nishida nahelegen, Marx zu lesen und mit ihnen darüber zu diskutieren), behält er
trotz allem die Idee von Materialismus als einer „nur das Materielle anerkennenden“ Ideologie – und zwar
explizit, mit einer Leugnung jeder phänomenalen, geistigen, psychologischen Realität einhergehend – bei,
was zeigt, dass er die Idee des zumindest historisch-dialektischen Materialismus nicht verstanden hat.
Darauf werde ich explizit in Kapitel II und III zurückkommen.
199
ZnK, S. 106.
196
52
2.1.1. Der Wille
Nishida hat Schopenhauer gelesen und in ZnK ausdrücklich erwähnt. Mit einigem
Grund lässt sich annehmen, dass die ursprüngliche Idee, den später so wichtigen Begriff
des Willens (ishi 意志) in ZnK aufzunehmen, durch die Lektüre Schopenhauers
angeregt wurde.200 Somit ist der Wille, wie James` Begriff der Reinen Erfahrung oder
Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung und der „Tathandlung“ ein weiterer, von
„westlichen“ Philosophen entliehener Begriff in der Terminologie Nishidas. Der Wille
wird noch weit über Nishidas Logik des Ortes, bis in Nishidas Spätphilosophie hinein,
eine wichtige Rolle spielen.
Pörtner bezeichnet den Willen im Kontext von ZnK als partielle Realisierung der
Reinen Erfahrung, die wiederum in das gegenwärige Bewusstsein, die die präsentative
Seite der Reinen Erfahrung ausmache, eingebettet ist. Den Status der partiellen
Realisierung oder Ausprägung der Reinen Erfahrung in ihre konkrete Form haben neben
dem Willen als „das konkrete Begehren“ noch die sinnliche und intellektuelle
Wahrnehmung (kankaku 感覚, chikaku 知覚), das Gefühl (kanjô 感情), das Gedächtnis
(ki’oku 記憶), das abstrakte Denken und der von James so genannte „fringe of
consciousness“. 201 Es bleibt allerdings im Dunkeln, wie diese Begriffsreihe
zustandekommt – bei Nishida jedenfalls lässt sich die Deduktion dieser Begriffe nicht
ausmachen. Nicht zuletzt, weil dem Willen und der intellektuellen Anschauung ein
eigener Abschnitt im Aufbau des Werkes zugeordnet wird, auch in der Sache kann der
Jamessche „Fringe of consciousness“ der Relevanz des Willens nicht das Wasser
reichen.
Der Wille ist nichts weniger als die „Einheit von Subjekt und Objekt“202, und zwar unter
dem Aspekt der Zeit. So wie die Ganzheit als Reine Erfahrung aktuell bleibt – selbst
wenn wir uns eines vorhergehenden Bewusstseinszustands erinnern oder einen
zukünftigen Zustand antizipieren – so liegt das Wesen des Willens „in der ganz
gegenwärtigen Aktivität“203. Der Wille ist so fundamental für jede Erkenntnis (die in
der Einheit begründet sein muss), dass Nishida von ihm sogar als „immanente
Apperzeptionsfunktion des Bewußtseins“204 spricht. Schopenhauers Einfluss macht sich
bemerkbar, wenn Nishida das Bewusstsein als „durch und durch triebhaft“205 bezeichnet
und davon ausgeht, dass „der Wille das Grundschema des Bewußtseins ist“206, weshalb
das „Schema der Bewußtseinsentwicklung mit dem der Willensentwicklung“ 207
identisch sei. Was ist nun der Wille? Innerhalb der Reinen Erfahrung ist er realer Grund
und Antrieb ihres Seins: die Motivation der Reinen Erfahrung, sich als solche
bemerkbar zu machen. Der Wille ist Nishida zufolge Trieb, Bewusstsein, die Reine
Erfahrung in concreto. An ihm könne jeder an sich selbst sehen, wie die Reine
Erfahrung wirke: als Verschmelzung des Objekts (des Gewollten) mit dem Subjekt
200
Gleich zu Anfang heißt es: „Außerhalb der Einheitsfunktion gibt es kein gesondertes
Willensphänomen. Der Wille ist der Höhepunkt, die Vollendung dieser Einheitsfunktion. […] Daher ist
der Wille auch immer gegenwärtig (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung (1819), §
54).“ ZnK, S. 36. Auch Kobayashi läßt keine Zweifel darüber, dass Nishida den Begriff des Willens von
Schopenhauer übernommen habe. Kobayashi (2002), S. 38, Fußnote.
201
Pörtner (1990), S. 226-227.
202
ZnK, S. 36.
203
Ebd.
204
Ebd.
205
ZnK, S. 35.
206
Ebd.
207
Ebd.
53
(dem Wollenden) ist der Wille ihre Einheit. In einer Diskussion des Vergleichs von
Willen und Wissen ist daher für Nishida der Unterschied darin zu sehen, dass „wir im
Wissen das Subjekt dem Objekt folgen lassen und im Willen das Objekt dem
Subjekt.“208 Aber wie alle Phänomene der Reinen Erfahrung sind Wille und Wissen
nicht unterschieden. Nishida scheint dennoch so etwas wie eine stufenhafte
Entwicklung anzunehmen, in der das Wissen dem Willen, der mit der Handlung
zusammenfällt, vorausgeht, mit anderen Worten: in der „äußeren Welt“ überwinde die
Realisierung des Willens den Gegensatz von Subjekt und Objekt.209 Der Wille entstehe
nach Nishida z.B., wenn wir ein vor uns liegendes Objekt – einen Bleistift –
wahrnehmen. Das Wissen um seinen Zweck – die Schreibtätigkeit – läutert eine weitere
Stufe ein: es wird ein „Bedürfniszustand“ geweckt und auch erreicht: „Das assoziierte
Bewußtsein [der mit seinem vorhergehenden Bewusstseinszustand verbundene
Bewusstseinszustand, EL] gewinnt dabei eine immer selbständigere Realität und wird
so zum Willen. Und gleichzeitig behauptet man, davon auch wirklich zu wissen.“210
Doch für Nishida scheint es wiederum zwei verschiedene Ausprägungen des Willens,
oder zwei doch recht unterschiedliche Begriffe zu geben. Zum einen ist da der triebhafte,
„blinde“ Wille Schopenhauers, dem alles Denken und Wissen untergeordnet sind, der
Wille als realer Ausdruck der Reinen Erfahrung, in dem per definitionem Subjekt und
Objekt als „augenblicklichste Tatsache“ verschmolzen sind. Daher könne man auch
nicht von einem „freien Willen“ sprechen:
Für den wählenden Willen hingegen bedeutet das, dass er vom triebhaften Willen beherrscht
und vielleicht unterdrückt wird. Aber der vor eine Wahl gestellte Wille hat bereits seine Freiheit
verloren, nur durch Übung kann er erneut spontan werden.211
Zum anderen jedoch spricht Nishida im Kapitel über „Das Gute“, in dem er das gute
Verhalten und ethische Lehren thematisiert, vom Willen, wie er als
Bewusstseinsphänomen gutes Verhalten ermöglicht. Dabei geht er von den
psychologischen Schulen seiner Zeit, weniger vom ontologisierenden Voluntarismus
Schopenhauers aus, und zeigt, wie der Wille eine Handlung konstituiert und durch ihn
Entscheidungen zustandekommen. Kurz: der Wille wird hier als Maß einer
psychologistischen Handlungstheorie zugrundegelegt, in der sehr wohl die Freiheit des
Willens gegeben sei. Im Abschnitt „Die Freiheit des Willens“ heißt es:
Freiheit bedeutet zweierlei. Zum einen, keine Ursache zu haben, zufällig zu sein. Zum andern,
ohne äußerem Zwang ausgesetzt zu sein, aus sich selbst zu wirken. Letzteres bedeutet
notwendige Freiheit; Willensfreiheit ist Freiheit in diesem Sinne.212
Nun mag man zugeben, dass für Nishida eine der Naturkausalität entgegengesetzte
Freiheit ohnehin obsolet ist: denn wenn selbst die Naturkausalität nicht objektiv existiert,
sondern nur als Produkt der Einheitsfunktion des Bewusstseins, dann kann der Wille –
selbst Bewusstseinsphänomen – von dieser auch nicht determiniert sein. Es scheint
vielmehr umgekehrt – wenn der Wille, wie Nishida am Anfang konstatiert, das
208
ZnK, S. 54.
Ein weiteres Beispiel für die paradoxale Temporalität: der Wille „überwinde“ den Gegensatz von
Subjekt und Objekt, ein Gegensatz, der schon immer überwunden ist.
210
ZnK, S. 61.
211
ZnK, S. 35-36. Man fragt sich, wie eine durch „Übung“ erreichte Spontaneität aussieht!
212
ZnK, S. 136.
209
54
„Grundschema des Bewußtseins“ ist, dann scheint dieser die Natur zu bestimmen. Da er
aber zwei unterschiedliche Begriffe von Willen geltend macht, einmal den
voluntaristisch-ontologischen, und einmal einen ethischen, zielt Nishida hier nicht auf
dieses Argument. Da sowohl die Natur als auch Kausalität nur Bewusstseinsphänomene
sind, die nicht „objektiv“ existieren, meint Nishida, die Falle des Determinismus
überwunden zu haben. Doch obgleich dieser Schluss naheliegt, will Nishida die
Willensfreiheit durch seinen „ethischen“ Begriff des Willens beweisen. Jedem
menschlichen Handeln liege Wissen oder Bewusst-Sein (ishiki suru to iu koto 意識する
ということ) zugrunde, das die unendlichen Möglichkeiten des Handelns in sich
schließe, also ein Bewusstsein, das prinzipiell das Nicht-Handeln ermögliche: „Unser
Bewußtsein davon etwa, dass wir etwas in die Hand nehmen, bedeutet, dass wir die
Möglichkeit einschließen, es nicht in die Hand zu nehmen.“ 213 Das Problem der
Vermischung mehrerer Begriffsebenen tritt als ein zweifaches hervor: Zum einen wird
ein zweifacher Willensbegriff eingeführt, deren Zusammenhang Nishida an keiner
Stelle thematisiert. Zum anderen wird das Phänomen der Naturkausalität psychologisch
„wegerklärt“ – schließlich fundiere der Wille erst die Einheit der Realität bzw. folge
„der Natur seines Selbst“214, weshalb der Wille schon immer frei und unabhängig von
Naturgesetzen sei. Auch dieser Zusammenhang – das Problem der Willensfreiheit –
bleibt letztlich unthematisiert.
Mehr als das: in seiner Explikation des „Guten“, die Nishida als seine Handlungstheorie
vorstellt, läßt sich die „Beschaffenheit des Guten nur aus dem Wesen des Willens selbst
erklären […]“215 Der Grund dafür liege darin, dass die Aktivität des Willens ihr Ziel
nicht in einem anderen, sondern in sich selbst habe. Fast scheint hier der
Schopenhauersche Willensbegriff wieder eingeführt zu werden, denn dem Willen wird
hier eine solche Würde zugesprochen, wie man sie nur vom Vernunftbegriff der
Deutschen Idealisten kennt, gegen den und gegen die nicht nur Schopenhauer sich
gewendet hat. Nishida sieht Bedürfnis und Vernunft eo ipso nicht als zwei einander
entgegengesetzte Prinzipien. „Ihre Differenz“, lässt Nishida verlauten, „besteht lediglich
in ihrer unterschiedlichen Größe und Tiefe.“ 216 Wenn die Vernunft nach größerer
Einheit strebe, in der jedes Selbst an seinem Platz ist, dann könne man das auch vom
„großen überindividuellen Willen“ sagen. Eine Form der Ausprägung der Reinen
Erfahrung, die das Individuum mit der großen Einheit der Vernunft verbinde, sei also
der Wille. Doch es gibt eine zweite fundamentale Erscheinung der Reinen Erfahrung,
die die mystische Verbindung von Selbst und Gott herstellt: die intellektuelle
Anschauung.
2.1.2. Die intellektuelle Anschauung
Die Würde des Willens wird von der der intellektuellen Anschauung (chiteki chokkan
知的直感), die Nishida auch einfach „Anschauung“/„Intuition“ (chokkan 直観),
„intellektuelle
Wahrnehmung“
(chikaku
知 覚 )
oder
„unmittelbare
Wahrnehmung“ (chokusetsu kankaku 直 接 感 覚 ) nennt, noch übertroffen. Die
213
ZnK, S. 138.
Der Wille bzw. das Bewußtsein ist bei Nishida „nicht deswegen frei, weil es die Naturgesetze bricht
und aus dem Zufall heraus wirkt, sondern es ist frei, weil es der Natur seines Selbst folgt.“ ZnK, S. 139.
215
ZnK, S. 163.
216
ZnK, S. 61.
214
55
ontologische Hierarchie, die sich in der unterschiedlichen „Größe und Tiefe“ der
Bewusstseinszustände der Reinen Erfahrung ausdrückt, hat ihre Spitze in der
intellektuellen Anschauung. Zwar macht es Nishidas Sprache dem Leser schwer: in
ZnK ist so oft von erhabenen Geisteszuständen und den „wahren Realitäten“ der Reinen
Erfahrung die Rede, dass der Leser die Übersicht zu verlieren droht – als befinde er sich
auf der Suche nach dem „Zuständigen“ in einem riesigen bürokratischen
Verwaltungsapparat und würde von einem Beamten zum nächsten verwiesen, die aber
wiederum untereinander die unverständlichsten Kodizes der Respektsbezeugung zu
Tage legen, dass man die Ränge rein an ihrem Verhalten zueinander nicht ablesen
kann.217
Was die intellektuelle Anschauung im System der Reinen Erfahrung angeht, kann
jedoch kein Zweifel bestehen. Die wahre intellektuelle Anschauung sei „die
Einheitsfunktion selbst, die in der Reinen Erfahrung wirkt, sie ist das SichBemächtigende des Lebens. Sie ist etwas wie die Konzeption bei technischen
Fähigkeiten, oder, in einem bedeutenden Bild gesagt, so etwas wie der Geist der
Kunst.“218 Sie sei nichts weniger als die Basis des Denkens und des Willens.219 Zwar
beteuert Nishida, dass sie bei ganz gewöhnlichen Menschen vorkomme und ein ganz
„alltägliches Phänomen“ sei, „wie es auch in unseren erprobten Tätigkeiten sichtbar
wird“220 und dass sie unser „natürlichster einheitlicher Bewußtseinszustand“ sei, denn
„die naiv-schlichten Anschauungen von Kindern sind alle von solcher Art.“221 Aber
letztlich liege die spezifische Qualität der intellektuellen Anschauung in ihrem idealen
Geist, weshalb Gelehrte, Künstler, Moralisten und religiöse Menschen in der Erfahrung
der intellektuellen Anschauung privilegiert, für sie letztlich in einem ausgezeichneten
Sinne empfänglich seien. Die Gedanken, Motive und Ideale dieser privilegierten
Personen gründeten zudem in „mystischer Anschauung“ – Intuition. Kobayashi hat dazu
das Nötige kommentiert:
Die Rede von der Intuition knüpft an die ‚verbreitete Ansicht’ bzw. an das ‚falsche Bewußtsein’
an, dass Künstler und Gläubige mit einem Mal Wahrheit und Wesen der Welt erfassen können.
Sowohl im Okzident als auch im Orient ist diese Ansicht tiefer verwurzelt als vermutet. Die
‚Intuitionalisten’ stützen sich weder auf Logik noch auf ein Wissen im gewöhnlichen Sinne, und
oft gehört es sogar zu ihrer entscheidenden Strategie, beides auszuklammern.222
Zu sprechen wäre hier vom Anti-Intellektualismus in Nishidas Philosophie, die in
weiten Strecken zumindest als Symptom ausgemacht werden kann, aber in der
Interpretation Nishidas von einigen Kommentatoren um einiges übertroffen wird.223
217
So sei die intellektuelle Anschauung der „Zustand der Einheit von Subjekt und Objekt“, ein Zustand,
den er bereits dem Willen zugeschrieben hat, darüberhinaus sei sie aber die „Verschmelzung von Wissen
und Wille“. ZnK, S. 66.
218
ZnK, S. 66.
219
ZnK, S. 68.
220
Ebd.
221
Ebd.
222
Kobayashi (2002), S. 60.
223
Anti-Intellektualismus von der Art, wie ihn Nishitani Keiji 西谷啓治 über ZnK formuliert: „In short,
all experience, including such simple things as seeing a flower, hearing the sound of a frog diving into
water, or eating a meal, consist in ‘knowing facts just as they are’. The original form of this experience
just as it is, in its pure and immediate form, leads directly to true knowing, true reality, true morality and
religion, and the like.” Nishitani (1991), S. 98. Hier treten stereotype Bilder aus der japanischen Kunst
(das Bild des ins Wasser springenden Frosches entstammt einem berühmten Haiku Bashôs) und eine
Geisteshaltung zutage, die sich als unreflektiv versteht. Obwohl Nishida selbst den Eindruck erweckt,
56
Das „Versagen der Sprache“, von dem auch Kobayashi spricht, wird von Nishida
allerdings kaum so wie in zen-buddhistischen Populärdiskursen224 behauptet.
Für den Augenblick ist festzuhalten: Hierarchien der verschiedenen Geisteszustände der
Reinen Erfahrung stellen deren Einheitsstruktur dar. Insofern steht die Intuition oder
Anschauung eines Künstlers an der Spitze der wahrnehmbaren Reinen Erfahrung.
Damit wäre ihr Charakter aber noch zu ungenau bestimmt. Pörtner sieht in der
intellektuellen Anschauung mehr als einen außergewöhnlichen Bewusstseinszustand,
der den Einzelnen mit dem Erfahren eines mystischen Religionserlebnisses verbindet.
Sie zeige das Erfassen des Ganzen an und trage die absolute Wahrheit als Potentialität
in sich. Sie sei das Ideal des Jikaku, das der Katalysatoren oder der
„Erfüllungsgehilfen“ der Moral und der Religion bedarf, um sich zu verwirklichen. Es
scheint aber vielmehr umgekehrt zu sein: „hervorragende Menschen“ seien daher im
Besitz der Fähigkeit zur intellektuellen Anschauung oder Intuition, weil sie ihnen den
direkten Weg zum religiösen Empfinden, zur Religion, ermögliche. Die intellektuelle
Anschauung ist somit die „Erfüllungsgehilfin“ der Religion. Daher hat die sie bei
Nishida im Gegensatz zu ihrem Begriff bei Fichte den Bereich der Selbstsetzung des
Bewusstseins längst verlassen – und dementsprechend ein Konglomerat von Problemen
zurückgelassen, die mit der Religion „auf einen Schlag“ gelöst werden sollen. Zwar gibt
es dem Anschein nach Parallelen zu Fichtes Bestimmung der intellektuellen
Anschauung, wenn dieser sagt, sie sei „das unmittelbare Bewusstseyn, dass ich handle,
und was ich handle; sie ist das, wodurch ich etwas weiss, weil ich es thue […] Jeder
muss es unmittelbar in sich selbst finden, oder er wird es nie kennen lernen.“225 Fichtes
intellektuelle Anschauung ist allerdings kein „isolirtes Factum seines [des Philosophen]
Bewusstseyns.“226 Fichte geht es um die Selbstsetzung des Ich, Nishida um dieses schon
nicht mehr. Pörtner stellt etwas ernüchtert fest: „Daher muß es unentschieden bleiben,
ob Nishida zur Zeit der Abfassung von Zen no kenkyû die epistemische Virulenz dieser
Problematik unterschätzt hat, ob sei ihm überhaupt in voller Schärfe bewußt war – oder
ob er sie durch seine Selbstabbildungstheorie des Bewußtseins für gelöst hielt.“227
Die Verbindung von intellektueller Anschauung und Religion könne Pörtner zufolge auf
einer logischen Ebene zugänglich gemacht werden, wenn man voraussetzt, dass die
intellektuelle Anschauung eine Allgemeinaussage repräsentiert, die sich „retrospektiv
als die Norm aller möglichen Reflexionsaussagen erweist.“228 Folglich müssen alle
Elemente unter ihr subsumiert werden können. Das erweist sich jedoch als unmöglich:
die intellektuelle Anschauung ist Nishida zufolge paradigmatisch für den Idealzustand
der Reinen Erfahrung und kann nicht selbst zu einem Element ihrer Menge werden. Sie
bleibt sich immer außen vor. Schon daher kann die Form des Subsumtionsurteils S ist P
nicht das Modell der Reinen Erfahrung sein, es kollabiert in sich als Identitätsmodell.
genau diesem Anti-Intellektualismus quasi eine intellektuelle Grundlage geben zu wollen, geht er doch
nie so weit wie Nishitani es nahelegt. Das Denken und die Vernunft haben einen höheren Stellenwert bei
Nishida als sie Nishitani ihm konzediert.
224
In erster Linie durch den Popularisierer des Zen in den USA und Europa, Suzuki Daisetsu 鈴木大拙
(1870-1966) (im übrigen ein lebenslanger Freund Nishidas) und sein hier wohl bekanntestes Werk Die
große Befreiung. Einführung in den Zen-Buddhismus. O.W. Barth, Frankfurt (1986). Das lebendige
Interesse des „Westens“ an „Einführungen“ in den Zen-Buddhismus dürfte sich auch am immensen
Erfolg von Byung-Chul Hans Philosophie des Zen-Buddhismus, Reclam, Reinbek bei Hamburg (2002)
zeigen. Hier ist nicht der Ort, dieser Symptomatik weiter auf den Grund zu gehen.
225
Fichte (1845), S. 463.
226
Ebd., S. 464.
227
Pörtner (1990), S. 233.
228
Ebd., S. 266.
57
Nicht wie bei Fichte setzt das Ich ein Nicht-Ich, sondern es setzt sich selbst als immer
größer werdende Einheit, die nicht die minimalste Spur eines „Anderen“, Diversen,
zuläßt. Zudem wäre es zweifelhaft, bei Nishida von einem „Ich“ zu sprechen. In der
Sphäre der Religion, in der die „Verschmelzung von Gott und Mensch“ vollbracht ist,
kann und darf es kein Ich geben. Wie stark intellektuelle Anschauung für Nishida mit
dem Gotteserlebnis zusammenhängt, soll folgender Absatz verdeutlichen:
Wahre religiöse Erleuchtung ist weder ein auf dem Denken gründendes abstraktes Bewußtsein
noch ein blindes Gefühl; sie ist das Selbsterfassen der tiefen Einheit, die dem Wissen und dem
Willen zugrundeliegt. Aber das meint eben eine Art intellektueller Anschauung. Ein tiefes SichBemächtigen des Lebens. Daher kann keine Klinge der Logik sie verletzen; daher kann kein
Begehren sie bewegen. Sie ist die Basis aller Wahrheit und Erfüllung. Obgleich sie in
mannigfaltigen Gestalten auftritt, muß, so glaube ich, diese anfängliche unmittelbare
Wahrnehmung gemeinsamer Ursprung aller Religionen sein. Die Religion wiederum ist der
Ursprung von Wissenschaft und Moral; Wissenschaft und Moral werden durch sie
konstituiert.229
Von hier aus muss man den Kulminationspunkt der Rede von der unmittelbaren reinen
Erfahrung und ihren Manifestationen in der Religion sehen.
2.2.
Der Kulminationspunkt: Religion und Gottesbegriff
Nishidas System läßt sich, ungeachtet aller oben diskutierter Widersprüchlichkeiten und
Probleme, als metaphysisches System bezeichnen, da er versucht, denkerisch die
Strukturen einer Realität zu erfassen, die nicht allein durch die psychologische
Erfahrung zugänglich sind. In seinem Nachfolgewerk Anschauung und Reflexion im
Selbstbewusstsein wird Nishida ausdrücklich eine Metaphysik fordern, hier hat er sie in
Ansätzen bereits konzipiert. In ZnK ist der Thema der Religion vorherrschend, wenn es
hiernach auch lange Zeit nicht, und dann überraschend wieder in seine
Geschichtsmetaphysik und besonders grundlegend in seinem letzten Werk „Ortlogik
und religiöse Weltanschauung“ (Basho no ronri to shûkyôteki sekaikan 場所の論理と
宗教的世界観) (1945) aufgenommen wird. Doch nicht erst in „Ortlogik und religiöse
Weltanschauung“, sondern in ZnK erfährt man bereits, welche Rolle die Religion in
bezug auf Selbst und Welt erhält. Wie Nishida aber im Abschnitt über die intellektuelle
Anschauung erkennen läßt, ist die Religion „Ursprung von Wissenschaft und Moral;
Wissenschaft und Moral werden durch sie konstituiert.“230 Zunächst soll daher gezeigt
werden, wie Nishida das Gute erst moralisch, dann in seiner religiösen Dimension
versteht.
2.2.1. Das Gute (zen 善)
In Teil 3 von ZnK, „Das Gute“, der schon 1906 als „Ethik“ vorlag, versucht Nishida, in
einer Kritik „Ethischer Lehren“, die er in die drei Gruppen „heteronomistische“,
„autonomistische“ und „intuitionistische“ Lehren einteilt, das gute Verhalten ihrer
229
230
ZnK, S. 68.
Ebd.
58
Handlungsmaximen zu bewerten. Er untersucht dabei einzelne ethische Positionen –
nach welchen Kriterien er gerade diese Beispiele anführt, ist unklar. So ist der
Konfuzianismus ein Vertreter einer „intuitionistischen“ Lehre, Hobbes Lehre eine
Vertreterin der „heteronomistischen“ bzw. der „Autoritäts“-Lehre, die den Herrscher als
moralischen Gesetzgeber an den Anfang (während Duns Scotus bei Nishida als
Vertreter der Autoritäts-Lehre, die Gott an den Anfang stellt, auftrittt).231 Als Vertreter
der autonomistischen Lehre, der sich Nishida am nächsten fühlt, untersucht er den
Stoizismus, aber auch den Utilitarismus als Sonderform des Hedonismus des in Japan
viel gelesenen Jeremy Bentham.232 Die Darstellung der einzelnen ethischen Theorien
ist klar strukturiert und nachvollziehbar, in jeder wird kritisiert, was dem Prinzip des
Guten zu widersprechen scheint: entweder erklärten diese nicht den Grund dafür,
warum wir das Gute tun sollen – wie die Autoritäts-Lehre – , versäumten es, der Natur
des Menschen entgegenzukommen, wie der Stoizismus, oder könnten keinen
„objektiven und zuverlässigen Standard“ für das Gute nennen wie der Hedonismus.
Doch trotz dieser Beurteilung einzelner ethischer Auffassungen und Nishidas
anschließender eigener Ausführung zum Guten, bleibt der Begriff des Guten
moralphilosophisch unterbestimmt. Zum Einen nimmt Nishida tautologische
Bestimmungen des Guten vor: „Das Gute ist die Selbst-Verwirklichung (selfrealization) des Selbst“233, welche wiederum darin besteht „[d]ie größten Bedürfnisse
des Selbst zu erfüllen und das Selbst zu verwirklichen“, was also hiesse, „die objektiven
Bedürfnisse des Selbst zu realisieren, mit dem Objektiven in Einklang zu bringen.“234
Oder: „Das Höchste Gute ist also der Einklang mit der wahren Realität des Selbst […]
das Gute kann aus dem wahren Wesen der Realität des Selbst erklärt werden“, wie auch
„Das Gute zu suchen und zum Guten zurückzukehren, bedeutet: die Wahrheit des Selbst
zu erkennen“, usw. Thesen, die als Handlungsmaxime nicht nur ungenau sind, sondern
sogar hinter die von Nishida kritisierten Lehren zurückgehen: ein Vertreter der
Autoritäts-Lehre könnte problemlos behaupen, dass seine Theorie nichts anderes als
self-realization sei, ebenso ein epikuräischer Hedonist. Was genau ist für Nishida ein
ethisch gutes Verhalten? Er spricht von der Kraft der Persönlichkeit als
vereinheitlichende Kraft des Bewusstseins, und doch ist die Person – die reale,
anwesende, sich als soziales Wesen in einer Welt engagierendes „Mit-sein“ – in seinen
Ausführungen über die Ethik absent. In einem repräsentativen, die Dimension des
Gesellschaftlichen emphatisch ausblendenden Satz heißt es:
Wenn aber, wie oben beschrieben, die Bewußtseinsphänomene die einzige Realität sind, dann
ist unsere Persönlichkeit als solche unmittelbar das Wirken der vereinheitlichenden Kraft des
231
Neben Duns Scotus dürfte Kant für Nishida ein weiterer Vertreter der Autoritäts-Lehre sein: „Wenn es
nun aber im Universum keinen obersten Richter über Gut und Böse gibt, verliert unsere Moral jegliche
Bedeutung. Daher, sagen [die Vertreter der moralischen Gesetzgebung druch Gott] , müssen wir als
Garanten der Moral unbedingt die Existenz Gottes anerkennen. Kant ist ein Verfechter dieser
Vorstellung.“ ZnK, S. 119. Es ist erstaunlich, wie Nishida trotz seiner Kant-Lektüre zu dieser Behauptung
kommt.
232
Die autonomistische Lehre – also die Lehre, die die Norm für das Gute im menschlichen Leben suche
– wird von Nishida wiederum in die „1. rationalistischen oder intellektualistischen Theorien, die die
Vernunft zur Basis machen; 2. die hedonistischen Theorien, die von den Emotionen der Lust und des
Leids ausgehen 3. die handlungsorientierten Theorien, die die Willenshandlung ins Zentrum
stellen“ eingeteilt. Nishida sieht seine eigene Theorie der letzten Gruppe zugehörig. ZnK, S. 151.
233
ZnK, S. 165.
234
ZnK, S. 175.
59
Universums; d.h. eine spezifische, den Umständen angepaßte Erscheinungsform der einzigen
Realität, in der die Sonderung von Geist und Materie aufgehoben ist.235
So wie die Nicht-Vorhandenheit des Gegenüber – des Anderen oder auch des Du –
paradoxerweise zu einer Negation des Selbst führt, die bei Nishida noch Bedingung für
Gotteserfahrung ist, wiederholt sich hier die in seiner Erkenntnistheorie durchgeführte
Auflösung des Subjekts durch die Nichtvorhandenheit eines transzendentalen Objekts
auf der Ebene des Sozialen.
Mit anderen Worten: Selbstverneinung ist der konkrete Ausdruck der theoretischen
Feindschaft zunächst gegen das Objekt und schließlich gegen das Subjekt selbst. So
kann die Persönlichkeit, die der Person beraubt ist, zum Ersatz der Unbequemlichkeit
werden, ein reales, durch ein Miteinander konstituiertes Selbst zu begründen:
Erst wenn die ganze Kraft des Selbst verbraucht ist, wenn das Bewußtsein des Selbst fast
verschwunden ist, nur da, wo das Selbst seiner selbst nicht mehr bewußt ist, wird die Tätigkeit
der wahren Persönlichkeit sichtbar.236
Die körperlose, a-soziale, rein dem Willen und der intellektuellen Anschauung zu
Grunde liegende Persönlichkeit – die Form des Guten – gehorcht in ihrer
selbstnegierenden Aktivität aber dem ausgezeichneten ethischen Verhalten der
Redlichkeit (shisei 至誠). Die Redlichkeit ist Nishidas ethisches Ideal. Sie ist die
„innere Notwendigkeit des Selbst“ aus der „Einheit von Denken, Fühlen und Wollen“237.
Sie sei nach Nishida ein Gut an sich. Heute wirkt der Begriff der Redlichkeit
befremdlich, da er mit naivem Vertrauen in Verbindung gebracht wird.238 Nishida selbst
legt den Verdacht nahe, dass sie als einfache moralische Reinheit, Gutmütigkeit,
Vertrauen verstanden werden kann: „Auch Christus hat gesagt, dass uns das
Himmelreich offensteht, wenn wir wie die Kinder werden.“239 Wo in diesem Schema
bleibt Platz für ein individuelles und auch gesellschaftliches Selbst? Nishidas Gleichung
zufolge verschwindet das Selbst und ist Selbstaufgabe geradezu Bedingung für die
Entstehung einer ethischen Gesellschaft. Wo der Einzelne und die Ansprüche des
Individuums verschwinden, könne sich so etwas wie die nächste Ebene der
Persönlichkeitsentfaltung erst bilden: die Gesellschaft. Eine Gesellschaft, in der (hier
mag ein konfuzianischer Gedanke für Nishida ausschlaggebend gewesen sein) der
Einzelne nichts und der Rang, dem er angehört, alles ist:
Mehr als die Befriedigung unseres Selbst befriedigt uns die Befriedigung dessen, das wir lieben
oder der Gesellschaft, der wir angehören. Denn ursprünglich ist das Zentrum des Selbst nicht
auf das Individuum beschränkt. Das Selbst einer Mutter liegt in ihrem Kind und das Selbst eines
Untertanen in seinem Herrn.240
Nishida zufolge läßt sich diese Ansicht offensichtlich problemlos mit seiner Kritik an
den „Autoritäts“- Lehren vereinbaren. Kurz: der von Nishida geforderte Inhalt des guten
235
ZnK, S. 171.
ZnK, S. 174.
237
Ebd.
238
Das japanische shisei 至誠 kann auch mit „Aufrichtigkeit“ und „reinen Herzens sein“ (magokoro
真心) übersetzt werden.
239
ZnK, S. 175.
240
ZnK, S. 181.
236
60
Handelns bleibt in seiner eigenen Theorie leer. Dass das Schöne und die Realität, sowie
das individuelle, konkrete Selbst negierende „wahre Selbst“ und der Wille „an sich“ das
Gute sind, ist keine Handlungsmaxime.
In der Sicht auf das Gute wird die Persönlichkeit dennoch zum Wertträger stilisiert.
Freiheit, die in Bezug auf Willensfreiheit noch eine Rolle spielte, wird als ethischer
Wert nicht thematisiert: sie wird sich im Gottesbegriff als ausgezeichneter Modus des
Daseins Gottes hervortun. Für Nishida allerdings ist die Bestimmung des Guten konkret
in der „Erkenntnis des wahren Selbst“ begründet. Dass die ontologische Pointe darin
besteht, dass Erlangung des wahren Selbst immer Selbstaufgabe und Auslöschung der
Individualität bedeutet – daraus macht Nishida kein Geheimnis:
Hier gehen Religion und Moral ineinander auf. Das Gesetz der Erkenntnis des wahren Selbst
und der Vereinigung mit Gott liegt nur im Erfassen der Kraft der Einheit von Subjekt und
Objekt. Um diese Kraft zu erlangen, müssen wir das falsche Ich töten, einmal den Begierden
dieser Welt sterben und wieder auferstehen. (Mohammed sagte: Der Himmel liegt im Schatten
des Schwertes.)241
Hier läßt sich ein kontinuierlicher Fortgang von Individuum zur Gesellschaft zum
wahren Selbst und schließlich zu Gott erkennen. Es überrascht, dass Nishida das Prinzip,
das diese Entwicklung hervorbringt, in der Vernunft sieht.
2.2.2. Vernunft und Freiheit
Die Vernunft sei „nicht nur allen Menschen gemein, sie ist auch das Prinzip, durch das
die objektive Realität entsteht.“ 242 Kann die „objektive Realität“ systematischbegrifflich in ein radikales Immanenzsystem des Bewusstseins gehören? Oben wurde
bereits gezeigt, dass Nishida seinen Bewusstseinsmonismus nicht durchgängig
aufrechterhält. Vielmehr verschiebt sich die Ebene des Monismus zum Ende von ZnK
von einer dem Anschein nach radikal subjektivistischen zu einer objektivistischen Sicht,
in der dennoch das Subjektive eingeschlossen sein soll. Hier findet sich so etwas wie
eine rudimentäre Gesellschaftstheorie, wobei das Bewusstsein des Einzelnen nicht mehr
als eine Zelle „dieses großen Bewußtseins“ – der Gesellschaft – sei. Vereinheitlicht
werden die Einzelbewusstseine durch „Sprache, Sitten und Gebräuche, Institutionen und
Gesetze, Religion und Literatur“ – kurz: die Kultur einer Gesellschaft. Diese ist für
Nishida staatlich – der Staat (kokka 国 家 ) sei der „Ausdruck eines kollektiven
Bewusstseins“, der „Ursprung unseres Geistes“243. Die Entwicklung der Vernunft habe
ihre erste Ebene jedoch in der Familie (kazoku 家族). Interessant ist, dass Nishida den
Zweck einer Ehe nicht darin sieht, dass Frau und Mann (möglichst viele) Kinder
hinterlassen. Diese Auffassung gehörte jedoch zu den ideologischen Paradigmen des
japanische Meiji-Staates, der sich selbst als Familienstaat (kazoku kokka 家族国家)
auffasste. Nishida vertrat eine eher romantisch-idealistische Vorstellung vom Gut einer
Ehe, die durch Platons berühmte These aus dem Symposion beeinflusst ist: „Platos
‚Symposion’ enthält die Erzählung, dass Mann und Frau ursprünglich einen Leib
besaßen und von Gott auseinandergeschnitten wurden. Daher sehnen sie sich bis heute
241
ZnK, S. 187-188.
ZnK, S. 116.
243
ZnK, S. 182.
242
61
nach einander.“244 Das Ideal der „Wiedervereinigung“ von Frau und Mann sieht Nishida
in der Ehe und in der Familie verwirklicht. Dort könne die gesellschaftliche Bedeutung
der Vernunft aber nicht haltmachen: neben der Familie müsse der Staat „als eine
Manifestation der Persönlichkeit angesehen werden, die das Ganze unserer
Bewußtseinstätigkeit vereinigt“ – er sei die „bisher gewaltigste Manifestation eines
einheitlichen kollektiven Bewußtseins.“245 Daher seien seine Gesetze und Strafen auch
kein abstrakter herrschaftlicher Wille, sondern Ausdruck dieses kollektiven
Bewusstseins selbst. Nishida formuliert jedoch über den Staat hinaus in sehr
vereinfachten,
rudimentären
Zügen
ein
utopistisches
Ideal:
das
der
Menschheitsgesellschaft (jinruiteki shakai 人類的社会). Der Ehrgeiz der Persönlichkeit
ziele gemeinhin auf den „Zusammenschluß einer Menschheitsgesellschaft, jenseits aller
Unterschiede. Dieses Ideal“, so Nishida, „erscheint schon im Christentum des Paulus
und bei den Stoikern“246 und sei nicht leicht zu realisieren. „Wir leben noch heute in
einer Epoche bewaffneten Friedens.“247 Mehr läßt Nishida über sein utopistisches
Menschheitsideal nicht verlauten. Pörtner bemerkt lakonisch: „Eine nähere Bestimmung
(z.B. der materiellen und ökonomischen Seite) dieser Weltgemeinschaft bleibt Nishida
schuldig.“248 Ein durch Freiheit bestimmtes, im weiteren Sinne humanistisches Ideal
sucht man in dieser eher vage als pointiert zu beschreibenden Formulierung eines
menschheitlichen Ideals vergebens. Täte man dieses, suchte man auch an der falschen
Stelle: nicht an der civitas hominum war Nishida interessiert, sondern durchaus an einer
augustinisch inspirierten civitas dei, wie Nishida in seinen Ausführungen zu Gott,
Religion und der „Verschmelzung von Gott und Mensch“ (jinshin gôitsu 人神合一)
verlauten lässt. Nishida hatte kein Interesse an einer realen materiellen und/oder
ökonomischen Ausarbeitung dieser Weltgemeinschaft. Dieses Desinteresse an
konkreten politischen und ökonomischen Gesellschaftsfragen bleibt bei Nishida bis
zuletzt erhalten, was symptomatisch um so prekärer in denjenigen späteren Schriften
auffällt, in denen „Geschichte“, „Staat“ und „Kultur“ explizit thematisch werden. Dazu
aber erst ganz zum Schluss meiner Arbeit in Kapitel V. Kurzum, die Vernunft wird in
die „Religion“ aufgelöst.
Das Prinzip prästabilierter Versöhnung, das für Nishidas Weltgemeinschaft maßgebend
ist, muss aber systemimmanent weiterhin der Logik der Reinen Erfahrung gehorchen,
der Tatsache der „Welt“ und der Realität als Bewusstseinsphänomen. Eine Frage, die
bislang nicht deutlich genug zur Sprache gekommen ist: welche Rolle spielt darin der
Körper? Der Körper ist ein nanten 難点, ein schwieriger oder wunder Punkt bei Nishida.
Wie bereits bei der Solipsismusfrage angedeutet, „gibt“ es keinen Körper im Sinne einer
objektiv vorhandenen Realität: „Unser Körper ist nicht mehr als ein Teil unserer
Bewußtseinsphänomene. Das Bewußtsein wohnt nicht im Körper, sondern der Körper
im Bewußtsein.“ 249 Pörtner sagt daher: „Nie begegnen sich die Körper in einem
Außerhalb.“250 Nishidas Ressentiment gegen das Physische steigert sich in ZnK bis zur
Abwehrhaltung. An der einzigen anderen Stelle, an der der Körper thematisiert wird,
lässt Nishida verlauten, dass nur Geistesschwache sich mit rein körperlichen Begierden
244
ZnK, S. 181.
ZnK, S. 183.
246
Ebd.
247
Ebd.
248
Pörtner (1990), S. 269.
249
ZnK, S. 77.
250
Pörtner (1990), S. 269.
245
62
zufriedengeben, und dass der Mensch sein Dasein „nicht im Fleisch“ friste, sondern
„von seinen Idealen“ lebe.251 Gleichzeitig wird die Haltung der Kyniker und Stoiker als
lustfeindlich, negativ und inhaltlos kritisiert. Dennoch kann es keinen Zweifel geben,
dass Nishida zum Zeitpunkt von ZnK die Thematisierung des Körpers kein Anliegen
war, und wenn, dann ein nur sporadisch, widerwillig erwähntes. Der Körper wird ab den
30er Jahren dagegen zum paradigmatischen geschichtlichen Objekt stilisiert, wie der
spätere Aufsatz „Der geschichtlichtliche Körper“ (Rekishiteki shintai 歴史的身体)
(1937) 252 zeigt. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Textes hat Nishida den
„Schrecken“ des Körpers, dem der Mensch der Innerlichkeit mehr oder weniger
„unfreiwillig“ begegnet, längst abgelegt und durch einen heroisierenden Körperbegriff
ersetzt.
Dass die Substanz der Reinen Erfahrung konsequent bis zur Aufhebung der eigenen
Körperlichkeit führen muss, ist Nishidas „Willen zur Einheit“ geschuldet. Das
individuelle Bewusstsein „lebe“ daher nicht in seinem eigenen Körper, sondern ist
prinzipiell für alle Menschen erfahrbar: „Unsere individuelle Subjektivität
vereinheitlicht die Erfahrung des eigenen Selbst, die überindividuelle Subjektivität
vereinheitlicht die Erfahrungen aller Menschen, und die natürliche Welt entsteht als
Gegenstand der überindividuellen Subjektivität.“253 Doch kann der Einzelne nicht etwa
entscheiden, in der „überindividuellen Subjektivität“ aufzugehen. Die Einheit, in die
sich alle Phänomene auflösen und in der alle Phänomene ihre Ursache haben, hat einen
„Stifter“, Gott: „Die ganze Realität folgt dem Schema der Selbstentfaltung eines
einheitlichen Etwas. Gott ist der Einheitsstifter dieser Realität.“254 Hierin liege auch der
Grund für die exklusive Stellung Gottes in der Immanenztheorie des Bewusstseins, wie
Pörtner behauptet. Gott sei Ursache und Ziel aller Bewusstseinsphänomene. Daher
könne es auch keine individuelle Freiheit geben, eine Entscheidung selbst
herbeizuführen.
Im Versiegen der Begrifflichkeit allgemein-rhetorischer Aussagen zu Moral und
Individuum findet der Übergang zu Religion und Gott statt. Nishidas System in ZnK ist
deterministisch, insofern sich in einer prästabilierten Vermittlung durch Gott die
menschliche Freiheit erst ableite. So ist die menschliche Freiheit ist ein abgeleiteter
Modus unendlicher Gottesgnade. Insofern ist Freiheit bei Nishida weniger als eine
Suggestion: allein Gott als „Ursprung des Universums“ sei „absolut wirklich frei.“ In
der knappen Thematisierung der Willensfreiheit versucht Nishida noch, den freien
Willen aus der möglichen Entscheidung, einen Zustand nicht herbeizuführen und sich
anders zu entscheiden, abzuleiten. Hier ist nun deutlicher zu sehen, dass alle Aussagen
Nishidas über Individualität, Willensfreiheit, Persönlichkeitsentfaltung und das „wahre
Selbst“ richtig verstanden im Kontext des zeit- und raumüberhobenen Gottesbegriffs
verortet werden müssen:
Wenn wir dieser vereinheitlichenden Kraft den Namen Persönlichkeit geben, dann müssen wir
Gott die dem Universum zugrunde liegende große Persönlichkeit nennen [...] Alle Dinge
entstehen aus der Einheit Gottes, und in Gott ist alles Aktualität [...]255
251
ZnK, S. 168-169.
In NKZ XII, S. 343-367.
253
ZnK, S. 201-202.
254
ZnK, S. 203.
255
ZnK, S. 204-205.
252
63
In Gott gehen alle Aussagen über den Menschen, über ein humanistisch auffassbares
Ideal oder über originär menschliche Werte (eine Persönlichkeit, frei, Ursache der
eigenen Handlungen zu sein) auf und im Hegelschen Sinne auch darin „zu Grunde“.
Daher muss man mit Pörtner konstatieren: „Das System von ZnK, für das auch alles
moralische Handeln nicht mehr als der Übergang von einem Bewußtseinszustand in
einen anderen bedeutet, vermag – alles in allem – die Probleme verantwortlichen
Handelns nicht zu klären.“ 256 Dies ist noch eine euphemistische Umschreibung
angesichts der Welt, die sich Nishida vorstellt, in der Menschen mit der Substanz des
Universums und dem Willen Gottes verschmelzen sollen. Dazu im folgenden mehr.
2.2.3. Selbstnegation, Gott und prästabilierte Harmonie: überwundenes Subjekt?
Im letzten Abschnitt von ZnK widmet sich Nishida einer intensiven Diskussion über das
religiöse Bedürfnis (shûkyôteki yôkyû 宗教的要求) und das Wesen der Religion
(shûkyô no honshitsu 宗教の本質). Für Nishida ist es keine Frage, dass das religiöse
Bedürfnis ein ursprünglich Menschliches, ein „auf das Selbst gerichtetes Bedürfnis“ ist
und aus der Erkenntnis der Endlichkeit des Einzelnen resultiert. Die Religion sei „das
Ziel des Menschen überhaupt und keinesfalls ein Mittel für andere Zwecke“257, es ist
die leidenschaftlich antizipierte und endlich vollzogene Vereinigung mit Gott:
Denn Einheit ist das Alpha und Omega des Bewußtseins. Das religiöse Bedürfnis ist das
Bedürfnis nach einer Bewußtseinseinheit in diesem Sinne; ein Bedürfnis nach Vereinigung mit
dem Universum. Somit ist das religiöse Bedürfnis das tiefste Bedürfnis der Menschenseele.258
Nishida, der Kant und den Materialisten Dogmatismus vorwirft, übersieht den
scholastischen Dogmatismus seiner eigenen Rhetorik. Auch Pörtner zufolge besimmt
Nishidas Ton in diesen letzten Passagen von ZnK eine „kerygmatischbeschwörend[e]“ Emphase. Ungeachtet seiner prekären, suggestiven Sprache, soll im
Folgenden dennoch versucht werden, dem systematischen Ort der Religion in Nishidas
holistischer Theorie nachzugehen.
Systemamimment beurteilt ist die Religion und die Verschmelzung mit Gott Abschluss,
Grund und Ursache der Reinen Erfahrung in concreto. Der verborgene Grund für die
Tatsache, auf einer Ebene möglicher Erkenntnistheorie und Logik von Subjekt und
Objekt zu sprechen, und diese als solche zu bestimmen, sei nur durch die ursprünglich
religiös motivierte Erfahrung gegeben, genauer: die Vertreibung aus dem Paradies, die
bei Nishida zu einer originär menschlichen Disposition erklärt wird:
Mit der Differentiation und Entfaltung des Bewußtseins treten Subjekt und Objekt in Gegensatz
zueinander, wenden sich Ding und Ich voneinander ab, entspringen im Menschen des Begehren
und das Leid, reißt sich der Mensch los von Gott.- Das Paradies wird den Enkeln Adams lange
verschlossen bleiben.259
An einer anderen Stelle, an der sich Nishida derselben Metapher bedient, heißt es:
256
Pörtner (1990), S. 270.
ZnK, S. 192. Hervorh. i. O.
258
ZnK, S. 193-194.
259
ZnK, S. 193.
257
64
Die Geschichte, dass unsere Ureltern vom Baum der Erkenntnis gegessen haben und von Gott
aus dem Paradies vertrieben worden sind, meint wohl nichts anderes [als die Trennung von Gott
und Welt, EL]. Der Sturz aus dem Paradies geschah nicht nur zu Zeiten Adams und Evas, er
vollzieht sich in jedem Augenblick mitten in uns.260
Der Trauer um das verlorene Paradies wird durch den Willen zur „Rückkehr“ in Gott
begegnet, die allerdings, wie im folgenden zu zeigen ist, recht drastische Konsequenzen
hat. Zunächst zur Erinnerung: dass Reine Erfahrung als wahre Wirklichkeit keine
Trennung, nur die Ununterschiedenheit von Subjekt und Objekt kennt, ist für Nishida
durch die Tatsache der Existenz Gottes begründet. In Gott sei vollkommene Wahrheit,
keine Teil- oder Halbwahrheit, wie sie durch Spaltung, Trennung, Diskontinuität,
Destabilisierung, durch einen Riss oder durch Unvollkommenheit zustandekomme.261
Die Einheit ist Alpha und Omega, das nicht etwa zu vervollkommende, sondern das sich
immer schon vervollkommnende Ideal, weil dem Einzelnen keine Möglichkeit der Wahl
gelassen wird. Das Individuum allein kann den Widersprüchen der konkreten Welt nicht
begegnen – oder vielmehr – es kann sich in diesen Widersprüchen nicht begegnen.
Insofern ist erstens Religion keine Frage des Glaubens, sondern das Prinzip der Realität
schlechthin, und zweitens geht es darin um Selbsterlösung qua Selbsterkenntnis: „Nur
die Religion ist die Lösung für das ganze Bewußtsein.“262 Religion bedeute, dass das
Selbst unmittelbar in sich Gott anschaut. Hier scheint ein eigentümlicher Mechanismus
am Werk, denn zu wessen Nutzen sollte die Verschmelzung von Gott und Mensch sein,
wenn Gott als „personifizierte“ Selbstgenügsamkeit gesetzt ist? Kommt das religiöse
Bedürfnis letztlich nur dem „wahren Selbst“ zugute, scheint die Negation des Selbst
nicht Selbstzweck zu sein. Im Gegenteil – Pörtner sieht die „Selbstbejahung“ dem
System der Selbstwahrnehmung zu Grunde liegen. Der Verschmelzung von Gott und
Mensch hafte „ein unleugbar narzißtisches Moment an: das Ich will letztlich nur sich
selbst. Gott soll sich beugen.“ 263 Aber ist die Synthesis von individueller und
überindividueller Einheit ohne die Herabwürdigung, ohne das radikale Negieren eines
außerordentlichen, mir selbst angehörenden Selbst möglich? Die Entfaltung der
„Logik“ der Reinen Erfahrung scheint vielmehr auf Selbstvergessenheit und auf den
Verlust des Selbst hinauszulaufen – das Erlangen des neuen, wahren Selbst (Nishida
spricht ausdrücklich nicht von „Ich“) ist dann genau das nicht mehr, was es als
unmittelbare Bewusstseinstatsache hätte sein können: ein sich selbst identifizierendes
Selbstbewusstsein. Die Rückkehr zu Gott ist die Rückkehr zu einem veränderten
Ursprung, und um diesen zu erreichen legt der Einzelne einen qualvollen Weg zurück.
Das „Selbst“ in Selbstverlust und Selbsterlangung designiert jedoch zwei völlig
entgegengesetzte Bedeutungen von Selbst. Zwar definiert Nishida die Religion
apodiktisch als die „Beziehung zwischen Mensch und Gott“264 – eine Beziehung, die
dadurch charakterisiert sei, dass der Mensch Gott mit „wahrer Ehrfurcht“ begegne,
während Gott „uns zu sich heimkehren läßt.“ 265 Die Heimkehr zu Gott als
grundlegendes Motiv dieser Bezeihung impliziert aber ein geläutertes, neues,
260
ZnK, S. 213.
Dass in als „diskontinuierlich“ zu beschreibenden Bewusstseinstatsachen - etwa im schlechten,
unredlichen Verhalten noch eine Teil-oder Halbwahrheit enthalten ist, erklärt sich dadurch, dass sogar
diese noch am alles vereinheitlichenden Ganzen der Reinen Erfahrung – Gottes – teilhat.
262
ZnK, S. 194.
263
Pörtner (1990), S. 249-250.
264
ZnK, S. 194.
265
ZnK, S. 196.
261
65
überwundenes Selbst – ein Selbst, das kein Selbst mehr ist und dessen Askese einem
recht verstandenen Begriff von Selbst noch zu egoistisch anmutet:
Aber allein durch Verzicht und Hingabe wird man den Geruch des Selbst nicht los, ist man noch
nicht vom Gefühl wahrer Ehrfurcht erfaßt. Ausdrücke wie „das wahre Selbst findet man in
Gott“ scheinen die Betonung auf das Selbst zu legen, aber gerade das Selbst von sich zu werfen,
ist ein Mittel, Gott zu verehren.266
Selbst noch in der Diskussion des Geistbegriffs, in dem Nishida eine Vernunft postuliert,
die das Prinzip der objektiven Realität selbst sei, deutet sich an, diese nur durch den
„Untergang“ des subjektiven Selbst möglich ist. Auch der Wille, der von Nishida noch
als Zustand, in dem das Objekt dem Subjekt folgt, bestimmt wird, müsse nun der
objektiven Natur folgen, um sich zu verwirklichen.267
Konsequenterweise muss eine absolute Einheit ihre Objektivität voraussetzen und ihr
Zustandekommen dadruch erklären, dass das subjektive Selbst seine kleine, begrenzte
Einheit „gänzlich von sich wirft und in der objektiven Einheit aufgeht.“268 Die Einheit
von Subjekt und Objekt stellt sich zum Ende von ZnK als objektive Einheit heraus;
problematisch an dieser Sicht ist die Auffassung, dass hierin das „subjektive
Bewusstsein“ überwunden sei. Man kann hier auch, symptomatisch für Nishidas
Haltung zum „Ich“, erkennen, dass die Sprache, um ein vollständig abgelehntes Subjekt,
Selbst oder Ich zur Schau zu stellen, kaum drastischer vorgehen kann. Die Rede von der
„Vernichtung“, vom „Geruch“, vom „Töten des falschen Ich“, das Zitat des Mohammed,
dass „der Himmel im Schatten des Schwertes“ liege, zeigen, dass Nishida theoretisch
nicht einmal mehr am physischen Überleben eines realen Subjekts interessiert ist.
Nishidas Theorie zufolge ist der Tod des Subjekts der direkte Weg zu Gott, weshalb die
Liebe Gottes, die sich darin zeige, dass „Gott uns zu sich heimkehren läßt“ – eine
Todesmetapher – als recht makaberer Liebesbeweis aufgefasst werden muss. Zugleich
ist Selbstnegation, Selbstaufgabe und Selbstvernichtung auch Selbstzweck. Nur darum
ist es in einer recht verstandenen Reinen Erfahrung als Erfahrung Gottes zu tun.
Wie einige Kommentatoren Nishidas, auch Pörtner, gesehen haben, bleibt die
ausdrückliche Erwähnung buddhistischer Autoren und ihrer Werke hinter denen
christlicher Provenienz – Augustinus, Jakob Böhme, Meister Eckhart, Spinoza (der
bekannterweise zum Katholizismus konvertierte), und die Bibel – zurück; und
abgesehen
von
diesen
Autoren
überwiegt
die
Zitatenanleihe
bei
„westlichen“ Philosophen gegenüber den „(ost)asiatischen“ um ein Vielfaches.
Dennoch: Nishidas Nähe zum Buddhismus des Reinen Landes (Jôdoshû 浄土宗), bzw.
des wahren reinen Landes (Jôdoshinshû 浄土真宗) scheint im letzten Teil von ZnK
immer wieder durch. So verweist Nishida auf den Glauben an die Fremdkraft (tariki 他
力) bei Shinran 親鸞 (1173-1263) und betont:
[Gott] zu lieben bedeutet, ihn zu erkennen. In den Lehren der Veden, im Neoplatonismus und
im Buddhismus heißt es, daß wir Gott erkennen, im Christentum und im Jôdo-Glauben (dem
266
ZnK, S. 196.
„Als rein subjektiver könnte er [der Wille EL] nichts bewirken; nur indem er der objektiven Natur
folgt, kann er sich verwirklichen. Wasser zu bewegen bedeutet, dem Wesen des Wassers zu folgen.
Menschen zu beherrschen bedeutet, dem Wesen der Menschen zu folgen. Sich selbst zu beherrschen
bedeutet, seinem eigenen Wesen zu folgen.“ ZnK, S. 117.
268
ZnK, S. 192.
267
66
Glauben an das Reine Land des Amida-Buddha) aber, daß wir Gott lieben und von ihm
269
abhängen.
Vor allem aber unterscheidet Nishidas Gottesvorstellung von der christlichen seine
Leugnung eines transzendenten Gottes – denn wie das System der Reinen Erfahrung
verlangt, widerspricht „[…] die Idee von einem transzendenten Gott, der von außen die
Welt regiert, unserer Vernunft […]“ 270 , und daher sei Gott „kein transzendenter
Schöpfer außerhalb des Universums, sondern der unmittelbare Grund dieser
Realität.“271 Mit so einer Auffassung löst sich das Theodizee-Problem bei Nishida, bzw.
tritt als solches, anders als bei Leibniz, erst gar nicht auf. Das Böse ist die Verkennung
der Realität, eine grobe Fehleinschätzung derjenigen, die noch nicht zum wahren Selbst
in der Verschmelzung mit Gott vorgedrungen sind, eine unvollkommene Sicht der
Realität. Hier schließt sich bereits ein kleiner Kreis: Leibniz wird zum Stichwortgeber
von Nishidas Realitätsauffassung. Zwar nimmt die Relevanz von Gottesbegriff und
Religion in Nishidas Schriften ab der Veröffentlichung des Aufsatzes „Denken und
Erleben“ (Shisaku to taiken 思索と体験) (1915) wieder ab, jedoch nur, um ab den
30ern, besonders aber in Nishidas letzten Lebensjahren (1941-45) umso stärker wieder
in den Vordergrund zu rücken. Eine der wichtigsten programmatischen Schriften
Nishidas, „Hin zu einer Religionsphilosophie mit (der Idee) der prästablilierten
Harmonie als Leitfaden“ (Yotei chôwa wo tebiki to shite shûkyôtetsugaku e 予定調和を
手引として宗教哲学へ) (1944), von der in Kapitel V.3. die Rede sein wird, legt davon
Zeugnis ab.
In ZnK ist das Böse ein Mängelphänomen. Diese Ansicht hilft zwar, das Problem des
Substantialismus zu vermeiden (obgleich dieses durch die erkenntnistheoretische und
ontologische Bestimmung der Reinen Erfahrung reinstalliert wird), bleibt bei Nishida
aber nichts anderes als Setzung:
Eigentlich gibt es in der Welt weder das absolut Wahre, Gute und Schöne noch das absolut
Falsche, Schlechte und Häßliche. Die letzteren werden immer dann sichtbar, wenn wir
abstrahierend nur die eine Seite der Dinge betrachten, auf diese Weise ihren Gesamtaspekt
verfehlen, d.h. parteiisch urteilen und gegen die Einheit des Ganzen verstoßen […]
Nach Augustinus gibt es das Böse in der Welt ursprünglich nicht. Die ganze von Gott
geschaffene Natur ist gut. Böse ist nur der Mangel an Wesen. Gott schmückte die Welt wie ein
schönes Gedicht mit Gegensätzen. So wie der Schatten die Schönheit eines Bildes erhöht, so
erscheint vor dem wissenden Blick die Welt schön, obgleich die Sünde in ihr ist.272
Zum Schluss des Kapitels wäre zu klären, inwiefern Nishidas System der Reinen
Erfahrung tatsächlich ein holistisches metaphysisches System der Realität ist. Insofern
erkenntnistheoretische und ontologische Prinzipien (Erfahrung und Bewusstsein des
Individuums, Unmittelbarkeit und Einheit allen „wahren“ Seins) in Anschlag gebracht
werden, müssen sie sich auch als solche prüfen lassen. Sie halten allerdings einer Kritik
nicht stand, die das denkende, Unterscheidungen treffende und negierende Subjekt ins
269
ZnK, S. 220. Nishida belegt den Verweis auf die Fremdkraft bei Shinran nicht. Wie in seinem
gesamten späteren Werk beschränken sich Nishidas Verweise und Referenzen auf buddhistische Lehren
auf deren Nennung.
270
ZnK, S. 197.
271
ZnK, S. 199.
272
ZnK, S. 184-185.
67
Spiel bringt, das – wie oben deutlich geworden sein sollte – nicht „wegzudenken“ ist.
Liegt der Grund für diesen „Fehler“ des Systems möglicherweise in einer neben der
Vermischung psychologischer und philosophischer Motive weiteren Vermischung von
Disziplinen – der von Erkenntnistheorie und Ontologie? Schließlich muss sich eine
Philosophie, die Aussagen über die „Realität“ zu treffen können meint, entscheiden, ob
sie diese durch ein dasselbe vermittelnde Subjekt trifft oder die Seinsstrukturen als
„gegeben“ annehmen zu können meint. Bei Nishida fällt beides in eins. Heuristischanalytische Kriterien sucht man hier vergeblich, die eine sinnvolle Begründung für
diese Vermischung darstellen könnten.
Die lebenslange philosophische Anstrengung Nishidas, ein holistisches System ohne
Rückgriff auf das denkende Subjekt sowie ohne materialistisches Gegengewicht zu
konstruieren und sich dabei eines anti-aufklärerischen, anti-modernen Habitus zu
bedienen, muss allerdings auch als Symptom eines tieferliegenden Problems
identifiziert werden, auf das hier allerdings nur vorläufig eingegangen werden kann. Der
Vulgäridealismus, von dem oben die Rede war, gilt hier nicht nur für seine
Erkenntnistheorie, sondern auch für Nishidas gesellschaftspolitische Vorstellungen,
sowie die seiner gesellschaftlichen Klasse der japanischen Bildungsaristokratie zu
Beginn des 20. Jahrhunderts. So konzediert Thomas Nipperdey in seiner Deutschen
Geschichte der kulturpolitischen Ideologie des deutschen Bürgertums vor 1914 eine
Symptomatik, die nicht nur auf die deutsche gebildete Oberschicht, sondern auch auf
das japanische Bildungsbürgertum zutrifft. Es lohnt, die Passage, in er Nipperdey seine
Diagnose entwickelt, in voller Länge zu zitieren:
Mit solchen Ideen über Staat und Gesellschaft [Professorenideologie und Historismus, die
Orientierung der Politik nicht an Klassen und Konflikten, sondern an idealen Zwecken und
paternalistischer Integration] hängt die aufklärungskritische, idealistisch-romantische Tradition
in Deutschland zusammen: die Kritik an Positivismus, Empirismus und Utilitarismus und der
Materialismusverdacht, die Kritik an den Einseitigkeiten von Rationalismus und
Intellektualismus, die philosophische Revolte gegen Fragmentierung und Verfehlung des
„Lebens“ [...] Daraus konnte sich – nach 1918 – ein antiliberales, antidemokratisches, ja
antihumanes Denken entwickeln. [...] Der Vulgäridealismus war das Bekenntnis zu
„idealistischen“ Idealen, hohen und erhebenden Zielen und Normen [...] Daraus entsprang z.B.
die Verehrung der großen Männer, der Helden im Gegensatz zu den Händlern [...], die Neigung
zu heroischen Mythen, zu Monumentalität und Pathos, zum Spartanischen und Kriegerischen.
[Vulgäridealismus] bedeutete auch Anti-Materialismus, Kritik der Ideen des materiellen
(zivilisatorischen) Fortschritts, Kritik des „Westens“, den man mit all dem identifizierte.273
Obwohl es an dieser Stelle noch zu früh ist, die Bewertung Nishidas als Philosophen
kritisch zu thematisieren, möchte ich in einem kurzen Ausgriff auf die Bewertung von
ZnK durch Nishida selbst den Übergang zu seiner entwickelteren Ortlogik darstellen.
Die „Kritik des Westens“, die ausdrücklich erst in seinen kulturhermeneutischen
Schriften ab 1934 thematisch wird, deutet sich bereits in den 20er Jahren an. Hier dürfte
sich zeigen, dass die weitere Entwicklung seines Denkens weniger durch die selbst
erkannte Fehlerhaftigkeit früherer Theoreme, sondern vielmehr durch einen völligen
Paradigmenwechsel in Bezug auf die Einschätzung des eigenen Werkes motiviert wurde.
273
Nipperdey (1990), S. 815, S. 818.
68
So hat Nishida seine frühere, in ZnK entwickelte Position nicht etwa kritisch reflektiert,
sondern in Bezug auf die „kulturelle Selbstverortung“ radikalisiert. Bereits 1927, im
Vorwort seiner Ortlogik, heisst es:
Es stimmt, dass es in der prächtigen Entwicklung der westlichen Kultur, in der das Sein zur
ideellen Form und das Gute zur Formgebung gemacht wird, viel Beachtenswertes und
Lernenswertes gibt. Liegt aber nicht im Grunde der östlichen Kultur, die unsere Vorfahren seit
einigen tausend Jahren überliefert haben, etwas verborgen, das die Form des Formlosen sieht
(katachi naki mono no katachi wo mi 形なきものの形を見) und die Stimme des Stimmlosen
(koe naki mono no koe wo kiku 声無きものの声を聞く) hört? Unser Herz fordert dieses, und
bewegt von dieser Notwendigkeit möchte ich versuchen, diesem eine philosophische Grundlage
zu geben.274
Auch, was die Selbstauskünfte des späteren Nishida angeht, hat man es mit einem
politisch motivierten Apologeten seines früheren Denkens zu tun. Im Vorwort der
1936er-Auflage von ZnK heißt es:
Die Welt der unmittelbaren Erfahrung und die Welt der reinen Erfahrung, wie sie in diesem
Buch erörtert wird, denke ich heute als die Welt der geschichtlichen Realität. Die Welt der
handelnden Anschauung und die Welt der Poiesis ist genau das, was die Welt der reinen
Erfahrung eigentlich ist.275
Die Welt der geschichtlichen Realität meint in diesem Zusammenhang die Welt der
geschichtlichen Realität Japans. Nishida hat einen Perspektivenwechsel vorgenommen,
der die frühere Philosophie als Geschichtsmetaphysik des modernen japanischen Staates
zu retten vermag. Obwohl das Problem des Selbstorientalismus bei Nishida deutlich
zutage tritt, soll im folgenden versucht werden, sich methodisch weiterhin an der
philosophischen, d.h. kategorienkritischen Analyse zu orientieren. Eine Dekonstruktion
der Ortlogik als philosophisches System dürfte dann auch eine Kritik an den sie
implizierenden gesellschaftsideologischen Formen nach sich ziehen.
274
Elberfeld (1999a), S. 40; NKZ III, S. 255. Vorwort (jô 序) zu Vom Wirkenden zum Sehenden
(Hataraku mono kara miru mono e 働くものから見るものへ) (1927).
275
NKZ I, S. 3, Elberfeld (1999a), S. 23.
69
KAPITEL II
DIE IDENTITÄT DES NICHTS. DIE AUFLÖSUNG DES SUBJEKTS IN DEN
„ABSOLUT FREIEN WILLEN“ UND DAS „ABSOLUTE NICHTS“ (1915-1926)
Objectivity, in a sense, disappears
in absolute nothingness, but so, too,
does subjectivity.276
Robert J.J. Wargo
Nishidas Schaffen nach der Veröffentlichung von ZnK zentriert sich um eine genauere,
konkretere Bestimmung des Begriffs des Selbtbewusstseins, ausgedrückt durch die
unmittelbare Erfahrung. Dabei ist die Frage nach der Möglichkeit der Selbsterkenntnis
durch ein als unmittelbare Anschauung gedachtes Selbstbewusstsein leitend. 1915
erscheint ein Sammelband mit Aufsätzen zu diesem Thema, Denken und Erleben
(Shisaku to taiken 思索と体験).277 Im Vorwort gibt Nishida zu verstehen: „Der Titel
Denken und Erleben bedeutet lediglich, dass es sich um von mir Gedachtes und Erlebtes
handelt. In Kyoto wurde mein Denken zu Anfang vor allem von den Behauptungen des
Neukantianismus (junronriha 純論理派, eigentl. „Schule der Reinen Logik“), z.B. von
Rickert, und der Theorie der reinen Dauer von Bergson bewegt.“278 Diese Einflüsse
sind, verglichen mit ZnK, relativ neu. Nishidas Beschäftigung mit Bergson und Husserl
begann erst ab 1913 bzw. 1915.
In Denken und Erleben findet sich auch der Aufsatz „Das Verstehen in der Logik und
das Verstehen in der Mathematik“ (Ronri no rikai to sûri no rikai 論理の理解と数理
の理解), der 1912 entsteht.279 Hier geht es Nishida in erster Linie um eine Bestimmung
des Selbstbewusstseins als „selbst-repräsentatives System“, eine Idee, die er durch
Royces Metaphysik in Verbindung mit Dedekinds Darstellung der Unendlichkeit für
seinen Selbstbewusstseinsbegriff fruchtbar zu machen versucht. Zwei Dinge scheinen
hier auf den ersten Blick neu: zum Einen konzentriert sich Nishida vornehmlich auf
Logik und Mathematik, um seinen Begriff von Selbstbewusstsein zu erweitern, zum
Anderen ist der Begriff des Selbstbewusstseins (Jikaku) die Neubestimmung der
vormaligen, noch zu „psychologistischen“ Reinen Erfahrung. In Anschauung280 und
Reflexion im Selbstbewusstsein (1917), im Folgenden Anschauung, der ersten
zusammenhängenden Abhandlung, die Nishida nach ZnK herausgab, fließen die
Ergebnisse aus „Das Verstehen“ sowie Denken und Erleben ein. Wie Nishida hier eine
Neubestimmung seiner Position in ZnK, insbesondere seines Unendlichkeitsbegriffs,
versucht, soll in II.1.1. dargestellt werden. Gleichwohl kann hier auch Nishidas Skepsis
276
Wargo (2005), S. 175.
In NKZ I (1966), S. 201-420.
278
Vorwort zu „Denken und Erleben“, NKZ I (1966), S. 203; Elberfeld (1999a), S. 24.
279
In NKZ I (1966), S.250-267.
280
Der Begriff der Anschauung wird im Sinne der Intuition (chokkan 直観, im Verlauf der Abhandlung
auch chokkaku 直 覚 )verwendet. Ich benutze das deutsche Wort, um von der Bedeutung der
„Eingebung“ zu unterscheiden, obwohl Nishida diesen Unterschied nicht immer geltend macht, besonders,
wenn er von der „künstlerischen Intuition“ spricht: „Diese Äußerungen [von Conrad Fiedler und Max
Raphael] über die künstlerische Intuition (geijutsuteki chokkan 芸術的直観) zeigen alle die Wahrheit der
Erfahrung.“ NKZ II, S. 95. Gemeinhin ist auch nicht der Kantsche Begriff von Anschauung gemeint,
obwohl Nishida sich dessen bedient. Siehe Abschnitt 13, in dem Nishida Kants Bestimmung der
Bedingung der Erkenntnis eines Gegenstands (KrV, B 125) im Original zitiert. NKZ II, S. 65.
277
70
gegenüber logisch-mathematischen Systemen gezeigt werden. Die Verwertung Royces,
Dedekinds, Cantors und Rickerts durch Nishida ist jedoch lediglich eine Alibidiskussion,
deren Schein erst durch die Einführung des Fichteschen Begriffs der
„Tathandlung“ abgelegt wird.
Nishida bemüht hier den Begriff der „Tathandlung“, um der „Schule der reinen Logik“,
die den Charakter der Unmittelbarkeit sowie das reziproke Durchdringen von
Bedeutung und Existenz, Wert und Sollen nicht genügend erkannt habe, die aktive
Selbstsetzung des Ich gegenüberzustellen. Hiermit weicht Nishida allerdings von
seinem Standpunkt in ZnK ab, demzufolge nicht Selbstsetzung den absoluten Anfang
markiert, sondern das System sich erst in der unendlichen selbstgenerierenden Einheit
erhält und sich selbst ständig „außen vor“ ist.
Fichte ist in Anschauung als theoretischer Stichwortgeber deutlich präsent, wenn es
auch keine Stelle gibt, an der die Fichteschen Gedanken aus der Wissenschaftslehre
(1794) ausführlich diskutiert werden. 281 In der Frage nach der Möglichkeit bzw.
Unmöglichkeit der Erkenntnis reinen Selbstbewusstseins tritt schließlich Fichtes
Vermächtnis virulent hervor. Dennoch soll die Frage nach der Erkenntnis des
Selbstbewusstseins an systematischer Stelle sowohl Nishida-immanent als auch durch
den jeweiligen klassischen Kontext erhellt werden. Der klassische Kontext dieses
Problems findet sich zum Einen im Kantschen Verständnis des Selbstbewusstseins als
das „Ich denke“ und seiner einschlägigen Kritik am „Paralogismus der rationalen
Psychologie“, zum Anderen in Fichtes Idee der absoluten Selbstsetzung des Ich, deren
Kontrastierung mir im Hinblick auf das Nishidaschen Subjektverständnis erhellende
Schlüsse erlaubt. Dabei geht es mir weniger um die Überprüfung der jeweiligen
Argumente für und gegen die Möglichkeit vollständiger Selbsterkenntnis – dazu
verweise ich auf Kapitel I. 1.3.2. –, sondern um die Frage nach den Konsequenzen des
jeweiligen Subjektverständnisses in Bezug auf die Möglichkeit von Selbstbestimmung
und Freiheit bei Nishida – kurz, nach der Bedeutung des jeweiligen Verständnisses für
einen emanzipatorischen Subjektbegriff. Angeregt durch die Lesart Slavoj Žižeks sehe
ich in Kants Bestimmung eines „sich selbst entgehenden“ Subjekts die Möglichkeit
autonomen Handelns, welches in der absoluten Selbstsetzung des Ich bei Fichte
verunmöglicht wird. Von einer Kritik an Fichtes Idee der Subjektsetzung aus möchte
ich zeigen, dass Nishidas Tendenz zu Fichte und gegen Kant nicht nur seine hypertroph
idealistische Idee einer Ortlogik vorbereitet, sondern die Idee des Subjekts ad absurdum
führt (II.1.2.). Im Hintergrund steht dabei die Frage, ob Nishida ein objektives System
zu begründen vermag, dessen Prinzip – angeregt durch Fichte – allein die Aktivität des
Selbstbewusstseins ist. Nishidas Überlegungen dazu sind einem ständigen Umschlagen
in die reine und somit gegenstandslose Subjektivität ausgesetzt: die Opposition von
Subjekt und Objekt wird im Subjekt entschieden. Doch hängt dieses Subjekt als Subjekt
theoretisch in der Luft, weil es sich nicht einem Gegenüber verorten kann.
Es wird sich zeigen, dass der „Joker“, den Nishida zum Schluss seiner Ausführungen
aus dem Ärmel zieht, aus dem Unwillen entsteht, dem Subjekt eine logische Grundlage
zu geben – der Ausweg in die mystische Sprache des „absolut freien Willens.“ Dazu
281
Die erste Bezugnahme auf Fichte findet sich im Vorwort: „Was ich mit Selbstbewußtsein bezeichne,
ist natürlich nicht dasselbe, was die Psychologen darunter verstehen, vielmehr handlet es sich um das
Selbstbewußtsein des transzendentalen Ich. Es ähnelt der Tathandlung bei Fichte […] Falls ich mein Ziel
erreicht haben sollte, kann ich nun, indem ich der Position Fichtes einen neuen Sinn gebe, den
gegenwärtigen Neukantianismus und Bergson von einer tieferen Grundlage aus miteinander
verbinden.“ NKZ II (1966), S. 3, Elberfeld (1999a), S. 27-28.
71
mehr in II.1.3., wo auch von Nishidas neuem philosophischem Terminus der
„Welten“ kritisch zu reden sein wird, der sich bis in seine Spätphilosophie durchhält.
Als Übergangstext von Anschauung zu „Ort“ (1926) gilt Kunst und Moral (1923). Hier
wird die Entwicklung der mystischen Sprache des absolut freien Willens zu einer
„Philosophie der Innerlichkeit“ um 1923 in Kunst und Moral in II.1.4. in Kürze
darzustellen sein. Neben der „religiösen Eingebung“ ist für diese in erster Linie die
„künstlerische Anschauung“ maßgeblich. Eigens problematisieren möchte ich hier
Nishidas Rhetorik des „konkreten Standpunkts“ als „Standpunkt aller Standpunkte“ und
durch die Unterscheidung von Rhetorik und Semantik hinterfragen, was es mit der
suggerierten „Konkretion“, Nishidas philosophischen Ideal, auf der semantischen Ebene
auf sich hat. Die einzelnen Begrifflichkeiten in Kunst und Moral, wie Nishida sie
entlang eines elitaristischen und doch erschreckend verkürzten Kulturverständnisses
entwickelt, sollen nicht eigens thematisiert werden; Nishidas Entwicklung zu einem sich
sukzessive radikalisierendem Irrationalismus sowie einer in „Ort“ radikalisierten
verdinglichenden Rhetorik lässt sich indes bereits hier ablesen.
Hiernach wird der nächste Einschnitt in der denkerischen Entwicklung Nishidas
diskutiert: die Ortlogik, die ich – des Paradoxons bewusst – als intuitionistische Logik
verstehe (II. 2.) Der Aufsatz „Ort“ (1926) stellt dabei Nishidas reife Überlegungen zur
Problematik der Subjekt-Objekt-Einheit dar. Nishida versucht hier um ein weiteres eine
Neubestimmung des Subjekt-Begriffs jenseits der bereits in ZnK in Abrede gestellten
Dichotomie von Subjekt und Objekt. Die sogenannte „Prädikatenlogik“, sowie eine
Logik des Ortes, den er mit dem „Nichts“ identifiziert, sollen diese leisten, wobei der
Begriff „Logik“ irreführend ist, wie ich zeigen werde. Nishida scheint zumindest seiner
Rhetorik nach eine logisch begründete Ontologie für die Selbstbewusstseinsproblematik
in Anschlag bringen zu wollen. Dabei überführt Nishida die Problematik des
Selbstbewusstseins in die Diskussion des Nichts-Begriffes. Hierbei wird von den
grundlegenden Aspekten der Ortlogik im Ausgang vom Selbstbewusstsein zu sprechen
sein (II. 2.1.) und Nishidas Ansatz sowohl sachlich wie auch methodisch kritisch
reflektiert.
Nishidas
Leitthese
zufolge
wird
durch
die
Überführung
der
Selbstbewussteinsproblematik in das „absolute Nichts“ die Substantialisierung des
Selbstbewusstseins, die durch die Annahme des „Subjekt-Objekt-Dualismus“ angeblich
geleistet werde, verhindert. Die Widerlegung dieser Behauptung bildet die Hauptthese
dieses Kapitels. Ich werde sie an systematischer Stelle darlegen und zeigen, dass
Nishidas Nichts- und Selbstbewusstseinsbegriff im Gegenteil eine Substantialisierung
(II. 2.1.1.) erfährt. Methodisch kann diese These an der logischen Begründung eines
unendlichen oder unbestimmten Urteils im Antinomienkapitel der KrV plausibel
gemacht werden.
Im Anschluss soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern es sich bei der Ortlogik
um eine Logik des Ortes handelt. Um Nishidas Prädikatenlogik zunächst plausibel
darzulegen, stelle ich daher im Anschluss Nishidas Verständnis des Subsumtionsurteils
als „Prädikatsebene“ des absoluten Nichts dar (II. 2.1.2.). Darauf erfolgt eine Kritik aus
der Perspektive der Hegelschen Begriffslogik, die ebenso wie Nishida das
konsequenzreiche Verhältnis der logisch-ontologischen Beziehung von Subjekt und
Prädikat in den Mittelpunkt ihres Interesses rückt.
Abschließen möchte ich dieses Kapitel und die Kritik an der Ortlogik mit einer
Darstellung ihrer Interpretation durch R.J. Wargo, der die meines Wissens
umfangreichste Ausarbeitung der Nishidaschen Philosophie in einer westlichen Sprache
72
vorgelegt hat (II. 2.2.1.). Meine Analyse in II. 2.2.2. fokussiert sich zum Einen auf eine
simple logische Dekonstruktion der (apologetischen) Interpretation durch Wargo, zum
Anderen möchte ich schließlich in Art eines allgemeinen Rundumschlags in II. 2.2.3.
durch das Programm der Hegelschen WL den Kontrast zu Nishida herausarbeiten, der
sich an der Frage entzündet, was der zugleich einfache, wenngleich immer wieder zu
Missverständnissen führende Begriff einer Logik meint, die sich als Ontologie versteht.
1.
Die (Un-)Möglichkeit der Erkenntnis reinen Selbstbewusstseins. Von „Das
Verstehen in der Logik und das Verstehen in der Mathematik“ (Ronri no
rikai to sûri no rikai 論理の理解と数理の理解) (1915) bis „Kunst und
Moral“ (Geijutsu to dôtoku 芸術と道徳) (1923)
„Ich kann nicht bei der Erkenntnistheorie stehenbleiben, sondern fordere eine
Metaphysik“, schreibt Nishida im Vorwort zu Anschauung.282 Diese Äußerung richtet
sich gegen die neukantianische Schule, von der Nishida beeinflusst war, die er aber mit
Hilfe des Fichteschen Gedankens der Selbstsetzung zu überwinden suchte. In
Anschauung gibt es keine apodiktische Antwort auf das Problem der Möglichkeit der
Selbstreflexion. Vielmehr scheint es, als wolle Nishida einerseits die Gefahr eines
„verobjektivierten“ Selbstbewusstseins vermeiden, das notwendigerweise dadurch
entsteht, dass ich mir „mein Selbst zum Gegenstand mache“ – Nishida zufolge wäre es
dann bereits nicht mehr das, was es „wirklich“ ist –, andererseits suggeriert seine
Begriffsbestimmung „Selbstbewusstsein“ als einheitliches, unendlich in sich
reflektiertes System, dass Selbstreflexion nicht nur möglich, sondern geradezu gegeben
ist – durch den „Akt“, die Fichtesche Tathandlung.
Im Folgenden soll durch einen kurzen Rückgriff auf den kurz vor Anschauung
entstandenen Text „Das Verstehen in der Logik und das Verstehen in der
Mathematik“ (1915), hiernach Das Verstehen, gezeigt werden, wie sich Selbstreflexion
zur Dedekindschen Definition von Unendlichkeit – den Nishida für seinen
Ausführungen heranzieht – verhält. Es wird sich zeigen, daß die Dedekindsche
Definition, auf das Selbstbewusstsein, bzw. „das eigene Ich“ angewandt, eine Aporie
erzeugt, die diese Definition für selbstrefentielle Systeme untauglich macht.
Im Anschluss thematisiere ich das Problem der Selbstreflexion als Fichtes Ich-Setzung
einerseits und andererseits als den Kantschen „Paralogismus der rationalen
Psychologie“, dessen „Ich denke“ „nichts anderes als transzendentale Prädikate“283
enthält. Kants Ablehnung eines sich selbst erkennenden Subjekts als „transzendentaler
Schein“ und Fichtes Propagierung reiner Selbsterkenntnis in der „intellektuellen
Anschauung“ sollen dabei kontrastiert und Fichtes idealistische Setzung kritisch
betrachtet werden. Nishidas Nähe zu Fichte wird insofern problematisiert, als Nishidas
erneute Flucht in die irrationalistische Sprache des „reinen“ freien Willens als ein
Symptom seines hypertrophen Idealismus gewertet wird.
Das vorliegende Kapitel verzichtet auf die Diskussion von Einzelproblemen in
Anschauung. Dazu gehört die Opposition von Sinn und Sein im Identitätsurteil, die
Nishida bei Rickert aufgreift; sowie die Diskussion verschiedener „a priori“ oder a
282
283
NKZ II (1966), S. 6, Elberfeld (1999a), S. 30.
KrV B401-402 (1923).
73
priorischer Systeme, die von Emile Picards Definition des Grenzpunkts 284 ausgeht.
Auch die theoretische Anlehnung an Bergsonsche Theoreme wie die reine Dauer (durée
pure) sowie den élan vital muss unthematisiert bleiben, wie auch Nishidas Versuch, das
me on sowohl in Anlehnung wie in Abgrenzung an Hermann Cohen285 zu bestimmen.
Der Grund dafür liegt in der Systematik dieser Arbeit: die zentrale Problematik ist die
Nishidasche Bestimmung des Selbstbewusstseins bzw. des Subjekts, hier insbesondere
die Frage nach der Möglichkeit totaler Selbstreflexion. Insofern Nishidas Diskussion
von Einzelproblematiken nicht zwingend neue Bestimmungen dieses Begriffs
(Selbstbewusstsein, Subjekt und Selbstreflexion) erlauben, bleiben sie unberücksichtigt.
Wieweit die Einzelprobleme auch für eine Auswertung der denkerischen Entwicklung
Nishidas interessant sein mögen, führen sie Nishidas bislang rein intuitionistisch
gedachten Selbstbewusstseinsbegriff nicht weiter. Der Grund wird auch darin zu finden
sein, dass es Nishidas Beschäftigung mit einer Vielzahl von modernen
erkenntnistheoretischen Positionen stets um Abgrenzung zu ihnen geht.
1.1.
Unendlichkeit in „Das Verstehen in der Logik und das Verstehen in der
Mathematik“ (1915)
Im 1915 publizierten Aufsatz Das Verstehen untersucht Nishida mit einem kritischen
Blick auf Rickerts Unterscheidung des Begriffs des Einen als Begriff der reinen Logik
und der Zahl „Eins“ in der Mathematik, die Möglichkeit, ob „alles logische Verstehen
auf diese Weise die immanente Entwicklung eines allgemeinen Etwas, d.h. eine Art
produktiver Tätigkeit ist.“286
Zentral ist bei Nishida hierfür die Tätigkeit des logischen Schließens, das nicht einfach
nur eine bereits gemachte Erfahrung wiederhole, sondern als „Entwicklung“ von einem
Allgemeinen zum Besonderen gesehen werden müsse. Bereits das einfachste Schema
eines logischen Urteils, das Identitätsurteil A ist A, zeige einen Unterschied, und nicht
einfach die Wiederholung desselben A an: „Das Urteil ‚A ist A’ ist eine gleichzeitig auf
sich selbst und auf das andere gerichtete Funktion.“287 Nur wenn im einfachen Urteil
der Identität die Veränderung mit eingeschlossen sei, so Nishida, sei „der Satz von der
Identität ein Prinzip der Realität.“288 Der Bezug auf das Andere in diesem allgemeinen
Satz sei gerechtfertigt durch seine Vermittlung mit dem Besonderen. „Alles Allgemeine
bewegt sich aber aus sich selbst, es ist mit sich selber identisch und zugleich
differenziert es sich prozesshaft. Darum kann der logische Satz der Identität (‚A ist A’)
[…] logische Evidenz beanspruchen und zum Prinzip logischen Verstehens werden.“289
Nishida geht es hier um das Prinzip eines unendlichen, selbsterhaltenden Allgemeinen,
dem Rickerts einfache Unterscheidung eines „homogenen“ Mediums der Zahl und des
284
Siehe Picard (1913), S. 5.
Siehe für eine eingehende Diskussion der Bestimmung des me on bei Cohen und Nishida Steineck
(2004). Steineck zeigt eindringlich, wie die „kreative“ Lesart Cohens durch Nishida sowie seine
Subsumtion des Nichts-Begriffs des Nichts (me on) unter seine eigene Begrifflichkeit zum Kollaps seines
Selbstbewusstseinssystems führt. Meine Analyse in II. nähert sich diesem Befund stark an; die
Argumente allerdings sind dem Aufbau dieser Arbeit entsprechend andere.
286
Ich beziehe mich im folgenden auf P. Pörtners zuverlässige Übersetzung von Das Verstehen in Pörtner
(1990), S. 303-317.
287
Ebd., S. 306.
288
Ebd., S. 304.
289
Ebd., S. 305-306.
285
74
„heterogenen“ Mediums eines logischen Begriffs nicht standhalten könne: 290 „Nun
bleibt aber die Frage, ob [...], wie Rickert meint, die Heterogenität als Basis des
logischen Unterscheidens und die Homogenität als Basis des Begriffs der Zahl wirklich
in keinerlei Beziehung miteinander stehen. Sollte nicht vielmehr eine Seite der
Heterogenität irgendeine Homogenität in sich enthalten?“291 Das Allgemeine ist für
Nishida ein Selbstbewusstsein, das analog zu den Zahlen als ein unendlich fortlaufendes
System bestimmt werden können muss. Die Differenzierung zwischen logisch
heterogenem und mathematisch homogenen Medium bei Rickert unterschlägt Nishida
zufolge, dass es etwas ihnen Gemeinsames geben müsse, von dem aus die Idee der
Unendlichkeit als fortlaufendes System eines Allgemeinen denkbar ist. Die
Unterscheidung von Logik und Mathematik macht für Nishida im Hinblick auf das
„Denken der Unendlichkeit“ keinen Sinn. Schließlich ist das Selbstbewusstsein für
Nishida als ein System der Unendlichkeit konzipiert, allein sucht er noch nach seiner
logisch deduzierbaren Grundlage. Rickert gegenüber ist er dabei skeptisch: sollte es so
sein, dass, wie Rickert meint, die Zahl 1 sowie die einfache Addition 1+1=2 alogische,
„intuitive“ Elemente enthält, müsse das ebenso für die unendliche Zahlenreihe gelten.
Nishida legt hier ungewöhnlicher Weise große Emphase auf das Gegenteil: das „Wesen
der Unendlichkeit“292 sei allein im Denken, in der Logik, zu finden: „Die unendliche
Reihe ist nicht in der sogenannten Intuition (chokkaku 直覚) gegeben. Auch die raumzeitliche Unendlichkeit entsteht aus der Anwendung der unendlichen Synthese der
Vernunft auf die Form der Intuition.“293
Die Suche nach einem Unendlichkeitsbegriff, der logisch-mathematisch das „Denken
als Bewusstsein des Allgemeinen“ repräsentiert, führt Nishida zu Josiah Royces „selfrepresentative system“ aus The World and the Individual294, die er für seinen Begriff
des Selbstbewusstseins weiter zu entwickeln sucht. Royce entdeckt im Anschluss an
den Dedekindschen Begriff des Unendlichen „some case of an unity which develops its
own differences out of itself.“295 Royce wendet das Prinzip der Unendlichkeit allerdings
nicht exklusiv auf das Selbstbewusstsein an, sondern stellt allgemein fest, dass
„Unendlichkeit“ ein „self-representative system“ sein müsse. Nishida stimmt ihm darin
zu und überträgt diese Bestimmung auf das Selbstbewusstsein. Das „Unendliche“ des
Bewusstseins muss für Nishida entsprechend ein selbstrepräsentatives,
selbstabbildendes System sein: „Wir können in unserem reflexiven Bewusstsein [die
Tatsache], daß wir das Selbst zum Gegenstand des Denkens machen, wiederum zum
Gegenstand unseres Denkens machen, gleichsam wie eine zwischen zwei Spiegeln
stehende Gestalt.“296
Royces allgemeiner Definition zufolge sei ein selbstrepräsentatives und somit
unendliches System ein System „that can be exactly represented or imaged, element for
290
Auf eine eingehende Diskussion von Rickerts These muss verzichtet werden. Selbst Nishida geht es
nur um die einfache Behauptung, dass die Qualifikation „heterogen“ und „homogen“ eine weitere Ebene
voraussetzen muss, nicht um eine intensive Gegenüberstellung mit Rickert. Siehe Rickert (1911/12),
S. 61 ff.
291
Pörtner (1990), S. 309.
292
Ebd., S. 314.
293
Ebd., S. 314.
294
Royce (1916). Siehe insbesondere: „Supplementary Essay, Section III”, S. 501ff. Royes Motivation,
eine Kritik an Hegels “ungenauem” Begriff der Unendlichkeit, dürfte eine weitere Attraktivität für
Nishida gehabt haben.
295
Ebd., S. 496.
296
Ebd.
75
element, by one of its own constituent parts […]”. 297 Nishida interessiert hier aber
primär, wie diese Definition auf ein sich selbst „abbildendes“ und somit wahres
allgemeines Selbstbewusstsein angewendet werden kann. Sie wird schließlich auf die
Frage hinauslaufen, ob die Erkenntnis reinen Selbstbewusstseins durch dieses selbst und
somit die Erkenntnis eines „wahren“ Unendlichen möglich ist. Für Nishida ist die
Möglichkeit in Das Verstehen axiomatisch gegeben. Doch wie und welcher Begriff von
Unendlichkeit liegt diesem Verständnis zugrunde? Über Dedekinds Definition des
unendlichen Systems und Royces Beispiel einer „perfekten Karte von
England“ versucht Nishida im Folgenden, dem Problem eines selbstreflexiven, seine
eigenen Differenzierungen hervorbringenden und unendlichen System des Allgemeinen,
dem Selbstbewusstseins, zu begegnen.
Nishida zitiert zunächst Richard Dedekinds Was sind und was sollen die Zahlen? aus
dem Original: „Ein System S heißt unendlich, wenn es einem echten Teile seiner selbst
ähnlich ist.“298 Nishida gibt dafür ein weiteres Beispiel Royces an, das sich an die
Dedekindsche Definition anlehnt: „…als wolle man eine vollkommene Karte Englands
über England decken, darüber wieder eine neue, ad infinitum. Dies ist das wahre
Unendliche; das Unendliche des Raums und der Zeit hängt ab von dieser Unendlichkeit
des Denkens.“299 Für Nishida ist es in Das Verstehen keine Frage, dass das System des
Denkens unendlich in diesem Sinne ist. Damit wäre aber Royces System des
Unendlichen eine Hegelsche „schlechte Unendlichkeit“ 300 – ein progressus bzw.
regressus infinitus – und keineswegs vollständig oder „perfekt“. Doch genau darauf
hebt Royce an, wenn er ausschließlich dieser Art selbstrepräsentativer Systeme, in
denen jedes Element das gesamte System repräsentiere, Totalität bescheinigt.301 Zudem
scheint Royce auch recht unbeeindruckt durch den Hegelschen Einwand der „leeren
Wiederholung“, die sich in der schlechten Unendlichkeit zeige. Royce zufolge sei das
Argument, der unendliche Progress sei bloß „eine und dieselbe langweilige
Abwechslung“ des Endlichen und des Unendlichen begging the question: „There is a
certain question-begging involved in condemning a process because of one’s subjective
sense of fatigue.“302 Doch kann der infinite Regress bzw. Progress die Einheit und
Allgemeinheit des Selbstbewusstseins erklären, um die es Nishida letztlich geht? Soll
das Selbstbewusstsein einheitlich begründet sein, kann Nishida diese Erklärung Royces
kaum als Erklärungsmodell zum Vorbild nehmen. Im Folgenden soll daher ein näherer
Blick auf Dedekinds Definition der Unendlichkeit und ihre Probleme geworfen werden.
Obgleich Nishida letztlich mehr zu Royces anschaulichem Kartenbeispiel tendiert,
versucht er, sie in seine Idee unendlicher Selbstreflexion zu integrieren.
In Dedekinds Definition und Ausführungen zur Unendlichkeit ergeben sich
grundlegende Probleme, in ihrer Art dem Problem Nishidas nicht unähnlich. Dedekind
überlässt seine Definition unendlicher Systeme nicht der numerischen Unendlicheit der
(natürlichen, rationalen oder irrationalen) Zahlen, sondern wendet sie auf „meine
297
Royce (1916), S. 512.
Pörtner (1990), S. 314. Im Ganzen lautet der Paragraph:„Ein System S heißt u n e n d l i c h , wenn es
einem echten Theile seiner selbst ähnlich ist; im entgegengesetzten Falle heißt S ein e n d l i c h e s
System.“ Dedekind (1893), § 5, „Das Endliche und Unendliche“, Definition 64, S. 17.
299
Pörtner (1990), S. 315.
300
WL I, S. 155.
301
„Far from lacking totality, then, in the way in which the infinite, or rather the indefinite, multitude of
such accounts as Mr. Bosanquet’s is said to lack totality […], those genuinely self-representative systems,
whose images are portions of their own objects, are the only ones which can be said to possess any
totality whatever.” Royce (1916), S. 514.
302
Ebd., S. 508, Fußnote.
298
76
Gedankenwelt“ – das reflexive Selbstbewusstsein – an und verortet sich so inmitten der
Selbstbewusstseinsproblematik: „Meine Gedankenwelt, d.h. die Gesamtheit S aller
Dinge, welche Gegenstand meines Denkens sein können, ist unendlich.“ Weiter heißt es:
„Denn wenn s ein Element von S bedeutet, so ist der Gedanke s’, daß s Gegenstand
meines Denkens sein kann, selbst ein Element von S.“303 Dies würde in etwa den
Nishidaschen Gedanken des sich in einem Punkt immer weiter spiegelnden Spiegel aus
Das Verstehen wiedergeben. Nach Dedekind ist ein jeglicher Gedanke meiner
„Gedankenwelt S“ s. Nun kann man den Satz bilden: „s ist Gegenstand meines
Gedankens.“ Dieser weitere Gedanke wäre nun s’. Er wäre also so etwas wie ein Bild
oder eine Repräsentation des ersten s. Die Totalität dieser „Repräsentationen“ wäre
demzufolge die Menge S’, die aber selbst wiederum nur eine Teilmenge von S ist, weil
es in S Elemente gibt, die in S’ nicht enthalten sind. John C. Maraldo, der dieses
Gedankenexperiment mit den Variablen T und t durchführt, weist darauf hin, dass für
Dedekind ein Element aus der Menge S, das nicht Element der Menge S’ sei, „one’s
own ego“ – das eigene Ich – sei. 304 Nun ist aber S einem echten Teile seiner selbst – S’
– ähnlich, weil jeder Unterschied der Elemente von S in einem Unterschied der
korrespondierenden Elemente in S’ reflektiert ist. Das System S korrespondiert also
Element für Element mit einem „echten Teile“ seiner Selbst. Da in S’ zunächst ein
Element weggelassen werde, das in S vorhanden sei, spricht Dedekind von einem
„echtem Teil.“ S und S’ sind demnach nicht identisch. Nach Dedekind ist daher „meine
Gedankenwelt S“ ein unendliches System.
Das Problem in dieser Auffassung von Unendlichkeit liegt offensichtlich darin, dass es
nun mindestens ein Element in S geben muss, das nicht in S’ vorhanden sei, und das ist
das eigene Ich. Man kann dieses Problem von zwei Seiten angehen. Zum Einen ergibt
sich scheinbar eine Ungereimtheit in Dedekinds Definition, wenn man berücksichtigt,
dass ein „prä-reflexives Cogito“ die Bedingung für ein „reflexives“ Cogito ist,
ausdrückt in dem Satz: „Ich denke, dass Ich es bin, der dieses denkt.“ Dann verhält es
sich genau umgekehrt –in S’ ist dann ein Element enthalten, das nicht in S anzutreffen
ist. Maraldo kommentiert dazu: „Second-order, reflective thoughts of the form t* or ‘t is
an object of my thought’ can be said to ‘contain’ the thought t, which means that the set
T* does potentially ‘contain’ all elements in T and hence is not a proper subset.“305
Auch kann „meine Gedankenwelt“ bzw. „mein eigenes Ich“ nur dann Element von S
werden, wenn ich es überhaupt denke, d.h. wenn ich ein Urteil in Form einer
prädikativen Aussage über dasselbe vornehme. Es ist nicht einfach nur der Hintergrund
für jeden Akt, sondern muss bewusster Teil des Aktes selbst sein: von welchem
Standpunkt aus könne Dedekind auch sonst behaupten, dass meine Gedankenwelt, also
die Menge S, die Gegenstand meines Denkens sein können, unendlich sei? Es ist das
Ich, das das Ich reflektiert. Das schwer nachvollziehbare Problem besteht darin, dass in
einem beliebigen Urteil über das eigene Ich die Bedingung der Aussage die Aussage
selbst ist: jede (wahre) Präposition über „Ich“ steht unter der Bedingung des durch
dieselbe Prädizierten. Offensichtlich ist das in dem Satz „Ich existiere“. Diese Aussage
wäre ohne die Tatsache meiner Existenz unmöglich. Das führt zu der Frage, von
welchem Standpunkt aus Aussagen über das Ich möglich sind. Unterscheidet sich ein
Urteil über das urteilende Ich in Funktion und Bedeutung von einem Urteil über Objekte
der „Gegenstandswelt“? Das intrinsische Verhältnis von „Ich“ und Präpositionen über
303
Dedekind (1893), S. 17.
Maraldo (2006a), S. 147.
305
Ebd. S. 148.
304
77
„Ich“ sowie der Unterschied zu prädikativen Aussagen über beliebige andere Entitäten
kommt zur Geltung, wenn man sich Folgendes vergegenwärtigt: Die Aussage „Mein
eigenes Ich ist grün“ hat insofern eine andere Stellung als „Der Apfel ist grün“, weil das
eigene Ich, um über sich selbst zu urteilen, schon nicht mehr das eigene Ich und
gleichzeitig Bedingung des Urteilens überhaupt ist. Tatsächlich scheinen Urteilender
und Urteil im Fall des Selbstbewusstseins zusammenzufallen – genau das war der von
Fichte beeinflusste Standpunkt Nishidas. Doch nach Dedekinds Definition von
unendlichen Systemen treten Urteilendes und Bestimmtes im Fall des „eigenen
Ich“ bereits innerhalb der Menge S in Opposition zueinander, so dass es keinen Sinn
mehr macht, eine weitere Menge S’ anzunehmen, in der auf den Gedanken über mein
eigenes Ich wieder reflektiert wird – die erste Menge sei bereits in der zweiten Menge S’
enthalten. Die Denkfunktion selbst als Subjekt des Urteils hat entsprechend eine
Ausnahmestellung. Das Problem der Unendlichkeit selbstreferentieller Systeme wie
„das eigene Ich“ bei Dedekind scheint dabei aber auf einer anderen Ebene wiederholt zu
werden. Zwar übernimmt Nishida Dedekinds Definition nicht und tendiert schließlich
zu Royces Beispiel der perfekten Karte von England,306 die er als eindeutig positive
Bestimmung mit der dynamischen (unendlichen) Bewegung des Selbstbewusstseins
parallelisiert. Unendlichkeit als ein System jedoch, „das, wenn es sich selbst innerhalb
seiner reflektiert (utsushiuru 写し得る), unendlich ist“307, wie Nishidas recht freie
Neubestimmung von Dedekinds Unendlichkeitsdefinition nahelegt, wird als
Charakterisierung des Selbstbewusstseins beibehalten.
Dass Royces Kartenbeispiel nicht weniger problematisch ist als Dedekinds Definition,
kann man sich daran erklären, dass eine „perfekte“ Karte von England im Sinne einer
vollständigen Karte immer den Standpunkt des Zeichners beim Zeichnen beinhalten
muss – und das zu leisten ist für den Zeichner unmöglich. Mehr noch: der Ort, an dem
die perfekte Abbildung geleistet wird, muss sich notwendig außerhalb des gezeichneten
Areals befinden. Royce zufolge ist aber die Bedingung für die Abgeschlossenheit der
Karte, dass sie „contained within England“ sei: wir haben es nicht mit einer Abstraktion
zu tun, wie sie übliche Karten darstellen, sondern mit einer exakten Abbildung im
Verhältnis 1:1. Die Karte soll also bis auf das letzte Detail die reale Existenz Englands
re-präsentieren, d.h. etwas anderes sein als England und doch England „selbst“. Das
Problem der Selbstreflexion als unendliches System wiederholt sich hier: die
Abgeschlossenheit wird verunmöglicht.
Insofern wird die Einheit und „Vollständigkeit“ des selbstabbildenden Systems durch
das Andere, das was selbst nicht teil des Systems ist, begrenzt und gleichzeitig erst
hergestellt. Die Grenze, Bestimmung der doppelten Negation in Hegels Daseinslogik
und somit „nicht mehr abstraktes An-sich“ 308 , nicht mehr nur die „unmittelbare
Identität“309, sondern notwendig das Moment der (reflektierten) Negation enthaltend
und Etwas und Anderes als solche bestimmend, ist gerade auch für selbstabbildende
oder selbstreflexive Systeme eine notwendige Kategorie. Ohne die Grenze – die
Vermittlung seiner mit seinem Gegenüber (dem Anderen) – wäre es nicht einmal Etwas.
306
Im Gegensatz zu Dedekinds Definition findet sich Royces Kartenbeispiel in Anschauung wieder: „[…]
as Royce saw, a single project of reflecting the self inevitably generates an unlimited series, just as, if one
wished to make a completely adequate map of England on the surface of that country, each realization of
this plan would immediately generate the project of another map including the previous one in a
neverending process […]” Nishida (1987), S. 4.
307
NKZ I (1966), S. 264. Zit. In Maraldo (2006a), S. 151, Fußnote 19.
308
WL I, S. 131.
309
Ebd., S. 132.
78
Nishida entgeht dieser Punkt: nicht ist reine Selbsterkenntnis unmöglich, weil ein
reflektiertes Selbst „ver-objektiviert“ würde und so nicht mehr ursprüngliches
Selbstbewusstsein wäre, sondern weil sie verlangt, dass sie nicht rein wäre. Nishida
wird sich auch in Anschauung – jedoch aus anderen Gründen – zunächst gegen die
Möglichkeit reiner Selbsterkenntnis aussprechen, sich schließlich aber doch Fichtes
absoluter Selbstsetzung anschließen.
Als Modell des „unendlichen“, d.h. vollständigen Selbstbewusstseins wird Royces
Englandkarte von Nishida allerdings als treffendes Beispiel gesehen und für problemlos
in sein System integrierbar gehalten. 310 Wie Nishida meint, lassen die einzelnen
Elemente bei Royce im reflektierten, bzw. gezeichneten System, im Gegensatz zu
Dedekinds „echten Teilen“, nicht ein Element des Ganzen aus. Alles wird vollständig
und gleichzeitig prozesshaft-unendlich wiedergegeben. Als ein solches prozesshaftunendliches System konzipiert Nishida auch sein unendliches Selbstbewusstsein in
Anschauung. Diese grundlegende Bestimmung findet sich schon auf den ersten Seiten
des Werks. Deutlich ist bereits hier, dass Nishida die Anschauung mit dem
Selbstbewusstsein als „ununterbrochen“ bzw. „unendlich“ parallelisiert, während der
Reflexionsbegriff einen untergeordneten Stellenwert innerhalb des Systems innehat:
Anschauung ist ein Bewusstsein ununterbrochenen Fortschreitens (fudan shinkô 不断進行), der
Realität, wie sie ist, worin das, was erkannt wird und das, was erkennt, eins sind, und Subjekt
und Objekt noch nicht getrennt. Die Reflexion ist ein Bewusstsein, das außerhalb dieses
Fortschreitens steht, sich umwendet und es betrachtet […] Wenn das Selbst im
Selbstbewusstsein seine eigene Aktivität zum Gegenstand macht und sie reflektiert, dann ist
diese Reflexion genau dieser Akt der Selbstentwicklung und als solcher unendlich (mugen ni 無
限に) fortschreitend.311
Nishidas „Strategie“ besteht darin, den Unterschied von der vorreflexiven
„Tatsache“ des Selbst und reflektierendem Denken des Selbst in der Einheit des
Selbstbewusstseins aufzuheben. Diese klassische Problematik – ob das reine, nur sich
selbst thematisierende Selbst für das Selbst zu einem Erkenntnis ermöglichendem
Material der Anschauung werden kann – , wird in Kants Entwicklung des Paralogismus
zum einem negativ, in Fichtes Begriff „intellektueller Anschauung“ zum anderen
positiv entschieden. Da Nishida selbst zunächst zwischen beiden Positionen zu
schwanken scheint, sich am Ende jedoch für die Fichtesche Position entscheidet, macht
es Sinn, einen näheren Blick auf beide Theoreme und deren Konsequenzen über die
„metaphysische Spekulation“ hinaus zu werfen.
310
Maraldo meint, Nishida habe Royces Begriff der Unendlichkeit als Gegenentwurf zur Auffassung der
Neukantianer verstanden – und begrüßt: „Nishida uses Royce’s explanation to counter Kant and the NeoKantians who proposed that the idea of numerical infinity derives from time as a form of intuition, i.e.,
from a schema of the imagination. For Nishida, as for Royce, the infinite series of the mathematicians
derives from the infinity, i.e., the self-imaging quality, of thinking.“ Maraldo (2006a), S. 148.
311
NKZ II, S. 13.
79
1.2.
Unmöglichkeit der Reflexion, Möglichkeit der „Setzung des Ich“.
Kants „Paralogismus“, Fichtes „Anschauung“ und ihre Bedeutung für
Nishidas Subjektbegriff
Wie oben bereits angedeutet, ist die Frage nach der Möglichkeit reiner
Selbstbewusstseinserkenntnis bei Nishida über weite Strecken von Anschauung
ambivalent. Oben (I.1.3.2.) konnte bereits gezeigt werden, dass hinter dieser klassischen
Frage – letztlich neben einer Frage der Transzendentalphilosophie die Frage des
Deutschen Idealismus – die gegensätzlichen Positionen Kants und Fichtes stehen.
Ersterer beantwortet die Frage nach der Möglichkeit der Selbstreflexion in diesem Sinne
negativ, letzterer versucht, mit der intellektuellen Anschauung eine Lösung zu bieten.
Obwohl Nishida zunächst der Kantschen Position näher zu sein scheint, ist es
schließlich Fichte, dem er sich anschließt. Das ist im Hinblick auf sein bisheriges
System konsequent: wie bei Fichte wird das, was als Erkenntnis des Selbst gilt oder zu
gelten hat, auch auf die Strukturen der Realität übertragen. Hier schließen sich aber
weitere Fragen an, die über die erkenntnistheoretische Dimension hinausweisen: welche
Konsequenzen hat die idealistische Setzung Fichtes, die Nishida übernimmt, für die
Möglichkeit eines autonomen Subjekts? Bedeutet die absolute Selbstsetzung des Ich als
unbedingte automatisch auch absolute Freiheit? Ich möchte hier kritisch und im
Vorgriff auf später zu Erörterndes überprüfen, welche Auswirkungen Nishidas
theoretische Nähe zu Fichte für einen emanzipatorischen Subjektbegriff hat und dafür
auf einen wichtigen Aspekt in der Fichte- und Kantlesart Slavoj Žižeks zurückgreifen.
Zunächst jedoch zu Nishidas ambivalenter Haltung gegenüber der Möglichkeit
vollständiger Selbsttransparenz.
Für Nishida ist Selbstreflexion möglich, insofern es sich um einen unendlichen, aktiven
Prozess handelt. Zwar setzt dieser Akt der Reflexion seine eigene Unabgeschlossenheit
und Unfertigkeit voraus, wie Royces Kartenbeispiel zeigt; Nishida sieht diese
Paradoxalität jedoch nicht. Die Unmöglichkeit der Reflexion konstatiert Nishida nur
dann, wenn man das Selbstbewusstsein „wie ein Ding (mono 物), das vor einen Spiegel
gestellt und reflektiert wird“312 , versteht. Dann sei das aktive Selbst, das sich selbst
zum Gegenstand mache, nicht mehr dieses aktive, sondern ein statisches Selbst. Der
Unterschied von Anschauung und Reflektion wird hier auf das Paradigma der
Bewegung angewandt: während die Anschauung unendlich aktiv und fortschreitend,
reines Movens der Bewegung ist, ist die Reflektion der Stillstand, die Ruhe.313 Wenn
das Selbstbewusstsein die vereinheitlichende Aktivität am Grunde des Bewusstseins sei,
könne es selbst nicht zum Objekt für das Bewusstsein werden, denn dieses sei schon
nicht mehr das aktive Selbst. Dann aber sei „die Tatsache des Selbstbewußtseins, in
dem Sinne, dass das Selbst sich selbst reflektiert, eine Unmöglichkeit.“314Aus diesem
Befund lässt sich eine gewisse Nähe zur Kantschen Aporie erkennen, „dass ich
dasjenige, was ich voraussetzen muß, um ein Objekt zu erkennen, nicht selbst als
Objekt erkennen“315 kann. Kant nennt den Paralogismus der rationalen Psychologie
auch die „Subreption des hypostasierten Bewußtseins“, nämlich den „natürliche[n]“ und
312
NKZ II, S. 15.
Siehe auch Itabashi (2004), S. 79: „In der Selbstreferenz ist die Bewegung (dôsei 動性) das Moment
der Unmittelbarkeit, das Anhalten (seishi 静止) – das Selbst blickt auf sich selbst zurück – ist das
Moment der Reflexion.“
314
Ebd.
315
Ebd.
313
80
„verführerische[n]“ Schein, „die Einheit in der Synthesis der Gedanken [für] eine
wahrgenommene Einheit im Subjekte dieser Gedanken zu halten“316, einen Schein, dem
Nishida zunächst jedenfalls nicht zu unterliegen scheint. Hiermit korrespondieren auch
Nishidas Ausführungen am Schluss eines Abschnitts, in dem er sich kritisch mit der
Unterscheidung von Akt, Inhalt und Gegenstand in der Habilitationsschrift des
Brentano-Schülers Kazimierz Twardowski, Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der
Vorstellungen (1894)317 auseinandersetzt:
Wenn man gründlich darüber nachdenkt, dann ist die konstitutive Aktivität (kôsei sayô 構成作
用) als Gegenstand des Bewusstseins reflektiert und so nicht mehr die wahre konstitutive
Aktivität, so dass sich diese und die Aktivität des psychologischen Ego bloß relativ
unterscheiden. Die wahre konstitutive Aktivität kann sich aber nicht objektivieren – dann aber
kann man über diese wohl nichts sagen: was soll eine konstitutive Aktivität sein, die sich nicht
selbst reflektieren kann?318
Wie weit Nishida mit Kant geht, zeigt auch die folgende Ausführung, die eindeutig die
Unmöglichkeit einer „Verobjektivierung des Selbst“ ausspricht:
Wenn Erkennender und Erkanntes, wie normalerweise gedacht wird, getrennt sind, sind das
Allgemeine (ippanteki naru mono 一般的なるもの) und das Besondere (kojinteki naru mono
個人的なるもの, eigentl. das „Individuelle“ – kojin = Individuum) unabhängig voneinander,
beziehungslos. Aber das Besondere ist in dieser Bedeutung nicht das wahre Subjekt, es ist ein
verobjektiviertes Subjekt, nichts weiter als ein vorgestelltes Subjekt. Das wahre Subjekt ist nicht
fähig zur Selbst-Objektivierung319, es ist nicht ‚unter dem Aspekt’ der Objektivität, denn es ist
die konstitutive Einheitsaktivität des Bewusstseins selbst […] Bei Kant sind vereinheitlichende
Aktivität und vereinheitlichter Inhalt getrennt, was bei Husserl als Unterscheidung von Akt (dt. i.
O.), Materie (dt. i. O.) und Qualität (dt. i. O.) gedacht wird.320
316
KrV A 402 (1998).
Kazimierz Twardowski, Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen – eine
psychologische Untersuchung (1894). Philosophia Verlag, München-Wien (1982). Nishida bezieht sich
kritisch auf Twardowskis Unterscheidung von (Bewusstseins-) Inhalt und – Gegenstand, die für Nishida
nicht real unterscheidbar sind, wobei er seine eigene Position vielmehr in der Nähe Natorps verortet:
„Thus Natorp denies that there is any absolute distinction between content and object, and he sees act as
nothing more than the unifying of content.“ Nishida (1987), S. 72.
318
NKZ II, S. 116.
319
Nishida drückt sich missverständlich aus. So sagt er: „Das wahre Subjekt ist nicht fähig zur
Reflexion“ (makoto no shukan ha hansei suru koto no dekinai mono denakereba naranai 真の主観は反
省することのできないものでなければならぬ). Diese missverständliche Formulierung findet sich an
einigen Stellen in Anschauung, so auch in Abschnitt 23, NKZ II, S. 115. Viglielmo et al. übersetzen aber
gemäß des Zusammenhangs “Real subjectivity is unobjectifiable.“ Nishida (1987), S. 73. Ich habe diese
Übersetzung ebenfalls (sinngemäß) gewählt, da die wörtliche Übersetzung den Gedanken nahelegt, dass
das Subjekt nicht nur nicht sich selbst, sondern auch keinen anderes „Objekt möglicher Erkenntnis“ zu
denken imstande ist.
320
NKZ II, S. 109-110, Hervorh. EL. Die Auseinandersetzung mit Husserl in Anschauung ist auch
philosophiehistorisch recht interessant, kann hier aber nicht im Detail berücksichtigt werden. Nishidas
primäre Inspiration kommt vornehmlich aus dem unmittelbaren Kreis der Marburger Schule – Natorp und
Cohen (Ernst Cassirer, dessen Lebensdaten mit denen Nishidas fast identisch sind, wird kaum rezipiert)–
und der Südwestdeutschen Schule, dort vor allem Rickert und Windelband. Husserls Phänomenologie
muss Nishida jedoch stark geprägt haben. Die zentrale Diskussion um die „Unmöglichkeit der
Selbstreflektion“ in „Anschauung“ wird auf die Erörterung der Aktqualität im Zweiten Teil der Logischen
Untersuchungen von Husserl aufgebaut. Siehe Husserl (1984), insbesondere „V. Über intentionale
Erlebnisse und ihre Inhalte“, Drittes Kapitel: „Die Materie des Aktes und die zugrunde liegende
Vorstellung“, § 22-31, S. 441 ff. Auch Husserls Unterscheidung von Inhalt und Gegenstand (daher auch
317
81
Hier kommt eine Wende ins Spiel. Scheint die Qualität des Selbstbewusstseins für
Nishida vorläufig darin zu bestehen, dass es sich selbst stets entgeht und nur in einem
unendlichen, unfertigen Prozess „reflektiert“ werden kann (nicht wie ein gespiegeltes,
statisch festgehaltenes „Ding“, sondern wie sein eigener „Schatten“, über den wir aber
keinerlei Erkenntnisse haben können), und man zunächst an Kants Paralogismus
erinnert wird, folgt die Kehre zu Fichte auf dem Fuß: eigentümlicherweise ist für
Nishida genau dieser von Kant identifizierte Paralogismus des rein transzendentalen
„Ich denke“ als Begriffs eines Subjekts, der „nichts Mannigfaltiges enthält“, und auf
dessen „absolute Einheit“ irrtümlicherweise geschlossen wird 321 , durch Nishidas
Verständnis von Fichtes intellektueller Anschauung als Aktivität gelöst. Prompt ist das
reine „Ich denke“ als transzendentale Idee erfahr- und bestimmbar, und nicht mehr nur
das, „von dessen Fortgang wir […] uns schon zum voraus keinen vorteilhaften Begriff
machen können“, also eine leere Anschauung. 322
Nach Fichte ist das Selbstbewusstsein eine fundamentale Tatsache, die uns aber nicht
unmittelbar erklärt werden kann; er nennt (diese Tatsache) die intellektuelle Anschauung
(chiteki chokkan 知的直観). Ihm zufolge müssen wir, um unseres Selbst bewusst zu sein, das
denkende Selbst vom gedachten Selbst unterscheiden – aber selbst, wenn wir das tun, wird das
denkende Selbst zum Gegenstand eines weiteren denkenden Selbst, und so weiter bis ins
Unendliche, so dass das Selbstbewusstsein letztlich nicht erklärt werden kann; und trotzdem
gibt es die Tatsache des Selbstbewusstseins, die nur die Verschmelzung (gôitsu 合一) von
Subjekt und Objekt im Selbstbewusstsein sein kann, welche wiederum Anschauung ist. In
diesem Sinne ist Selbstbewusstsein Anschauung, Anschauung ist Bewusstsein des Werts, das
den Wert selbst erkennt, ein „Sollen“, das das „Sollen“ selbst erkennt; und so ist Fichtes
(intellektuelle) Anschauung Aktivität.323
Genau dort, wo das Selbst nicht mehr oder noch nicht Gegenstand der Reflexion ist, ist
es als intellektuelle Anschauung Aktivität (hataraku to iu koto 働くということ) und
sich selbst vollkommen transparent: „spontane Selbstsetzung“ oder Tathandlung qua
Anschauung wird zum Paradigma des Selbstbewusstseins.324 Dieses wiederum wird
dem reinen Selbstbewusstsein als spezifische Qualität gegenüber dem Urteilsakt
konzediert: „Im Falle eines Dinges außerhalb meiner Selbst sind das, was denkt und das,
was gedacht wird, getrennt, und der Urteilsakt unterscheidet sich von seinem Inhalt. Nur
im Selbstbewußtsein sind sie eins, nur dort denkt sich das Selbst selbst, nur dort denkt
der Inhalt den Inhalt selbst.“ 325 Eine ähnliche Formulierung findet sich in Abschnitt 10:
„Only in self-consciousness, where the reflecting self and the self reflected are one, is
der Hinweis auf Twardowski) war für Nishida wichtig. In Anschauung setzt er zwar seinen eigenen
Begriff unmittelbarer Erfahrung mit Husserls „intentionalem Erlebnis“ (yûimi taiken 有意味体験 ) gleich.
Doch Nishida behauptet gegen Husserl, dass „der Gegenstand, der das Bewußtsein transzendiert, nicht
mehr ist als die innere Einheit des Bewußtseinsinhalts selbst“ und die „Opposition von Gegenstand und
Inhalt nur einer der verschiedenen Arten der Bestimmung desselben Gegenstands, ein relativer
Unterschied“ sei. NKZ II, S. 122. Auf eine etwas ausführlichere Diskussion der Husserlschen
Grundgedanken in ihrem Verhältnis zu Nishidas Theorie des Selbstbewusstseins möchte ich in Kapitel III
zurückkommen.
321
KrV B 398 (1923).
322
Ebd., B 406.
323
NKZ II, S. 17-18. Hervorh. EL.
324
Man bemerke, wie schleichend sich der Prozess der Irrationalisierung vollzieht. Nishida verzichtet auf
eine Herleitung dieses Gedankens, der sich selbstredend aus der Natur des Gedankens selbst ergibt!
325
NKZ II, S. 19.
82
identity clearly one with difference.”326 Wie sehr Nishida hier Fichte nahesteht, zeigen
auch diese Sätze aus der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftlehre:
Er [der Philosoph] wird dieses Handeln [auf sich] hoffentlich von dem entgegengesetzten,
wodurch er Objekte ausser sich denkt, unterscheiden können und finden, dass in dem letzteren
das Denkende und das Gedachte entgegengesetzt seyn, sonach seine Thätigkeit auf etwas von
ihm selbst verschiedenes gehen solle, da hingegen in dem Geforderten das Denken und das
Gedachte dasselbe seyn, und sonach seine Thätigkeit in sich selbst zurückgehen soll.327
Während Nishida an einer wichtigen Stelle Kants Bedingung der Möglichkeit von
Erkenntnis als Grundsatz akzeptiert328, vergisst er nun, diese anzuwenden. So sagt Kant:
Nicht dadurch, daß ich bloß denke, erkenne ich ein Objekt; sondern nur dadurch, daß ich eine
gegebene Anschauung in Absicht auf die Einheit des Bewußtseins, darin alles Denken besteht,
bestimme, kann ich irgendeinen Gegenstand erkennen. Also erkenne ich mich selbst nicht
dadurch, daß ich mich meiner als denkend bewußt bin, sondern wenn ich mir die Anschauung
meiner selbst als in Ansehung der Funktion des Denkens bestimmt bewußt bin […] Nicht das
Bewußtsein des bestimmenden, sondern nur das des bestimmbaren Selbst […] ist das
Objekt.329
Diese logische Tatsache des Selbstbewusstseins – kurz, das Objekt kann nicht Subjekt
sein, das bestimmende Subjekt nicht selbst wieder zum Gegenstand werden – will
Fichte in seiner nicht-reflexiven Theorie des Selbstbewusstseins hintergehen. Inwiefern
teilt Nishida die Fichtesche Grundannahme?
Fichte geht davon aus, dass die Reflexionstheorie durch ihren Anspruch, den Ursprung
des Bewusstseins zu klären, in einen Zirkel gerät. Doch dürfe man den Zirkel dieses
Modells nicht mit dem Zirkel, den das Modell erklären will, verwechseln: nicht das IchSubjekt als an sich selbst gedachte, „wissende Selbstbeziehung“ gerate in ein unlösbares
Problem, sondern die Reflexionstheorie, die das Ich als sich denkend voraussetzen muss,
um sich denken zu können. In gewisser Hinsicht versuchte bereits Fichte, knapp
formuliert, das Denken „auszuschalten“ und wie Nishida nicht das bewusst gemachte
(ishiki sareta ishiki 意識された意識), sondern das bewusste Selbstbewusstsein (ishiki
suru ishiki 意識する意識) zu thematisieren und so das Moment von Direktheit und
Unmittelbarkeit präreflektiv zu bewahren. Wie Fichte versucht, dieses Problem zu lösen,
scheint mir in diesem Zusammenhang von Wichtigkeit; vor allem aber die ungelöst
hinterlassenen Probleme Fichtes geben Auskunft auch über Nishidas systematische
Schwierigkeiten, obgleich Nishida sich derselben nicht ausdrücklich bewusst gewesen
zu sein scheint.
Fichte hat das Problem des Reflexionsmodell des Bewusstseins, der petitio principii, der
Zirkels, oder – in Düsings Worten – der „unendlichen Iteration“ gesehen. Kant trägt
dem Fehler des Reflexionsmodells im Paralogismus-Abschnitt ebenfalls Rechung,
326
Nishida (1987), S. 35.
Fichte (1845), S. 462.
328
So zitiert Nishida Kant: „Kant zufolge ist unsere empirische Erkenntnis durch zwei Elemente
konstituiert, und zwar den ‚Begriff, dadurch überhaupt ein Gegenstand gedacht wird (die Kategorie) (dt. i.
O.)’ und ‚die Anschauung, dadurch er gegeben wird (dt. i. O.)“. NKZ II, S. 65. Nishida diskutiert in der
Folge emphatisch die Möglichkeit der Erkenntnis empirischer Sinnesdaten – unter Berücksichtigung der
Kantschen Unterscheidung.
329
KrV B 406 (1923).
327
83
allerdings mit einem anderen, und – wie ich meine – plausibleren Ergebnis, wie oben
(Kapitel I. 1.3.2., „Der Reflektionsbegriff“) bereits dargestellt. Für Fichte besteht der
Fehler im Gegensatz zu Kant jedoch nicht in der jede Erkenntnis verhindernden
anschauungs- und begriffslosen Reinheit (d.h. Apriorizität) der denkenden Beziehung
des Ichs auf sich selbst, sondern gerade im Gegenteil darin, dass das Ich nicht rein
genug gefasst werde. Vom „ursprünglichen Wesen des Ich her muß die Möglichkeit der
Reflexion erst verstanden werden“, behauptet dazu Dieter Henrich. 330 Düsing und
andere haben dagegen gezeigt, dass diese und ähnliche Darlegungen des Verhältnisses
von Subjektivität und Logik, die Fichte und auch der junge Schelling bemühen, bereits
auf die Logik zurückgreifen müssen: von „Reflexion“ lässt sich sinnvoll erst im
Rückgriff auf Logik sprechen. Dann könne jedoch Subjektivität dieser nicht mehr
vorausgehen. 331 Es liegt an der Natur sprachlicher Logik, dass jede reine SelbstDarstellung dieser gegenüber sekundär wird.
Fichte versucht in seiner ersten Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794
dagegen, das Ich als dasjenige, was schlechthin selbstsetzend sei, zu verstehen: „Das
Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eignes Sein.“ 332 Dieses Setzen sei
„reine“ Tathandlung: das Handelnde und das Produkt der Handlung fallen in eins. Diese
apodiktische Setzung hatte wohl auch darum so eine Attraktivität für Nishida, weil das
schlechthinnige Sich-Selbst-Setzen des Ich keine Reflexion vorauszusetzen scheint333
und vollständig „prädisjunktiv“ auftritt. Hier macht sich jedoch ein klassisches
zirkelhaftes Argument bemerkbar: Fichte behauptet, dass das Ich sein Sein „vermöge
seines bloßen Seins“334 setzt. Diese zirkuläre Tatsache wird von Fichte noch verstärkt,
wenn er behauptet: „Es [das X oder Ich, EL] ist demnach Erklärungsgrund aller
Tatsachen des empirischen Bewußtseins, daß vor allem Setzen im Ich vorher das Ich
selbst gesetzt sei.“335 Wenn Fichtes Kritik am Reflexionsmodell im Vorwurf seiner
Zirkelhaftigkeit besteht, den er zu umgehen versucht, ist man wenig überzeugt, da er
selbst die Zirkelhaftigkeit seines prä-reflexiven Modells geradezu propagiert. Die petitio
principii gibt Fichte allerdings nur methodisch und mit Blick auf die gesamte
Ableitungslehre zu.336
Schlicht: das „Setzen“ des eigenen Grundes ist kein selbstbegründendes,
„letztbegründendes“ oder „erstbegründendes“ Prinzip. Das mag Fichte eingesehen
haben. So hat er seine Position in den folgenden Darstellungen der Wissenschaftslehre,
dem Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797) zum einen,
330
Henrich (1966), S. 196.
Das scheint mir der Haupteinwand gegen diejenigen cognitive scientists, Gehirnforscher und –
psysiologen und Neurologen zu sein, die in der Logik eine sekundäre, abgeleitete Leistung unserer
Gehirnfunktionen sehen wollen. Es ist schade, dass die Unkenntnis Kants und Hegels zur Bedingung
eines Erfolgs dieser Theorien avanciert, wie man ihn nicht nur außerhalb der philosophischen Diskussion,
sondern auch innerhalb bewußtseinsphilosophischer Diskurse feststellen muß. Düsing muß recht gegeben
werden, wenn er behauptet, dass „diese Kontrapositionen [zu den Subjektitivätstheorien Kants und
Hegels] ein seltsames Schauspiel [bieten], da die klassisischen Positionen, gegen die sie sich wenden
müßten, nahezu aus ihrem Blickfeld geraten sind.“ Düsing (2002), S. 8.
332
Fichte (1979), S. 18.
333
Ich verweise auf Pippin (1988), S. 148. Pippin zufolge ist Fichtes Tathandlung noch an das bipolare
Schema der Reflexion gebunden, weshalb es nur „scheint“, als werde hier keine Reflexion vorausgesetzt.
334
Fichte (1979), S. 16.
335
Ebd., S. 15.
336
„Die Gesetze (die der allgemeinen Logik), nach denen man jene Tathandlung sich als Grundlage des
menschlichen Wissens schlechterdings denken muß, sind noch nicht als gültig erwiesen, sondern sie
werden stillschweigend, als bekannt, und ausgemacht, vorausgesetzt. Erst tiefer unten werden sie von
dem Grundsatze, dessen Aufstellung bloß unter Bedingung ihrer Richtigkeit richtig ist (sic!), abgeleitet.
Dies ist ein Zirkel; aber es ist ein unvermeidlicher Zirkel.“ Ebd., S. 12.
331
84
besonders in der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre und in der letzten
Darstellung der Wissenschaftslehre (1801) wiederholt und revidiert, allein am IchBewusstsein als Tathandlung und intellektuelle Anschauung hält er fest. Somit müht er
sich bis zuletzt an einer plausiblen Erklärung oder Darstellung des denkenden
Selbstverhältnisses, das jenes Denken ebenso hintergeht wie erst begründet.
Nicht nur hier, sondern auch in der mystischen Sprache besonders in Fichtes letzter
Darstellung des Ich als „Tätigkeit, der ein Auge eingesetzt ist“ lehnt sich Nishida auch
in der sprachlichen Darstellung seiner Gedanken an Fichte an. Sehen und Auge werden
ab den späten 20er Jahren für Nishida zur unabkömmlichen Terminologie für seine
mystische Selbstbegründung des Jikaku im Nichts, zu dinglichen Metaphern eines nicht
durch Metaphern Darstellbaren. Es muss jedoch ausdrücklich festgehalten werden, dass
auch Fichte zu einer Verdinglichung des Ich neigt. Verdinglichung meint nicht
„Objektivierung“, sondern vielmehr eine methodische Konsolidierung, ein statisches
Festhalten, eine Fest-„Setzung“ des Ich-Subjekts um den Preis seiner Freiheit. Nicht
wird zwar das Ich zur Substanz, wohl aber zu etwas Statisch-Unbeweglichem, das wir
„benennen“ können: Ich bin – eben ich. Hier ist kein Raum für Opazität, für ein SichEntziehen aus dem banalen dipolaren Schema von Signifikant und Signifikat. Dem
wollte Kant sich gerade entgegenstellen: das Ich, das alle meine Vorstellungen muss
begleiten können, ist kein Ding unter anderen. Dieser Ansicht würde sich Fichte zwar
anschließen, indem er aber die reine Tathandlung und die intellektuelle Anschauung mit
der Selbstbeziehung identifizert, holt er das statische Moment wieder zurück in seine
Darstellung.
Zwar will Henrich in seiner Untersuchung über Fichtes ursprüngliche Einsicht von der
systematischen Freiheit bei Fichte in seiner detaillierten Exegese überzeugen und führt
dazu an, dass sich diese noch in Kants Lehre vom Primat der praktischen Vernunft, die
Fichte emphatisch aufgenommen habe, niederschlage, aber überzeugt ist man nicht: die
Darstellung des reinen, apriorischen, sich selbst transparenten Ich bleibt eine etwas
Dinghaftes suggerierende Aporie.
Für Nishida löst sich dieses Problem, sobald Selbstbewusstseins-Subjekt und
Selbstbewusstseins-Objekt sich nicht mehr statisch gegenüberstehen, denn dann seien
die Positionen austauschbar. Das sei der „Clou“ des Selbstbewusstseins, oder, wie er an
einer anderen Stelle sagt: das sei „Ideal + Real“, oder „das Konkrete“337. Kant würde
dem womöglich entgegenhalten, dass Nishidas Verständnis von Selbstbewusstsein eine
eigentümliche Variante erhält: nicht ist der Begriff ohne Anschauung gegeben, vielmehr
bloß die Anschauung ohne Begriff.338 Erkenntnis ist aber gerade deshalb nicht möglich.
Vor allem aber sei es ein „Mißverstand“, das, was den Kategorien zugrunde liege, selbst
zu einer Kategorie zu machen. Die Versuche der rationalen Psychologie, dem
Selbstbewusstsein den Begriff der Substanz beizulegen, wodurch es prinzipiell
erkennbar wäre, seien Kant zufolge zirkelhaft:
Man siehet aus allem diesem, daß ein bloßer Mißverstand der rationalen Psychologie ihren
Ursprung gebe. Die Einheit des Bewußtseins, welche den Kategorien zum Grunde liegt, wird
337
NKZ II, S. 128 (dt. i. O.).
Dabei ist das reine Ich nicht einmal für Kant ein Begriff, sondern eine „an Inhalt gänzlich leere
Vorstellung“; man könne von dieser „nicht einmal sagen, dass sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes
Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet.“ KrV B 404 (1998), S. 447. Allerdings ergibt sich dieses bereits
aus der Feststellung, dass ein Begriff ohne Anschauung nicht zur Erkenntnis reiche; ebenso wenig wie
eine Anschauung ohne Begriff, eine Feststellung, die aus dem reinem „Ich denke“ analytisch hervorgeht
und so den Paralogismus begründet.
338
85
hier für Anschauung des Subjekts als Objekts genommen und darauf die Kategorie der Substanz
angewandt. Sie ist aber nur die Einheit im Denken, wodurch allein kein Objekt gegeben wird,
worauf also die Kategorie der Substanz, als die jederzeit gegebene Anschauung voraussetzt,
nicht angewandt, mithin dieses Subjekt gar nicht erkannt werden kann. Das Subjekt der
Kategorien kann also dadurch, daß es diese denkt, nicht von sich selbst als einem Objekte der
Kategorien einen Begriff bekommen; denn, um diese zu denken, muß es sein reines
Selbstbewußtsein, welches doch hat erklärt werden wollen, zum Grunde legen.339
Für Nishida ist die Selbstreflexion des Subjekts nur unter der Bedingung möglich, dass
sich Subjekt und Objekt nicht statisch gegenüberstehen, sondern als „synthetische
Einheit“ begreifen, die nichts anderes als die Aktivität ist, durch die sich der
Bewusstseinsinhalt selbst entfalte. Als dynamische Aktivität ist Selbstreflexion, wie
Fichtes Tathandlung, nicht nur möglich, sondern wirklich. Die logischen
Voraussetzungen einer solchen Reflexion werden ebenso wenig berücksichtigt wie die
Zirkelhaftigkeit des Arguments von der vollständigen „Transparenz“, also
„Erkennbarkeit“ transzendentalen Selbstbewusstseins, wie Kant sie im Paralogismus
vorführt. Außerdem stellt, wie mir scheint, eine so vage als reine
„Aktivität“ bezeichnete primäre Bestimmung des Nishidaschen Subjektbegriffs keinen
Gegensatz zu einem verhärteten und statischen Substanzbegriff dar.
In diesem Zusammenhang wäre eine Gegenüberstellung von Kants
„dezentriertem“ Subjekt und Fichtes Setzung des Ich fruchtbar zu machen und auf
Nishidas Subjektbegriff zurückzublenden. Sie wird über die „dialektischen Schlüsse der
reinen Vernunft“ hinaus in aller Kürze auch als ethisches Problem zu benennen sein.
Denn das Subjekt ist nicht nur eine erkenntnistheoretische Konstante, es hat das
Potential zur „anti-autoritären Strategie“, wie nicht zuletzt der Kritiker Maruyama
Masao J. Victor Koschmann zufolge feststellt.340 Was kann aus dieser Behauptung für
einen emanzipatorischen Subjektbegriff abgeleitet werden, der seine Voraussetzungen
aus einer kontrastierenden Lesart Kants und Fichtes gewinnt? Slavoj Žižek versucht,
aus der Gegenüberstellung beider Positionen Rückschlüsse auf einen „antiautoritären“ Subjektbegriff zu ziehen, die für die kritische Anwendung auf Nishida
heuristischen Wert hat.
Wie steht Kants „Ich oder Er oder Es (das Ding), welches denket“341 gegenüber Fichtes
Setzung des Ich für einen freiheitlich-emanzipatorischen Subjektbegriff? Das
Paradoxon in Kants „Ich denke“ besteht bekannter weise in der Anwendung
transzendentaler Prädikate auf dasselbe: eine empirische Anschauung des ReinBegrifflichen, welches das einfache „Ich“ ist, ist unmöglich. Žižek sieht hier allerdings
mehr am Werk. Einerseits kann die Frage über „How is the Thing which thinks (das
Ding, welches denket) structured?” 342 nicht beantwortet werden, oder, anders
ausgedrückt „[self-consciousness] is possible only against the background of its own
impossibility”343. Innerhalb der theoretischen Philosophie bleibt die Antwort auf die
339
KrV B 421 (1923).
“[Maruyama] postulates that modern subjectivity is not merely an epistemological mechanism but also
an antiauthoritarian strategy.” Koschmann, J. Victor, “Maruyama Masao and the Incomplete Project of
Modernity”, in Miyoshi et al (Hg.) (1989), S. 129-130.
341
KrV B 405 (1998).
342
Žižek (1993), S. 15.
343
Ebd. Žižek behauptet sogar, dass die Kantische transzendentale Apperzeption nur möglich ist, weil ich
mir selbst in meiner „noumenal dimension“ unzugänglich bin. Ebd., S. 128.
340
86
Frage („wie ist das ‘Ding, welches denket’, beschaffen?”) qua ihrer logischen Struktur
verstellt: „I am conscious of myself only insofar as I am out of reach to myself qua the
real kernel of my being.“344 Diese radikale Paradoxikalität der Tatsache des eigenen
Selbstbewusstseins bringt Žižek auf die prägnante Formel:
The act of ‘I think’ is trans-phenomenal, it is not a noumenal Thing, but rather the void of its
lack: it is not sufficient to say about the I of pure apperception that “of it, apart from them [the
thoughts which are its predicates], we cannot have any concept whatsoever” […] One has to add
that this lack of intuited content is constitutive of the I; the inaccessibility to the I of its own
“kernel of being” makes it an I.345
Indem das Subjekt seine eigene „Dezentrierung“ voraussetzt – eine Opposition, die
Žižek zufolge weitaus radikaler sei als die von Subjekt und Objekt346 – wird allerdings
eine in ihren Konsequenzen wesentlich weiter reichende strukturelle Konstante
ermöglicht. Das Subjekt erhalte durch diese vermeintlich beschränkende Bedingung aus
der theoretischen Reflexion in der Sphäre der „Freiheit“ erst seine Fähigkeit, überhaupt
spontan und autonom zu handeln. Anders gesagt: weil das Subjekt sich nicht als Ding
zugänglich ist („I cannot acquire consciousness of myself in my capacity of the „Thing
which thinks“), ist es Žižek zufolge frei.347
Diese Auslegung erinnert zunächst an Sartres Bestimmung des Menschen als das, was
sich auf Grund seines Mangels an Ding-heit selbst erst – zur Freiheit verurteilt –
bestimmen muss. Das Bewusstsein ist bei Sartre kein Sein-an-sich (être-en-soi),
sondern ein Sein-für-sich (être-pour-soi): konstituiert durch den Akt der Negation, der
Bewusstsein in ausgezeichnetem Sinne bestimmt. Das Negationsurteil gehört auch für
Kant notwendig zur Struktur des Bewusstseins, wenn es auch eine Kategorie unter
anderen Kategorien ist. Die ontologische Konstitutionsleistung des Subjekts ist für Kant
jedoch in seiner Logizität begründet, für Sartre aber besteht ein systematischer
Unterschied zwischen logischen und ontologischen Strukturen der Realität.348 Doch hier
liegt der Unterschied zwischen Sartre und Kant weniger in Kants Subjekt-Bestimmung
aus der theoretischen Philosophie, vielmehr in der Diskussion der Möglichkeit von
Willensfreiheit in der praktischen Philosophie. In der Kritik der praktischen Vernunft ist
das „Subjekt […] sich seiner, als Dinges an sich selbst, bewußt“ und
betrachtet auch sein Dasein, so fern es nicht unter Zeitbedingungen steht, sich selbst
aber nur als bestimmbar durch Gesetze, die es sich durch Vernunft selbst gibt, und in diesem
seinem Dasein ist ihm nichts vorhergehend vor seiner Willensbestimmung, sondern jede
Handlung [...] als Sinnenwesen, ist im Bewußtsein seiner intelligibelen Existenz nichts als Folge,
349
niemals aber als Bestimmungsgrund seiner Kausalität, als Noumens, anzusehen.
344
Žižek (1993), S. 14.
Žižek (1993), S. 15.
346
Man kann allerdings umgekehrt fragen, ob die eigene Dezentrierung des Subjekts nicht die extremste
Radikalisierung des Subjekt-Objekt-Problems ist.
347
Dabei bemängelt Žižek Kants Versuch, das Verhältnis vom Ich der reinen Apperzeption und dem
empirischen Ich mit dem Ding-an-sich selbst und der Erscheinung zu parallelisieren und wieder zu
„rationalisieren“. Siehe Žižek (1993), S. 15.
348
Ich verweise auf meine MA-Arbeit „Die dialektische Bestimmung des Nichts. Sartres Kritik an Hegels
Ontologie in Das Sein und das Nichts“ (2005).
349
Kant (1961), S. 157. Hervorh. EL.
345
87
Für Sartre wäre das eine folgenschwere Inkonsistenz. Auch für Žižek liegt genau hier
das Problem:
Kant himself commits an error when, in his Critique of Practical Reason, he conceives of
freedom (the postulate of practical reason) as a noumenal Thing; what gets obfuscated thereby is
his fundamental insight according to which I retain my capacity of a spontaneous-autonomous
350
agent precisely and only insofar as I am not accessible to myself as a Thing.
Die Möglichkeit, autonom zu handeln, werde Sartre und Žiž ek zufolge erst durch die
absolute Nicht-Dinglichkeit gegeben, für die Kant selbst den Beweis in seiner Kritik der
reinen Vernunft gegeben hat. Die Dezentriertheit des Subjekts, eine Erkenntnis aus der
theoretischen Vernunft, müsse als Modell realer, d.h. empirischer Freiheit aufgefasst
werden. Freiheit werde aber genau dann geopfert, wenn das transzendentale Subjekt in
die „Kette metaphysischen Seins“ („the great chain of being“) eingereiht werde. Das
Ergebnis dieser Operation konterkariere seinen ursprünglichen Zweck, den Zweck aller
Metaphysik – „to heal the wound of the ‚primordial repression’ (the inaccessibility of
the ‚Thing which thinks’)“351 und sei nur noch als Verlust der menschlichen Freiheit
denkbar. Adorno fasst das Kantische Subjekt aus der praktischen Philosophie als
ähnlich widersprüchlich auf:
Davon legt die Kantische Moralphilosophie großartiges Zeugnis ab in dem unverschleierten
Widerspruch, daß dasselbe Subjekt, welches ihm frei und erhaben heißt, als Seiendes Teil jenes
Naturzusammenhangs ist, dem seine Freiheit entragen will.352
Ob indes das Kantische Subjekt aus der praktischen Philosophie ohne weiteres in die
„große Seinskette“ eingegliedert wird, wie Žižek und Adorno meinen, ist mehr als
fraglich. Sich selbst als „Dinges an sich selbst“ bewusst zu sein scheint für den Kant der
Kritik der praktischen Vernunft (1787) vielmehr bewusster Ausdruck des Widerspruchs
zwischen Naturmechanismus und Freiheit zu sein, von denen ersteres bekannterweise
„bloß den Bestimmungen desjenigen Dinges anhängt, das unter Zeitbedingungen steht
[...]“353. Die Freiheit als „Phänomen seines Charakters, den er [der Handelnde, EL] sich
selbst verschafft“354, ist zugleich als selbstbestimmte Ursache jeder Handlung anwesend.
Die Empirie allerdings ist der Ort, der allein „unser Selbsterkenntnis von der fruchtlosen
überschwenglichen Spekulation zum fruchtbaren praktischen Gebrauche“ 355 zu
verhelfen imstande ist. In der praktischen Vernunft ist das Ich sich nicht mehr opak, es
entgeht sich nicht mehr, sondern stellt die höheren Prinzipien seiner Selbstbestimmung
als freies Wesen dar, als ob diese „unendlich weit über die Erfahrung, mithin über
dieses Leben hinaus reiche.“356 The „great chain of being“ scheint mitnichten eine
ontologische Konstante zu sein, in die Kant das transzendentale Subjekt einzureihen
350
Žižek (1993), S. 15. Hervorh. EL. Žižek bezieht sich auf die „Kritische Beleuchtung der Analytik der
reinen praktischen Vernunft“, wo es heißt: „Folglich, wenn man sie [die Freiheit, EL] noch retten will, so
bleibt kein Weg übrig, als das Dasein eines Dinges, sofern es in der Zeit bestimmbar ist, folglich auch die
Kausalität nach dem Gesetze der N a t u r n o t w e n d i g k e i t b l o ß d e r E r s c h e i n u n g , d i e F r e i h e i t
a b e r e b e n d e m s e l b e n W e s e n a l s D i n g a n s i c h s e l b s t b e i z u l e g e n .“ Kant (1961), S. 153.
351
Žižek (1993), S. 15.
352
Adorno (1966), S. 181.
353
Kant (1961), S. 156.
354
Ebd.
355
KrV B 421 (1923).
356
Ebd.
88
versucht. Dass Kant ein moderner Denker ist, dürfte sich nirgendwo so deutlich zeigen
wie in seiner Bestimmung eines seiner eigenen Paradoxien bewussten Subjekts.
Fichtes absolute Selbstsetzung, die er besonders in der Zweiten Einleitung in die
Wissenschaftslehre
vehement
gegen
die
„mit
so
viel
Keckheit
vorgebrachten(n)“ Einwände seiner Kritiker verteidigt, macht Kants modernen (oder
sogar „postmodernen“) Schritt aus der KrV wieder rückgängig: „Der Philosoph schaut
sich selbst zu in jenem Handeln, wodurch er den Begriff seiner selbst für sich selbst
construirt; sagten wir oben: und er denkt dieses Handeln, setze ich hier hinzu.“357 „Der
Philosoph macht sich nur klar, was er eigentlich denkt und von jeher gedacht hat, wenn
er sich denkt; dass er aber sich denke, ist ihm ein unmittelbares Faktum des
Bewußtseins.“358 Dass es mit der Unmittelbarkeit nicht so unmittelbar zugeht, wurde
oben (Kapitel I. 1.1.1.) bereits gezeigt. Allerdings muss erwähnt werden, dass Nishida
Fichte gegenüber nicht vollkommen unkritisch ist:
Für Fichte ist das Selbstbewusstsein als unmittelbare Tatsache des Bewußtseins unerklärbar; das
Selbst, das sich Selbst weiss, ist nur denkende Aktivität, und dieses Selbst anzuschauen,
bedeutet, die Aktivität zu realisieren. Das bedeutet aber, dass es Denken ohne ein denkendes
Subjekt, und Aktivität ohne ein Agens der Aktivität gibt!359
Einige Sätze später schon wiederholt Nishida jedoch das Fichtesche Paradigma: „Nur
im Selbstbewußtsein sind [Urteilsakt und sein Inhalt] eins, nur dort denkt sich das
Selbst selbst, nur dort denkt der Inhalt den Inhalt selbst.“360 Hier wird nun auch klar,
wie Nishida sich die Möglichkeit der Reflexion als Setzung des Ich denkt: er übernimmt
das Fichtesche Argument und lässt jede Möglichkeit, das eigene Selbst als
„dezentriertes“ Subjekt zu bestimmen – die Kantsche Kritik an der Möglichkeit eines
sich selbst wissenden transzendentalen Ich – hinter sich. Für Nishida ist die Reflexion
überhaupt in die Struktur der unmittelbaren, aktiven Anschauung eingeschrieben und als
aktive Selbstschöpfung nicht nur möglich, sondern Tatsache des Bewusstseins.
Weitaus schwerwiegender kommt hier aber zur Geltung, dass Nishida mit Fichte das
ehrgeizige Projekt des Beweises von der Einheit von Subjekt und Objekt im
Selbstbewusstsein als ontologisches Prinzip der Realität teilt. Wie in ZnK bereits
ausführlich dargelegt, ist die Annahme einer Trennung von Subjekt und Objekt in der
Wirklichkeit für Nishida widersprüchlich. In Anschauung wiederholt Nishida seinen
Skeptizismus:
Normalerweise wird angenommen, dass der Gegenstand des Denkens außerhalb der subjektiven
Denktätigkeit liege, und identisch mit sich und unveränderlich sei, und dass die Objektivität der
Erkenntnis oder die Wahrheit darin bestehe, dass das Subjekt sich dem transzendenten
357
Fichte (1845), S. 491.
Ebd., S. 460.
359
NKZ II, S. 18.
360
Ebd. Itabashi merkt an, dass Nishida zur Zeit der Abfassung von Anschauung vor allem auf Fichtes
Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftlehre (1797) zurückgriff: „Nishida hat sich auf Fichtes
Wissenschaftlehre, die nach einem philosophischen Prinzip des fundamentalen Inneren der Aktivität des
Ich sucht, insbesondere auf die Gedanken des in der Zweiten Einleitung enthaltenen Versuchs einer neuen
Darstellung der Wissenschaftslehre 1797/98 (Chishikigaku e no shin jojutsu no kokoromi, 知識学への新
叙述の試み) bezogen.“ Itabashi (2004), S. 49.
358
89
Gegenstand anpasst (tekigô suru 適合する). Aber legt das nicht die willkürliche Behauptung
nahe, dass Subjekt und Objekt getrennt voneinander und unabhängig sind?361
Diese „willkürliche Behauptung“ findet Nishida bei Kant, dessen „synthetische
Einheit“ nichts als eine „formale Einheit“ (keishikiteki tôitsu 形 式 的 統 一 ) des
Bewusstseins sei, ein Hilfsbegriff. Nishida zufolge hat Fichte dagegen das Bewusstsein
des Ich als Paradigma der Subjekt-Objekt-Einheit gesehen und es als Anschauung, ein
„sich Setzen“ des Bewusstseins, bestimmt. Fichte überwinde so mithin Kants
„Formalismus“ und leite eine Struktur der Realität ab, deren konstitutive Basis das sich
als Ich setzende Selbstbewusstsein sei. Wenn im Ich das Subjektive und das Objektive
eins seien – ununterschieden, ungetrennt – so werde „[a]lles andere Bewußtsein […] an
dieses angeknüpft und durch dasselbe vermittelt; wird lediglich durch die Verknüpfung
damit zu einem Bewußtsein: dieses allein ist durch nichts vermittelt oder bedingt; es ist
absolut möglich und schlechthin nothwendig, wenn irgend ein anderes Bewußtseyn
stattfinden soll.“362 Diese für den Idealismus Fichtes programmatischen Sätze gelten
ohne Einschränkung auch in Nishidas System. Doch hier macht sich bei Fichte wie bei
Nishida gleichermaßen ein Fehler bemerkbar: selbst, wenn alles durch
Selbstbewusstsein vermittelt ist, bedeutet das nicht, dass das Selbstbewusstsein selbst
unbedingt ist. Das zu behaupten, wie Fichte und Nishida es tun, heißt, die Allgemeinheit
und „Durchgängigkeit“ des Selbstbewusstseins mit seiner Unbedingtheit zu
verwechseln. Hier ist auch der größte systematische Unterschied zwischen Fichte und
Kant zu sehen. Fichtes behauptete Nähe seines Begriffs der „intellektuellen
Anschauung“ zu Kants Begriff der „reinen Apperzeption“ kann an diesem Punkt im
Übrigen deutlich als unangemessen herausgestellt werden, wie z.B. P. Baumann es
vorführt.363
Das Konstitutionsproblem wird bei Fichte und Nishida gleichermaßen auf der Seite des
Selbstbewusstseins entschieden, oder: das Bewusstsein, in das Selbstbewusstsein und
Gegenstandsbewusstsein „in eins“ zusammenfallen, sei gleichsam die ontologische
Struktur der Realität. Hier schlägt sich jedoch eine Dialektik nieder, die allerdings erst
im Zusammenhang mit der systematischen Analyse der Ideologie bei Nishida ihren Ort
hat und hier erst nur als Vorgriff formuliert werden kann: die Hypostase des Subjekts
oder des Selbstbewusstseins als einzige und totale Realität, aus der sich erst alle anderen
Formen des Seins ontologisch als seine Derivate ableiten lassen, schlägt um in die totale
Unfreiheit des Subjekts, schließlich in seine Sinnlosigkeit. Ein Subjekt, das sich
gegenüber einer Realität, die es nicht selbst ist, gegenüber Situationen, die es nicht
„selbst“ geschaffen hat und Personen, die nicht seine Fiktion sind, weder verorten noch
verhalten, weder sich zustimmend noch ablehnend verhalten, sich weder emanzipieren
noch unterwerfen kann, ist Ausdruck eines zutiefst „in sich“ gefangenen Seins, dessen
Gefangenschaft durch die unendliche Repitition des immer gleichen Selbst eine
361
NKZ II, S. 42. Dem korrespondiert folgende Textstelle einige Seiten darauf: „Rather than imagine that
subject and object are mutually opposed, and that our thought experience arises from their interaction, one
should see them as aspects of this single experiece, or Act.” Nishida (1987), S. 31. Orig. NKZ II, S. 46.
Hier steht für „Act“ jikô (事行), im Deutschen wiederzugeben mit (der Fichteschen) „Tathandlung“.
362
Fichte (1984), S. 108-109.
363
„Es erhebt sich die Frage, ob Fichte sich der grundlegenden Verschiedenheit der beiden Systemansätze
bei Kant und bei ihm selbst nicht auch bewußt war. Gegen eine solche Annahme spricht sein Bemühen,
die These der Identität von „absolutem Ich“ und „reiner Apperzeption“ durch eine entsprechende KantInterpretation zu belegen. Die Angemessenheit dieser Interpretation muß allerdings bezweifelt werden.“ P.
Baumann, „Einleitung“, in: Fichte (1984), S. XIX.
90
geradezu morbide Dimension erhält. Prägnant ausgedrückt: Nishidas System präsentiert
und propagiert ein geradezu autistisches Seinsideal.364
Der Nishida-Kritiker Komatsu Setsurô sieht allerdings einen wichtigen Unterschied
zwischen Nishida und Fichte, der Fichte im Gegensatz zu Nishida zu einem
„modernen“ Philosphen mache. 365 Zwar werde bei Fichte alles aus dem IchBewusstsein deduziert, aber das dem Ich gegenüberstehende Nicht-Ich (higa 非我)
leiste dem Ich als Natur Widerstand. Das Nicht-Ich sei durch die objektive Welt
repräsentiert, „die Bühne, auf der die Moral in Aktion tritt“366. Bei Nishida hingegen
gibt es nichts, das dem Ich Widerstand leisten könnte. Alles sei unvermittelt im einzigen
Ich aufbewahrt. Ob die „objektive Welt“ Fichtes jedoch tatsächlich völlig unabhängig
vom Ich sein kann, ist fraglich. Kann über das Ich, den „erste[n], schlechthin
unbedingte[n] Grundsatz“ hinaus etwas gedacht werden? Vielleicht läßt man an dieser
Stelle eine triftigere Kritik an Fichte durch Hegel kommentieren:
Es ist hierbei noch die wesentliche Bemerkung zu machen, daß, wenn an sich wohl Ich als das reine
Wissen oder als intellektuelle Anschauung bestimmt und als Anfang behauptet werden könnte, es ist
der Wissenschaft nicht um das zu tun ist, was an sich oder innerlich vorhanden sei, sondern um das
Dasein des Innerlichen im Denken und um die Bestimmtheit, die ein solches in diesem Dasein hat.367
Das „Innerliche“, um dessen Bestimmtheit es der Wissenschaft zu tun sei, begreift
Nishida zum Ende von Anschauung als „absolut freier Wille“.
1.3.
Der „absolut freie Wille“ (zettai jiyû no ishi 絶 対 自 由 の 意 志 ) – die
Totalität des Selbstbewusstseins in Anschauung und Reflexion im
Selbstbewusstsein (Jikaku ni okeru chokkan to hansei 自覚に於ける直観と
反省) (1917)
Anschauung entstand zwischen 1913 und 1917. Nishida hatte sich offensichtlich erst
sehr spät für eine Veröffentlichung der bereits in den Philosophiezeitschriften Geibun
芸文 und Tetsugaku Kenkyû 哲学研究 erschienenen Aufsätze als zusammenhängendes
Werk entschieden. Insofern war der groß angelegte Kulminationspunkt, der Anschauung
in ein stimmiges Ganzes verwandeln sollte – der „absolut freie Wille“ – nicht von vorn
herein konzipiert, wie auch aus dem Vorwort der Erstveröffentlichung von 1917
deutlich wird: „Zu diesem Zeitpunkt [Abschnitt 24, veröffentlicht im Januar 1916] war
mir der Standpunkt des absolut freien Willens noch nicht klar geworden, den ich am
Ende dieses Buches darlege, so dass ich nichts erreichte und sich die Verwicklungen in
der Diskussion nicht auflösen ließen.“368 In demselben Vorwort findet sich auch das
364
Adorno als Kritiker Fichtes stellt bereits symptomatisch für den post-kantischen Idealismus fest: „Im
Idealismus – am ausdrücklichsten bei Fichte – waltet bewußtlos die Ideologie, das Nichtich, l’autrui,
schließlich alles an Natur Mahnende sei minderwertig, damit die Einheit des sich selbst erhaltenden
Gedankens getrost es verschlingen darf.“ Adorno (1966), S. 33.
365
Nachdem Komatsu Nishidas Anschauung angesichts der Aufbruchsstimmung des japanischen
Frühkapitalismus und des wissenschaftlichen Fortschritts in der Taishô-Zeit aufgrund seines
„Fortschrittspessimismus“ und seiner Wissenschafts-Feindlichkeit als rückständige Philosophie kritisiert,
behauptet er: „Fichtes Philosophie ist auf einem starken Ich-Bewusstsein aufgebaut. In dieser Bedeutung
ist er modern (kindaiteki 近代的).“ Komatsu (1948), S. 73.
366
Ebd.
367
WL I, S. 78.
368
NKZ II (1966), S. 8, Elberfeld (1999a), S. 32.
91
klarste Bekenntnis Nishidas zu seiner eigenen Unzulänglichkeit, das Problem des
Denkens des Selbstbewusstseins „als ganze Realität“ nicht gelöst haben zu können.
Tatsächlich tragen die letzten Abschnitte von Anschauung, die den freien Willen zum
Thema haben, eher zur Verwirrung als zur Lösung des Anschauungs- und
Reflexionsproblems bei – oder umgehen es ganz. Während in den ersten zwei Dritteln
die Diskussion um Cohen, Rickert, Husserl und Fichte sowie das Problem von Wert und
Existenz, sowie Nishidas ausführlich dargestellte Gedanken zur analytischen Geometrie,
Raum-Zeitlichkeit und zum Grenzpunkt und sein Interesse an der experimentiellen
Psychologie durchaus in den weiteren Kontext der philosophischen Logik und
Phänomenologie gehören und somit den wissenschaftlichen Zeitgeist des Anfangs des
20. Jahrhunderts repräsentieren, verläßt die Diskussion um den Willen, der
emphatischen Gebrauch einiger Zentralbegriffe mittelalterlicher Autoren, etwa Jakob
Böhme, Dionysius Areopagita und Eriugena macht369, diese Ebene vollständig.370 Zum
Einen kann man darin eine Konsequenz aus Nishidas Selbstkritik sehen, das System des
Selbstbewusstseins auf der logischen oder auch rationalen Ebene nicht begründen zu
können, zum Anderen positioniert sich Nishida noch einmal außergewöhnlich klar
gegen die Denker des Neukantianismus, die er auf den vorigen Seiten ausführlich
rezipiert. Gegen diese hält er nun mit dem Gestus der Verallgemeinerung die Totalität
eines selbstgenerienden, selbsterhaltenden Systems als „reine“ Transzendenz, durch das
so etwas wie die „Formen des Denkens“ allererst möglich seien. Die Anlage zur
mystischen Konzeptuierung des Willens ist also der Sache nach von vorn herein
gegeben. Wie sieht aber die Morphologie des absolut reinen Willens bei Nishida aus
und in welchem Verhältnis steht dieser zu seinem System des Selbstbewusstseins?
Nishida sieht in der naturwissenschaftlichen Auffassung der Welt eine durch die
Vernunft gesteuerte Entfernung des Menschen von sich selber. Die Welt der Kausalität,
in der der freie Wille keinen Platz habe, sei jedoch nicht die Realität, was man Nishida
zufolge allein schon daran erkenne, dass sich die physikalische Weltsicht ständig in
Antinomien verstricke.371 So gibt er den Fortgang der Vernunft – der zugleich als
technisch-wissenschaftlicher Fortschritt verstanden werden müsse – vor einem
individualhistorischen Hintergrund wieder:
369
So zum Beispiel das Wort des Johannes Scotus Eriugenas (810-877) in De divisione naturae von Gott
als „creans non creatum“ (Gott als Ursprung) und als „non creans non creatum (Gott als Ziel der Natur)“.
Nishida griff wohl hauptsächlich auf Ludwig Noacks Übersetzung Johannes Scotus Eriugena über die
Einteilung der Natur, Dürr, Leipzig (1870-1874) zurück, wie die englischen Übersetzer von Anschauung
behaupten. Siehe Nishida (1987), Anm. der Übersetzer auf S. 194, wo es heisst: „Eriugena considers the
ten Aristotelian categories, to which he adds those of possibility and impossibility. This edition of
Eriugena [Johannes Scotus Eriugena, De divisione naturae, Patrologie Latina, CXXII, S. 463-66, S. 59697, EL] is among Nishida’s books, but he has marked his copy of Ludwig Noack’s translation [...] The
markings cover the first 48 pages (= De divisione I 1-49).“ Die Übersetzer stützen sich auf Yamashita
Masaos 山下正男 Liste der sich im Besitz von Nishida befindenden Bücher. Siehe Yamashita (1983).
370
Komatsu behauptet, dass Anschauung letztlich den Zustand des Neukantianismus zu dieser Periode
repräsentiert, dessen „Verachtung“ des Psychologismus die philosophischen Probleme auch nicht lösen
konnte. Komatsu (1948), S. 52.
371
NKZ II, S. 187. Diese interessante Uminterpretation der Kantischen Antinomien – nicht etwa
entstehen die Antinomien der menschlichen Vernunft Nishida zufolge aus der Anwendung empirischer
Erkenntnis auf transzendentale Ideen, sondern sind ein Produkt der empirischen Erkenntnis selbst! – wird
von ihm nicht weiter begründet. Er gibt lediglich zu verstehen, dass die Unendlichkeit von Raum, Zeit
und Kausalität in der wahren Bedeutung von Unendlichkeit, in „unserem unser Selbst reflektierenden
(utsusu 写す) Selbst, dem Selbstbewusstsein“ (ebd.) begründet sein muss.
92
Wir verallgemeinern unsere Erfahrung, die sich von Moment zu Moment fortbewegt, zunächst
im Bereich unseres inneren Bewusstseins, verfeinern (tôya shi 陶冶し) sie danach in der
gesellschaftlichen Erfahrung, und schließlich reinigen wir sie der Vernunft gemäß, so dass
jegliches Element menschlichen Charakters ausgelöscht wird, und konstruieren so die
physikalische Welt. Aber diese ist nicht die wahre Welt.372
Der Wille ist für Nishida nicht nur der Gegensatz der alles erklärenden und sezierenden
Vernunft, die „jegliches Element menschlichen Characters“ auslösche, sondern auch der
emphatisch beschworene Ausweg aus dem Kausalnexus. Wollte man Nishidas
Beschreibung negativ wenden, könne man die Zeitlichkeit des Willens als
„überzeitliches Koma eines ewigen Jetzt“ sehen. Für Nishida ist der Wille die
„Alternative“ zum subjektiv-rationalen Denken der Welt, die „prä-kognitive
Totalität“ (zentai kangaeru maeni ataerarete aru mono 全体 [ ] 考える前に与えら
れてあるもの).373 Hier wird der Aktivität des Selbstbewusstseins, die zu Anfang noch
mit Fichtes Tathandlung identifiziert wurde, auch ein Name gegeben: der ist absolut
freie, absolut schöpfende, durch nichts bedingte Wille. Nishida sieht hier auch die
Möglichkeit einer Entstehung des Seins aus dem Nichts, der creatio ex nihilo, eine für
seine frühe Philosophie der ganzheitlichen Selbstbewusstseins-Erfahurng typische
Annahme. Hier heißt es einschneidend: „Dass der Wille aus dem kreativen Nichts
stammt und in dieses zurückkehrt, oder dass Gott die Welt nach seinem eigenen Willen
schafft, scheint mit unserer Auffassung des Kausalitätsgesetzes nicht vereinbar zu sein.
Aber dass das Sein aus dem Nichts geboren wird, ist die unmittelbarste und
unbezweifelbarste Tatsache, welche sich in der Wirklichkeit (genjitsu 現実) ständig
zeigt.“374
Das Nichts bzw. die Negation – eine logische Unterscheidung nimmt Nishida nicht vor
– wird lediglich als heuristisches Mittel zur Unterteilung dreier verschiedener
„Standpunkte“ (tachiba 立 場 ) angeboten, von denen aus die Welt des
„Selbstbewusstseinsganzen“ zu verstehen sei. Der Verdacht eines immens verkürzten
Hegelianismus wird durch folgendes Zitat erhärtet:
Die absolute Affirmation (reine Wahrnehmung) des einen Inhalts ist der Standpunkt der Kunst;
die Negation des Inhalts ist der Standpunkt des Denkens; und der Standpunkt der Religion ist
der der Negation der Negation, bzw. die absolute Affirmation des Ganzen. Die verschiedenen
partiellen Affirmationen der Wahrnehmung werden durch die Negationen des Wissens
vereinheitlicht, aber das Wissen selbst kann nicht zur Negation seiner Selbst voranschreiten.375
Die Kunst als Affirmation, die Wissenschaft als Negation und die Religion als Negation
der Negation und somit totaler Affirmation erklärt Nishidas Weltbild, das durch den
„absolut freien“ und somit „moralischen“ Willen zusammengehalten werde. So
bestimmt Nishida den moralischen Willen auch als „Übergang“ von der Negation des
Willens durch das Denken in die Affirmation des Willens.376 Die Freiheit des Willens,
die doch zumindest durch die Bestimmung des Willens als „absolut frei“ gegeben wäre,
wird dagegen nicht thematisiert. Stattdessen unternimmt Nishida eine Diskussion
372
NKZ II, S. 197.
NKZ II, S. 216.
374
NKZ II, S. 217.
375
NKZ II, S. 237.
376
NKZ II, S. 240.
373
93
verschiedener „Welten“, deren Voraussetzungen ebenso wenig thematisiert werden.
Eine kurze kritische Reflexion über Nishidas Sprache der „Welten“ soll dieses
nachholen:
In Nishidas Philosophie bestimmt die Rede von unterschiedlichen „Welten“ seit
Anschauung sein metaphysisches System. So gibt es die „Welt der
Anschauung“ (chokkan no sekai 直観の世界), die „Welt der Reflexion“ (hansei no
sekai 反省の世界), die „Welt des Denkens“ (shi’i no sekai 思惟の世界), die „Welt der
Wahrnehmung“ (chikaku no sekai 知 覚 の 世 界 ), aber eben auch die „Welt der
Mathematik“ (sûri no sekai 数理の世界) und die „Welt der Kunst“ (geijustsu no sekai
芸術の世界), sowie die „Welt des Geistes“ (seishin no sekai 精神の世界). Diese
„Welten“ bauen auf nicht näher erklärte Weise aufeinander auf. In Anschauung macht
Nishida ausgiebigen Gebrauch dieser „Welten“-Sprache. 377 Man mag hier um ein
Weiteres einen scholastischen Zug in seinem Denken erkennen; auch Bruchstücke eines
stark mit dem Aufkommen der Lebensphilosophie im 19. Jahrhundert verhafteten
Denkens. Der Zusammenhang dieser Welten untereinander wird von Nishida indes
nicht zur Sprache gebracht. Die unterlassene Bestimmung begrifflicher Beziehung wird
so aber gerade zum Verhängnis seiner Ganzheitsphilosophie. Es ist nahezu ironisch,
dass ein Denker, der Selbst und Selbstbewusstsein so zum Mittelpunkt seiner
philosophischen Anstrengung bestimmt, so emphatisch ausblendet, was ihm erlaubt,
genau dies zu tun. Die „ganze Realität“ zu denken wird so ad absurdum geführt. Ferner:
das, was doch so unmittelbar und total gefasst werden soll – die „Realität“ qua
Selbstbewusstsein – gleitet wegen der hartnäckig in Abrede gestellten Reflexion auf die
Dimension der Logik in Substanzdenken ab: die Sprache der „Welten“ ist dafür
symptomatisch.
Es ist die Welt der Materie (buttaikai 物体界) die vom Standpunkt reinen Denkens alle
Erfahrungsinhalte vereinigt. […] Wenn man von der materiellen Welt voranschreitet, hat man
dagegen die vom affirmativen Standpunkt des absolut freien Willens betrachtete wirkliche Welt
(jitsuzaikai 実在界), die Welt der Geschichte (rekishi no sekai 歴史の世界) […] Wenn die
wissenschaftliche Betrachtungsweise die gegenständliche Negation des Willens ist, dann ist die
historische Sicht die relative Affirmation desselben, und Kunst und Religion stellen dagegen die
konkreten Standpunkte von Affirmation-qua-Negation (kôtei soku hitei 肯定即否定) dar. Die
historische Welt ist als eine Art der Betrachtungsweise der realen Welt noch Teil der
intellektuellen Welt (chishikikai 知識界), aber die Welt der Kunst (geijutsu no sekai 芸術の世
界) und die Welt der Religion (shûkyô no sekai 宗教の世界) transzendieren die Kategorien des
Wissens und sind an sich selbst Aktivität.378
377
Wieder ist es Komatsu, der genau diesen Punkt problematisiert: Nishidas Konzipierung verschiedener
Welten, in der die „Welt der Naturwissenschaft“ auf der Basis rein materieller Gegebenheiten bestimmt
wird, verfehle, dass auch der naturwissenschaftlichen „Weltsicht“ nicht rein materielle Bedingungen zu
Grunde liegen (man denke allein an die Relativitätstheorie(n) Einsteins). Komatsu: „Ein solches
Verständnis des A priori-Begriffs [als Verständnis verschiedener ‚Welten’ oder ‚Standpunkte’, EL], ist
wirklichkeitsfremd und unwissenschaftlich (genjitsu wo mushi suru hikagakutekina mono dearu 現実を
無視する非科学的なものである).“ Komatsu (1948), S. 68-69.
378
NKZ II, S. 247. Hier ziegt sich auch die für seine Frühphase typische Ablehnung des Geschichtlichen.
Die geschichtliche Welt liefere „als konkrete Grundlage nur die objektive Realität; Kunst und Religion
dagegen sind als Affirmation-qua-Negation, als Allgemeines-qua-Besonderes noch konkreter.“ Ihre
Universalität sei nicht der „abstrakte Begriff“, sondern die „schöpferische Kraft“ (sôzôryoku 創造力).
Ebd.
94
Die hierarchische Struktur der Realität und die dogmatische Bestimmung einzelner
„Welten“ und Gültigkeitsbereiche, wie Nishida sie hier vornimmt, einmal
ausgenommen, bleibt das System der „ganzen Realität“ sich selbst äußerlich und
dinglich. Äußerlich: der Standpunkt des Betrachters, der selbst zwischen
„wissenschaftlicher Betrachtungsweise“ und „historischer Sicht“ zu unterscheiden
vermag, oder vom „affirmativen Standpunkt des absolut freien Willens“ die
„wirkliche“ Welt betrachtet, wird axiomatisch und in äußerlicher Reflexion –
beziehungslos – gesetzt. Dabei ist es das Denken der ganzen Realität „durch die Form
des von mir so genannten selbstbewussten Systems“, eine Art der Selbstbeziehung, die
Nishida im Sinn hat. Wenn nun aber, wie in den Ausführungen zum Schluss von
Anschauung, statt einer Reflexion des Standpunkts des Betrachters, des denkenden
Selbst, die Diskussion in eine äußerliche Beziehung verschiedener Teilsysteme (Kunst,
Wissen, Religion) überführt wird, die vom „absolut freien Willen“ wie von einer Art
Substanz ‚umgeben’ sind, kann Selbstbeziehung nicht mehr thematisch sein.
Entsprechend ist das System Nishidas vollkommen dinglich: „Welten“ und
„Standpunkte“, die Wissen bzw. reines Denken angeblich darstellen, können nicht
anders als Dinge zueinander in Beziehung treten. Denken ist bei Nishida nicht die
Grundlage des logischen Selbstvollzugs, sondern ein „Standpunkt“ unter anderen, den
man einnehmen kann oder auch nicht.
Dieser Reduktionismus von logischen Begriffen auf substanzhaftes Sein ist aber mehr
als nur ein Versäumnis in Selbstbewusstseinssystem Nishidas. Sie ist die ideologische
Operation, von deren Verkehrungsmechanismus im Folgenden in der Untersuchung des
Aufsatzes „Ort“ ausführlicher zu sprechen sein wird, da sie Nishidas Intention diametral
entgegensteht.
Zunächst aber zu einer kurzen Kritik der Rhetorik in Kunst und Moral, die sich als
verdinglichende Symptomatik in „Ort“ in systematischer Hinsicht wieder bemerkbar
machen wird.
1.4.
Kunst und Moral (Geijutsu to dôtoku 芸術と道徳) (1923) als Dokument
der Innerlichkeit
Nishidas Entwicklung seit Anschauung war geprägt von einem thematisch sich noch
dicht an den Voluntarismus aus dieser Phase haltenden Intuitionismus. Bereits in
Anschauung tritt dieser verstärkt an der Bezugnahme zu Bergson hervor. Das 1923
erschienene Werk Kunst und Moral (Geijutsu to dôtoku 芸術と道徳), eine lose
Aufsatzsammlung zu Themen wie ästhetische Intuition und Urteilsfunktion – und als
solche auch eine Auseinandersetzung mit Kants Kritik der Urteilskraft (1790) – muss
stärker noch als Anschauung als ein Dokument der „Innerlichkeit“ gesehen werden. Es
legt Zeugnis davon ab, wie sehr Nishidas Denken Anfang der 20er Jahre – ausgedrückt
auch im 1920 erschienenen Sammelband Probleme des Bewusstseins (Ishiki no mondai
意 識 の 問 題 ) – thematisch von einem intuitiv erfahrbaren „Innenleben“ des
Individuums beherrscht war. Wie bereits in Anschauung und in Probleme des
Bewusstseins ist aber auch in Kunst und Moral der „unendlich schöpferische Wille“ als
der „Akt am Grunde aller Akte“ (sayô no sayô taru ishiki 作用の作用たる意識)
Nishidas philosophisches Motiv Anfang der 20er Jahre. So sagt er in der Einleitung zu
Kunst und Moral: „Ich nehme im Grunde der Welt der Bewusstseinsgegenstände
95
(ninshiki taishô 認識対象) die Welt der Willensgegenstände an, wobei die Welt der
Kunst und der Moral beide als Welt der Willensgegenstände entstehen.“ 379
In Anschauung versucht Nishida zwar, das für die Reine Erfahrung in ZnK entwickelte
„psychologistische“ Fundament durch ein mathematisch-logisches zu ersetzen.
Schließlich ist es dennoch ein auf intuitionistischer Ganzheitserfahrung beruhender
Wille, der zum Ende des Werks bei Nishida zur hervorragenden inneren Disposition des
Menschen bestimmt wird. An der Explikation des Willens lässt sich bei Nishida auch
recht anschaulich zeigen, wie sprachliche Darstellung (Rhetorik) und inhaltliche
Bestimmung (Semantik) durch die Unmöglichkeit, dem (angeblich) Nicht-Sprachlichen
ein sprachliches Gerüst aufzuzwingen, erst nur auseinanderzuklaffen scheinen und dann
konträr werden. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie.
Ausgehend von der in Anschauung erstmalig hervorgetretenen Standpunkt- oder
Weltenphilosophie nimmt Nishida in Kunst und Moral eine deutliche Radikalisierung
vor. In dem in Kunst und Moral enthaltenen Aufsatz „Die objektive Welt des
Reflexionsurteils“ (Hanseiteki handan no taishôkai 反省的判断の対象界), in dem
Nishida Kants Unterscheidung von bestimmenden und Reflexionsurteilen aus der Kritik
der Urteilskraft – angeregt durch Hegel?380 – aufgreift, findet sich eine recht drastische
Zusammenfassung dieser Standpunktrhetorik. In einer Textpassage, die um ein weiteres
den exquisiten ontologischen Status der Subjekt-Objekt-Einheit in der nicht-reflexiven
Erfahrung thematisiert, behauptet Nishida:
In der Einheit des Erfahrungsinhalts lassen sich drei verschiedene Typen unterscheiden. 1. auf
dem Standpunkt (tachiba 立場) des bestimmenden Urteils die Einheit der Standpunkte der
reinen objektiven Erkenntnis, 2. auf dem Standpunkt der Tat (kôi 行為) die Einheit des
Standpunktes der Subjekt-Objekt-Einheit, 3. der Standpunkt der gegenseitigen Opposition
beider, in dessen Mitte beide vereinigt sind. Im zweiten Standpunkt befindet sich die reine
innere Einheit, die sich von Akt zu Akt synthetisierend fortbewegt und den Standpunkt des
Urteils transzendiert, ein Standpunkt, der den Urteilsakt vom grundlegendsten, konkretesten
Standpunkt aus als einen seiner Inhalte denkt.381
Dabei entgeht Nishida, dass das Denken sowie die Urteilsfunktion keine Standpunkte
sind, die man einnehmen kann oder nicht, sobald man sie thematisiert. Diese von einem
379
Elberfeld (1999a), S. 38. NKZ III, S. 3.
Bei Hegel tritt diese Kantische Unterscheidung noch einmal in der Wesenslogik auf. So heißt es in der
„Anmerkung“ zur „äußeren Reflexion“: „Kant setzt die reflektierende Urteilskraft der bestimmenden
Urteilskraft entgegen […] Er definiert die Urteilskraft überhaupt als das Vermögen, das Besondere als
enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz)
gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert, bestimmend. Ist aber nur das
Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß reflektierend.“ WL
II, S. 30. Hegel bemängelt, dass die so bestimmte reflektierende Urteilskraft bloß ein Verhältnis der
äußeren Reflexion wiedergebe. (In Analogie dazu wird Hegels Fichtekritik in der Kritik der setzenden
Reflexion zur Geltung gebracht). Hierin sei das Unmittelbare – das Einzelne – als ein Gegebenes
vorgefunden, aus dem sich dann die allgemeinen Bestimmungen entwickelten. Kant zu Gute hält er
dagegen, dass hierin auch der Sinn einer absoluten Reflexion liege: indem das Urteil vom (nichtigen)
gegebenen Unmittelbaren zum „Prinzip“ – dem Allgemeinen – fortschreite, gelte ihm das vorgefundene
Einzelne als Nichtiges, „und die Rückkehr aus demselben, das Bestimmen der Reflexion, erst als das
Setzen des Unmittelbaren nach seinem wahrhaften Sein, also das, was die Reflexion an ihm tut, und die
Bestimmungen, die von ihr herkommen, nicht als ein jenem Unmittelbaren Äußerliches, sondern als
dessen eigentliches Sein.“ Ebd., S. 31 (Hervorh. EL). Hegel ist es in der Wesenslogik noch nicht um die
Lehre vom Begriff, sondern allein um die Reflexionsbestimmungen an ihnen selbst zu tun, weshalb er
Kants Unterscheidung aufnimmt.
381
NKZ III, S. 83.
380
96
denkenden Subjekt losgelöste Einteilung der Realität in Standpunkte der Einheit, des
Urteils, des Handelns, und auch des Willens, etc. verdeckt den Grund der Möglichkeit
von Standpunkten überhaupt. Die Behauptung, dass ein bestimmter Standpunkt den
Standpunkt des Urteils „transzendiere“, transzendiert selbst diesen Standpunkt nicht.
Um zu beweisen, dass dieses möglich ist, muss er Gebrauch von Sprache mit all ihren
logischen und grammatikalischen Regeln machen, die schwerlich den „Standpunkt des
Urteilens“ transzendieren. Bei Nishida kommt der Unterschied von Rhetorik und
Semantik deutlich im ebenfalls in Kunst und Moral enthaltenen Aufsatz „Das Schöne
und das Gute“ (bi to zen 美と善) zum Ausdruck:
In Das Schöne und das Gute identifiziert er Wissen, Wille und Tat. Sie seien die nicht
hintergehbaren Prinzipien des Bewusstseins. Nun sei aber das Schöne nicht einfach ein
(subjektives) Lustgefühl, denn sonst habe es keine universelle Gültigkeit. Nishida
versteht Schönheit als allgemeinen Ausdruck eines „persönlichen Lebens“ (jinkakuteki
seimei 人 格 的 生 命 ). Der Künstler sei auf dem „Standpunkt der direkten
Tat“ (chokusetsu naru kôi no tachiba 直接なる行為の立場) nur das Instrument, dem
„Inhalt des tiefen Lebens“ (fukai seimei no naiyô 深い生命の内容) Ausdruck zu
verleihen.382 Im Mittelpunkt steht hier der schöpferische Prozess. Denn nicht in der
„Welt der Kunst“ finden diese Standpunkte ihre konkrete Anwendung, sondern in der
Moral. Dinge, „wie sie an sich selbst sind“, sieht zwar nur der Künstler im
„persönlichen Ausdruck“, aber dieser das herkömmliche, objektive Wissen
überschreitende Standpunkt der Kunst müsse auch als moralischer Standard gelten
können:
Von diesen Gedanken ausgehend, glaube ich, dass der Inhalt der ästhetischen Intuition durch
den reinen Willen hervorgebracht/kreiert (sôzô serareta 創造せられた) ist und dass er das
wahrhaft konkret und direkt Gegebene ist, und die moralische Tat (dôtokuteki kôi 道徳的行為)
ist der schöpferische Akt der Entwicklung des reinen Willens […] Aber nur wenn wir die Dinge
rein im Standpunkt der moralischen Tat sehen, befinden wir uns auf dem Standpunkt der
künstlerischen Intuition, die die Dinge rein wahrhaftig so sieht, wie sie an sich selbst sind
(junshin ni mono sono mono 純真に物其者), losgelöst von jeglicher interessegeleiteten,
utilitaristischen Idee.383
So sehr Nishida auch darauf besteht, dass Moral einen Wert an sich darstelle, kann er
ihn nicht bestimmen. Dass er der innerste, persönlichste Ausdruck des schöpferischen
Willens ist, der gemäß der künstlerischen Intuition Dinge so sieht, wie sie „an sich sind“,
reicht kaum als Handlungsmaxime.384 Nishida bleibt vage. Beobachtet werden kann hier
paradigmatisch das Auseinanderklaffen von Rhetorik und Semantik: es scheint, als
382
Siehe NKZ III, S. 183.
NKZ III, S. 188-189.
384
Diese Unterbestimmung der Moral – anders ausgedrückt: das Fehlen eines ethischen (inhaltlichen oder
formalen) Prinzips – wird auch von Komatsu gesehen, der das Hauptproblem in Nishidas Bestimmung
der „Moral“ als außerhalb jeglicher menschlicher Interaktion sich befindendem Bewusstseinsphänomen
sieht: „Folglich ist die Moral auch nur ein ‚Problem des Bewusstseins’ [Anspielung auf den Titel des
Kunst und Moral vorausgehenden Werks Ishiki no mondai 意識の問題 (1920)]. Im Leben konkreter
Menschen wird die Handlung usw. nicht problematisiert. Diese moralische Ansicht findet sich schon in
‚Zen no kenkyû’, wo es denselben Sentimentalismus (senchimentarizumu センチメンタリズム),
derselben Irrationalismus gibt: das ‚Gute’ ist, in einem Wort gesagt, die Wirklichkeit der Persönlichkeit.
Die wirkliche Befriedigung von Bedürfnissen, d.h. die Einheit des Bewusstseins, besteht darin, den
Unterschied von Ich und Anderen zu vergessen, sie besteht im Ineinander –Versenktsein von Subjekt und
Objekt.“ Komatsu (1948), S. 89.
383
97
würde Nishida durch das sprachliche Beschwören der „Innerlichkeit“ (künstlerischpersönlicher Inhalt usw.) der Gefahr einer „äußerlichen“ Begriffsbestimmung entgehen
wollen. Rein pragmatisch-rhetorisch soll so ein Effekt in der Semantik des Ausgesagten
erzielt werden. Der Begriff „künstlerische“ bzw. „ästhetische“ Intuition“ bleibt als
operabler, pragmatisch zu verwendender Begriff jedoch erhalten, sobald er Gegenstand
einer Präposition wird. Nishida scheint mitunter zu hoffen, dass diese Tatsache
verschwindet, sobald er behauptet, er sei das „konkret“ und „direkt Gegebene“ und
nicht mehr (oder noch nicht?) Ergebnis eines Urteils oder einer Präposition. So kämpft
Nishida hier wie an vielen Stellen gegen die Begriffe wie gegen Windmühlen.
Hinzu kommt, dass das das alleinige Sprechen von und Beschwören der
„Innerlichkeit“ gegenüber „äußerer Reflexion“ nicht davor schützt, dass dieses
Sprechen selbst unbestimmt und abstrakt bleibt. Nishida fehlen Begriffsbestimmungen.
Sie allein könnten ihm „direkten Zugang“ zu denjenigen Phänomenen vermitteln, die er
durch Urteile zu verfälschen meint. Hier tritt der Kontrast von Rhetorik und Semantik
als Umkehrungsverhältnis auf: nicht die begriffliche Bestimmung versperrt ihm den
Weg zu einer konkreten inhaltlichen Erfahrung der Kunst bzw. der Moral, sondern
umgekehrt die letztlich vergebliche Anstrengung, Kunst oder Moral ohne Begriff zu
denken.
Wie kann man sich diesen Abgrund zwischen der Unbestimmtheit der Nishidaschen
Begriffe und seiner unbeirrbaren Behauptung ihrer Konkretheit erklären? Die Antwort
muss in der in den Worten P. Pörtners „christlich-kerygmatischen
Beschwörungsformel“ des „Standpunktes aller Standpunkte“ im absoluten Willen zu
finden sein. Nishida will vermeiden, einen bestimmten Standpunkt, sei es der des
Neukantianismus, der reinen Logik, oder der Phänomenologie einzunehmen. Auch in
der Frage der Moral versucht Nishida, die Abgrenzung zu Kant oder zum Utilitarismus
deutlich zu machen. Allerdings erspart Nishida dieser Rückzug auf einen vagen, rein
axiomatisch gesetzten „Standpunkt aller Standpunkte“ weder der Sache noch der Form
nach die Auseinandersetzung mit dem Einzelnen. Der Standpunkt aller Standpunkte ist
selbst wieder ein Standpunkt und „vereinigt“ die anderen mitnichten. Es sei denn, es
könne gezeigt werden, dass die Mittel, diesen Standpunkt zu überschreiten, nur durch
diesen Standpunkt selbst geliefert werden. Mit anderen Worten, bei diesem
„Standpunkt“ handele es sich um ein System, das keine anderen Voraussetzungen habe
als es selbst. Das muss allerdings logisch begründet werden können. Auf genau dieses
Problem der Begründung soll hiernach in der Diskussion der Ortlogik eingegangen
werden, wo das Problem der Vollständigkeit, das hier deutlich hervortritt, im Einzelnen
verhandelt wird. Kurzum: will Nishida tatsächlich ein nicht hintergehbares System
begründen, ist die von ihm selbst so stark bekämpfte Logik, das reine Denken, die
einzige, von ihm selbst aber schon immer in Abrede gestellte Möglichkeit.
Desweiteren lässt sich zur Diskrepanz von Rhetorik und Semantik festhalten, daß der
Eindruck des Abstrakten, des Vagen sich bei Nishida aufdrängt, weil dieser sich scheut,
in die Sachen selbst einzudringen, obgleich er diesen Anspruch systematisch vertritt.
Nishidas Diskussion des Willensphänomens in der Fichteschen Tradition, so „tief“ und
„direkt“ er ihn auch explizieren möchte, verbleibt an der argumentativen Oberfläche.
Anspruch und Ausführung sind methodisch unvereinbar. Nishidas Philosophie des
„Standpunkts aller Standpunkte“ stellt sich ironischerweise somit als reine
„Standpunktphilosophie“, als Philosophie des Relativismus dar.
In „Ort“ (1926) endlich schafft es Nishida, den irrationalen, rein ästhetisch begriffenen
Willen, der seit ZnK sein das System unmittelbarer Erfahrung beherrschende
98
philosophische Motiv war, zum großen Teil ad acta zu legen. Die Alternative, die
Nishida anbietet – der „Ort“ des „absoluten Nichts“ als der die Erkenntnis fundierender,
transzendenter Standpunkt aller Standpunkte – wird der Sache nach allerdings kaum
ein Fortschritt zu nennen sein. Im Gegenteil: der „Standpunkt aller Standpunkte“ wird
durch die Annahme einer „prädikativen Logik“, die jeden logischen Standpunkt
unterwandert, nicht nur reinstalliert, sondern radikalisiert. Eine Schwierigkeit besteht
hier bereits darin, dass Nishida sein intuitionistisch gedachtes System überhaupt als
Logik versteht. Im Folgenden soll diese wie auch die anderen Schwierigkeiten der
Logik des Ortes dargelegt und ihnen kritisch begegnet werden.
2.
„Ort“ (Basho 場所) (1926) – Zu einer intuitionistischen Logik
Zum
Nichts
wird
Subjekt
durch
seine Hypostasis, die Verdinglichung des
Undinglichen.
T.W. Adorno, Stichworte385
Nishidas „Logik des Ortes“, die ihren Anfang im im Sammelband Vom Wirkenden zum
Sehenden (Hataraku mono kara miru mono e 働くものから見るものへ) (1926)
enthaltenen Aufsatz „Ort“ nimmt und sich bis zu den Texten seiner Wende zur
Geschichte um 1931 erstreckt386, ist von vielen Kommentatoren als der große Einschnitt
in Nishidas Denken gesehen worden. Sei es, dass hier die Etablierung einer erstmals als
„östlich“, d.h. asiatisch verstandenen Logik gegen die „westliche“ Logik Aristoteles
gesehen wurde, 387 sei es, dass Nishida mit dieser Theorie sein als „NishidaPhilosophie“ (Nishida tetsugaku 西田哲学) berühmt gewordenes Denken begründet
habe oder dass mit der Ortlogik eine genuin japanische Philosophie in Verbindung
gebracht wurde. Nakamura Yûjirô 中村雄二郎behauptet sogar, Nishida habe mit seiner
385
Adorno (2003c), S.756.
Der „Geltungsbereich“ der Ortlogik für Nishidas Denken, d.h. die Relevanz der darin zentralen
Begriffe „Ort“, „Nichts“ und der „Prädikatenlogik“ gilt noch für das nach Vom Wirkenden zum Sehenden
erscheinende Werk Das selbstbewusste System des Allgemeinen (Ippansha no jikakuteki taikei 一般者の
自覚的体系) (1930) in NKZ IV. Danach gibt Nishida die Idee einer Ortlogik der Sache nach auf, wenn er
sie auch rein terminologisch in „Ortlogik und religiöse Weltanschauung“ (Bashoteki ronri to shûkyôteki
sekaikan 場所的論理と宗教的世界観) noch einmal aufgreift. Dort wird sie allerdings zu einer Art
Staatsphilosophie des Jôdo-shin-Buddhismus umformuliert. Mit den „logischen“ Überlegungen aus
„Ort“ hat „Ortlogik“ nicht mehr als den Namen gemein. Siehe zu Nishidas religiösen Staatsvorstellungen
in „Ortlogik und religiöse Weltanschauung“ insbesondere die Schlussausführungen des Aufsatzes:
„Staaten sind einzelne Welten, die den Selbstausdruck des Absoluten jeweils in sich enthalten. Wenn
daher volksbezogene Gesellschaften (minzokuteki shakai 民族的社会) in sich den Selbstausdruck einer
Welt tragen und vernünftig werden, werden sie zum Staat. Allein dies ist ein Staat, und in diesem Sinne
ist er religiös [...] Die menschliche und leidhafte Welt spiegelt das Reine Land und das Reine Land
spiegelt die menschliche und leidhafte Welt [...] Auf diese Weise könnte man sich auch in jôdoshinbuddhistischer Weise einen Staat vorstellen. Nach dieser Vorstellung müßte der Staat in der menschlichleidhaften Welt das Reine Land widerspiegeln.“ NKZ X, S. 366-367; Elberfeld (1999a), S. 283-284.
387
Nishida selbst hat sich diese Interpretation zuzuschreiben, wenn er in Das Problem der japanischen
Kultur (Nihon bunka no mondai 日本文化の問題) (1938/40) behauptet: „Ich sage nicht, dass es
innerhalb der Logik zwei verschiedene Arten gebe, eine westliche und eine östliche. Die Logik muss eine
sein. Dennoch, als geschichtlicher Selbstgestaltungsakt (jikokeiseisayô 自己形成作用) nimmt diese
Logik in der weiteren Entwicklung verschiedene Richtungen an. Grob gesagt, die westliche Logik nimmt
Dinge (mono 物) zum Gegenstand, die östliche Logik nimmt das Gefühl (kokoro 心) [auch Geist, Herz,
Gemüt] zu ihrem Gegenstand.“ NKZ IX, S. 12. Diese Selbstzuschreibung soll in Kapitel V der
vorliegenden Arbeit problematisiert werden.
386
99
neuen, den Ort als absolutes Nichts begreifenden Logik eine „kopernikanische
Wende“ der bisherigen Subjekt- und Seins-orientierten Logik durchgeführt. 388 Dies
alles steht zur Diskussion im folgenden Kapitel. Fest steht, dass Nishida selbst im
Vorwort der 1936 erschienenen Neuauflage von Zen no kenkyû sein um das Thema des
Selbstbewusstseins kreisendes Denken in die auch in dieser Arbeit in Kapitel I und II
verhandelten drei Stufen einteilt:
Der Standpunkt der reinen Erfahrung führte in der Aufsatzsammlung Anschauung und Reflexion
im Selbstbewußtsein, vermittels der Tathandlung bei Fichte, zum Standpunkt des absoluten
Willens, und im weiteren erreichte er in der letzten Hälfte der Aufsatzsammlung Vom
Wirkenden zum Sehenden, vermittelt durch Ansätze aus der griechischen Philosophie, die Kehre
zum Gedanken „Ort“.389
Der Aufsatz „Ort“ wird allerdings von fast ausnahmslos allen Kommentatoren
zumindest als großer Schritt weg von der unklaren, mitunter mythologisierenden
Sprache der „Unmittelbarkeit“ und des absolut freien Willens in den Texten der vorigen
beiden Jahrzehnte gewertet. In „Ort“ sei zum ersten Mal ein logisches Fundament der
Nishidaschen Gedanken gewonnen, geradezu ein System, das sich nicht nur mit der
„Logik des Westens“, d.h. der klassischen Aristotelischen Logik messen könne, sondern
diese sogar überwinde. Man erwartet viel, hört man diese enthusiastischen
Zuschreibungen. Nishida bezieht sich intensiv auf Aristoteles, will aber nicht eine Logik
des Subjekts, sondern eine Logik des Prädikats entwickeln. Leider erfährt man nichts
über die Motivation Nishidas für ein solches Unterfangen. Kobayashi interpretiert:
In der modernen Philosophie wird das Ich oder das Selbst schnell in eins mit der Subjektivität
gedacht und als „Subjekt“ mit dem wortwörtlichen „Subjekt“ des Satzes gleichgesetzt. Für
Nishida stellt jedoch eine solche Verbindung bzw. Gleichsetzung eine vergegenständlichende
Substantialisierung bzw. – wie ich es ausdrücken würde – eine Art „Verdinglichung“ des Ichs
dar.390
Diese
Interpretation
legt
nahe,
Nishida
habe
das
Problem
des
„Verdinglichungsprozess“ des Subjekts mit seiner Logik des absoluten Nichts gelöst, ja
überhaupt erst ins Blickfeld gerückt. Vielmehr aber ist genau das Gegenteil der Fall –
die Verdinglichung des Subjekts wird durch seine Identifikation mit dem absoluten
Nichts überhaupt erst möglich. Das vorliegende Kapitel unternimmt durch eine logischkategorienkritische Analyse den Versuch, das zu zeigen. Dass Nishida das Subjekt zu
einer dem Subjekt-Objekt-Gegensatz vorausliegenden absolut selbstidentischen
Substanz erklärt, gerät hier in den primären Fokus der Kritik. Dabei soll insbesondere
die Annahme absoluter Selbstidentität in Frage gestellt werden. Zu dieser Problematik
im Allgemeinen lässt sich vorläufig festhalten:
„Subjekt“ zu sein bedeutet eben nicht, nach den Regeln des post-kantischen
transzendentalen Idealismus Fichtes, die einfache Identitätsgleichung, der zu Folge aus
den Bewusstseinsstrukturen alle Strukturen des Seienden abgeleitet werden müssen.
Subjekt, wie es in der hegelianischen Tradition der kritischen Theorie auch zur Geltung
388
Nakamura (2001), S. 77.
NKZ I, S. 3; Elberfeld (1999a), S. 22. Ich lege Elberfelds Übersetzung von Ort meiner Textdiskussion
zu Grunde.
390
Kobayashi (2002), S. 91
389
100
kommt, ist das Prinzip der Nicht-Identität schlechthin. Es ist falsch, die synthetisierende
epistemologische Funktion des Subjekts mit seiner Denkfunktion zu verwechseln. Zwar
ordnet das Subjekt die Welt, in der es sich vorfindet, nach formalen Prinzipien, von
denen uns Kant in Kenntnis setzt, aber allein das mögliche Wissen von der Welt hat es
in der Form des negativen Urteils, der Hegelschen „ungeheuren Macht des
Negativen“391, weshalb das Gegebene nicht nur der Inhalt unserer Erkenntnis, sondern
die bloße Tatsache desselben, Seiendes zu sein, auch die Form unseres Wissens
strukturiert: als Negation. Das Nichts der Ortlogik ist jedoch keine Negation: es ist
schlichte Identität. Eine der Folgen dieser Konzipierung ist, dass Nishida schließlich das
Subjekt vernichtet, um Identität zu retten. Insofern die Logik des sich als absolutes
Nichts generierenden Ortes sich desweiteren anschickt, das nicht nur präpositionale,
logische und grammatikalische, sondern eben auch das Subjekt als Träger des
Bewusstseins zu subsumieren – das vorliegende Kapitel versucht, die Darstellung dieses
„Prozesses“ zu leisten – führt Nishida ausdrücklich eine Überwindung des Subjekts vor.
Das Motiv für diese Anstrengung ist um ein Weiteres der Versuch zur Begründung
eines philosophischen Systems, das nicht von der sogenannten Subjekt-ObjektDichotomie ausgeht. Möchte man weiter fragen, warum Nishida sich ausgerechnet so
am „Subjekt-Objekt-Dualismus“ gestoßen hat, erhält man, zumindest bis zur
Veröffentlichung von „Ort“, keine Antwort. Sucht man nach einer
reflexionstheoretischen Erklärung, sucht man vergebens. Sie steht dagegen in einem mit
der Reflexionsphilosophie scheinbar vollkommen disparaten Zusammenhang: im
Kontext des auch gesellschaftlich vorangetriebenen Diskurses über die „Kultur“ bzw.
„Kulturen“. Seit den 1920er Jahren wird auch für Nishida das Stichwort der Kultur bzw.
der Kulturen relevant. Dabei wird in erster Linie der Gegensatz zwischen
„orientalischer“ bzw. „östlicher“ und „westlicher“ bzw. „okzidentaler“ Kultur
thematisiert. Der gesellschaftliche Diskurs schlägt sich in Nishdias Denken um 1926 als
philosophische Motivation nieder: aus dem Vorwort von Vom Wirkenden zum Sehenden
erfährt man von Nishidas Hypostase eines kulturellen Gegensatzes zwischen
„Westen“ und „Osten“, der sich in verschiedenen Logiken, verschiedenen
„Herangehensweisen“ an das Denken ausdrücke. 392 Insofern ist eindeutig eine
Akzentverschiebung der Gewichtung der Subjekt-Objekts-Problematik vor dem
Horizont des Okzident-Orient-Gegensatzes auszumachen: Nishida will mit „Ort“ und
den im Anschluss an „Ort“ entstandenen Texten zeigen, warum den
erkenntnistheoretischen Dualismus anzunehmen, nur eine, nämlich eine westliche
Sichtweise ist. Bei der Logik allerdings kann es für Nishida nicht bleiben; er möchte die
„östliche Logik“ des Nichts auch als ontologisches Prinzip verstanden wissen. Zum
Einen drückt sich das im „creatio ex nihilo“–Prinzip aus, zum Anderen in der Metapher
des Spiegels, die Nishida zum Anfang des „Ort“-Textes mehrfach verwendet. Hier
spricht er davon, dass es im Hintergrund der wahrgenommenen Gegenstände einen
„Ort“ geben müsse, der denselben zum Existieren bringe, indem er ihn spiegele. Ort und
Spiegel bezeichnen das „Feld des Bewußtseins überhaupt“, das selbst völlig leer sei und
alle Dinge spiegele: mit anderen Worten, das, was selbst – im logischen und
391
PhG, „Vorrede“, S. 36.
„Es braucht nicht gesagt zu werden, daß es in der prächtigen Entwicklung der westlichen Kultur [...]
viel Beachtenswertes und Lernenswertes gibt. Liegt aber nicht im Grunde der östlichen Kultur, die unsere
Vorfahren seit einigen tausend Jahren überliefert haben, etwas verborgen, das die Form des Formlosen
sieht und die Stimme des Stimmlosen hört? Unser Herz fordert dieses, und bewegt von dieser
Notwendigkeit möchte ich versuchen, diesem eine philosophische Grundlage zu geben.“ NKZ III, S. 255;
Elberfeld (1999a), S. 42. Siehe auch Ende des Kapitels I der vorliegenden Arbeit.
392
101
ontologischen Sinne – Nichts ist, sei der Ort des Bewusstseins. Man sieht: die
Diskussion einer „neuen“, östlichen Logik des Nichts hat ihren Ausgangspunkt
wiederum in der Bewusstseins- bzw. Selbstbewusstseinsproblematik. Im folgenden
Abschnitt des vorliegenden II. Kapitels sollen daher die grundlegenden Aspekte des
„Orts“, darunter die Problematiken des Selbstbewusstseins, der Bestimmung des Nichts
als „leere“ Substanz und als „Prädikatsebene“ im Subsumtionsurteil kritisch diskutiert
werden (2.1.). Von hier aus kann auch der Verkehrungsmechanismus in Nishidas
Konzeptuierung des Subjekt-Nichts, die „Verdinglichung des Undinglichen“ dargestellt
werden. Anschließend (2.2.) wende ich mich der in der modernen Nishida-Forschung
am umfangreichsten ausgearbeiteten Interpretation der Ortlogik im Hinblick auf die
Logizität ihres Ansatzes durch Robert J.J. Wargo zu und versuche eine kritische
Antwort darauf, die ihren Hintergrund in der Hegelschen WL hat.
Die Systematik meines Ansatzes indes lässt Spekulationen darüber zu, auf welchem
Feld sie ihren Kampf austrägt: während ich in der Frage reiner Selbsterkenntnis in
Anschauung Nishidas (und Fichtes) Gedanken der Selbstsetzung mit Kants
grundlegendem Verständnis des Selbstbewusstseins aus der KrV kontrastiert habe,
möchte ich in der Frage der logisch begründbaren Ontologie Hegels WL präsent
machen. Das soll bei weiten nicht heißen, dass die Begriffsbestimmungen der WL im
Einzelnen diskutiert werden – das ist unmöglich – aber eine Darstellung des Programms
der Hegelschen Logik zeigt im Kontrast mit Nishidas Ortlogik immenses kritisches
Potential. Es wird sich zeigen, dass diese Kontrastierung Licht auf den schwierigen
Nishidatext wirft, da dieser der versucht, ohne Begriffsbestimmungen auszukommen.
Bei Nishida steht am Ende eine sich an den Grundbegriffen der Logik (Subjekt,
Prädikat, Urteil, Syllogismus) orientierende intuitionistische Philosophie, die die
Aufhebung des Subjekts logisch zu begründen versucht. Kann gezeigt werden, dass
dieser Versuch zum Scheitern verurteilt ist, muss auch Nishidas Ortlogik als Ganze in
Frage gestellt werden.
Ich nenne den Verkehrungsmechanismus in Nishidas Ansatz „ideologisch“. Ideologisch
meint hier nicht die für diese Bezeichnung naheliegende kulturessentialistische
Hypostasierung verschiedener Denkweisen des „Ostens“ und des „Westens“ – wieweit
sie auch in Kapitel V von Interesse sein werden – , sondern eine philosophische
Methodik im Sinne einer Logik unreflektierter Denkvoraussetzungen, die den Anspruch
des Ansatzes in sein Gegenteil verkehren.393 Konkret: das ideologische Moment von
Nishidas Ortlogik muss in der explizit nicht-begrifflichen, anti-rationalen Bestimmung
eines „Nichts“ gesehen werden, das – anstatt der defizienten Substanzhaftigkeit zu
entkommen, der diesem aristotelisch-metaphysisch anhänge – genau diese wieder
geltend macht. Diese These soll in folgendem Abschnitt an den grundlegenden
Aspekten des Ortes, deren erheblicher Mangel an begrifflicher Durchdringung von
Nishida nicht etwa als unreflektierte Begleiterscheinung einer mangelhaften Philosophie,
sondern als expliziter Vorteil nicht-begrifflichen, intuitiven Denkens vorgestellt wird,
dargestellt und plausibel gemacht werden.
393
Dass hier ein bestimmter theoretischer Mechanismus greift, will der systematische Exkurs zum
Ideologiebegriff, insbesondere des Marxschen Warenfetisch, in Kapitel IV zeigen.
102
2.1.
Die grundlegenden Aspekte des Ortes: Ausgang vom Selbstbewusstsein
Die Beantwortung der Frage steht aus, inwiefern die sogenannte Logik des Ortes
wirklich der große Einschnitt im Denken Nishidas ist. Dass allein die pragmatische
Verwendung von „Logik“ als Begriff schon eine logische Herangehensweise auf der
semantischen Ebene erzeugt, ist wenig überzeugend. Vielmehr scheint „Ort“ ein Schub
oder ein Sprung nach vorn in der Subjekts- und Selbstbewusstseinsproblematik zu sein:
Ausdruck des jahrelangen Kampfes Nishidas mit sich selbst, dem Ich, dem Selbst und
der Möglichkeit des Sich-selbst-Denkens, der Selbstreflexion, Ausdruck zu verleihen.
Mitnichten lässt Nishida daher den Fichteschen Ansatz, den Gedanken des
„ungebundenen“ Willens oder den der Aktivität des Selbstbewusstseins – das auch mit
dem Ausdruck des „Wirkens“ beschrieben werden kann – hinter sich, wie z.B. Wargo
behauptet. 394 Alle diese Begriffe, vor allem der Begriff des Willens, bleiben in
„Ort“ aktiv. Auch das Wirkende (hatarakimono 働き物) spielt im Zusammenhang mit
der Spiegel-Metapher eine große Rolle. Ist der Spiegel, der alles spiegelt, während er
selbst „nichts“ ist, eine Metapher für das Bewusstseinsfeld (ishiki no ya 意識の野), so
entsteht das Wirken für Nishida aus dem Sachverhalt, „sich in sich selbst unendlich zu
spiegeln.“395 Das Bewusstseinsfeld denkt Nishida daher vorläufig als den Ort, in dem
sich „Dinge und Sachverhalte“ (monogoto 物事) spiegeln. „Spiegeln“ (utsusu 映す)
ersetzt hier „reflektieren“ und sogar „wissen/kennen“ (shiru 知る). „Im Ort des Nichts,
der alles Seiende negiert, wird das Wirkende einfach zum Wissen, denn Wissen
bedeutet nichts anderes als spiegeln.“396 Der Gedanke der creatio ex nihilo ist hier
ausschlaggebend. Im Hintergrund dieser Annahme wird wiederum ein Bewusstsein
gedacht, wie es „an sich“ ist, ohne jegliche Vergegenständlichung und
Verobjektivierung. Shimomura und andere sehen hier das Motiv für Nishidas Denken in
dieser Periode überhaupt. So bestehe für Nishida das Problem darin, dass „westliche
Philosophen“ (seiyô no tetsugakusha 西 洋 の 哲 学 者 ) immer das „bewusst
gemachte“ (ishiki sareta ishiki 意識された意識) Bewusstsein behandelten, nicht das
„bewusste Bewusstsein“ (ishiki suru ishiki 意識する意識). 397 Auch Abe sieht den
Vorzug des Nishidaschen Ansatzes darin, dass er im Gegensatz zur westlichen
Philosophie, welche das Bewusstsein nur als Objekt des Bewusstseins betrachtete, das
„unmittelbare und direkte (immediate and direct)“ Bewusstsein, welches das „wahre
Subjekt des Bewusstseins (the true subject of consciousness)“ sei, behandelte.398 Auf
den hier naheliegenden Zusammenhang von sprachlicher Darstellung eines Gedankens
und dem Gedanken selbst soll in II. 2.2.2. eingegangen werden.
Tatsächlich wird diese simplifizierende Entgegensetzung von „westlicher
Philosophie“ – hier: Erkenntnistheorie – und einem angeblich den Subjekt-ObjektDualismus überwindenden, am direkten Bewusstsein orientierten Denken des
„Ostens“ in „Ort“ geltend gemacht. Dass die bisherige Erkenntnistheorie „immer vom
394
„It is the rejection of the emphasis on activity that marks the transition to the concept of
basho.“ Wargo (2005), S. 66.
395
NKZ III, S. 430, Elberfeld (1999a), S. 90.
396
Ebd.
397
Shimomura (1965), S. 190.
398
Abe (1988), S. 357. Abe weist zusätzlich darauf hin, dass Nishida selbst in der Fortsetzung zu Denken
und Erleben (Zoku shisaku to taiken 続・思索と体験) in NKZ VII im darin enthaltenen Aufsatz
Übriggebliebene Probleme des Bewußtseins (Torinokosaretaru ishiki no mondai 取残されたる意識の問
題) diese Unterscheidung macht.
103
Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt“399 ausginge und Wissen so verstünde, „daß
[ein Subjekt] durch die Form Materie gestaltet“, ist nur eine der von Nishida auch hier
naiv interpretierten Ausgangsthesen angeblich „westlicher“, an der starren
Entgegensetzung von Subjekt und Objekt festhaltender Erkenntnistheorie, welche zu
überwinden er für notwendig hält. Diese Lesart Kants, des paradigmatischen Vertreters
klassischer Erkenntnistheorie auch bei Nishida, ist stark verkürzend. So ist zum Beispiel
die Synthesis der ursprünglichen Apperzeption ein weitaus komplexeres theoretisches
Gebilde, als dass sie durch die simplifizierende Formel Subjekt vs. Objekt bzw. Form vs.
Materie dargestellt werden könnte. Die Schwierigkeit besteht ja eben in der Auflösung
der Frage, wie etwas für mich zum Objekt werden kann – und ob dieses dann auch
wirklich ist, was es ist. Von einem starren Dualismus kann in der Kantischen
Transzendentalphilosphie keine Rede sein. Indem Nishida die Kantische Leistung in der
Deduktion und in den Analogien der Erfahrung, die sich per se der Logizität ihres
Ansatzes verpflichtet, auf einen platten Subjekt-Objekt-Dualismus reduziert, verkennt
er darüber hinaus den komplexen Zusammenhang von Logik und Bewusstsein. Zumal
das metaphysikkritische metaphysische Projekt Kants auch schon in der KrV weit über
das von Nishida Behauptete hinausgeht: Kants Ideen haben Konsequenzen für den
Begriff der Freiheit. Nishidas frühe Selbstbewusstseinsphilosophie dagegen erweist sich
in der Frage nach ihren praktischen Konsequenzen oder in Fragen
handlungstheoretischer Relevanz als irrelevant.
In „Ort“ wird weiterhin vom Selbstbewusstsein ausgegangen: „Anstatt [wie in der
Kantischen Erkenntnistheorie] zu denken, möchte ich versuchen, vom
Selbstbewusstsein auszugehen, in dem ich mich selber in mir selbst spiegele.“400 Nun ist
es aber der Begriff des Ortes, der Nishidas Gedanken insofern eine Wendung gibt, als er
die Beziehung des „sich in etwas befinden“ für das grundlegende Charakteristikum des
Seins ausspricht und so eine ontologische Komponente in die Bewusstseinsproblematik
einführt. Grundsätzlich sieht Nishida in der Beziehung einer Entität zu einer anderen
darin ihr wesentliches Existenzmerkmal, dass sie sich in einer anderen Entität „befinde“.
Dabei kann es sich um höchst unterschiedliche Entitäten handeln. Nishida geht aber von
Begriffen aus. Das ist die erste Stufe der Entfaltung des Logischen. Doch wie sieht ein
Sein, das immer als „in-sein“ in einem „Ort-worin“ (basho ni oite 場所に於いて)
verstanden wird, in den Begriffen reiner Logik aus?
Seiendes muss so gedacht werden, daß es sich in etwas befindet. Natürlich hat hier Seiendes
nicht den Sinn von realer Existenz, sondern vielmehr eine äußerst allgemeine Bedeutung. Zum
Beispiel befinden sich verschiedene Farben im Allgemeinbegriff Farbe; dieser Allgemeinbegriff
ist der Ort-worin, in dem sich die verschiedenen Farben befinden. Aristoteles dachte die
Substanz als das, worin sich die Eigenschaften befinden, und mit seinem Gedanken der zweiten
Substanz läßt sich die allgemeine Farbe selbst als das denken, worin sich die verschiedenen
Farben befinden.401
Das ist der Ansatzpunkt der Ortlogik. Problematisch ist hier primär der Ausdruck des
„Sich in etwas befinden.“ Es ist im Gegenteil nicht selbstverständlich, dass Seiendes
399
NKZ III, S. 420, Elberfeld (1999a), S. 79.
NKZ III, S. 420, Elberfeld (1999a), S. 79.
401
NKZ III, S. 428, Elberfeld (1999a), S. 87.
400
104
sich „in etwas befinde“, zumal Nishida hier „nicht den Sinn von realer Existenz“, d.h.
raumzeitlich bedingten Objekten, im Blick hat.
Dass Nishida tatsächlich von Begriffen und nicht von raumzeitlichen Gegenständen
spricht, zeigt bereits der nächste Satz. Verschiedene Farben befinden sich ihm zufolge
im Allgemeinbegriff Farbe. Das ist nicht nachvollziehbar. Begriffe haben keinen „Ort“,
der allein das „sich in etwas befinden“ begründen könnte. Doch selbst, wenn man nicht
ohne weiteres annimmt, dass Begriffe atemporal und „raumlos“ sind – man denke an
eine historische Begriffssemantik – wird man kaum davon sprechen, dass sich
verschiedene Einzelbestimmungen (Akzidenzien) in der Allgemeinbestimmung
(Substanz) ebenso „befinden“ wie sich ein Apfel in einem Korb befindet. Nishidas
missverständliche Formulierung bzw. die unterlassene Differenzierung von
„Seiendem“ und „Begriff“ legt diese Lesart jedoch nahe. Das Problem liegt allerdings
nicht nur in Nishidas versäumten Nachvollzug der ontologischen Differenz402, sondern
auch in der Sprache bzw. „verdinglichenden Rhetorik“, von der oben im
Zusammenhang mit den „Standpunkten“ und „Welten“ bereits die Rede war. Zwar
unternimmt Nishida die Unterscheidung von Kopula und „Sein der Existenz“. Beide
Seinsbegriffe behandelt er aber wie dingliche Entitäten, die sich in etwas befinden, sei
es ein „Besonderes“, das sich im „Allgemeinen“ befinde oder das „Rote“, welches sich
im Begriff der „Farbe“ befinde. Bereits letztere Formulierung ist unter dem
Gesichtspunkt einer für die begriffslogische Untersuchung notwendigen Unterscheidung
von Begriff und „Ding“ prekär: das „Rote“ befindet sich schlicht und einfach nicht im
Begriff der Farbe. Nishida vermischt die Seinsbereiche zunehmend. Insbesondere die
Rhetorik des folgenden Abschnitts dürfte zeigen, wie Nishida versucht, Begriffe so zu
behandeln als seien sie Dinge.
Sagt man, im Bereich der Natur gibt es Dinge, so bezieht sich dies auf den Geltungsbereich des
Existenzurteils; sagt man Rot ist eine Farbe, so bedeutet dies, daß sich das Rote im Begriff der
Farbe befindet [...] Wenn sich das Besondere im Allgemeinen befindet, so denken wir schlicht,
daß es ist. In diesem Fall befindet sich ein Seiendes in einem anderen.403
Dagegen muss schlicht konzediert werden: ein Besonderes befindet sich nicht in einem
Allgemeinen wie ein Seiendes in einem Seienden, sei es das „Rote“, das sich im
„Begriff“ der Farbe „befinde“ noch irgendetwas anderes. Es ist die begriffliche
Beziehung von Allgemeinem und Besonderen, die Nishidas Denken entgeht, was sich
symptomatisch auch in seiner Terminologie reflektiert („sich an einem Ort befinden“).
Ausdrücklich findet sich die Identifikation von Begriff mit einem Gegenstand in
folgender Formulierung:
402
Die unterlassene Bestimmung der ontisch-ontologischen Differenz konzediert Manfred Frank der
Metaphysik schlechthin. Bereits bei Aristoteles werde sie explizit: „What distinguishes this science
[metaphysics] from other particular sciences is supposed to be that each of the latter investigates a single
realm of beings (geologist investigate stones, botanists plants, philologists texts, etc.), but not being as
being. The concept of being (Seiendes) for Aristotle is distinguished by the fact that it is thought along
with every other concept and, as such, is universal. Clearly one can say of anything and everything that it
is, by which Aristotle means: that is is a being. Being (Seiendes), object, and something (tóde ti) are
synonymous.“ Frank (1991), S. 218. Dieser „falsche Weg“ des Aristoteles, den die westliche Philosophie
eingeschlagen habe – Metaphysik als verobjektivierendes Denken - wurde Frank zufolge erst durch
Heidegger und die analytische Philosophietradition in Frage gestellt.
403
NKZ III, S. 431-432, Elberfeld (1999a), S. 91.
105
Haben wir den Gegenstand der widersprüchlichen Einheit (mujunteki tôitsu no taishô 矛盾的統
一 の 対 象 ) [des Widerspruchs, EL] erreicht, so können wir – vom Standpunkt des
Urteilswissens aus – das Allgemeine, das dieses und jenes umfaßt, nicht mehr erkennen.404
Oder auch hier:
Je mehr das Prädikative das Subjekt übersteigt, vertieft und erweitert, umso freier wird der
Wille.405
Kurz: hier findet eine drastische Subsumierung rein logischer Kategorien unter
substantiell Seiendes statt. Der Widerspruch ist kein Gegenstand, den man
„erreichen“ kann, das Prädikative „übersteigt“ und „vertieft“ kein Subjekt.
Ungeachtet seiner prekären verdinglichenden Rhetorik muss man aber fragen, auf was
Nishida mit diesem argumentativen Konstrukt hinaus will. Ihm zufolge müsse etwas
geben, das sowohl der Kopula als auch dem existenziellen Seinsbegriff
„zugrunde“ liege, durch das sie „Zugang“406 zueinander haben. Nishida nennt es in
Anlehnung an Hegel das „konkrete Allgemeine“407, dasjenige, was garantiert, dass das
Existenzurteil als „allgemeingültig“ anerkannt werden kann. Im Rückgriff auf Hegel
versucht Nishida in „Ort“, den denkerischen Standpunkt als konkretes Allgemeines zu
erschließen, welcher das Sein „bloßer Existenz“ garantiere. Bei Nishida wird das
konkrete Allgemeine schliesslich zum absoluten Ort des Nichts und somit nicht zum
Begriff, als den Hegel das konkrete Allgemeine bestimmt. Aber vielmehr aus anderen
Gründen ist der Ansatz Nishidas nicht unproblematisch:
Erstens ist aus oben genannten Gründen nicht einleuchtend, dass umgekehrt der „Ort, an
dem sich etwas befindet“ eine logische Kategorie ist. So gehören in der Hegelschen
Systematik Ort, Raum und Zeit, obgleich Begriffe, gar nicht zur Logik, sondern werden
am Anfang der Naturphilosophie verhandelt, weil sie (und hier tritt Hegel ganz
Kantianisch auf) die Bedingungen der empirischen Anschauung endlicher Wesenheiten
sind. Zeit ist für Hegel eine Kategorie des Realen und gehört nicht in die Logik. Raum
und Zeit sind zwar als Begriffe in der WL präsupponiert, systematisch haben sie ihren
Ort erst in der Naturphilosophie als Bedingungen der endlichen Wesenheiten, d.h.
dessen, was nicht „bloß“ Begriff ist. So tritt Hegel auch wesentlich gegen Kant auf,
wenn er Raum und Zeit nicht als Bedingung des reinen, d.h. nicht-sinnlichen Denkens,
d.h. der Logik überhaupt identifiziert. Die Logik ist, man erinnert sich an das Wort aus
der „Einleitung“ der WL, „die Darstellung Gottes […] wie er in seinem ewigen Wesen
vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist“, womit Hegel schlicht
behauptet, dass in seinem System aus Logik, Natur und Geist, die Logik jeglicher
gegenständlicher, an Raum und Zeit gebundener Erkenntnisart vorgeordnet ist.
Zweitens ist es für eine Philosophie inkonsequent, zwar eine Ortlogik begründen zu
wollen, dabei aber auf den Zeitaspekt völlig zu verzichten. Der Zeitbegriff kommt in der
Ortlogik nicht vor. Robert J.J. Wargo bietet eine Interpretation an, derzufolge Nishida
sinnvoll begründet, warum Raumörtlichkeit angenommen, aber Zeitlichkeit unbestimmt
bleiben kann. So soll Nishidas Beispiel der Farben, die sich im Allgemeinbegriff Farbe
befinden, indizieren, dass der Allgemeinbegriff Farbe selber keine Farbe ist (oder
404
NKZ III, S. 468, Elberfeld (1999a), S. 130.
NKZ III, S. 471, Elberfeld (1999a), S. 133.
406
NKZ III, S. 431. Elberfeld (1999a), S. 91.
407
Ebd.
405
106
„haben kann“), denn sonst wäre er nicht der Allgemeinbegriff. Das ist plausibel. In
welchem Verhältnis stehen dann aber die einzelnen Farben zum Allgemeinbegriff
„Farbe“? Wargo zufolge seien die einzelnen Farben jedenfalls keine Funktion des
Allgemeinbegriffs Farbe, d.h. eine „Aktivität“ des Allgemeinbegriffs, denn dann würde
der zeitliche Faktor eingeführt, „a factor that is not included in the concept of color.“408
Auch der Ort dürfe in dem Sinne nicht „räumlich“ gedacht werden, denn: „All one has
in this situation is the notion of ‚including’ [...] He [Nishida] notes that this has the same
relation as ‚the form being the shadow of the formless.’“409 Logische Argumentation
wird hier durch assoziative Metaphorik ersetzt. Mit Philosophie hat das nichts zu tun.
Nishida indes gibt selbst gar keine Erklärung an, weshalb der Zeitbegriff unbestimmt
bleibt. Die Frage bleibt: wie kann Ort ein rein logischer, der Anschauung vorgeordneter,
Begriff sein? Sie muss im Kontext von „Ort“ unbeantwortet bleiben.
Der Ansatzpunkt der Ortlogik mit ihrer Behauptung, dass sich „Seiendes in Seiendem
befinde“ ist oben problematisiert worden. Nishidas Ansatz zielt argumentativ jedoch
weiter. Nishida spielt auf die Aristotelische Substanz-Definition an, in deren Nähe er
sich durchaus verortet, die er aber zur Bestimmung seines konkreten Allgemeinen als
Nichts in sein Gegenteil zu überführen versucht. Zunächst ist für Aristoteles die
„Substanz“ (oder die „Wesenheit“, Ousia) dasjenige, was nicht von einem
Hypokeimenon, dem „Zu Grunde liegenden“, ausgesagt werden kann, noch an einem
Zu-Grunde-liegenden „auftritt“. Er definiert im 5. Kapitel seiner Kategorienschrift:
Wesenheit (Οὐσία) ist im eigentlichsten Sinne und in unmittelbarster Erfassung und in
stärkstem Maße ausgesprochen als die, welche weder von einem Zugrundeliegenden ausgesagt
wird noch an einem Zugrundeliegenden auftritt, z.B. dieser bestimmte Mensch, dies bestimmte
Pferd.410
Diese von Aristoteles so bestimmte „Primärsubstanz“ ist daher das letzte Individuelle,
das, von dem nicht mehr prädiziert werden kann. Genau diese Nuance wird wichtig für
Nishida. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie dieser Begriff der letzten
„Individuationsebene“ mit dem Begriff des Bewusstseins bei Nishida zusammenhängt.
Nishida ringt in „Ort“ mit dem Problem, das „sich in etwas befinden“ als „sich
unendlich in sich selber spiegelnden Ort“ logisch als Prinzip des Selbstbewusstseins
greifbar zu machen. Der letzte Ort, der Ort des wahren Nichts, umgreife schließlich alle
weiteren Seinsebenen, zu denen der Verstand, das Gefühl und der Wille gehören. Erst
der Ort des wahren Nichts bedeute das Selbstbewusstsein selbst: „Das Bewußtseinsfeld,
das Verstand, Gefühl und Willen gemeinsam ist, gehört keinem von diesen an, umfaßt
selbst die sogenannte Anschauung und erstreckt sich unendlich weit. Es ist die tiefste
Bedeutung des Bewußtseins, Ort des wahren Nichts zu sein.“411 Dieser sei für Nishida
aber nur über ein Individuationsprinzip oder einen Individuationsbegriff zu haben, in
dessen Hintergrund sich keine weitere „Ebene“ mehr befindet, so dass das Ding „ist,
was es ist“. Man muss noch einmal erinnern: Nishida möchte das „bewusste
Bewusstsein“, nicht das „bewusst gemachte“ Bewusstsein bestimmen. Das bedeutet für
ihn, die Dimension des „Ortes-worin“ immer weiter zu überschreiten, bis die „letzte
Instanz“, die letzte Begriffsbestimmung gefunden sei, die sich selbst wiederum nicht
408
Wargo (2005), S. 99.
Ebd.
410
Aristoteles (1998), S. 9.
411
NKZ III, S. 427, Elberfeld (1999a), S. 87.
409
107
mehr in etwas „befinde“. Die letzte Begriffsbestimmung muss zwei Bedingungen
erfüllen: sie muss 1. sich selbst (logisch und ontologisch) enthalten und sie kann 2. nicht
zum Subjekt einer Aussage werden. Dieser „letzte Ort“ muss also die Dimension des
Subjekts vollständig transzendieren. In dieser Darstellung ist noch nicht klar, von was
für einem Subjekt – ob ein logisch-grammatikalisches oder ein Subjekt als Träger des
Selbstbewusstseins – die Rede ist. Obwohl Nishida diese Unterscheidung auch später
nicht explizit trifft, wird deutlich, dass in der Ebene, die den „Geltungsbereich“ des
Subjekts überschritten hat – der Ort des Nichts – logisch-grammatikalisches
und
Bewusstseins-Subjekt
in
der
sogenannten
„transzendentalen
Prädikatsebene“ zusammenfallen.
Aristoteles` „Substanz“ oder „Wesenheit“412 dagegen ist das letzte Individuelle, das
Hypokeimenon oder Substratum, das zum Subjekt, aber nicht zum Prädikat werden
kann. Genauer:
‘Substanz’ wird, wenn nicht in mehr, so jedenfalls in vier Bedeutungen hauptsächlich
verwendet: denn das ‘Was es war zu sein’ und das Allgemeine und die Gattung gelten als
Substanz eines Dinges, und die vierte dieser Bedeutungen ist das Substrat (das
Zugrundeliegende, to hypokeimenon). Das Substrat ist aber das, wovon das andere ausgesagt
wird, während es selbst nicht mehr von anderem ausgesagt wird; daher müssen wir zuerst dieses
betreffend Unterscheidungen einführen; denn in ganz besonderem Maße gilt als Substanz das
erste Substrat.413
Nishida verwendet diese Definition der Aristotelischen Substanz – „das, wovon das
andere ausgesagt wird, während es selbst nicht mehr von anderem ausgesagt wird“ –
fast wie eine Beschwörungsformel in Ort jedoch nur, um das aristotelische Verhältnis
von Subjekt und Prädikat umzudrehen: ihm geht es auf der Suche nach dem letzten
Individuationsprinzip des Bewusstseins um eine Ebene, die sogar noch die Ebene des
Subjekts in sich umfassen können soll. Somit versucht Nishida nicht eine Bestimmung
der letzten Substanz, sondern die des letzten Prädikats – in anderen Worten, die
Bestimmung des „Orts“, der selbst im emphatischen Sinne nichts mehr ist, „weil die
Prädikatsebene der Subjektebene gegenüber Nichts ist.“414 Für Nishida ist hier das
„konkrete Allgemeine“ erreicht, welches das Prinzip der Individuation in sich trage und
nur noch „reines Sehen“ sei: das schlechthin substanzlose absolute Nichts (zettai mu 絶
対無). „Wenn man den Gedanken, den Allgemeinbegriff als Ort aufzufassen, bis zum
Äußersten radikalisiert, werden die Dinge zur reinen Qualität, wenn der Ort, in dem sie
sich befinden, zum absoluten Nichts wird.“415
Ich möchte versuchen, diese schwierig nachvollziehbare und dennoch zentrale These
der Nishidaschen Ortlogik hiernach zur Verständlichkeit zu bringen. Die Beurteilung,
ob das Vorhaben, eine „letzte Prädikatsebene“ als das das Subjekt umfassende
Selbstbewusstsein zu ermitteln tatsächlich durchführbar oder auch nur plausibel ist,
wird sich allerdings erst durch die Kritik an der Bestimmung des Nishidaschen NichtsBegriffs und an seinem Verfahren, es durch das Modell des Subsumtionsurteils zu
bestimmen, zeigen.
412
Heidegger übersetzt bekanntlich Ousia wörtlich mit „Seiendheit“, so in M.Heidegger, Vom Wesen und
Begriff der Physis, in: Wegmarken, Vittorio Klostermann, Frankfurt a.M. (1978), S. 237 ff.
413
Aristoteles, Metaphysik, Buch Z, 1028b-1029a. Aristoteles (2003), S. 111.
414
NKZ III, S. 472. Elberfeld (1999a), S. 133.
415
NKZ III, S. 444. Elberfeld (1999a), S. 105.
108
2.1.1. Das „absolute Nichts“ (zettai mu 絶対無) als Substanz der „Leere“
The wound is healed only by the sword that
smote you.416
Slavoj Žižek
Die Kategorie des Nichts wird in „Ort“ erstmalig in logischer und ontologischer Absicht
relevant. Rein terminologisch ist sie zwar in Anschauung bereits antizipiert, hat aber
erstens hier nur die Bedeutung der „Abgrenzung“ zwischen verschiedenen
„a priori“ und Standpunkten, die das Selbstbewusstsein einnehmen kann und rückt
zweitens dort noch nicht zu der zentralen heuristischen Kategorie auf, die sie in
„Ort“ einnimmt.
In der Diskussion von ZnK habe ich bereits darauf hingewiesen, dass die unterlassene
Diskussion des Nichts-Begriffs womöglich zu den gravierenden erkenntnistheoretischen
bzw. ontologischen Schwierigkeiten geführt hat, die das System der Reinen Erfahrung
aufweist, allein schon auf der Basis eines Plausibilitätsarguments. Wird die Logik des
Ortes, die die systematische Stelle nach der Reinen Erfahrung und dem „absolut freien
Willen“ einnimmt, durch die Entwicklung eines Nichts-Begriffs den Schwierigkeiten
aus ZnK entgehen können? Es soll gezeigt werden, dass durch Nishidas Bestimmung
des Nichts, die letztlich nur als Substanz der „Leere“ gefasst werden kann, die
Schwierigkeiten im Gegenteil umso prägnanter hervortreten.
In diesem Abschnitt wird die Hauptthese dargelegt, dass Nishidas Versuch, der
angeblichen Substanzhaftigkeit des erkenntnistheoretischen Subjekts zu entkommen,
genau durch die Ablehnung derjenigen methodischen wie sachlichen Instanz
verunmöglicht wird, die „Substanzdenken“ überhaupt erst überwinden kann –
begriffliches Denken, Logik. Nicht nur erweist sich Nishidas Anliegen als so
kontrafaktisch (der Beweis der These wird zum Beweis der Antithese), sondern die
vehemente Infragestellung der Logik wird Nishida selbst zum Problem. Das, was er für
das zerstörerische, „verletzende“ Element eines einheitlich-identischen „Seinsgrund
allen Seins im Nichts“ hält, ist in Wirklichkeit der Grund seiner „Unverletzlichkeit“.
Das Leiden an der substanzfreien Subjektbestimmung (die „Wunde“) kann nur durch
die Logik gemildert werden. Diese These wird im vorliegenden Abschnitt dargelegt.
Nishida macht in „Ort“ diverse Nichts-Bestimmungen geltend. In diesem Text allein
finden
sich
sechs
unterschiedliche
Formen
des
Nichts,
1.)
das
„gegensätzliche“ (tairitsuteki mu 対立的無) oder „relative“ Nichts (sôtaiteki mu 相対
的無), das 2.) spiegelnde Nichts (utsusu mu 映す無), 3.) das hervorbringende Nichts
(umu mu 生む無), 4.) das negative Nichts (hiteiteki mu 否定的無), 5. das intellektuelle
Nichts (chishiki no mu 知識の無) oder das infinitesimale Nichts (kyokubi mu 極微無) ,
6. das „wahre“ (shin no mu 真の無) oder das „absolute“ Nichts (zettaiteki mu 絶対的
無)417. Während 2.) und 3.) eher in den Kontext der Willensdiskussion gehören, in
denen Nishida die creatio ex nihilo in positiver Absicht thematisiert und 4.) und 5.)
defiziente Modi des „wahren Nichts“ sind, werden allein 1.) und 6.) für die logische
Diskussion relevant.
416
Žižek (1993), S. 165.
NKZ III, S. 422. An einer Stelle spricht er auch vom „vollkommenen“, „vollständigen“ Nichts
(mattaki mu 全き無).
417
109
Die Grundlogik des Orts sagt aus, daß ein Nichts als Negation des Seienden nur ein
gegensätzliches, dem Sein gegenüber „relatives“ Nichts sei. Es bezeichne so etwas wie
die Ebene eines Bewusstseins, das sich noch nicht selbst reflektiert habe, ein Art
„erste“ Bewusstseinsstufe. Das Nichts jedoch, „das das gesamte Sein verneint“ und
Seiendes und Nichtseiendes als Entgegengesetzte in sich umfasse, sei das
„absolute“ (oder auch „wahre“) Nichts. Es sei „der Ort“, der den Gegensatz von Sein
und Nichts entstehen lasse. Nishida ist unter Rückgriff auf Emil Lasks Begriff des
„Gegensatzlosen“ auf der Suche nach dem „Gegensatzlos-Gegenständlichen“ (Tairitsu
naki taishô 対立なき対象)418 – dasjenige, dem gegenüber keine Entität mehr denkbar
ist. Dagegen habe etwas, das als Negation einer anderen Entität auftritt, dem gegenüber
noch dieselbe Bestimmtheit (im Hegelschen Sinne), gehöre zu derselben Klasse oder
Spezies:„So ist z.B. auch das, was im Gegensatz zu Rot nicht rot ist, wiederum eine
Farbe.“419
Wie oben gesehen, verortet Nishida das „Gegensatzlos-Gegenständliche“ auf der Ebene
des reinen Bewusstseins. Dieses absolute Nichts stellt Nishida auch als „Negation der
Negation“, also doppelte oder absolute Negation vor. Doch anders als bei Hegel
versteht Nishida die Negation einer Negation nicht als Position oder Affirmation einer
höheren Einheit, in der der Gegenstand mit sich vermittelt (aufgehoben) ist, sondern als
das „wahre“ Nichts (shin no mu 真 の 無 ). 420 Dieses wird ausdrücklich mit
„Leere“ identifiziert:
Weil dieser Standpunkt als Negation der Negation wirklich Nichts (shin no mu 真の無) ist,
kann er auch alle im Ort des gegensätzlichen Nichts gespiegelten Dinge negieren. Indem sich
das Bewußtseinsfeld selbst wahrhaft entleert (munashiu suru 空 う す る ), kann es die
Gegenstände, so wie sie sind (ari no mama ありのまま) spiegeln. 421
Die Frage, warum Nishida die Überwindung des Gegensatzes von Sein und Nichts bzw.
von Subjekt und Objekt ausgerechnet in „Nichts“ sieht, liegt in genau dieser
Identifikation des Nichts mit einer Leere, aus der die Formen des relativen Seins und
418
NKZ III, S. 422. Das Gegensatzlose wird von Lask an einigen Stellen thematisiert. Es bezeichnet eine
bestimmte Art der Geltung von Urteilen, die vom Gegensatz von Wert und Unwert, sowie vom Gegensatz
von Gültigkeit und Ungültigkeit nicht betroffen sind. Lask (1912), S. 11. Der Begriff scheint aber auch
eine ‚urbildliche’ Qualität aufzuweisen: „Die nachbildliche, die in Abstand von den Gegenständen
stehende Wahrheit, die ‚Wahrheit ü b e r ’ sie ist dann wieder nicht d i e , sondern nur e i n e Art der
Wahrheit, und es gibt jenseits von positiver Wahrheit und Wahrheitswidrigkeit die gegensatzlose
urbildliche Wahrheit.“ Lask (1912), S. 134. Siehe auch Elberfelds Anmerkung. Elberfeld (1999a), S.81.
419
NKZ III, S. 422. Elberfeld, S. 81.
420
Rein logisch ergibt es keinen Sinn, die Negation der Negation als „wahre“ Negation zu begreifen.
Adornos Dialektik des Nicht-Identischen, ein Ansatz, der ebenfalls – allerdings in einem von Nishida
völlig verschiedenen Sinne – nicht von der Priorität des Subjekts ausgeht, sieht in seiner Negativen
Dialektik (1966) die Negativität als Gegenpol zu einer stets Identität und Positivität intendierenden
totalitären Subjektphilosophie, in der selbst das Nicht-Identische unter dem Aspekt des Identischen stehe.
Insofern schlägt Adorno in nicht-logischer (nicht a-logischer) Weise vor, die Negation der Negation vor
dem identitätsphilosophischem Umschlagen in die reine Positivität zu bewahren, indem man erkenne,
dass die Negation der Negation diese nicht rückgängig mache, sondern erweise, dass sie „nicht negativ
genug war; sonst bleibt Dialektik zwar, wodurch sie bei Hegel sich integrierte, aber um den Preis ihrer
Depotenzierung, am Ende indifferent gegen das zu Beginn Gesetzte […] Daß die Negation der Negation
die Positivität sei, kann nur verfechten, wer Positivität, als Allbegrifflichkeit, schon im Ausgang
präsupponiert. Er heimst die Beute des Primats der Logik über das Metalogische ein, des idealistischen
Trugs von Philosophie in ihrer abstrakten Gestalt, Rechtfertigung an sich. Die Negation der Negation
wäre wiederum Identität, erneute Verblendung; Projektion der Konsequenzlogik, schließlich des Prinzips
von Subjektivität, aufs Absolute.“ Adorno (1966), S. 162.
421
NKZ III, S. 425, Elberfeld (1999a), S. 84.
110
des relativen Nichts – ontologisch bestimmbare Strukturen der Realität – sich erst
entwickeln können sollen. Dazu muss es aber „absolut“ sein, d.h. den rein
„logischen“ Gegensatz von (relativem) Sein und (relativem) Nichts um noch eine Ebene
übersteigen:
Der wahre Ort des Nichts übersteigt in jedem Sinne den Gegensatz von Sein und Nichts und
läßt Sein und Nichts in seinem Inneren entstehen.422
Nishida versteht das wahre Nichts bzw. den wahren „Ort“ des Nichts also als die
gegensätzliche Bestimmung von Sein und Nichts überwindend. Das Nichts als bloße
Negation des Seins wäre die Ebene des Bewusstseins, noch aber nicht wahren
Selbstbewusstseins (das im Übrigen terminologisch in „Ort“ hinweg fällt und fast
durchgängig mit „Ort des wahren Nichts“ „übersetzt“ wird): „Der gewöhnliche
Standpunkt des Bewußtseins ist der beschriebene Standpunkt des Nichts, das dem Sein
gegenübersteht [...] Das wahre Nichts ist jedoch nicht dieses gegensätzliche Nichts,
sondern das, was Sein und Nichts in sich umfasst.“423 Bereits weiter vorne heißt es:
Ein im Gegensatz zu einem Seienden erkanntes Nichtseiendes ist jedoch immer noch ein
gegensätzlich Seiendes. Das wahre Nichts muß Seiendes und Nichtseiendes [als
Entgegengesetzte] in sich umfassen, es ist der Ort, der [den Gegensatz von] Sein und Nichts
entstehen läßt. Ein Nichts, das das Sein negiert und dem Sein gegenübersteht, ist nicht das
wahre Nichts.424
Diese „Ebene“ des Selbstbewusstseins ist Nishida zufolge intellektuell-begrifflich nicht
zu bestimmen: „Das die begriffliche Erkenntnis Spiegelnde bleibt nur ein Ort des
relativen Nichts.“425 Der Urteilsakt wird Nishida zufolge „sekundär“426 und bleibt einer
Ebene des Bewusstseins verhaftet, die das „konkrete Allgemeine“ nicht zu fassen
vermag. Auch Kant sei bloß bis zur Ebene der Gegensätze, des Bewusstseins,
vorgedrungen, weshalb wir „die kritische Philosophie Kants [übersteigen müssen], so
daß eine Metaphysik entsteht.“427 Nishida selbst gibt mit dem Vergleich zu Kant ein
gutes Stichwort vor. Das absolute Nichts Nishidas erscheint paradox: es könne mit Hilfe
einer prädikativen Aussage oder eines Urteils nicht bestimmt werden, gleichzeitig
müsse es jedoch erfasst werden können, wenn auch nur im intuitiven Willen, nicht im
Urteilsakt. Ich gehe hier davon aus, dass die Parallelisierung des „absoluten Nichts“ mit
Kants Bestimmung des Ding-an-sich selbst betrachtet – des schlechthin unserer
Erkenntnis nicht Zugänglichen – kritische Rückschlüsse auf Nishidas Nichts-Begriff
zulässt.
Ein wesentlicher Unterschied beider Begriffe liegt auf der Hand: das Nichts Nishidas ist
als das „jenseitige“, logisch nicht zu fassende Nichts bestimmt, während die
Unerkennbarkeit des Dinges-an-sich-selbst von Kant logisch begründet wird: durch das
unendliche oder unbestimmte Urteil. Soll aber der Gefahr entgangen werden, das
Nishidasche Nichts schlechterdings nur als substanzhaftes Nichts, d.h. als irrationalen,
rein denkerisch nicht zugänglichen, materiellen „Rest“, bestimmen zu können – eine
Bestimmung, von der Nishida sich aufs schärfste distanziert – , muss gezeigt werden,
422
NKZ III, S. 424, Elberfeld (1999a), S. 83.
Ebd.
424
NKZ III, S. 422, Elberfeld (1999a), S. 81. Hervorh. EL.
425
NKZ III, S. 427, Elberfeld (1999a), S. 87.
426
NKZ III, S. 469, Elberfeld (1999a), S. 131.
427
NKZ III, S. 432, Elberfeld (1999a), S. 92.
423
111
dass es auch rein begrifflich begründbar ist. Das Ding-an-sich-selbst ist bei Kant keiner
Erkenntnis zugänglich, kann aber dennoch gedacht werden (ein undenkbares Ding
dagegen ist ein Unding). Insofern ist es Kants logische Bestimmung des Ding-an-sich in
Form des unendlichen (oder unbestimmten) Urteils, dem Nishidas Begriff des Nichts
genüge leisten muss, soll die Substanzhaftigkeit vermieden werden. Kann nämlich
gezeigt werden, dass das wahre bzw. absolute Nichts in Form eines unendlichen Urteils
ausgedrückt werden kann, ist der Vorwurf der unreflektierten Substantialisierung, die
der Begriff erfährt, obsolet. Im Folgenden soll gezeigt werden, ob der Begriff des
wahren Nichts bei Nishida logisch begründbar ist.
Die Frage lautet: wie kann die Kategorie „wahres Nichts“ in Abgrenzung zur Kategorie
Nichtsein sinnvoll bestimmt werden?
Nishida verortet das wahre Nichts jenseits von „relativem“ Sein und Nichts. Das wahre
Nichts ist für Nishida also weder Sein noch Nichtsein. Entsprechend lautet die Aussage:
„Das wahre Nichts ist nicht Sein und nicht Nichtsein.“ Von hier aus kann man
versuchen zu zeigen, dass es sich bei dem Urteil „Das wahre Nichts ist nicht Sein und
ist nicht Nichtsein“ allem Anschein entgegen nicht um einen einfachen, d.h.
analytischen Widerspruch handelt und so Nishidas Behauptung plausibel machen.
Wenn Nishidas „wahres Nichts“ nämlich ein Drittes einschließt und somit die
Überführung des scheinbar analytischen Urteils „Das wahre Nichts ist nicht Sein und
nicht Nichtsein“ in ein dialektisches Urteil möglich ist, ist der Satz wahr. Dann wäre
das Urteil als unendliches Urteil formulierbar und würde somit die Stellung eines denk-,
jedoch nicht erkennbaren „Ding-an-sich“ geniessen. Das dürfte dem, was Nishida in
„Ort“ im Sinn hat, entgegenkommen, soll ja die Substanzhaftigkeit vermieden werden.
Genauer muss nun auf den theoretischen Zusammenhang eingegangen werden, der
diese Überlegung zur Plausibilisierung des Nishidaschen Arguments möglich macht.
Bekannterweise zeigt Kant im VII. Abschnitt der Transzendentalen Dialektik
(„Kritische Entscheidung des kosmologischen Streits der Vernunft mit sich selbst“428),
dass die Voraussetzung, unter der die Antinomie der Urteile „Die Welt ist der Größe
nach unendlich“ und „die Welt ist ihrer Größe nach endlich“ nur unter dem Vorbehalt
zu Standekommt, die Welt als ein „Ding an sich selbst“ zu betrachten. Fällt diese
Voraussetzung weg, zeigt sich der scheinbar kontradiktorische (analytische) Gegensatz
in seiner wahren Form, nämlich als ein dialektischer, ein Scheingegensatz:
[...] weil die Welt gar nicht an sich (unabhängig von der regressiven Reihe meiner
Vorstellungen) existiert, so existiert sie weder als ein an sich unendliches, noch als ein an sich
endliches Ganzes.429
Ein zulässiges Urteil für die Formulierung dieser Tatsache sei eines, das die eine Seite
der Antinomie „aufhebe“, „ohne eine andere [...] zu setzen.“ Kant:
Sage ich demnach: die Welt ist dem Raume nach entweder unendlich, oder sie ist nicht
unendlich (non est infinitus), so muß, wenn der erstere Satz falsch ist, sein kontradiktorisches
Gegenteil: die Welt ist nicht unendlich, wahr sein. Dadurch würde ich nur eine unendliche Welt
aufheben, ohne eine andere, nämlich die endliche, zu setzen.430
428
KrV B 525-536 (1998).
KrV B 533 (1998).
430
KrV B 531-532 (1998).
429
112
Kant versucht hier bekannter weise den Beweis der Unentscheidbarkeit der Frage nach
der Endlichkeit/Unendlichkeit der Welt. Ihm zufolge können wir in bezug auf die Größe
der Welt an sich – ist die Welt ist dem Raume nach entweder unendlich oder nicht? –
gar keine sinnvolle Aussage machen. Daher schlägt er vor, das unendliche Urteil „Die
Welt ist nicht unendlich“ einzuführen, da ich durch diese Behauptung „nur eine
unendliche Welt aufheben“ würde, „ohne eine andere, nämlich die endliche, zu
setzen.“431
Auch das Kantsche Ding-an-sich selbst betrachtet lässt sich als unendliches (oder
„unbestimmtes“) Urteil ausdrücken, wie Žižek dargelegt hat.432 Gleichzeitig ist hier der
Unterschied zwischen einem negativen und einem unendlichen Urteil formuliert:
während das negative Urteil bestimmt, was das Ding nicht ist („das Ding-an-sich-selbst
ist nicht phänomenal“), bestimmt das unendliche Urteil, was „das Ding“ nicht ist („das
Ding-an-sich-selbst ist nicht-phänomenal“). Im unendlichen Urteil wird daher die
Negation eines Prädikats affirmiert, was zufolge hat, dass wir über das Subjekt, hier:
das Noumenon, überhaupt nichts sagen können. Es ist als Begriff vollkommen
unbestimmt. Gerade das aber ist sein Vorzug. Im unendlichen Urteil wird das
Paradoxon von etwas, das zwar gedacht, nicht aber erkannt werden kann, formuliert.
Um die Überführung eines scheinbar analytischen, d.h. dialektischen, in einen wahrhaft
analytischen Satz durch die Einführung des unendlichen Urteils zu verdeutlichen, führt
Kant in diesem Abschnitt des Antinomienkapitels ein Beispiel an. Vorsicht ist nun aber
insofern geboten, als Kants Beispiel für ein unendliches Urteil mir hier für die
Auflösung der Antinomie überzeugender erscheint als Kants schließliche Behauptung,
mit dem Urteil „die Welt ist nicht unendlich“ „würde ich nur eine unendliche Welt
aufheben, ohne eine andere, nämlich die endliche, zu setzen.“433 Es ist das Beispiel der
wohlriechenden Körper. Hier legt Kant eindrucksvoll dar, wie die Affirmierung eines
negativen Prädikats zu einem unendlichen Urteil und somit zu einem wahrhaft
analytischen Urteil führt. Ich werde im Anschluss an die Darlegung des Kantschen
unendlichen Urteils zeigen, dass Nishidas Behauptung „Das (wahre) Nichts ist nicht
Sein und nicht Nichtsein“ diesem genüge leisten muss, will Nishida die Alogizität und
somit die Substantialisierung seines Nichtsbegriffs umgehen.
Kants Beispiel für ein unendliches Urteil wird anhand des Beispiels der
„wohlriechenden Körper“ expliziert:
Wenn jemand sagte: ‚Ein jeder Körper riecht entweder gut, oder er riecht nicht gut’, so findet
ein Drittes [Hervorh. EL] statt, nämlich dass er gar nicht rieche, (ausdufte) und so können beide
widerstreitende Sätze falsch sein. Sage ich: ‚Er ist entweder wohlriechend, oder er ist nicht
wohlriechend (vel suaveolens vel non suaveolens), so sind beide Urteile einander
kontradiktorisch entgegengesetzt und nur der erste ist falsch, sein kontradiktorisches Gegenteil
aber, nämlich einige Körper sind nicht wohlriechend, befaßt auch Körper in sich, die gar
nicht riechen. In der vorigen Entgegenstellung (per disparata) blieb die zufällige Bedingung
des Begriffs der Körper (der Geruch) noch bei dem widerstreitenden Urteile, und wurde durch
dieses also nicht mit aufgehoben, daher war das letztere nicht das kontradiktorische Gegenteil
des ersteren.434
431
A.a.O.
„By saying ‚the Thing is non-phenomenal’ we do not say the same as „the Thing is not phenomenal“:
we do not make any positive claim about it, we only draw a certain limit and locate the Thing in the
wholly nonspecified void beyond it.“ Žižek (1993), S. 111.
433
A.a.O.
434
KrV B 531 (1998).
432
113
Das unendliche und somit analytische Urteil wäre demnach „Ein jeder Körper ist
entweder wohlriechend oder er ist nicht wohlriechend.“ Die „dritte“ Möglichkeit, dass
es Körper gibt, die gar nicht „ausduften“, wird hier im Satz „ein jeder Körper ist nicht
wohlriechend“ mit eingeschlossen. Im dialektischen Urteil dagegen – „Ein jeder Körper
riecht entweder gut, oder er riecht nicht gut“ – wird die dritte Möglichkeit nicht mit
eingeschlossen. So können hier beide Teilsätze (die Behauptung, ein jeder Körper
rieche gut sowie die Behauptung, ein jeder Körper rieche nicht gut) falsch sein, sodass
gar kein analytischer Widerspruch vorliegt – denn schliesslich sagen die Sätze „etwas
mehr [...] als zum Widerspruche erfoderlich [i.O.] ist.“435
Nishidas Behauptung „Das wahre Nichts ist nicht Sein und nicht Nichtsein“ muss
konsequenterweise dieselbe urteilslogische Funktion aufweisen wie das Urteil „Ein
jeder Körper ist entweder wohlriechend oder er ist nicht wohlriechend.“ Anders gesagt,
Nishidas Behauptung über das „wahre Nichts“ muss sich als unendliches Urteil
formulieren lassen. Wieweit nun aber nachvollzogen werden kann, dass bei Nishida das
wahre Nichts nicht das Sein ist, steht vielmehr in Frage, wie das wahre Nichts sich vom
Begriff des Nichtseins abgrenzt. Die Darlegung der Abgrenzung lässt sich plausibel
machen, wenn der Satz „Das wahre Nichts ist nicht das Nichtsein“ ein unendliches
Urteil ist. Es wäre dann ein „Drittes“, weder (relatives) Nichts noch (relatives) Sein,
eingeschlossen. Kann diese Forderung eingelöst werden? Es müsste sich analog zu
Kant behaupten lassen: „[Mit dem wahren Nichts] würde ich nur das Nichtsein
aufheben, ohne eine anderes, nämlich das Sein zu setzen.“436 Der Satz „das wahre
Nichts ist weder Sein noch Nichtsein“ wäre so ein dialektischer Widerspruch, keine
„analytische Opposition“, da „eines dem anderen nicht bloß widerspricht, sondern etwas
mehr sagt, als zum Widerspruche erfoderlich ist.“437 Er indiziert einen Bereich jenseits
des Erkennbaren, ebenso wie Kants Bestimmung des Ding-an-sich selbst.
Was kann dieses „etwas mehr“ des wahren Nichts aber logisch designieren? Meines
Erachtens führt Nishida eine sinnlose Unterscheidung von „wahrem Nichts“ und
einfachem Nichtsein ein. Er gibt keine sinnvollen Unterscheidungskriterien von wahrem
und relativem Sein oder Nichts an. Nishidas „wahres Nichts“ sagt entsprechend nicht
„etwas mehr [...], als zum Widerspruche erfoderlich ist,“ womit die Kontradiktion
(„analytischer Gegensatz“) nicht in einen dialektischen Gegensatz überführt werden
kann. Nishida zeigt nicht, wie das „wahre“ Nichts sich im Gegensatz zum Nichtsein
bestimmen könnte. Auch eine Aussage über das „wahre Nichts“, das sich nur als
Gegensatz zum Sein sowie Nichtsein formulieren lässt, zeigt mitnichten eine
435
„Also können von zwei dialektisch einander entgegengesetzten Urteilen alle beide falsch sein, darum,
weil eines dem andern nicht bloß widerspricht, sondern etwas mehr sagt, als zum Widerspruche
erfoderlich ist.“ Ebd.
436
A.a.O. Im übrigen ist Kants Behauptung „Die Welt ist nicht unendlich“ zur Auflösung der Antinomie
nachvollziehbar, jedoch nicht unmittelbar einleuchtend. Während das Beispiel der wohlriechenden
Körper plausibel darlegt, dass der Satz „ein jeder Körper ist nicht wohlriechend“ auch Körper einschliesst,
die nicht riechen, ist zunächst nicht unmittelbar klar, was das Dritte in bezug auf die nichtvorhandene
Unendlichkeit der Welt (bzw. die nichtvorhandene Endlichkeit der Welt) sein soll. Kant will hier zeigen,
dass die Welt keine Grösse an sich habe. Meines Erachtens verhält sich die „Grösse der Welt“ zur
Behauptung ihrer Endlichkeit bzw. Unendlichkeit aber anders als der „Wohlgeruch“ der Körper zur
Behauptung ihres guten, schlechten oder nichtvorhandenen Ausduftens. Das mag an dem zweiwertigen
adjektivischen Kompositum des Attributs „wohlriechend“ im Gegensatz zur Einwertigkeit des Attributs
„endlich“ bzw. „unendlich“ liegen. So gibt es meines Erachtens passende und unpassende Beispiele für
das unendliche Urteil. Eine sprachanalytische Arbeit würde dem im einzelnen nachgehen können, ich
muss mich mangels ausreichender Kenntnisse der analytischen Philosophie auf die alleinige Feststellung
dieser Tatsache beschränken.
437
A.a.O.
114
Bestimmung an, die die Abgrenzung von einem einfachen Nichtsein nachvollziehbar
macht. Anders formuliert: ein „Nichts, das das Sein negiert und dem Sein
gegenübersteht“, ist nicht nur nicht das wahre Nichts, sondern das einzig denkbare. Ein
nicht in Abhebung vom Sein verstandenes Nichts, sondern eines, das sowohl
„relatives“ Sein als auch „relatives“ Nichts in sich „umfasst“, kann nicht sinnvoll
begründet werden. Am Kantischen unendlichen Urteil wurde diese einzige Möglichkeit
überprüft. Kann Nishidas absolutes Nichts nicht in Form eines unendlichen Urteils
sinnvoll dargestellt werden, muss man konzedieren, dass es die Ebene des „einfachen“ –
des relativen Nichts oder des „Nichtseins“ – nicht verlässt. Es sei denn, und das ist die
für Nishida folgenreiche Konsequenz aus dieser Erkenntnis: das Nichts muß als
Substanz, als nicht-begriffliches Verdinglichtes gefaßt werden. Dass diese Substanz
„leer“ sein soll, darf nicht mit ihrer Substanzlosigkeit verwechselt werden. Sie
entbindet nicht von der dinglichen Form ihrer „Existenz“ und der verdinglichten Form
ihres Erkanntwerdens.
Eine logische Überprüfung dieser Konsequenz für Nishidas Nichts-Begriff soll im
Einzelnen im folgenden Abschnitt durchgeführt werden. Anschließend möchte ich zur
Diskussion stellen, ob und inwiefern das Subsumtionsurteil, in dem anstelle vom
Subjekt vom Prädikat nichts mehr „aussagbar“ ist, tatsächlich die „Überwindung des
Subjekts“ leistet.
2.1.2. Das „absolute Nichts“ als Prädikatsebene im Subsumtionsurteil
Die Motivation Nishidas, den Bereich des Prädikats zum Ausgangspunkt jeglicher
möglicher Aussagen über die Realität, die Nishida schon immer als Bewusstseinsrealität
versteht, zu machen, besteht in dem von ihm konzedierten Problem, dass die „bisherige
Philosophie“ das Bewusstsein stets verobjektiviert habe – Nishida möchte jedoch das
Bewusstsein als nicht-verobjektivierbare Einheit begreifen. So soll nicht von ihm
ausgesagt werden, denn damit wäre es immer Subjekt eines Urteils, sondern es soll das
Ausgesagte selbst sein. „Die Bewußtseinsebene ist die Prädikatsebene, die das Subjekt
des Urteils umfaßt. Die so umfaßte Subjektebene wird zum GegensatzlosGegenständlichen und dessen Rand wird zum Bereich der Sinnbedeutung.“438 An einer
anderen Stelle sagt er:
Radikalisiert (oshi susumete itte 押し進めて行って) man die Subsumtionsbeziehung von
Allgemeinem und Besonderem weiter, so liegt auch im Hintergrund des in sich selbst
Identischen die Ebene des Prädikativen, das die Subsumtionsbeziehung übersteigt und ausweitet
und zugleich die wahre Ebene des Bewußtseins ist.439
Auf die prekäre Rhetorik solcher Formulierungen ist oben bereits hingewiesen worden
(inwiefern „liegt“ im Hintergrund des sich selbst Identischen noch einmal die „Ebene
des Prädikativen“? Gibt es hier „hinter“ dem Allgemeinen, das die Prädikatseben doch
darstellen sollte, etwa eine noch „tiefere“ Ebene? Und wie kann sie die
Subsumtionsbeziehung „übersteigen“?). Ungeachtet Nishidas Wortakrobatik muss die
theoretische Absicht des „radikalisierten“ Subsumtionsurteils in der Transzendenz oder
schlicht Überwindung des Subjekts gesehen werden. Schließlich soll kein
438
439
NKZ III, S. 470, Elberfeld (1999a), S. 132.
NKZ III, S. 471, Elberfeld (1999a), S. 132.
115
Subsumtionsurteil mehr möglich sein und alles „rein prädikativ“ werden. Weil aber die
Substanzhaftigkeit des Bewusstseins so verloren gehe, entsteht für Nishida die Ebene
des Willens, die das Urteilsdenken aufhebe. Zum Beweis führt er einen performativen
Widerspruch an, der sein Argument unsinnig macht: „Allein der Wille kann nicht zum
Gegenstand des Urteils werden (shikashi ishi ha handan no taishô to narukoto ha
dekinu 併し意志は判断の対象となることはできぬ)“ 440 . Was Nishida in einer
langen Passage ferner über das Prädikative sagt: es „übersteig[e], vertief[e] und
erweiter[e]“441 das Subjekt, wodurch der Wille immer freier werde, ist ebenfalls alles
andere als nachvollziehbar. Subjekt und Prädikat fallen – auf der Ebene des Prädikats,
das auch die Ebene des „Willens-Ich“ (ishi ga 意志我) sei – zusammen:
Das Nichts liegt überall im Hintergrund des Seins und das Prädikat umfaßt das Subjekt.
Schöpfen wir diese bis zum letzten aus, so versinkt die Subjektebene in der Prädikatsebene und
das Sein versinkt im Nichts.442
Folgende Fragen stellen sich: Welche Rolle spielt das absolute Nichts in diesem
Verhältnis von Sein, Subjekt- und Prädikatsebene? Was bedeutet es zu sagen, dass die
Subjektebene in der Prädikatebene und das Sein im Nichts versinkt? Wie kann dieser
Prozeß logisch dargestellt werden? Zwar werde selbst der Wille noch im absoluten
Nichts aufgehoben.443 Das methodologische Problem der Diskussion über die diversen
Bestimmungen, die Nishida für das Nichts geltend macht, ist aber folgendes: die
Unmöglichkeit, eine abstrakte ontologische Kategorie unter Ausblendung ihrer
logischen Dimension zu thematisieren. Denn auch, wer über das Nichts spricht, spricht
in Urteilen – oder zumindest Sätzen.444
Wie bereits gezeigt, stellt Nishida dem Subjekt des Subsumtionsurteils, das als
Besonderes im allgemeinen Prädikat enthalten ist (z.B. „Rot ist eine Farbe“), das
Prädikat entgegen, welches als Allgemeines im Besonderen enthalten sei. Mit anderen
Worten: er will zeigen, dass die „wahre“ Bedeutung des Subsumtionsurteils – also die
letzte Ebene der Individuation – nicht wie bei Aristoteles im Subjekt, das nicht zum
Prädikat, sondern im Prädikat zu finden sei, das selbst nicht zum Subjekt werden kann.
„Dies bedeutet zugleich, sich dem Ort des wahren Nichts anzunähern […] zugleich
bedeutet es, daß das hypokeimenon, das [eigentlich nur] zum Subjekt, aber nicht zum
Prädikat werden kann, nach und nach zum Prädikat wird.“445
440
NKZ III, S. 471, Elberfeld (1999a), S. 133.
Ebd.
442
NKZ III, S. 455, Elberfeld (1999a), S. 117.
443
„Übersteigen wir aber diesen Standpunkt [den Ort des gegensätzlichen Nichts, EL] und gelangen in
den Ort des wahren Nichts, so muß auch der freie Wille verlöschen (shômetsu senakereba naranu 消滅せ
なければならぬ).“ NKZ III, S. 447, Elberfeld (1999a), S. 108. Siehe auch die Ausführung zum Schluß
der Abhandlung: „Dass aber die Prädikatsebene sich selbst in der Subjektebene sieht, bedeutet, dass sie
selbst zum Ort des Nichts wird. Hier löscht sich der Wille selber aus, und alles, was sich hierin befindet,
wird zur Anschauung (chokkan 直観)“. NKZ III, S. 476-477. Elberfeld (1999a), S. 139.
444
Nicht alle Sätze sind – Hegel zufolge – Urteile: „Z.B. ‚Aristoteles ist im 73. Jahre seines Alters, in
dem 4. Jahr der 111. Olympiade gestorben’ ist ein bloßer Satz, kein Urteil. Es wäre von letzterem nur
dann etwas darin, wenn einer der Umstände, die Zeit des Todes oder das Alter jenes Philosophen in
Zweifel gestellt gewesen, aus irgendeinem Grunde aber die angegebenen Zahlen behauptet würden.“ WL
II, S. 305. Urteile müssen also gegen einen möglichen Widerstand, der durch andere Teilnehmer des
Diskurses vertreten wird, vorgebracht werden, um als solche zu gelten. Diese – wie ich finde – richtige
Ansicht hat auch Konsequenzen für den Status des Urteils „Rot ist eine Farbe“, dessen Nishida sich
bedient.
445
NKZ III, S. 448. Elberfeld (1999a), S. 110.
441
116
Nishida spricht in „Ort“ zwar auch vom Syllogismus als „Übergang vom Standpunkt
des Urteils zum Standpunkt des Willens“; als Urteil jedoch ist das Subsumtionsurteil die
einzige Urteilsform, die Nishida – zumindest im Kontext von „Ort“ – kennt. Bereits das
ist ein Problem, auf das zum Ende des Abschnitts eingegangen werden soll. Das
Subsumtionsurteil jedenfalls nimmt für ihn die Form des „Bewusstseins“ an. Alle seine
Überlegungen gehen entsprechend von der Satzform der Setzung des Besonderen – des
Subjekts – aus, von dem das Allgemeine – das Prädikat – ausgesagt werde, nach dem
Schema „A ist B“. Das Subsumtionsurteil ist daher das einfachste schematische Urteil.
Es dient ihm als Modell für seine Überlegungen zu einer „prädikatsorientierten“ Logik,
die
er
quasi
als
„Gegenlogik“
zur
klassischen
Aristotelischen
„subjektsorientierten“ Logik versteht.
Nishida versucht dabei auch, die Beziehung von grammatikalisch-logischem Subjekt
und dem durch es bezeichneten Individuum sowie die Beziehung von grammatikalischlogischem Prädikat und dem durch es repräsentierten Allgemeinen zu bestimmen und so
dem rein logischen Gehalt des Subsumtionsurteils eine ontologische Grundlage zu
geben. Wie gesehen, ist für Nishida das Prädikat der wahre Grund des Urteils, nicht des
Subjekt. Dahinter steckt die Annahme, dass im Urteil das Subjekt-Individuelle sich
unmittelbar im Prädikat-Allgemeinen befinden müsse. Das Prädikat sei der Ort des
Subjekts. Wenn es also ein letztes Individuelles, das Aristotelische Hypokeimenon gebe,
das selbst nicht zum Prädikat werden kann, kann dieses Subjekt auch nicht mehr
Subjekt sein, denn als solches ist es immer im Prädikat enthalten und kann diese Ebene
unmöglich verlassen. Es sei denn, es wird selbst zum Prädikat. Nishida legt, wie oben
bereits angedeutet, nahe: das Aristotelische Hypokeimenon bezeichne in Wirklichkeit
nicht das Subjekt, sondern das Prädikat. Nun sind Behauptungen dieser Art schön und
gut, da sie auf den ersten Blick keine Konsequenzen für den ontologischen Status des
Subjekts zu haben scheinen. Doch das letzte Substratum, in Nishidas Sinn das letzte
Prädikat, könne nur das absolute Nichts sein: als Prädikat, das niemals zum Subjekt
werden kann, sei es die durch das Denken „unhintergehbare“ Ebene, die Ebene des
unmittelbaren, direkt erfahrenen Bewusstseins.446 Der „Spalt“ von Besonderem und
Allgemeinem könne nur hier, im Prädikat des absoluten Nichts, geschlossen werden.
Warum kommt nun jedoch ausgerechnet dem „absoluten“, nicht näher bestimmten, sich
selbst in sich enthaltenden und nicht subjektivierbaren Nichts diese ontologische
Dignität zu? Warum könnte es nicht ebenso gut ein so bestimmtes (sich selbst
enthaltendes, nicht subjektivierbares) Sein sein? Mit anderen Worten – warum ist Nichts
und nicht vielmehr Sein?
Die Rede vom Nichts als einer „ausgezeichneten“ Entität, als Ort, in dem sich jegliches
Seiende und jegliches Nichtseiende befinde, und das selbst nicht zum Subjekt eines
Urteils werden könne, hat stark suggestiven Charakter. Soweit nachvollziehbar ist, dass
die strikte Trennung von Subjekt und Prädikat ontologisch in Frage gestellt werden
kann, ist das Ziel der „Prädikatswerdung“ des Subjekts im Nichts zumindest logisch
unplausibel. Wargo, der Nishidas Überlegungen unkritisch übernimmt, behauptet
446
Die Frage ist, ob Nishida – wie Kobayashi behauptet – tatsächlich eine Neuinterpretation des
Kantschen „Ding an sich“, der „reinen Apperzeption“ und der „transzendentalen Subjektivität“ versucht.
Kobayashi (2002), S. 92. Welchen Begriffen oder Zusammenhängen bei Nishida entsprächen diese drei
zentralen Termini in der Theorie Kants? Es geht Kant um die Bestimmung von Subjektivität, nicht um
deren Überwindung. Nishida nimmt die Relevanz, die das Subjekt in Bezug auf die Sphäre des
Intelligiblen spielt, nicht ernst genug – jedenfalls nicht so ernst wie Kant.
117
hingegen: „In fact […] this is precisely why nothingness cannot become the subject of
judgment”447, ungeachtet des offenkundigen Selbstwiderspruchs.
Nishida bestimmt das Nichts und den Ort des Nichts als “den Akt des Aktes“448 (das
dem reflektierenden Bewusstsein zugrundeliegende Bewusstsein); es sei ferner „das,
was den Hintergrund des Seins ausmacht“, der „Raum mit unendlich vielen
Dimensionen“449, „der Spiegel, der sich selber bescheint“450 etc. Als ein solches wäre
jedoch ebenso ein absolutes, nicht-subjektivierbares/nicht-objektivierbares, die
„ultimative Realität“ repräsentierendes Sein plausibel. Nishidas Nichts-Begriff ist
willkürlich. Findet sich nämlich ein Begriff, der dieselben Qualitäten aufweist wie das
Nichts, ist die Rede von seiner einzigartigen logischen Bedeutung hinfällig. Noch
einmal: die Einzigartigkeit des Nichts-Begriff besteht Nishida zufolge darin, dass es
jeglicher Verobjektivierung und somit Substantialisierung entkommt. Es könne niemals
Subjekt des Subsumtionsurteils werden. Genau das ist die Hauptthese, von der Nishida
und in seiner Folge Wargo, Abe et al. ausgehen: das absolute Nichts kann kein Subjekt
des Urteils werden, weil es nichts Seiendes ist.451 Aber ebenso wenig ist das absolute
Sein ein Seiendes. Es ist ein Begriff. Hat der Begriff des Nichts aber eine ontologische
Priorität vor dem Sein, wie Nishida meint?
Der locus classicus dieser Thematik dürfte der Anfang der Hegelschen WL sein. Die
WL, die neben der PhG als eines der schwierigsten Werke der Philosophiegeschichte
gilt, gibt meines Erachtens hier dennoch Aufschluss über das bei Nishida so zentrale
Problem des Verhältnisses von Begriff und Sache und über das verzwickte Verhältnis
von sprachlicher Darstellung eines Gedankens und „dem“ Gedanken (Gedachten) selbst.
Denkt man an Hegels Anfangsbestimmungen der WL zurück, so wird klar, dass das
letzte oder erste Unmittelbare als das „als unbestimmt Bestimmte“ beides ist, Sein und
Nichts: denn unterscheidet sich ein unbestimmtes Sein von seiner Bestimmtheit
(wodurch es zu „Dasein“, also „bestimmten Sein“ würde), trägt es schon seinen eigenen
Unterschied, die Reflexionskategorie Unterschied, in sich und wird so zu einem sich
selbst Entgegengesetztem, Negativen. 452 Umgekehrt ist das Nichts als völlig
Unbestimmtes reines Sein – es ist ja nicht. Beide, sowohl Sein als auch Nichts, in ihrer
abstrakten Identität genommen, können sich selbst nicht aussagen: es würde allein
durch den Schritt vom Subjekt zum Prädikat immer ein Unterschied indiziert, ein Etwas,
das das Unbestimmte zu einem Bestimmten mache. Selbst in einem einfachen
Aussagesatz der Identität, z.B. „Das Nichts ist das Absolute“, weise die Kopula
„ist“ noch über das zu Bezeichnende hinaus: das Nichts ist dann schon nicht mehr es
selbst (sondern „das Absolute“).453 Noch prägnanter formuliert: Kein Urteil über das
reine Sein, kein Urteil über das reine Nichts kann widerspruchslos bestehen, da bereits
das Urteil Bestimmung ist und die unbestimmten Begriffe Sein und Nichts in ihr
447
Wargo (2005), S. 127.
NKZ III, S. 448, Elberfeld (1999a), S. 110.
449
NKZ III, S. 454, Elberfeld (1999a), S. 115.
450
NKZ III, S. 454, Elberfeld (1999a), S. 116.
451
Zur Erinnerung: Nishida macht die „ontologische Differenz“ nicht geltend. Sein (yû/u 有) und
Seiendes (arumono 有るもの) sind für ihn begrifflich nicht unterschieden.
452
„Sie sind […] Resultate der Abstraktion, […] ausdrücklich als Unbestimmte bestimmt, was – um zu
seiner einfachsten Form zurückzugehen – das Sein ist. Eben diese Unbestimmtheit ist aber das, was die
Bestimmtheit desselben ausmacht; denn die Unbestimmtheit ist der Bestimmtheit entgegengesetzt; sie ist
somit als Entgegengesetztes selbst das Bestimmte oder Negative, und zwar das reine, ganz abstrakt
Negative.“ WL I, S. 103-104.
453
Hegel selbst bedient sich des Beispiels „Das Sein ist das Absolute“, aber das Beispiel mit dem Nichts
liegt hier näher. WL (1966), S. 35.
448
118
eigenes Gegenteil verwandelte – das ist der Grund für den Übergang ins Werden.
„Begriffstheoretisch“ gesagt: obwohl Identität semantisch gefordert wird – und Nishida
fordert ja die Selbstidentität des konkreten Allgemeinen auf der Ebene des absoluten
Nichts – , wird pragmatisch der Unterschied wieder eingeführt. Die Darstellung des
Gedankens der Unbestimmtheit ist nicht aussagbar; gleichfalls lässt sie sich kaum als
Begriff denken, denn Denken heißt Bestimmen bei Hegel. Entsprechend sind Sein und
Nichts „als Unbestimmte bestimmt“ 454 . Hier ist auch die logische Unmöglichkeit
begründet, etwas anderes über Sein und Nichts zu formulieren als das berühmte
Anakoluth: „Sein, reines Sein – ohne alle weitere Bestimmung“, sowie „Nichts, das
reine Nichts“ (der folgende mit „es ist“ einleitende Satz sagt bereits zu viel). Soweit die
Hegelsche dialektische Begriffsbestimmung des Nichts. Diese Überlegungen dürften die
Unnachvollziehbarkeit der logisch-ontologischen Priorität des Nichts vor dem Sein
zeigen.
Der folgenreiche Fehler der Ortlogik besteht nun darin, das Nichts als Substanz der
„Leere“, das Sein aber als „Fülle“ zu begreifen. Sein und Nichts sind jedoch
Abstraktbegriffe, keine Entitäten, über die sich etwas aussagen ließe. Nichts als
„Leere“ und Sein als „Fülle“ verstanden setzt jedoch bereits die (begriffliche)
Unterscheidung von Form und Inhalt voraus, womit die Voraussetzungslosigkeit so
verstandener Grundbegriffe in Frage gestellt wäre. Sein und Nichts, sollen sie als
Begriffe, nicht als „Dinge“ verstanden werden, sind trans-substantielle, nicht-sinnliche
Kategorien. Genau genommen ist ein als „Leere“ verstandenes Nichts keine logische
Kategorie.455 Dass ferner auf der Ebene der Absolutheit und Abstraktheit, von der auch
Nishida spricht, Sein und Nichts in eins zusammenfallen, kann nicht als einseitige
Leistung eines Nichts identifiziert werden, das gegenüber diesen „Leere“ sei. Es ist
überhaupt keine Leistung eines, und erst recht nicht so abstrakten Begriffs, sondern eine
logische Leistung des Denkens: des Unterscheidungen einführenden und Urteile
fällenden Subjekts. Nishida dagegen behauptet, dass diese Leistung des Subjekts nicht
dem „absoluten Nichts“ zugeschlagen werden dürfe. Dieses habe die „Urteilsebene“ ja
bereits „transzendiert“.
Wie oben angekündigt, sollen hier auch die Konsequenzen eines Nichtsbegriffs
dargestellt werden, der nur als Substanz der Leere identifizierbar ist. Was geschieht,
wenn das Nichts sich aus der logischen Sphäre „abhebt“ und zum substantiellen Begriff
wird, soll durch Masao Abes Nishida-Interpretation veranschaulicht werden.
Abe behauptet, dass zwar das absolute Nichts „sprachlich“ zum Subjekt einer Aussage
werden könne. Aber in diesem Falle sei
[…] predication [of absolute nothingness] of an entirely different nature than predication in
statements about that which is “something” (including the Idea or God). In the latter case, the
454
WL I, S. 103.
Hegel drückt sich nicht immer geschickt aus. Auch er sagt über das Nichts: „[…] es ist einfache
Gleichheit mit sich selbst, vollkommene Leerheit, Bestimmungs-und Inhaltslosigkeit;
Ununterschiedenheit in ihm selbst.“ WL I, S. 83. Es ist jedoch klar, dass nicht einmal Leerheit als
Bestimmung zutrifft, da sie Form voraussetzt. Form und Inhalt bzw. Form und Materie werden aber erst
in der Wesenslogik thematisch (In „Die Wesenheit oder die Reflexionsbestimmungen“ im Abschnitt über
den Grund). Man muss hier die Präsupposition von Begriffen in anderen, ihnen begrifflich
nachgeordneten, sehen. Das soll keine Entschuldigung der Wortwahl Hegels sein. Anders als Nishida
jedoch, der im leeren Nichts das Letzte und Reichste sieht, sieht Hegel hier in gewissem Sinn das Erste
und Ärmste.
455
119
“something” as the grammatical subject is subsumed by a more universal predicate. In the
former case, although absolute nothingness as the grammatical subject is formally subsumed by
the predicate, in reality it is not subsumed by a more universal, more transcendent concept as
the predicate. For there can be no more universal and more transcendent concept than Absolute
Nothingness. (This is why Absolute Nothingness is the final and transcendent predicate).456
Welche Konsequenzen hat der vordere Teil der Behauptung in Bezug auf die Logizität
des Ortes des absoluten Nichts? Erinnert man sich an Nishidas Hauptanliegen, so
möchte er mit seiner Ortlogik vor allem der Substantialisierung des Bewusstseins
entkommen, indem er einen Begriff entwickelt, der jegliche Ebene der des SubjektObjekt-Dualismus hinter sich lässt und nur noch das Ausgesagte selbst ist: das absolute
Nichts. Was geschieht aber, wenn das absolute Nichts zwar als „grammatikalisches
Subjekt“ von seinem Prädikat subsumiert werde, jedoch „in der Realität“ nicht unter ein
Allgemeineres gefasst werden kann? Abe nimmt eindeutig zwei Geltungsbereiche an:
zum einen die Logik, zum anderen die „Realität“ (wie auch immer er diese definiert).
Damit aber holt er die Substantialisierung wieder zurück in den „Begriff“ des absoluten
Nichts, als „Alternative“ zum Rein-Begrifflichen. Und hierin besteht das für Abe bzw.
Nishida unausweichliche Problem: Wenn nämlich logisch nicht gezeigt werden kann,
dass das wahre Nichts das „letzte“ nicht-subjektivierbare Prädikat ist, kann dieser
Sachverhalt auch in der „Realität“ nicht gezeigt werden. Logik ist das System möglicher,
geltungsfähiger Gedanken und ihrer Verbindungen. Auf was sonst als auf die
„Realität“ soll sich die Geltung der Gedanken beziehen?
Doch das Problem der Substantialisierung geht bereits auf Nishidas Auffassung des
Seins als „in-sein“ zurück. Paradoxerweise wird das absolute Nichts nur dann nicht zum
Urteilssubjekt, wenn es als Substanz gefasst wird. Wäre es nämlich als rein begrifflichlogisch bestimmt, kann es stets Subjekt einer möglichen Aussage werden. Aber will
Nishida dem Substanzdenken nicht entgehen, indem er das absolute Nichts als
Gegenbegriff zur Hypostasierung des Subjekt-Objekt-Dualismus einführt? Ein so
verstandener „absoluter“ Nichtsbegriff bringt die Schwierigkeit mit sich, anders als
logisch aufgefaßt werden zu müssen, um die hypostasierte „Jenseitigkeit“ der Sache
nach erfüllen zu können. Doch gerade dies ist unmöglich. Jeder Versuch, die Logik
überwinden zu wollen, scheitert an der Logik selbst.
Etwas absurd mutet es daher an, wenn über Nishidas Methode behauptet wird, niemals
zuvor in der Geschichte der Philosophie sei ein solch „umfassendes“ Prinzip zur
Begründung der Logik entwickelt worden. Wargo, von dem diese Behauptung stammt,
sieht das „Versagen“ der Philosophiegeschichte vor Nishida vor allem darin, die
Subjekt-Objekt-Dichotomie zum Ausgangspunkt aller Logik gemacht, ohne das
intrinsische Verhältnis beider thematisiert zu haben:
One of the recurring failures of philosophy has been the attempt to explain the relationship
between an individual and its properties on the model of the subsumptive relation without
recognizing the difference between the two kinds of relationship. Or, if the difference was
recognized, not attempt was made to explore the similarities.457
456
Abe (1988), S. 367, Fußnote 43. Abe unterliegt einem Reduktionismus ähnlich Nishida: das
Subsumtionsurteil der Form „Das Besondere ist ein Allgemeines“ wird zum alleinigen Modell des
Subjekt-Objekt-Verhältnisses. Wie ich meine, bietet das Subsumtionsurteil dennoch einen anschaulichen
Zugang zum Subjekt-Objekt-Verhältnis, und zwar dort, wo Hegel es in der Begriffslogik entwickelt.
Dazu hiernach.
457
Wargo (2005), S. 134.
120
Diese Behauptung ist nicht nur stark verkürzend; sie unterstellt zudem, dass das
Subsumtionsurteil in der (bisherigen) Philosophie als schlechthinniges Modell der
Subjekt-Prädikat-Beziehung gegolten habe. Bereits bei Hegel kann diese Behauptung
widerlegt werden. So hat Hegel, wie in der Begriffslogik dargelegt, das
Subsumtionsurteil für kein besonders gutes Beispiel gehalten, die Dimension der Idee
anschaulich zu machen. Subsumtionsurteile, die Hegel „Urteile des Daseins“ nennt,
„fällen zu wissen: ‚Die Rose ist rot’, ‚Der Schnee ist weiß’ usf., wird schwerlich dafür
gelten, daß es große Urteilskraft zeige.“458 Insofern stellt das Subsumtionsurteil bei
weitem kein „Modell“ für das Projekt der Selbstbestimmung des Begriffs (der
Subjektivität) dar. Gleichzeitig wird Hegels WL nicht vorgeworfen werden können, die
„Ähnlichkeiten“ und „Unterschiede“ der Beziehung von Allgemeinem und Besonderem
ununtersucht gelassen zu haben. Im Folgenden dazu mehr.
Die Begriffslogik – dem wohl trockensten, nichtsdestotrotz wohlargumentiertesten Teil
der WL – kennt indes nicht weniger als 12 verschiedene Erscheinungsformen des
Urteils, von denen das Urteil des Daseins nur die „naivste“ Urteilsform darstellt,
während das Urteil des Begriffs schließlich (im „apodiktischen Urteil“) Subjekt und
Prädikat jeweils als Begriff bestimmt und in dem, wie Hegel nicht müde wird zu
betonen, „Subjekt und Prädikat an sich derselbe Inhalt sind“459. Es ist wichtig zu sehen,
dass er nicht von „abstrakten“ Termini spricht, die mit der Realität nichts zu tun haben,
sind sie doch die Formen, die uns die Realität zugänglich zu machen. Das konkrete
Allgemeine ist bei Hegel das Subjekt, das vorher in sich in seine Momente zerfallen war,
dem das Prädikat ein ihm Äußerliches war, und nun das Prädikat als das ihm eigene
erkennt. Mit anderen Worten, es ist das Subjekt, das seinem Begriffe entspricht.460 Das
ist der spekulative Gehalt des Hegelschen konkreten Allgemeinen. Das wiederum ist die
Bestimmung des Subjekts, es selbst: keine Anschauung desselben und kein Ort, in dem
es sich befinde. Die Bedeutung der Formel „Vom Allgemeinen zum Besonderen“ hat
hier erst seine Berechtigung, wobei der Weg, den das Subjekt zurücklegt, ein
mühevoller ist, ein ständiges Aufklären über seine eigenen Missverständnisse, von
denen die absolute Trennung seiner selbst vom Prädikat nur der erste gravierende
Denkfehler ist.
In der Begriffslogik zeigt Hegel anschaulich den Übergang des Subsumtionsurteils „Das
Einzelne ist allgemein“ zu „Das Allgemeine ist einzeln“ und von hier aus die
notwendige Entwicklung zu Reflexionsurteilen, z.B. negativen Urteilen, sowie zu
„Urteilen der Notwendigkeit“ (kategorischen Urteilen usw.) und sogenannten „Urteilen
des Begriffs“, (worunter für Hegel u.a. das apodiktische Urteil fällt).461 Es sei mir hier
nur ein Verweis erlaubt, der nichtsdestoweniger den Zusammenhang zwischen der
formalen und der inhaltlichen bzw. der logischen und ontologischen Dimension von
Urteilen herzustellen versucht und das von Nishida zuerst Intendierte und dann nicht
Einlösbare deutlich ins Blickfeld rückt. Hier dürfte auch die Ursache für Nishidas
„Scheitern“ zu finden sein. Was Hegel hier nämlich im Sinn hat, ist im Gegensatz zu
Nishida die Berücksichtigung der für jede sich als Ontologie begreifende Logik
entscheidende Differenz von Aussage und Ausgesagtem oder, modern ausgedrückt, die
Differenz von Pragmatik und Semantik.
458
WL II, S. 344.
WL II, S. 350. Dieses wird in der Folge zum „Schluß“, der die Extreme des Urteils – Obersatz und
Untersatz - in ihre bestimmte Einheit – den Mittelsatz – setzt.
460
Pippin weist darauf hin, dass das konkrete Allgemeine auf der Ebene der PhG noch die „spekulative
Behauptung“ (also die wahrhaft dialektische) Behauptung ist. Pippin (1989), S. 241.
461
WL II, S. 312-316.
459
121
Auch Hegel geht, ähnlich wie Nishida, von der sachlichen Priorität des Prädikats aus.462
Als das (abstrakte) Allgemeine faßt es unter sich das (abstrakte) Einzelne, das
Subjekt. 463 Beide Bestimmungen sind im Urteil des Daseins durch die Kopula
aufeinander bezogen. Da noch keine Vermittlung auf das Negative stattgefunden hat,
das Urteil des Daseins somit die erste Stufe der Urteilsentwicklung darstellt, ist es
durchgehend positiv bestimmt. Das „Beispiel“ des Daseinsurteils nun ist das Urteil:
„Das Einzelne ist allgemein“.
Diese bestimmte Form des Urteils werde in einem Subsumtionsurteil stets gefordert.464
Das Subjekt, das einzeln und unbestimmt ist, wird hier durch das Urteil auf das
Allgemeine, das Prädikat, bezogen. Was bedeutet der Bezug des Subjekts auf sein
Prädikat durch die Kopula ist jedoch inhaltlich? Das „Einzelne“ – Subjekt des Satzes –
gibt sich durch seine Beziehung auf das Allgemeine selbst Allgemeinheit. Das Urteil
„das Einzelne ist allgemein“ hat somit Konsequenzen für das Einzelne, es kann nicht
mehr es selbst bleiben. Weil das Einzelne sich durch seine Qualitäten und Akzidenzen
hindurch erhält und diesen kontinuierlich zugrundeliegt, wird es zum Allgemeinen und
somit konkretisiert.465 Auf der anderen Seite der Kopula zeigt sich nun ein weiteres
Ergebnis. Das Prädikat, das als das Allgemeine bestimmt war, ist im Licht dieser
Reflektion nicht mehr das Allgemeine. Es stellt sich vielmehr nur ein Moment der
Totalität des Subjekts heraus:466
Folgerichtig lautet das Urteil für die Seite des Prädikats nun aber:
„das Allgemeine ist einzeln.“
Das Prädikat ist als Vereinzelung des allgemeinen Subjekts reflektiert, sobald das
Subjekt sich anstelle des Prädikats „die Allgemeinheit gibt“. Was ist damit gezeigt
worden? Auffällig ist, dass das Subjekt durch die Herstellung des Bezugs auf das
Prädikat dessen Qualität (Allgemeinheit) annimmt und das Prädikat als das vom Subjekt
Ausgesagte reflektiert wird (als Einzelnes), wodurch Subjekt und Prädikat die Plätze
tauschen. Unter welchem Aspekt kann man „rückwirkend“ das Urteil „das Einzelne ist
462
„Gott, Geist, Natur, oder was es sei, ist daher als das Subjekt eines Urteils nur erst der Name; was ein
solches Subjekt ist, dem Begriffe nach, ist erst im Prädikat vorhanden. Wenn gesucht wird, was solchem
Subjekte für ein Prädikat zukomme, so müßte für die Beurteilung schon ein Begriff zugrunde liegen; aber
diesen spricht erst das Prädikat selbst aus.“ Hegel fährt fort, dass auch das Hypokeimenon schließlich nur
ein Name sei. WL II, S. 303.
463
Das Subjekt ist nicht das Besondere, sondern das Einzelne, weil es sich erst in Beziehung zu seinem
Prädikat als der besondere Begriff herausstellt. Für Hegel gibt es hier wie für alle Bestimmungen 3
Formen des Begriffs, den allgemeinen, den besonderen und das Einzelne.
464
Die Behauptung, im Subsumtionsurteil fasse das allgemeine Prädikat unter sich das einzelne
(besondere) Subjekt in der Form „A ist B“, drücke nur indirekt und abstrakt aus, was in dieser
Behauptung schon gesagt werde, nämlich „Das Einzelne ist allgemein“. Man darf diesen Punkt bei Hegel
nicht übersehen, wenn man verstehen will, weshalb die Logik keine „transzendente“ Sphäre jenseits der
Begriffe ist, die man ihnen zwecks Analyse „hinzufügt“, etwa, um sie besser verständlich zu machen,
sondern sie ist die „Begriffssphäre“ selbst: Jedes Mal, wenn ich behaupte, „Rot ist eine Farbe“ behaupte
ich auch „Das Einzelne ist allgemein.“
465
Auf der Ebene des Wesens ist das Subjekt „ein Ding von mannigfaltigen Eigenschaften, ein Wirkliches
von mannigfaltigen Möglichkeiten, eine Substanz von ebensolchen Akzidenzen.“ WL II, S. 314.
466
„Es drückt z.B. in dem Satze ‚die Rose ist wohlriechend’ nur eine der vielen Eigenschaften der Rose
aus; es vereinzelt sie, die im Subjekt mit den anderen zusammengewachsen ist, wie in der Auflösung des
Dings die mannigfaltigen Eigenschaften, die ihm inhärieren, indem sie sich zu Materien verselbständigen,
vereinzelt werden.“ Ebd.
122
allgemein“ und „das Allgemeine ist einzeln“ betrachten, um das Umschlagen von
Subjekt ins Prädikat sinnvoll zu begründen? Hegel bietet die Unterscheidung von Form
und Inhalt an. Auf der einen Seite, ausgedrückt durch das Urteil „das Einzelne ist
allgemein“ werde zuerst nur die formale Beziehung ausgesprochen: sie sei ja die Form
oder das rein formale Verhältnis aller Subsumtionsurteile wie „Die Rose ist rot“, „A ist
B“ usw. Der Satz oder das Urteil „das Allgemeine ist einzeln“ ist aber diese Form als
inhaltlich reflektiert – es konnte gezeigt werden, wie die inhaltliche Bestimmung des
oberen Satzes sich als seine Umkehrung herausstellt. Hegel behauptet, dass die beiden
Sätze, die, je nach „Reflektionsstatus“, die formale und inhaltliche Bestimmtheit
desselben Urteils ausdrücken, vereinigt werden können. Sowohl das Subjekt als auch
das Prädikat müssen an sich zeigen, inwiefern sie jeweils die Einheit der Einzelheit und
der Allgemeinheit darstellen. Das Urteil des Daseins – das Subsumtionsurteil – reicht
aber nicht hin, diese Einheit zu begründen. Es muss zum Urteil der Negation
weiterentwickelt werden, um retroaktiv die Sinneinheit des Satzes als Begriffene
darzustellen. In der Konsequenz heißt das:
1. Der Satz „das Einzelne ist allgemein“, nach seiner Form betrachtet, ist unwahr: denn
das Prädikat ist von weiterem Umfang als das Subjekt der unmittelbaren Einzelheit, es
entspricht ihm also in der formalen Weise nicht. Der Satz muss verneint werden.
2. Der Satz „das Allgemeine ist einzeln“, nach seinem Inhalt betrachtet, ist unwahr: Das
Subjekt aus 1. hat sich in seiner Beziehung auf das Prädikat als das Allgemeine
herausgestellt. Es ist das Allgemeine von Qualitäten und Akzidenzen, das
zugrundeliegende Konkrete und erhält sich gegenüber diesen Einzelnen als
Allgemeines. Somit ist es nicht das Einzelne, als sein Prädikat es von ihm aussagt. Der
Satz muss verneint werden. In Hegels Worten: „[D]as positive Urteil [muß] vielmehr als
negatives gesetzt werden.“467
Hegel hat hier – formal und inhaltlich – das Zustandekommen der Negation auf der
Ebene der Urteile vorgeführt, womit der Übergang in das negative Urteil erfolgt ist,
dessen Darlegung in der Systematik der WL im folgenden unternommen wird (WL II,
Zweites Kapitel, A. Das Urteil des Daseins, b. Das negative Urteil).
Deutlich sieht man hier den Zusammenhang der formalen Dimension des Urteils auf der
Ebene der Aussage (hier interessiert nur die Form des Bezugs von Subjekt auf das
Prädikat) mit der inhaltlichen Dimension des Urteils auf der Ebene des Ausgesagten
(hier interessiert die Bedeutung des Bezugs von Subjekt auf das Prädikat). Hegel
thematisiert beide Reflexionsstufen und stellt sie als logische Entwicklung vom einen
zum anderen dar. Eine vollständige Darstellung des Hegelschen Systems kann und will
der Verweis auf Hegels Verständnis des Subsumtionsurteils hier allerdings nicht leisten,
auch nicht „im Kleinen“. Allein die Differenz zu Nishida zeigt sich hier in aller
Deutlichkeit in der von Hegel geleisteten und von Nishida zwar behaupteten, dann aber
nicht eingelösten Darstellung des konsequenzreichen Verhältnisses von Subjekt und
Prädikat im Subsumtionsurteil. Zu zeigen, wie das Subjekt im Prädikat „versinkt“, setzt
eine Bestimmung des Verhältnisses von Aussage oder Pragmatik („Das Subjekt ist das
Prädikat“) zu Ausgesagtem oder Semantik („Die Bedeutung von ‚Das Subjekt ist das
Prädikat’“)
voraus,
welche
Nishida
schon
aufgrund
der
„verdinglichenden“ Voraussetzungen seines Denkens theoretisch nicht zu fassen
467
WL II, S. 317.
123
vermag. Die Nicht-Thematisierung dieses Verhältnisses ist symptomatisch für die
Vermischung oder zumindest ungenügende Differenzierung von Begriff und „Sache“.
So wird bei Nishida alles zu einem denkvorgängigen, subjektlosen Prozess, der sich
entlang leerer Worthülsen wie „Prädikatsebene des absoluten Nichts“ ein seine Logizität
behauptendes, daran aber scheiterndes Konstrukt aufbaut.
2.2.
Konsequenzen der Ort- oder Prädikatenlogik: Interpretationen
Im Vorwort zu „Philosophische Aufsätze III“ (1939) (Tetsugaku ronbunshû III 哲学論
文集) schreibt Nishida rückblickend über seine Ortlogik:
Beim Entwerfen eines philosophischen Systems muß [eine] Logik vorhanden sein. Ich habe an
diesem Problem gelitten. Ich erreichte es, hierfür einen Hinweis zu erhalten in dem Aufsatz Ort.
In diesem Aufsatz diente mir das hypokeimenon des Aristoteles als Leitfaden. Die Aristotelische
Logik ist durchgehend subjektbezogen. Aus diesem Grund ist dort das Ich (jiko 自己)
undenkbar. Das Ich läßt sich nicht vergegenständlichen. Dennoch denke ich unser Ich. Somit
muss es eine irgendwie andere Form des Denkens geben. Ich nenne es gegen die Aristotelische
Logik eine prädikative Logik (jutsugoteki ronri 述語的論理). Ich denke unser Ich, als eine
Bewußtseinseinheit, nicht subjekthaft, sondern vielmehr orthaft als die Selbstbestimmung des
Bewußtseinsfeldes.468
Obwohl Nishida inzwischen eine andere Terminologie entwickelt und die Ortlogik in
der Sache ad acta gelegt hat, zeigt sich in dieser Überlegung, dass er noch immer von
der Möglichkeit der Überwindung eines „Aristotelischen“ Subjekts überzeugt war.
Auch „eine andere Form des Denkens“ jenseits des Subjekt-Objekt-Gegensatzes sieht er
als möglich an. Die Probleme, die ich in 2.1. über die grundlegenden Aspekte des
„Orts“ des absoluten Nichts versucht habe darzustellen, zeichnen jedoch ein anderes
Bild. Am schwersten wiegt der Kontrast von Anspruch und Wirklichkeit: indem
Nishida seinen Anspruch kundtut, der Verdinglichung des Subjekts durch seine
„Verbannung“ in einen unbestimmten Bereich jenseits des Urteils, das absolute Nichts,
zu entkommen, in realiter dieser aber zu einer notwendigen Substantialität führt, wird
er unglaubwürdig.
Die Ortlogik wurde bislang vor allem in der japanischen Rezeption sehr unterschiedlich
diskutiert. Dort finden sich u.a. die Ansätze Nakamuras und Kobayashis, Nishidas
Logik für psychopathologische Begründungsansätze fruchtbar zu machen.469 Nakamura
hat auch vorgeschlagen, die Ortlogik als „Logik der japanischen Sprache“ mit Tokieda
Motokis 時枝誠記 (1900-1967) „japanischer Grammatik“ (nihongo bunpôron 日本語
文法論) zu kontextualisieren.470 Beide Interpretationsansätze sind sicherlich interessant,
doch um den streng begrifflichen Gehalt der Ortlogik „herauszuklauben“, führen
psychologische und/oder linguistische Ansätze meines Erachtens zumindest auf einen
468
NKZ VIII, S. 255, Elberfeld (1999a), S. 63. Hervorh. EL.
Nakamura (2001), Kobayashi (2002).
470
Tokieda, einer der einflussreichsten japanischen Linguisten, hat mit seiner Theorie des
„Sprachprozesses“ (gengo kateisetsu 言 語 過 程 説 ) eine Saussure-kritische dezidiert
„japanische“ Grammatiktheorie, bekannt unter dem Namen „Tokieda-Grammatik“ (tokieda bunpô 時枝
文法) begründet. Siehe seine „Geschichte der japanischen Linguistik“ (Kokugogakushi 国語学史),
Iwanami (1940) und seine „Grammatik des Altjapanischen in Altertum und Mittelalter“ (Nihon bunpô
bungohen jôdai chûko 日本文法文語篇上代中古), Iwanami (1954).
469
124
Umweg. Der Ansatz R.J. Wargos scheint mir für die begriffsanalytische Interpretation
ergiebiger.
Wargo diagnostiziert im „Problem der Vollständigkeit“ das Hauptsymptom defizienter
philosophischer Systeme. Nishidas System dagegen trage dieses Symptom gar nicht erst
in sich, da es nicht auf der Subjekt-Objekt-Dichotomie beruhe und somit dem Problem
der Vollständigkeit a priori entginge. Wargo will zeigen, dass Nishidas System in sich
geschlossen und vollständig ist. Ich werde zeigen, dass dieses nicht der Fall ist. Sein
Versuch, die angeblichen „Defizienzen“ in Kants transzendentaler Methode,
Wittgensteins Tractatus und Russells Typentheorie darzulegen und somit die Ansätze
Kants, Wittgensteins und Russells gegenüber Nishidas holistischem Denken abzuwerten,
ist nicht nur uninformiert, sondern auch unplausibel, wie ich im Folgenden zeigen
werde.
Schließlich werde ich mit der Darstellung des Programms der Hegelschen WL im
Kontrast zu Nishida unter dem Aspekt des intrinsischen Zusammenhangs von Logik
und Ontologie meine Kritik an der Ortlogik zum Abschluss bringen.
2.2.1. Das „Problem der Vollständigkeit“
Das „Problem der Vollständigkeit“ („the problem of completeness“) betreffe gemeinhin
alle philosophischen Systeme, die Theorien oder Theoreme über die Gesamtstruktur der
Wirklichkeit bzw. die Bedingungen möglicher Erfahrung der Wirklichkeit behaupteten.
Denn dann müsse das jeweilige System erklären können, wie es selbst innerhalb der
Struktur, die es behaupte, integrierbar sei. Mit anderen Worten, das System selbst müsse
innerhalb dieses Ganzen der Wirklichkeitsstruktur, die es erklärt, erklärbar sein: „[A]ny
theoretical structure that purports to give an account of the whole of experience must
somehow also be able to account for the possibility of its own construction.“471 Dass das
System selbsterklärend und logisch explizierbar sein muss, seien entsprechend
notwendige Voraussetzungen für diese Forderung. Nishida habe Wargo zufolge das
Problem gesehen und versucht, sein System dieser Forderung gemäß auszuarbeiten.
Mehr noch: „[N]ever before in the history of philosophy has the matter been viewed this
way.” 472 In der Tat ist das eher zweifelhaft, hat Nishida zumindest nach der
Fertigstellung
des
„Ort“-Aufsatzes
die
Unzulänglichkeiten
einiger
473
Begriffsbestimmungen erkannt.
Es ist unwahrscheinlich, dass er mit einzelnen
Begriffsbestimmungen unzufrieden war, dennoch aber insgesamt das System für selbstund wirklichkeitserklärend hielt.
Um zu zeigen, inwiefern Nishida durch den Begriff des absoluten Nichts das Problem
der Vollständigkeit in seiner Ortlogik nicht nur erkannt, sondern auch überwunden habe,
kontrastiert Wargo den Nishidaschen Ansatz mit drei Ansätzen der modernen
Philosophiegeschichte, die trotz ihres holistischen Anspruchs auf Selbstbegründbarkeit
dem Problem der Vollständigkeit angeblich nicht gerecht werden können. Er wählt dazu
Kants kritische Philosophie, Wittgensteins „Tractatus“ und Russells Typentheorie.
471
Wargo (2005), S. 106.
Ebd.
473
„Ich muß eingestehen, dass ich das zu Erörternde nach vielen Wiederholungen (kurikaeshi 繰り返し)
noch immer nicht genügend zum Ausdruck bringen konnte. Insbesondere das Problem der Anschauung
(chokkan 直観) konnte nicht ausreichend behandelt werden […]“ NKZ III, S. 477, Elberfeld (1999a), S.
139.
472
125
Interessanterweise lässt Wargo Hegels Logik außen vor. Das ist kaum nachvollziehbar,
tritt der Anspruch auf Vollständigkeit und Vollkommenheit – letztlich der Anspruch auf
„Totalität“ – doch bei keinem der drei Ansätze so zutage wie in Hegels System. Im
Gegenteil: Kant hat ja gerade die Einschränkung des Totalitätsanspruches der
Erkenntnis als notwendig herausgestellt. Wargos Kenntnisse der Hegelschen
Philosophie sind allerdings beschränkt, wie folgende Bemerkung zeigen dürfte:
As for Hegel´s notion of the concrete universal, it failed as an attempt to provide a universal
with its own principle of individuation because Hegel could not free himself from the objectivesubjective distinction.474
Dessen ungeachtet versucht Wargo hier eine Disqualifikation des Hegelschen Systems
als Vergleichssystem mit Nishida unter dem Aspekt der Begründung einer logischen
Ontologie.
Das Programm der Hegelschen Logik mit Nishidas Ansatz zu vergleichen halte ich
dagegen für geeignet im ausgezeichneten Sinne, da beide den Anspruch einer logischen
Begründung der Ontologie verfolgen, d.h. durch Logik zu zeigen versuchen, was dem
Seienden als Seiendes – in Nishidas Fall, dem absoluten Nichts als Nichts – zukomme.
Diesen Anspruch teilen Kant, Wittgenstein oder Russell mit Nishida nicht. Methodisch
ist der Vergleich mit Kant etc. also bereits prekär, da ein Tertium comparationis
unnachvollziehbar ist oder zumindest unbestimmt bleibt.
Die ausdrückliche Formulierung des Nishidaschen Anspruchs – die
Selbstbegründbarkeit seines Systems – muss wiederum Wargo zugesprochen werden,
denn Nishida selbst geht es nach Selbstauskunft vor allem um die Konstitution des
Subsumtionsurteils, in dem Prädikat und Subjekt nicht mehr vom „Gegensatz von
Wissendem und Gewußten aus“ betrachtet werden.475 Aber auch hier wird deutlich,
dass Nishida die Möglichkeit einer durch Logik fundierten Seins- oder auch
Erkenntnisstruktur sieht und diese auch zu begründen versucht. Der Vergleich mit dem
Programm der Hegelschen Logik wäre also nicht nur naheliegend, sondern zwingend
und dankbar.
Um zu zeigen, inwiefern Kants transzendentale Marhode, Wittgensteins Tractatus und
Russells Typentheorie Wargo zufolge dem Problem der Vollständigkeit strukturell nicht
begegnen können, zunächst eine Übersicht über diese und ihre „defizienten
Selbstbegründungsmechanismen“ bei Wargo (Zur Darstellung im Folgenden: die
Zusammenfassung der Kritik Wargos ist kursiv, mein Kommentar normal gedruckt).
Kants kritische Philosophie hat zwar die traditionelle Metaphysik mit ihrem
Absolutheitsanspruch der Erkenntnis in ihre Schranken verwiesen, aber dennoch
behauptet, dass das, was erfahren, auch vollständig erklärt werden könne. Als
Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung habe er daher die Kategorien aufgestellt, die
zusammen mit dem Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung in einem selbstbewußten
(„apperzeptiven“) Subjekt zu einer Erfahrung synthetisiert werden. Kants Kategorien
beanspruchen also Vollständigkeit. Das Problem des Kantischen Systems liegt jedoch
nicht in einer möglichen Unvollständigkeit der Kategorien, sondern in der
474
Wargo (2005), S. 93.
Nishida selbst ist sehr sparsam mit Selbstauskünften zur Absicht seines Projekts. Am Schluss von
„Ort“ lässt er wissen: „Allein, es ist meine Absicht, den Sachverhalt des Wissens nicht wie bisher,
ausgehend vom Gegensatz zwischen Wissendem und Gewußtem, zu behandeln, sondern statt dessen
möchte ich von der Subsumtionsbeziehung des Urteils ausgehen, die eine Schicht tiefer liegt.“ NKZ III, S.
477, Elberfeld (1999a), S. 139.
475
126
Unvollständigkeit der Mechanismen, an denen wir die Kategorien überprüfen können:
„The theory accounts for how we constitute the objects of experience, but not for how
we know that this is how we constitute them.“476 Anders ausgedrückt: Kant versäumt
eine Selbstbegründung der Kategorien, die durch etwas garantiert werde, was selbst
keine Kategorie ist, aus der aber die Kategorien notwendig folgen müssen. Das ist ein
ungemein allgemeineres Problem als nur das der möglichen Unvollständigkeit der
Kategorien.477
In der Tat kann man in kritischer Absicht fragen, ob die vier Kategorien der Qualität,
Quantität, Relation und der Modalität tatsächlich eine vollständige Übersicht über die a
priorische Struktur unseres Verstandes liefern. Diese, wenn auch interessante Frage,
kann hier nicht diskutiert werden, allein will Wargo auch gar nicht auf diese hinaus. Er
behauptet, dass die transzendentalen Kategorien des Verstandes ihre „Legitimation“ erst
durch eine „Dimension“ oder „Ebene“ des Wissens erhalten, die selbst keine Kategorie
(also kein Begriff) sei. Ich habe oben bereits (I. 1.3.2. und II. 1.2.) auf die Erkenntnis
Kants hingewiesen, dass „ich dasjenige, was ich voraussetzen muß, um ein Objekt zu
erkennen, nicht selbst als Objekt erkennen“478 kann. Daraus folgt notwendig, dass jede
Anstrengung, die Kategorien auf eine andere Form der Erkenntnis rückführen zu wollen,
durch welche sich diese erst begründeten oder legitimierten, die selbst aber keine
Kategorie sei, stets die Kategorien selbst gebrauche. Es sind ja zunächst die Urteile der
Qualität, der Quantität usw., aus denen Kant die Verstandesbegriffe jeweils gewinnt,
keine mehr und keine weniger. 479 Was Wargo genau genommen fordert, ist die
Überprüfbarkeit von Urteilen an etwas, das selbst keine Urteile sind. Was könnte dieses
„etwas“ sein? Man kann sicher Urteile der Modalität und der Relation an Urteilen der
Qualität und der Quantität überprüfen, und dann behaupten, dass in dieser und jener
Hinsicht diese den anderen nicht entsprechen – Kant tut es selbst, wenn er behauptet,
jenen liegen mathematische, diesen dynamische Prinzipien zugrunde – aber den
universellen Gültigkeitsbereich von Urteilen überhaupt in Frage zu stellen, führt
zumindest auf die Schwierigkeit, den Bereich, in dem Urteile ihre Gültigkeit verlieren,
formulieren und begründen zu müssen.
Selbstverständlich kann man fragen, inwiefern Kants zentrale Frage nach der
Möglichkeit von synthetischen a priori Urteilen, also der Frage danach, wie das Denken
sinnvoll a priori Urteile über Nicht-Gedankliches fällen könne, nicht auch das
„Vorbegriffliche“ voraussetze. Das ist bei Kant die reine Anschauung. Dieser Begriff
hat sich tatsächlich als Stein des Anstoßes für Fichte und dann auch Hegel
herausgestellt.480 Allerdings betrifft das nicht das Problem der Vollständigkeit. Wargo
behauptet, Nishida habe bei Kant bereits in Anschauung (1917) als Problem formuliert,
was dann in „Ort“ vollständig zutage trete: dass die Mechanismen, die die Struktur der
Erfahrung erklären, nicht auch unsere Fähigkeit erklären könnten, dieser Mechanismen
bewusst zu werden. Ich muss gestehen, dass ich Wargos Interpretation hier nicht folgen
kann: was will Kant anderes zeigen, als dass die Mechanismen, die die Struktur der
Erfahrung erklären, Bewusstsein konstituieren, Bewusstsein sind? Fordert Wargo eine
476
Wargo (2005), S. 107.
Wargo (2005), S. 107-108.
478
A.a.O.
479
KrV B 105 (1998): „[...] denn der Verstand ist duch gedachte Funktionen [aller möglichen Urteile]
völlig erschöpft, und sein Vermögen dadurch gänzlich ausgemessen.“
480
Siehe zu diesem zentralen Problem bei Kant und die Hegelsche Reaktion darauf Pippin (1989), S. 24 ff.
Pippin stellt dar, wie wichtig es für Fichte und Hegel war, Kants Auffassung der „reinen Anschauung“ als
Nicht-Begriffliches in genau diesem Punkt zu widerlegen.
477
127
Erklärung des Mechanismus, wie ich meines Bewusstseins bewusst sein könne,
verweise ich um ein weiteres auf Kants Explikation des Paralogismus der reinen
Vernunft, offensichtlich eine Passage in der KrV, die von Seiten einiger NishidaInterpreten und von Nishida selbst nicht die nötige Beachtung geschenkt wurde, die sie
verdient und die möglicherweise zur Klärung der diversen Missverständnisse
beigetragen hätte.
In Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus (1918) wird eine Sprach- und
Bedeutungstheorie aufgestellt, die ihren eigenen Standpunkt nicht umfasst. Auch hier
zeigt sich ein Vollständigkeits-Problem, das erst durch die Struktur des Systems zutage
tritt. Um nämlich die holistische Struktur der Sprache und ihre Beziehung zur Welt
darstellen zu können, muss man aus den sprachlichen Grenzen hinaustreten, was
natürlich unmöglich ist. Daher beschließt Wittgenstein den Tractatus mit Satz 7:
„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“481. Anders gesagt: das,
was Denken oder Sprechen ermöglicht, kann nicht Gegenstand des Denkens oder
Sprechens sein. Hier ist das sprachphilosophische Pendant zu Kant ausgedrückt. Kant
vertritt einen „transzendentalen Idealismus“, Wittgenstein einen „transzendentalen
Linguismus“. 482 Ungeachtet der Tatsache, dass Wittgenstein sich des Problems der
Grenze der Sprache bewusst ist, kann auch er keine vollständige Theorie (der Sprache)
liefern, die ihren Standpunkt umfasst – im Gegensatz zu Nishida.
Soweit ist klar: sobald Sprache sich selbst thematisch wird, muss jede Begründung des
„Diskursbereichs“ („domain of discourse“), in dem sie sich befindet, selbst sprachlich
sein. Dass Sprache sich selbst nicht erklären kann, ist jedoch ein konstitutiv logisches
Phänomen der Sprache selbst (ebenso wie die Unbegründbarkeit des Bewusstseins
durch etwas anderes als es selbst ein konstitutiv logisches Phänomen des Bewusstseins
ist), kein „Versäumnis“ der Wittgensteinschen Forderung nach größtmöglicher
Exaktheit. Im Gegenteil: indem Wittgenstein auf die Unmöglichkeit der
Selbsterklärbarkeit der Sprache hinweist, macht er gerade erst den Rahmen deutlich, in
dem Exaktheit überhaupt möglich ist. Im Vorwort zum Tractatus heißt es:
Das Buch will also dem Denken eine Grenze ziehen, oder vielmehr – nicht dem Denken,
sondern dem Ausdruck der Gedanken: Denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müßten
wir beide Seiten dieser Grenze denken können (wir müßten also denken können, was sich nicht
denken läßt).483
Mir geht es nicht darum, Wittgenstein gegen Wargos Vorwurf zu verteidigen, er könne
dem Problem der Vollständigkeit nicht entgehen, denn ich halte diesen Vorwurf für
gegenstandslos. Sprache ist stets selbst-referentiell und in sich geschlossen, und jede
Theorie über Sprache ist sprachlich. Dass Sprache ihren eigenen Begründungsansatz
nicht anders denn als Sprache formulieren kann, halte ich nicht für eine systematische
Unzulänglichkeit der Sprache, sondern für den Ausdruck ihrer Vollkommenheit. Hegel
dazu knapp: „Da der Mensch die Sprache hat als das der Vernunft eigentümliche
Bezeichnungsmittel, so ist es ein müßiger Einfall, sich nach einer unvollkommeneren
Darstellungsweise umsehen und damit quälen zu wollen.“484
481
Wittgenstein (1984), S. 115.
Wargo (2005), S. 108-109.
483
Wittgenstein (1984), S. 9.
484
WL II, S. 295.
482
128
Russells Typentheorie – auf die hier näher einzugehen unmöglich ist – ist als Reaktion
auf das 1901 von ihm entdeckte und 1903 in The Principles of Mathematics formulierte
logische Paradox entstanden. Es ist wohl das bekannteste der Mengen-Paradoxien und
entsteht, wenn innerhalb der naiven Mengenlehre versucht wird, die Menge aller
Mengen, die sich selbst nicht als Element enthalten, zu finden – denn diese Menge ist
genau dann ein Element ihrer selbst, wenn sie nicht ein Element ihrer selbst ist. Das ist
die bekannte Formulierung des Paradoxons.485 Zur Veranschaulichung: einige Mengen,
beispielsweise die Menge aller Teetassen, enthalten sich nicht als einer ihrer Elemente
(die Menge aller Teetassen ist keine Teetasse). Andere Mengen dagegen, wie die Menge
aller Nicht-Teetassen, enthalten sich selbst als ein Element ihrer Menge. Nenne nun die
Menge aller Mengen, die sich selbst nicht als ein Element enthalten, „R“. Wenn die
Menge R ein Element ihrer selbst ist, darf sie per definitionem kein Element ihrer selbst
sein. Ebenso ist die Menge R, wenn sie nicht ein Element ihrer selbst ist, per
definitionem ein Element ihrer selbst.
Russell schlägt in seiner mit Alfred North Whitehead in Principia Mathematica (1910)
entwickelten Typentheorie nun vor, präpositionale Funktionen – Sätze – in eine
Hierarchie aufzuteilen, die die logische Gültigkeit von R in Frage stellen und per
definitionem die Formulierung von R inakzeptabel machen.486 Auf dem niedrigsten
Level dieser Hierarchie sind Sätze über Einzeldinge vorhanden. Das nächste sprachliche
Level enthält Sätze über Mengen von Einzeldingen. Die darauffolgende höhere Ebene
enthält Sätze über Mengen von Mengen von Einzeldingen usw. Dann ist es möglich,
sich auf alle Einzeldinge, für die ein bestimmtes Prädikat gilt, nur dann zu beziehen,
wenn sie sich auf demselben Level befinden, demselben Typ zugehören. In diesem
System ist die Darstellung der Menge aller sich nicht selbst enthaltenden Mengen schon
aus syntaktischen Gründen nicht möglich. Wargos Beweis, dass auch Russells
Typentheorie ihren eigenen Ansatz durch sich selbst nicht begründen kann und daher
unvollständig ist, beruht diesmal auf der Forderung nach Konsistenz:
Die Schwierigkeit in Russells Theorie besteht darin, dass sie als eine Theorie mit
universellem Gültigkeitsanspruch nicht formuliert werden kann, ohne durch die
Formulierung selbst inkonsistent zu werden. Die dahinter stehende Frage ließe sich in
etwa so formulieren: „Auf welchem Level der präpositionalen Funktionen befindet sich
die Theorie selbst?“ Sie muss wohl das allgemeinste Level aller Möglichkeiten
sprachlichen Ausdrucks, als Menge aller Mengen, bezeichnet werden: damit holt sie
jedoch wieder Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten, zurück in die Theorie.
Das wollte sie aber gerade vermeiden:
The difficulty that attends to the theory of types […] is that in order to enunciate the theory, it
is necessary to do what the theory explicitly prohibits, and that is to refer unrestrictedly to all
propositions without respect to type. The theory, if it were correct, is impossible to state, for to
state the theory would be to defy the prohibitions that the theory puts forth.487
Russell kann dem Problem nicht entgehen, das sich ergibt, wenn die Struktur der
Erkenntnis, der Sprache oder der Realität als Ganze innerhalb der Grenzen einer
485
Bertrand Russell, The Principles of Mathematics, Chapter X, § 106. Cambridge University Press
(1903), S. 106. Ich beziehe mich auf The Stanford Encyclopedia of Philosophy, „Russell`s Paradox“,
http://plato.stanford.edu/entries/russell-paradox (Zugriff am 29.06.10).
486
Siehe A. North Whitehead, B. Russell, Principia Mathematica, Chapter II. Cambridge University
Press (1997), S. 37 ff.
487
Wargo (2005), S. 111.
129
Theorie dargestellt werde, die sich selbst erst durch ihre Formulierung begründet, mit
anderen Worten zirkelhaft ist.
Den drei oben dargestellten Theorien muss ein gemeinsames Merkmal unterstellt
werden, das für das begründungstheoretische Defizit verantwortlich ist: alle diese
Ansätze gehen vom Subjekt-Objekt-Gegensatz aus, ohne diesen Ansatz zu hinterfragen.
Nur eine Theorie, die den Subjekt-Objekt Dualismus „überwunden“ hat, kann ihren
eigenen Begründungsansatz mit den Mitteln der Theorie selbst rechtfertigen. Nishida
hat eine reflexive, jedoch nicht zirkelhafte Lösung durch den Ort des absoluten Nichts
gefunden. Denn die Zurückweisung des Unterschieds von Subjekt und Objekt führt
natürlicherweise („naturally“) zum Gebrauch solcher Begriffe wie „Nichts.“488
Dass die Ablehnung eines endgültigen Gegensatzes von Subjekt und Objekt
automatisch zum Gebrauch des Terminus „absolutes Nichts“ führe, habe ich oben
bereits widerlegt. Denn es ist nicht weniger plausibel, dass das „Sein“ ebenso gut diese
Rolle erfüllen kann, solange es sich um rein logische Begriffe handelt. „Nichts“ kann
nur dann so etwas wie den „Horizont der Jenseitigkeit“ bezeichnen, wenn es als NichtSein, als Negation des Seienden gefasst würde, aber genau das – also ein bestimmtes
Nichts, die Negation – will Nishida vermeiden. Sei ein solches ja ein bloß relatives
Nichts, die Ebene des alltäglichen Bewusstseins. Das absolute Nichts hingegen
„spiegele“ das relative Nichts und lasse Sein und Nichts „in seinem Inneren“ entstehen.
Nishida kann nicht begründen, wie und warum das absolute Nichts zur ausgezeichneten
heuristischen Kategorie der Überwindung des sogenannten Subjekt-Objekt-Dualismus
wird. Wird durch die Annahme einer solchen Kategorie aber „begründungstheoretische
Vollständigkeit“ hergestellt, wie Wargo behauptet? Wargo sieht in Nishidas Theorie der
Ortlogik drei verschiedene Gültigkeitsbereiche des Seins am Werk, auf der niedrigsten
Stufe den „Ort“ des „Urteils-Allgemeinen“ oder auch die Ebene des „einfachen Seins“,
auf der nächsten Stufe den Ort des „Selbstbewusstseins-Allgemeinen“, oder „das
relative Nichts“ und auf der letzten Stufe den Ort des „intelligiblen Allgemeinen“ oder
„absoluten Nichts“. 489 Erst, weil der letzte Ort als absolutes Nichts wirklich den
Standpunkt des Subjekt-Objekt-Verhältnisses überwunden habe, sei hier die
Selbstbegründbarkeit des Systems möglich.
The only possible solution is to reject the subject-object-dichotomy [...] This is why Nishida
names this final basho [= Ort (jap.), EL] the basho of absolute nothingness. All that can be said
about it has already been said in the presentation of the entire structure and the logical
interrelations of the structure’s elements. Absolute nothingness cannot be presented or described,
and the structure of the theory shows why this is so [Anm.: Das Urteils-„basho“ repräsentiere
nur die ‚erste Stufe’ des Systems, EL]. We have arrived at the core of the solution of the
problem of completeness490
488
Wargo (2005), S. 113.
Siehe Wargo (2005), S. 169: „In the development of the system, we spoke of three basho: the basho of
being, the basho of relative nothingness and the basho of abolute nothingness [...] The beings
characteristic of each level were determined by three universals: the universal of judgment, the universal
of self-consciousness, and the intelligible universal.“ Wargo bezieht sich hier auf nach „Ort“ entstandene
Texte, so die „Zusammenfassenden Erklärungen“ (sôsetsu 総説 ) in Das selbstbewusste System des
Allgemeinen (Ippansha no jikakuteki taikei 一般者の自覚的体系) in NKZ IV, S. 333-382 (1930).
Allerdings zeigt sich bereits in „Ort“ das „Aufsteigen“ der Ebenen von der untersten „Welt des
Begriffs“ bis zum „Ort des wahren Nichts“ bzw. vom „Urteilsakt gegensätzlicher Gegenstände“ zum
„Akt der Akte“ als Willensakt im Ort des wahren Nichts. Siehe NKZ III, S. 460 ff., Elberfeld (1999a), S.
121 ff.
490
Wargo (2005), S. 165.
489
130
Im wahren „Basho“ des absoluten Nichts erst werde das Selbstbewusstsein als solches
explizit, jegliche Vergegenständlichung aufgehoben: „Everything that appears is seen as
self-expression; in the end even the opposition of noesis and noema is dissolved.“491
Doch muss man fragen – von welchem Standpunkt ist diese Auflösung von Subjekt und
Objekt möglich? Wer kann einen Ort des absoluten Nichts bezeugen, der Noesis und
Noema in Nichts verwandelt? Erstens fehlt hier die Selbstreflexivität, die Wargo als
primäres Merkmal dieser Theorie behauptet hatte, denn wenigstens das Selbst, das
Reflexion möglich macht, kann nicht „aufgelöst“ („dissolved“) werden. Zweitens ist
eine solche Theorie nicht selbstbegründend, denn das von ihr Behauptete unterstellt die
Überwindung des von ihr Behaupteten. Theorien werden primär in Urteilen oder
zumindest Sätzen formuliert, Urteile oder Sätze, die aufgrund eines denkenden
Bewusstseins zu Standekommen. Wird ein Bereich postuliert, der das denkende,
urteilende Selbst transzendiere, kann dies nur aufgrund dieses denkenden und
urteilenden Selbst allein geschehen.
Man ist also kaum überzeugt: wie soll eine solche Hierarchie von Seins- oder
Geltungsbereichen eine sich notwendig selbstbegründende Theorie darstellen – anders
ausgedrückt – durch welchen Schritt stellt sie Selbstbegründbarkeit im Rahmen des von
ihr Ausgesagten her, etwas, das Wargo zufolge Kant, Wittgenstein und Russell nicht
erfüllen? Meines Erachtens erfüllt diese Theorie noch nicht einmal die
Minimalbedingung einer guten Theorie: sie ist nicht plausibel. Wie kann es eine Ebene,
ein „Basho“ „geben“, das die Stufe der Urteile, mit denen wir nun einmal umgehen, um
Realität zu beschreiben und vielleicht auch zu erklären, „transzendiert“? Zumindest die
Theorie transzendiert diesen Bereich nicht, da sie selbst in Urteilen ausgedrückt wird
(„Das intelligible Allgemeine ist die Welt des absoluten Nichts“). Die Theorie bleibt die
Erklärung ihrer Selbstbegründbarkeit und somit ihrer „Vollständigkeit“ schuldig.
2.2.2. Die Auflösung des Subjekts ins „absolute Nichts“
Man muss, um Nishida in der Behauptung zu widersprechen, dass es einen
„Bereich“ jenseits des sogenannten Subjekt-Objekt-Gegensatzes gebe, nicht
automatisch für die starre Entgegensetzung von Subjekt und Objekt plädieren. Im
Gegenteil, indem man versucht, die verfestigten Begriffe in ihre „Flüssigkeit“492 zu
bringen, die gegenseitige Selbst-Bestimmung von denkendem Subjekt und gedachtem
Objekt betont und schließlich das Subjekt als Vermittlung der Objektivität der ihm
gegenübertretenden Realität oder „Welt“ begreift, in dem es sich selbst erkennt, wird ja
gerade der verhärtete Dualismus, den Nishida den klassischen erkenntnistheoretischen
und logischen Systemen unterstellt, unterbunden. Auch Adorno, dem es um die
erkenntnistheoretische Priorität eines dem Subjekt äußerlichen Objekts geht, will nicht
behaupten, dass der Dualismus von Subjekt und Objekt absolut sei. Als ein solcher
zeige er sich abermals als borniert und „monistisch“493. Wohl aber kann man zeigen,
dass der Bereich, in dem die „Verflüssigung“ der Begriffe „stattfindet“ eben nicht in
einem Dritten ihren Ort hat.
491
Wargo (2005), S. 124. Warum Wargo hier plötzlich von Noesis und Noema spricht, also unvermittelt
Husserlsche Terminologie einführt, wird aus dem Kontext zumindest nicht ersichtlich.
492
PhG, „Vorrede“, S. 37: „Es ist aber weit schwerer, die festen Gedanken in Flüssigkeit zu bringen als
das sinnliche Dasein.“
493
Adorno (1966), S. 176.
131
Nichts ist möglich als die bestimmte Negation der Einzelmomente, durch welche Subjekt und
Objekt absolut entgegengesetzt und eben dadurch miteinander identifiziert werden. Subjekt ist
in Wahrheit nie ganz Subjekt, Objekt nie ganz Objekt; dennoch beide nicht aus einem Dritten
herausgestückt, das sie transzendierte. Das Dritte tröge nicht minder.494
Das „reziproke Durchdringen“ von Subjekt und Objekt findet nicht in einem Dritten,
sondern in einem notwendig durch das objektive Moment vermittelte Bewusstsein
selbst statt. Dass man damit nicht automatisch die Position Fichtes einnimmt, zeigt sich
daran, dass Fichte die Objekt-Welt schon vor jeder Erkenntnis zu einem Produkt des Ich
erklärt. Hegel versucht, Fichtes Irrtum aufzuklären, indem er auf die
Widersprüchlichkeit des verabsolutierten Identitätsdenkens aufmerksam macht und
programmatisch darlegt, wie Objektivität – oder auch Nicht-Identität –für die
Konstitution des Subjekts wesentlich ist.495 Meines Erachtens betreibt Adorno an nicht
wenigen Stellen Spiegelfechterei, wenn er diesen Punkt in Hegel nicht sieht, wobei
Hegels eigene Formulierungen gerade zum Ende der WL die Anstrengung des Begriffs
als verkürzt subjektivistisch suggerieren und dieselbe geradezu konterkarieren.496 In
Nishidas Ortlogik jedoch soll über die Identität von Subjekt und Objekt hinaus das
irrationale Moment des Willens – selbstbegründend und dennoch grundlos – Träger der
Wirklichkeit einer höheren Stufe sein. Dieses Ergebnis erinnert stark an Nishidas
Arbeiten der 10er und frühen 20er Jahre, weshalb ich summa summarum den Aufsatz
„Ort“ und auch die Ortlogik bis 1930 nicht als den wesentlichen Schritt zu einem neuen
Gedanken, zu einer neuen Ebene der Nishidaschen Philosophie sehe. Anspruch und
Ausführung ergeben hier ein sich geradezu ausschließendes Paradigma der NishidaPhilosophie: der Anspruch, das Subjekt jenseits der erkenntnistheoretischen Dichotomie
denken zu wollen, führt zu seiner Zersetzung. Diese Auflösung des Subjekts wird
jedoch nicht als Konsequenz einer bestimmten Methode präsentiert, sondern als
Tatsache einer stringent „zu Ende gedachten“ Wirklichkeit:
Gewöhnlich denken wir das Ich (ware 我) – so wie auch das Ding – als eine subjektive Einheit,
die verschiedene Qualitäten besitzt. Eigentlich ist das Ich aber keine subjektive Einheit, sondern
muß vielmehr eine prädikative Einheit sein; es ist kein Punkt, sondern ein Kreis, es ist kein
Ding, sondern ein Ort. Ich kann mich aus dem Grund nicht wissen, weil das Prädikat nicht zum
Subjekt werden kann.497
494
Adorno (1966), S. 177.
Siehe die programmatischen Sätze in der „Erste[n] Stellung des Gedankens zur Objektivität“, wiewohl
sie auch dem naiven Glauben verhaftet sind, dass „das Denken geradezu an die Gegenstände [geht], [...]
den Inhalt der Empfindungen und Anschauungen aus sich zu einem Inhalte des Gedankens [reproduziert]
und [...] in solchem als der Wahrheit befriedigt [ist].“ Enz. I, S. 93 Hier wie auch in der Phänomenologie
ist dieser naive Glaube ja unabdingbares Moment der Selbstvermittlung und als solche für den absoluten
Geist wesentlich.
496
So die prägnante Formulierung aus dem Anfang der Begriffslogik: „Diese Objektivität hat der
Gegenstand somit im Begriffe, und dieser ist die Einheit des Selbstbewußtseins, in die er aufgenommen
worden; seine Objektivität oder der Begriff ist daher selbst nichts anderes als die Natur des
Selbstbewußtseins, hat keine anderen Momente oder Bestimmungen als das Ich selbst.“ WL II, S. 255
Man muß selbstverständlich auch hier differenzieren: in den Drei Studien zu Hegel (1963) noch scheint
Adorno Hegels Unternehmen in dieser Hinsicht wie kaum jemand anders in seiner Dichte und Tragweite
zu begreifen, auch über seine (Adornos) eigenen Einsichten hinweg. In der späteren Negativen Dialektik
(1966) hingegen tritt das Moment des Nicht-Identischen, das er in den „Drei Studien“ noch als wesentlich
Hegelsches Moment begreift, hinter den Vorwurf, das Dialektische sei am Ende undialektisch und
monistisch-subjektivistisch, zurück.
497
NKZ III, S. 469, Elberfeld (1999a), S. 131.
495
132
Dabei geht Nishida nicht so weit wie sein Kommentator Masao Abe, der en passant die
Notwendigkeit, das Subjekt überwinden zu müssen, als geradezu selbstverständliche
Forderung jeglicher Theorie mit dem Anspruch auf Wahrheit formuliert: „Now, in
giving a ’logical’ basis to True Reality conceived intuitively in the dephts of Subjective
Existence, any hint of subjectivism must be overcome.“498 Aber der Sache nach geht es
auch bei Nishida um den Bereich „oberhalb“ bzw. „unterhalb“ der Subjektivität, man
mag diesen das „absolute Nichts“, den „Willen“ oder die „Prädikatsebene des
Bewusstseins“ nennen. Das Subjekt als das „Ich denke, das alle meine Vorstellungen
muss begleiten können“ verschwindet und wird durch das „rein“ Prädikative ersetzt:
Geht das Subjekt verloren (shugo wo ushinaeba 主語を失へば), kann kein Urteil mehr
entstehen, denn alles wird rein prädikativ, so daß die Substanz im Sinne der subjekthaften
Einheit verschwindet und alles zu etwas Substanzlosem wird.499
Was stattfindet, ist nur noch ein „Sehen“500. Sprachlich und logisch ist der Ausdruck
einer solchen „letzten Instanz“, das sich schließlich als nicht verobjektivierbares Nichts
herausstellt, jedoch unmöglich. In seinem Anspruch greift Nishida aber auf logische
Formen des Wirklichkeitszugangs zurück, ist das Subsumtionsurteil als Modell des
Ortes ja ein primär logisches. Doch mit Tosaka Jun muss man die Frage stellen: Ist
Nishidas Logik eine Logik?501
Zunächst ist grundsätzlich zu konstatieren, dass der Stellenwert der (Urteils-)Logik in
Nishidas System dem Bereich des allein irrational fassbaren absoluten Nichts/dem
Willen/der Prädikatsebene untergeordnet ist. Das läuft auf manchen performativen
Widerspruch hinaus, wie bereits gezeigt. Um diesem zu entgehen, muss aber die
Logizität des gesamten Systems behauptet werden. Aus dieser Behauptung, die Wargo
aufstellt, dürfte sich noch eine weitere Konsequenz ziehen lassen. Um diese darzustellen,
498
Der Fairness halber muss gesagt werden, dass Abe das mit großem „S“ geschriebenen Subjekt als das
„shutai“- Subjekt, nicht als „shukan“-Subjekt denkt, also ein Subjekt, das den „existentiellen
Standpunkt“ des ethischen und religiösen Menschen meint, kein epistemologisches Subjekt. Dass dabei
eine unfreiwillige Komik sich des ernsthaften Pathos dieses sich als „religiös“ verstehenden Autoren
bemächtigt, sollte nicht unerwähnt bleiben. Denn das Beispiel, das Abe wählt, um Nishidas Prädikatsorientierte Logik anschaulich zu machen, scheint ein wenig tief gegriffen: von der Klasse des
„Säugetiers“ wird über die Klasse „Hund“ und ihre Art und Unterart „Golden Retriever“ schließlich
„Ralph“, der Golden Retriever, der neben mir sitzt, gesucht. Nishidas Prädikatenlogik zufolge, die ja
schließlich im Gegensatz zu Aristoteles Substanz-Logik ein echtes Individuum in seiner Unmittelbarkeit
aussagt, schließt Abe dann: „Ralph must be designated as the self-determination of that which is no-thing
whatsoever, i.e., of Absolute Nothingness. […] The individual dog named Ralph now before us finds his
place in Absolute Nothingness, not in Being in any sense.“ Abe (1988), S. 368. Dass ich den Goldenen
Retriever mit dem Namen „Ralph“ als Selbstbestimmunng des absoluten Nichts zu denken habe, finde ich
eine amüsante, philosophischer Reflexion allerdings entfremdete Vorstellung. Oft wird die Praktikabilität
von philosophischen Theorien durch Beispiele eben nicht erhellt, sondern ad absurdum geführt.
499
NKZ III, S. 471, Elberfeld (1999a), S. 133.
500
In mehreren Passagen bedient sich Nishida der Metapher des Sehens, der den „Ort des wahren
Nichts“ meine: „Wenn wir im Äußersten den Gegensatz von Subjekt und Prädikat übersteigen und den
Ort des wahren Nichts erreichen, so handelt es sich dabei um die Anschauung, die sich selber sieht (jiko
jishin wo miru chokkan 自己自身を見る直観).“ NKZ III, S. 473, Elberfeld (1999a), S. 135. Oder: „Daß
aber die Prädikatsebene sich selbst in der Subjektebene sieht, bedeutet, daß sie selbst zum Ort des Nichts
wird.“ NKZ III, S. 476, Elberfeld (1999a), S. 139.
501
Tosaka Jun, „Ist die Logik des Nichts eine Logik? – Über die Methode der Nishida-Philosophie“ (‚Mu
no ronri’ ha ronri de aru ka. Nishida tetsugaku no hôhô ni tsuite「無の論理」は論理であるか。西田
哲学方法について), in Tosaka (1966), S. 340-348.
133
möchte ich eine Überlegung machen, die von der Universalität der Logik ausgeht (und
somit nicht in Nishidas Sinn ist).
Wargo behauptet die Logizität des Nishidaschen Unternehmen. Für den Beweis
behauptet er, die Prädikatsebene könne in Urteilsform gebracht und definiert werden. So
versucht er die Prädikatsebene (oder des „absolute Nichts“ etc.) als ein prädikatives
Urteil zu formulieren: es sei die „noematischen Ebene des Selbstbewusstseins des
absoluten Nichts“ („noematic plane of self-consciousness of absolute nothingness“) als
reale Subjekt-Objekt-Einheit.502 Doch ist dies höchstens eine Beschreibung503 für die
Ungeschiedenheit von Subjekt und Objekt, wie man sie sich vorzustellen habe: die
Einheit selbst hingegen ist sie nicht. Anders ausgedrückt: es mag sein, dass durch diesen
beschreibenden Satz die Subjekt-Objekt-Einheit gemeint ist, dass es sich um eine
Deskription über dieselbe handelt. Jedoch ist die Aussage nicht selbst das, was sie sagt.
Genau diese Bedingung muss sie allerdings erfüllen, wenn sie selbst die hypostasierte
Einheit von Subjekt und Objekt sein soll. Erst die Erfüllung dieser einen Bedingung der
Identität von Aussage und Ausgesagtem lässt redlich die Bestimmung „Einheit von
Subjekt und Objekt“ zu. Wird diese schlichte logische Tatsache nicht mitreflektiert,
gerade bei Aussagen über das Absolute oder das absolute Nichts als „Subjekt-ObjektEinheit“, als „Ort“, in der das Subjekt in der Prädikatsebene versinkt, kann die ganze
Behauptung semantisch nicht nachvollzogen werden, sie wird selbstwidersprüchlich
und daher sinnlos. Das Problem, oder wenn man so will, die Lösung liegt in der Sprache
selbst: Jeder Satz ist ein Satz über etwas (z.B. ist jener Satz ein Satz darüber, dass Sätze
immer über etwas sind). Das Implizite im Satz ist der erkenntnistheoretische oder (je
nach Standpunkt) ontologische Unterschied von Subjekt und Objekt. Will ich also die
Subjekt-Objekt-Einheit behaupten, muss ich einen Satz – genauer: ein Urteil – finden,
das nicht ein Satz über etwas ist, ein Urteil, das nichts aussagt, denn schließlich würde
eine Aussage über die Subjekt-Objekt-Einheit wieder den Dualismus voraussetzen.
Aber ein Satz, in dem nichts thematisch wird, ist widersinnig. Genau das will Hegel am
Anfang der Logik zeigen. Die logische und somit auch die reale Unmöglichkeit der
Subjekt-Objekt-Einheit muss in der Struktur von Sprache selbst gesehen werden.
Spätestens hier dürfte klar geworden sein, dass das Ich, das ich selbst bin und das die
Grundlage für die Möglichkeit von Urteilen ist, nicht in eine Substanz der
„Leere“ aufzulösen ist.
Doch wozu das Ganze? Nishida selbst hält sich mit Selbstauskünften über sein Motiv
wie so oft bedeckt. Es muss angenommen werden, dass er die Notwendigkeit nicht sah,
mehr als das zu behaupten, was er als wahre Struktur der Realität versteht. Eine
realphilosophische Komponente, etwa eine Ethik oder Staatsphilosophie, wie sie
einerseits Kant, andererseits Hegel aus den Grundlagen ihrer theoretischen Ideen
entwickelt haben, hat Nishida nicht im Sinn. Und hier ist ein sehr wichtiger Punkt in der
Entwicklung Nishidas zu sehen, die in der Forschung meines Wissens nach so noch
nicht betont worden ist, und auf die ich kurz das Augenmerk richten möchte, wenn
dieser Punkt auch erst in den meinen späteren Ausführungen thematisch wird. Nishida
meinte, eine subjekt-orientierte Philosophie zu begründen. Er meinte, gerade in der
Kritik an der erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Dichotomie entzünde sich das
502
Wargo (2005), S. 172. Wargo behauptet, dies sei ein Satz Nishidas, belegt die Stelle jedoch nicht. Ich
halte diese Aussage jedoch auch für im Sinne Nishidas.
503
Ich halte mich hier an Wittgenstein, für den im Tractatus Sachverhalte und Sachlagen nicht benannt,
sondern nur beschrieben werden können. Wittgenstein (1984), S. 19. Siehe auch „Der Satz ist die
Beschreibung eines Sachverhalts.“ Ebd., S. 28.
134
wahre Subjekt, der Homo interior, der sich als rein-unmittelbares Jikaku ausdrücke. In
den letzten Sätzen von „Ort“ wird diese Überzeugung deutlich:
Wenn sich die Prädikatsebene unendlich vergrößert, wird zugleich der Ort als solcher zum
wahren Nichts, und was sich darin befindet, schaut sich selber einfach an (jiko jishin wo
chokkan suru 自己自身を直観する). Wenn das allgemeine Prädikat diese Grenze erreicht,
bedeutet dies zugleich, daß auch das besondere Subjekt diese Grenze erreicht. Auf diese Weise
wird das Subjekt zum Subjekt selbst.504
Doch die Tatsache, dass der Dualismus von Subjekt und Objekt nicht nur eine
erkenntnistheoretische, sondern eben auch eine logische Konstante ist, die sich nicht
verrücken lasse, will Nishida nicht gelten lassen. Er opfert diese Einsicht der sich sein
Leben lang erhaltenden Grundüberzeugung der Identität von Subjekt und Objekt als
„wahre“ Realität, in der das Subjekt-Objekt zum Nichts wird. Konsequenterweise
bekennt Nishida sich daher zum Irrationalen: „Je mehr das Prädikative das Subjekt
übersteigt, vertieft und erweitert, um so freier wird der Wille.“505 Die „Opferung des
Subjekts“ ist bei Nishida die Konsequenz der Unmöglichkeit, ein logisch begründetes
Subjekt zu konstituieren, das den Subjekt-Objekt-Dualismus überwinde.
Wargos Interpretation, die Nishida stärker dem buddhistischen Kontext zuordnet als
diesem wahrscheinlich lieb wäre, sieht die Auflösung des selbst geradezu als
„Selbstzweck“. Im höchsten „Basho“ des absoluten Nichts sei die Unterscheidung von
Noesis und Noema absurd: auf dieser Ebene gebe es keinen noetischen Aspekt, auf den
man sinnvoll hinweisen könne. In diesem Kontext spreche Nishida vom „unendlichen
Fließen des Lebens“. Das müsse als Zweck der Selbstauflösung gesehen werden.
Genauer:
Reference to a noetic direction is required for formal analysis of self-consciousness, but here we
have arrived at the end of the analysis. The visible, distinguishable self has completely
disappeared and all that is left is the expressive universal in the wide sense, a universal that
contains and grounds all knowledge. The Zen masters speak of this disappearance of the self as
a stage at which things are just as they are.506
Die Nichtgebundenheit an die Dinge der täglichen Welt, die Erreichung des Zustands, in
dem Dinge einfach sind, was sie sind, sind selbstverständlich religiöse Motive. Doch
hier zeigt sich, wovon ich oben ausgegangen war: „Ort“ muss als Fortführung des
großen vulgäridealistischen Nishidaschen Projekts, nicht als Wende, und schon gar
nicht als „kopernikanische Wende“ in der Nishidaschen Entwicklung gesehen werden.
Auch Komatsu, führt alle zentralen Begriffe, die verschiedene Stufen in Nishidas
Denken repräsentieren sollen, auf den einen ursprünglichen Begriff der Reinen
Erfahrung zurück:
Die Ideen „Ort“, „Nichts“ und „absolut widersprüchliche Selbstidentität“ usw. sind nichts
weiter als Verlängerungen (enchô 延長) der „reinen Erfahrung“.507
504
NKZ III, S. 477, Elberfeld (1999a), S. 139.
NKZ III, S. 471, Elberfeld (1999a), S. 133.
506
Wargo (2005), S. 178.
507
Komatsu (1948), S. 105.
505
135
Lässt sich Nishidas Anspruch in der Ortlogik als Darstellung des intrinsischen
Verhältnisses von Logik und Ontologie formulieren, muss gesagt werden, dass auch
dieser an den Konsequenzen seiner Ausführung scheitert. Um abschließend dieses
„intrinsische Verhältnis“ ins rechte Licht zu rücken, möchte ich das Programm der
Hegelschen Logik vorstellen, die meines Erachtens deutlichste Darstellung dieses
Verhältnisses als „Identität“. Die „Unverletzlichkeit“ des denkenden Subjekts, von der
am Anfang des Unterkapitels 2 die Rede war, dürfte hier programmatisch zur Geltung
kommen, auch wenn man (wie die Verfasserin dieser Arbeit) die sich bei Hegel
notwendig ergebenden absolut-idealistischen Konsequenzen nicht mitzutragen gewillt
ist.
2.2.3. Zum Kontrast – Das Programm der Hegelschen Logik
In den Abschnitten II. 2.2.1. und II. 2.2.2. konnte widerlegt werden, dass Nishidas
Theorie, wie von Wargo behauptet, selbstbegründend ist. Das begründungstheoretische
Defizit tritt in aller Klarheit durch den Versuch zutage, die Urteils- und Begriffslogik
auf eine von mehreren niederen „Bewusstseinsebenen“ („Basho“) zu reduzieren, als
spiele die Geltung von Begriff und Urteil in der Explikation der Theorie von „höheren
Bewusstseinsebenen“, als die sich Nishida den Willen und die Prädikatsebene des
wahren Nichts vorstellt, keine Rolle mehr. Diese wie mir scheint unbewusste
Durchführung des Widerspruchs habe ich oben aufgezeigt. Begriffliche und
argumentative Logik wird zwar in Abrede gestellt, aber gebraucht. Die „Ortlogik“ ist
somit nicht selbstbegründend, sondern selbstwidersprüchlich.
Die Notwendigkeit der Selbstbegründung einer Theorie ist philosophiehistorisch in der
Tat wenig gesehen worden. Dieter Wandschneider zeigt in seiner Studie zur
Kategorienentwicklung in der Hegelschen Dialektik, dass ganz unterschiedliche
Ansätze in der Philosophie, z.B. der klassische Empirismus, der Materialismus, welcher
nur
„materielle
Gegebenheiten“
anerkennt,
sowie
die
meisten
transzendentalphilosophischen Auffassungen wie z.B. der Neukantianismus, ihren
eigenen methodischen Ansatz nicht begründen, sondern nur voraussetzen können.508 So
könne der Empirismus seinen Ansatz nicht empirisch, der (Vulgär-)Materialismus
seinen Ansatz nicht wiederum materialistisch, die Transzendentalphilosophie des
Neukantianismus
ihren
Ansatz
nicht
im
Rahmen
„transzendentaler
Bedingungen“ begründen. Wargo hatte in seinen Bemerkungen zum Kantischen
kritischen Philosophie bereits Ähnliches behauptet. Ihm zufolge liege der Mangel der
Kantschen Kategorien in ihrer Unbegründbarkeit. Dagegen habe ich eingewendet, dass
jeder Versuch, die Verstandesbegriffe zu begründen, wieder auf nichts anderes als auf
die Kategorien zurückgreife. Dass das kein sich voraussetzendes Prinzip ist, zeigt sich
darin, dass die Kategorien nicht von unbegründeten Voraussetzungen ausgehen. Die
Vorstellung vorbegrifflicher Begründung ist dagegen absurd, weil man sie nicht einmal
formulieren könnte. Allgemein gesprochen sind Urteile oder zumindest Sätze nicht
durch etwas anderes als Urteile bzw. Sätze „hintergehbar“, d.h. bestreit- oder
begründbar. Behauptet jemand „Das Wetter ist schön“, draußen regnet es aber, oder
„2+2=1“, trägt man seinen Einwand oder seine Zustimmung sinnvoller Weise durch die
Form eines Satzes vor („Nein, es regnet“ oder „Stimmt, nämlich genau dann, wenn
508
Wandschneider (1995), S. 15 ff.
136
4+4=2.“) Kants Kategorien sind genauer, denn sie zeigen, welche Form ein jedes
möglich denkbare Urteil annimmt, ob es sich um ein qualitatives, quantitatives,
relationales oder modales Urteil handelt. Dieses in Frage zu stellen würde den Gebrauch
einer dieser Urteilsformen notwendig machen.
Ist die Logik aber tatsächlich so fundamental nicht nur für das Philosophieren, sondern
die Wissenschaft überhaupt? Ist sie möglicherweise das einzige selbstbegründende und
somit auch nicht hintergehbare Prinzip? Dass dem zugestimmt werden muss, erhellt
schon aus der Tatsache, dass Theorien, Theoreme, Systeme oder Denkansätze nicht
anders als sprachlich formuliert werden können und somit schon den Regeln der Logik
gehorchen. Auch Meeresbiologinnen und Atomphysiker machen von der Logik
Gebrauch, wenn sie sinnvolle Sätze oder Urteile über von ihnen Beobachtetes bilden.
Desweiteren lässt sich Logik auch nicht umgehen: wer den Geltungsbereich der Logik
in Frage stellt, begeht einen performativen Widerspruch, wie in der Diskussion des
Nishidatextes schon mehrfach hervorgehoben. Das bedeutet aber auch, das jemand, der
Logik betreibt oder Logik zumindest als Grundlage seines Systems versteht, wie Hegel
es tut, von der Voraussetzungslosigkeit der Logik ausgeht. Das Problem des „Anfangs
der Wissenschaft“, das Hegel am Anfang seiner WL diskutiert509, will zeigen, dass die
meisten Ansätze für ein „erstes Prinzip“, von dem auszugehen auch gerechtfertigt
werden könne, stets etwas anderes als sich selbst voraussetzen. Thales’ Wasser, Zenons
„Das Eine“, aber auch Fichtes „Ich“ ließen sich alle auf etwas anderes als dieses selbst
zurückführen. Anstatt dass sie die unmittelbarsten Denkprinzipien seien, sind sie
mittelbar, nämlich als Produkte des Denkens zu identifizieren. Nur Logik könne sich
selbst voraussetzen, und während sie das tut, setze sie auch nichts anderes voraus: „Die
Logik setzt Logik und nur Logik voraus, und das heißt, sie hat keine anderen
Voraussetzungen als sich selbst. Sie kann nicht von außerlogischen Voraussetzungen
abhängen, und eben deshalb ist der Begriff der Voraussetzungslosigkeit hier tatsächlich
legitim [...]“510 Dass sie deshalb nicht zirkelhaft sei, also keine petitio principii darstelle,
werde schon dadurch klar, dass sie nicht von unbegründeten Voraussetzungen ausgehe,
denn es lasse sich stets logisch begründen, dass Logik den „Anfang der
Wissenschaft“ machen muss. Man könne also sagen, dass Hegel in seiner WL nichts
anderes als das Prinzip des Denkens gelten lässt, was natürlich einfacher klingt als es
dann in der Realisierung ist. Der dialektische Denkweg will ja gerade zeigen, dass die
Kategorien, also die Denkbestimmungen der Logik, nicht einfach nur logisch sind,
sondern als solche notwendig der Realität zukommen. Wenn also gezeigt werden kann,
dass Endlichkeit wirklich unendlich ist und Unendlichkeit tatsächlich Endlichkeit
voraussetzt, habe ich nicht nur etwas über den Begriff der Unendlichkeit behauptet,
sondern auch eine Aussage über die Realität gemacht, die Konsequenzen für dieselbe
hat. Nishidas Ortlogik dagegen erscheint auch deshalb so unbrauchbar für die
Bestimmung von Seinsstrukturen, weil sie ihre eigene Logizität nicht einfordert. Eine
Ontologie muss logisch zeigen können, dass sich „Sachverhalte“ so und nicht anders
darstellen. Die Verbannung „der“ Logik in eine von mehreren „Ebenen“ des
Bewusstseins macht Nishidas Projekt einer logisch begründeten Ontologie
unwissenschaftlich und unplausibel.
Wie Wandschneider betont, ist bei Hegel genau der Zusammenhang von Logik und
Ontologie auschlaggebend. Daher lässt sich auch von einer metaphysisch spekulativen
Logik sprechen: die durch die „reinen Denkgesetze“ entstandenen Bestimmungen sind
509
510
WL I, S. 65-79.
Wandschneider (1995), S. 17.
137
gleichsam Bestimmungen über die Realität. Logik von „Realität“ abgrenzen zu wollen,
wie der Nishida-Rezipient Abe es ausdrücklich und Nishida der Sache nach tun, würde
zumindest eine Definition von Realität verlangen, die ihrem Begriff nach schon
unmöglich ist. Anders gesagt: man begeht wiederum einen performativen Widerspruch,
denn jeder Versuch, die Realität als nichtlogisch oder der Logik
„unzugänglich“ charakterisieren zu wollen, setzt Logik voraus. Wenn aber die objektive
Logik, die nach Hegel „an die Stelle der vormaligen Metaphysik“ und weiter an die
Stelle die Ontologie tritt511, der einzige „Zugang“ zur Realität ist: dann ist das Denken
primär. In etwa ist hier in stark rudimentärer Form das Programm des Hegelschen
Idealismus ausgesprochen. Selbstverständlich ist die Trennung von Subjekt und Objekt
auch bei Hegel ein wiederholt kritisiertes Moment, wie oben bereits erwähnt. Doch der
fundamentale Unterschied zu Nishida muss darin gesehen werden, dass Hegel die
Trennung von Subjekt und Objekt als logisch inakzeptabel begreift. Der „objektive
Begriff“ – Anlass für viele Interpreten, Hegels System einen „objektiven“ Idealismus zu
nennen – sei als Teil der Realität, der Dinge oder Welt, wie sie sich uns präsentiert,
eben auch für das Denken.
[W]enn wir von den Dingen sprechen wollen, so nennen wir die Natur oder das Wesen
derselben ihren Begriff, und dieser ist nur für das Denken [...]. Insofern also das subjektive
Denken unser eigenstes, innerlichstes Tun ist und der objektive Begriff der Dinge die Sache
selbst ausmacht, so können wir aus jenem Tun nicht heraus sein […], und ebensowenig können
wir über die Natur der Dinge hinaus.512
Die Dualität von Subjekt und Objekt fällt in der (subjektiven) Idealität beider
zusammen, 513 da einerseits zwar „die Sache damit als Regel für unsere Begriffe
aufgestellt“ werde, aber „eben die Sache für uns nichts anderes als unsere Begriffe von
ihr sein kann.“ 514 Hier konstatiert Hegel zwei Momente seines idealistischen
Programms, die grundlegend für ein Verständnis seines als „absolut“ zu bezeichnenden
Denksystems sind. Das subjektiv-idealistische und das realistische Moment heben sich
in diesem auf.
Nishidas durch religiöse Metaphorik angereicherter Intuitionismus, wie er für die Phase
um „Ort“ konzediert werden muss, nimmt zwar logische Grundoperationen wie das
Subsumtionsurteil als Modell zur Erklärung von Sachverhalten an, sieht aber nicht, dass
die zu beschreibenden Sachverhalte notwendigerweise selbst (einen Teil der) Realität
präsentieren. Zwischen Denken und Realität besteht bei Nishida eine systematische
Kluft. Daher spreche ich bei Nishida von einer intuitionistischen Logik, nicht etwa von
einer Logik des Intuitionismus: er nimmt im Grunde von Urteilen Anschauungen bzw.
Intuitionen an, die die Logik erst begründen, ohne zu sehen, dass Logik keine anderen
Voraussetzungen hat als sich selbst. Somit ist Nishidas Ansatz schon methodisch
511
WL I, S. 61. Nicht unwichtig ist hier, wie Hegel die Logik im Gegensatz zur Metaphysik bestimmt.
Die objektive Logik (die Logik des Seins und des Wesens, EL) enthalte Hegel zufolge die bisherige
Metaphysik zwar insofern in sich, „als diese mit den reinen Denkformen die besonderen, zunächst aus der
Vorstellung genommenen Substrate, die Seele, die Welt, Gott, zu fassen suchte und die Bestimmungen
des Denkens das Wesentliche der Betrachtungsweise ausmachten.“ Ebd. Entscheidend sei jedoch
folgendes: „Aber die Logik betrachtet diese Formen frei von jenen Substraten, den Subjekten der
Vorstellung, und ihre Natur und ihren Wert an und für sich selbst. [Hervorh. EL].“ Ebd.
512
WL I, S. 25.
513
Siehe der wichtige programmatische Zusatz 1 zu Enz. I, § 24. Enz., S. 81.
514
WL I, S. 25.
138
widersprüchlich. Eine Logik des Intuitionismus hingegen würde anhand logischer
Überlegungen möglicherweise zeigen können, dass der Intuitionismus selbst stark
alogische Züge hat und sich als wenig brauchbar für eine philosophische Hypothese
erweist, die Geltungsanspruch hat. Dieser Ansatz wäre methodologisch nicht
widersprüchlich, denn das Fundament, auf dem der Widerspruch entwickelt wird, ist ein
logisches.
Ich konnte oben durch die Widerlegung des logischen Nichts-Begriffs durch das
Scheitern der Anwendung eines unendlichen Urteils („Das Nichts ist nicht Nicht-Sein“)
zeigen, dass ein ausdrücklich nicht seinsnegierendes Nichts undenkbar ist. Damit sollte
die logische Herleitung eines absoluten Nichts, wie Nishida es versteht, versucht
werden. Das Scheitern dieses Versuchs führte auf ein nicht-aussagenlogisches Nichts,
wie Hegel es etwa als Anakoluth am Anfang der Logik ausdrückt. Doch selbst hier ist
die Beziehung des Nichts zum Sein inhärent: sie sind nicht nur absolut verschieden,
sondern dasselbe. In Abschnitt II. 2.1.2. habe ich am locus classicus des Anfangs der
Hegelschen Seinslogik die intrinsische Verbundenheit dieser gänzlich „als unbestimmt
Bestimmten“ dargestellt. Um das Verhältnis von Sein und Nichts aber mit allen
Konsequenzen zu begreifen, reicht die Hypostase eines gänzlich Absoluten, das einem
als Nichts bestimmten Sein bzw. als Sein bestimmten Nichts äußerlich ist, nicht nur
nicht: es verfälscht die Erkenntnis, dass begriffliche Dialektik nicht einfach nur den
„Ausgleich harmonischer Gegensätze“ meint. Der Ausgleich und die „sich
sehende“ bzw. in sich ruhende Harmonie, die Nishida mit seinem Konzept des
absoluten Nichts behauptet, ist das philosophische Trugbild sich selbst versöhnender
Synthese. Hegels Ansatz wäre auch in diesem Punkt als Gegenentwurf zu Nishida zu
interpretieren. Die Synthese kann bei ihm im Gegenteil als die radikale Affirmation der
Differenz gelesen werden, was bei Nishida unmöglich ist. Sein und Nichts
„ergänzen“ und „vereinigen“ sich nicht, sie sind vielmehr und ganz anders sowohl die
schlechthin Unterschiedenen als auch schlechthin „dasselbe“. Ihr Verhältnis ist die
Bedeutung des Satzes von der „Identität von Identität und Differenz“, d.h. ihre
Differenz ist unaufhebbar, ist sie ja konstitutiv für die Identität. Aufhebung kann hier
nur bedeuten, die Differenz noch zu radikalisieren – sie bedeutet nicht die Überwindung
des Unterschieds in (prästabilierter) Harmonie, sondern das „Auseinandertreten des
Geistes“, etwas, das Nishida qua seines hyperidealistischen Ansatzes nicht zu denken
vermag. In einer erhellenden Passage zum Begriff der Synthese bei Hegel bemerkt
Žižek treffend:
In this precise sense the synthesis „sublates“ contradiction: not by establishing a new unity
encompassing both poles of a contradiction, but by retracting the very frame of identity and
affirming the difference as constitutive of identity. The idea that the concluding moment of a
dialectical process („synthesis“) consists of the advent of an Identity which encompasses the
difference, reducing it to tis passing moment, is thus totally misleading: it is only with
„synthesis“ that the difference is acknowledged as such.515
In diesem Sinne muss davon gesprochen werden, dass Nishida die konstitutive Leistung
der Differenz für das Identitätsprinzip seines absoluten Nichts verkennt. Sein Desiderat,
ein Ort harmonisch ausgeglichenen reinen „Sehens“, das er als Leitprinzip auch seines
515
Žižek (1993), S. 124.
139
späteren Denkens ausgibt, steht somit im schärfsten Gegensatz zu einem
Dialektikverständnis, das den Reichtum des Denkens erst im Auseinandertreten von
Selbst und Wirklichkeit entdeckt. Bei Hegel ist diese Interpretation im Gegensatz zu
Nishidas Identitätssystem möglich und sinnvoll. Es mag sein, dass Nishida seinen
Fehler erkennt516 und deshalb das Nichts nicht mehr thematisiert, wenn sein 1932
erschienenes Werk auch Die selbstbewusste Bestimmung des Nichts (Mu no jikakuteki
gentei 無の自覚的限定) betitelt ist – inhaltlich wird hier etwas ganz anderes
thematisch: die Wende zum Homo exterior, zur geschichtlichen Welt. Hier wird erst
von einer grundsätzlichen Wende des Standpunkts in Nishidas Denken die Rede sein.
Das Selbstbewusstsein wird zu einem Prinzip der Geschichte.
516
So schließt Nishida am Ende von Ort auch symptomatisch: „Ich muß eingestehen, dass ich das zu
Erörternde nach vielen Wiederholungen noch immer nicht genügend zum Ausdruck bringen
konnte.“ NKZ III, S. 477, Elberfeld (1999a), S. 139.
140
KAPITEL III
DIE IDENTITÄT DES SELBSTBEWUSSTSEINS (JIKAKU自覚).
VOM HOMO INTERIOR ZUM HOMO EXTERIOR (1929-1931)
[Philosophie] muss das Studium des Homo
interior sein, nicht des Homo exterior. 517
Nishida (1930)
Wenn das wahre Ich nicht, wie die
Biologen denken, in der Hirnrinde zu
finden ist, und auch nicht, wie die
Psychologen denken, im Bewusstsein, dann
ist es als körperliches Ich, das das eigene
Ich handelnd bestimmt, im weiteren Sinne
in der geschichtlichen Welt anzutreffen;
und das sogenannte bewusste Ich (ishiki ga
意 識 我 ) ist nichts weiter als etwas
Gedachtes.518 Nishida (1932)
Mit dem Aufsatz „Ort“ versucht Nishida vermittels der Konzeption eines Nichts jenseits
der Opposition von Subjekt und Objekt, eine Logik des Homo interior zu entwerfen.
Nishidas Auffassung des Nichts als transzendentale Prädikatsebene, die als das „letzte
Individuelle“ noch das Subjekt in sich fasse, führt zu methodischen wie sachlichen
Problemen, die eine sinnvolle Begründung der Ortlogik nicht zulässt.
Nishidas „Ort des absoluten Nichts“ als Metapher für das Bewusstsein in der extremen
Grenze seiner Selbstreflexion gehört eindeutig noch in die Sphäre des inneren
Menschen. Die Diskussion der Ortlogik erfolgte daher in direktem Anschluss an
Nishidas Studie Anschauung. Auch Nishidas Auseinandersetzung mit seinem Kritiker
Sôda Kiichirô 左右田喜一郎 (1881-1927) gehört noch in den thematischen Kontext
von „Ort“.519
Meine These in diesem Kapitel lautet, dass die „Überwindung des Subjekts“, die
Nishida durch ein theoretisch prekäres „Nichts-Subjekt“ vorbereitet, schließlich durch
die fundamentale Kritik Tanabe Hajimes 田辺元 (1885-1962) motiviert wurde und sich
in den Texten Nishidas um 1931 niederschlägt. Sie dürfte auch der Auslöser für
517
Aus „Der Bewusstseinsakt als Selbstbestimung des Ortes“ (Basho no jiko gentei to shite no ishiki sayô
場所の自己限定としての意識作用), NKZ V, S. 89.
518
Aus „Eigenliebe, Nächstenliebe und Dialektik“ (Jiai to taai oyobi benshôhô 自愛と他愛及び弁証法)
NKZ V, S. 210.
519
Sôda formuliert seine Kritik in der Tetsugaku Kenkyû 哲学研究 (Philosophische Studien) No. 127,
Oktober 1926, S. 1-30, unter dem Titel „Über die Methode der Nishida-Philosophie – Mit der Bitte um
Klärung an Dr. Nishida“ (Nishida tetsugaku ni tsuite – Nishida hakushi no oshie wo kou 西田哲学に就い
て – 西田博士の教えを乞う) aus streng neo-kantianischer Perspektive. Die Hauptkritik richtet sich
entsprechend auf den „Dogmatismus“ einer metaphysischen Konstruktion, die die Grenzen der Logik
hinter sich lasse. Siehe auch Yusa (2002), S. 205, die im Sinne Nishidas kommentiert: „Sôda’s questions
showed Nishida that his idea of basho could not be understood from a Rickertian perspective.“ Nishidas
Antwort auf Sôda, die dagegen um ein weiteres die „Einheit von Wissendem und Gewusstem“ und den
„Akt der Akte“ thematisiert, findet sich ursprünglich in der Tetsugaku Kenkyû No. 33, April 1927, jetzt in
NKZ III, S. 479-504. Folgendes Zitat dürfte deutlich machen, dass Nishida es im Wesentlichen bei einer
Wiederholung seiner bereits in „Ort“ formulierten Thesen belässt: „So wie Wissendes und Gewusstes eins
sind, ist das Selbstbewusstsein (jikaku 自覚) keine gegenständliche Erkenntnis. Die Selbstidentität (jiko
dôitsu 自己同一) erkennt sich als Identität nicht auf gegenständliche Weise [...] Wie ich in meinem
Aufsatz [Ort, EL] bereits dargelegt habe, besteht die Bedeutung der wahren Selbstidentität im Erreichen
des Selbstbewusstsein des Aktes, des ‚Aktes aller Akte’. “ NKZ III, S. 482.
141
Nishidas Abkehr vom „Geistigen“, dem intuitiv-künstlerisch-voluntaristischen Ich, die
Abkehr vom Selbstbewusstsein des „inneren, fließenden Lebens“ des Homo interior,
hin zum Selbstbewusstsein des produzierenden Homo exterior in der „geschichtlichen
Welt“ (rekishiteki sekai 歴史的世界) sein.
Um genau zu untersuchen, wie diese Veränderung im philosophischen Weg Nishidas
und sein letztlicher Abfall in den Kulturalismus ab Mitte der 30er Jahre möglich war,
muss meines Erachtens aber auch Nishidas Erkenntnistheorie um 1931 begrifflich
analysiert werden. Schließlich bedeutet „Überwindung“ des Subjekts nicht einfach,
Nishida habe es sich nun mit dem Objekt, hier: den Erscheinungen der konkreten
Realität und ihren historisch-politischen Bedingungen, „eingerichtet“. Vielmehr wird
das neu konzipierte Selbstbewusstsein als geschichtlich-körperliche Existenz nun mit
dem „minderwertigen“ Bewusstsein seiner Frühphase kontrastiert. Der Homo exterior
dient
Nishida
nunmehr
als
Kontrastfläche
gegenüber
dem
früheren
erkenntnistheoretisch oder phänomenologisch verstandenen Selbstbewusstsein.
Ergebnis dieser Operation ist eine abstrakte Geschichtsmetaphysik, in der eine
neuralgisch nach außen gerichtete epistemische Struktur als körperlich-geschichtlich
Produziertes die „Rückkehr zu Gott“ sehnt. Ein Subjektbegriff lässt sich hier nicht mehr
ausmachen, jedoch in einem dezidierten Sinne: nicht waren vor 1931 Nishidas Begriffe
am Subjekt ausgerichtet und nach 1931 an der Geschichte, sondern der Subjektbegriff
transformiert sich. War zunächst das selbstidentische Phänomen des Selbstbewusstseins
emphatisch nach innen gerichtet, wird es nun zum „ausdruckhaften“ (hyôgenteki 表現
的 ) Phänomen der Tat-Anschauung (kôiteki chokkan 行 為 的 直 観 ), die allem
emphatisch „Innerlichen“ abwertend gegenüber steht.
In den folgenden Abschnitten wird daher die terminologische Wende Nishidas zur
„geschichtlichen Welt“ virulent. Da er sie aus seinen bewusstseinsphilosophischen
Betrachtungen entwickelt, müssen zunächst seine reifen Überlegungen zur
Selbstbewusstseinsproblematik nachvollzogen werden. Dabei wird zunächst von der
„stillen“ Auseinandersetzung Nishidas mit der Phänomenologie zu sprechen sein, da
seine eigenwillige Husserl-Lesart kurzzeitig noch die Emphase seiner früheren
Theoreme zur Folge hat (III. 1.1. und III. 1.2.). Die Auseinandersetzung mit Marx und
die Kritik Tanabes am Homo interior wird hiernach als rezeptionsgeschichtliches
Segment relevant. Nishida verabschiedet sich nach der Auseinandersetzung mit Tanabe
von den philosophischen Zentralbegriffen des Homo interior (Reine Erfahrung, Nichts,
Ort, der Wille etc.) und bemüht eine neue geschichtsmetaphysische Rhetorik. Die neue
Terminologie soll durch die Umstände der nicht unproblematischen Marx-Rezeption
Nishidas sowie Tanabes Kritik nachvollziehbar gemacht werden (III. 2.).
Nicht unbeantwortet bleiben soll dabei die Frage der Motivation für Nishidas Wende
zum Geschichtlichen, die bereits von Woo-Sung Huh gestellt wurde (Huh 1989, 1990).
Ich versuche, diese Frage vor allem im Hinblick auf den Ideologisierungsprozess
Nishidas zu beantworten, der sich primär in der Sublimierung seiner Philosophie des
Selbstbewusstseins in die „geschichtliche Welt“ ausdrückt. Die „Geburt des Homo
Exterior“ drückt sich primär durch diesen Sublimierungsprozess aus (III. 3.1.).
Nishidas Abkehr von der Rhetorik des „inneren Lebens“ lässt sich programmatisch im
1931 erschienenen Text Geschichte zeigen (III. 3.2.). Hier werden die zentralen
Begriffe der „Idee“ und der „Zeitlichkeit“ (III. 3.2.1.) und ihre neue systematische
Bedeutung für Nishidas Wende zum Homo exterior erläutert, wobei ihre Verankerung
in der Selbstbewusstseinsproblematik deutlich wird. Mit der Übertragung der Formen
des Selbstbewusstseins auf geschichtsphilosophische Kategorien ist indes der
142
Ideologisierungsprozess bei Nishida vollzogen. Den Abschnitt über den Begriff des
„Verstehens“ (III. 3.2.2.) bei Nishida möchte ich meinerseits für einige Überlegungen
nutzen,
wie man Nishida seinerseits verstehen kann. Gerade die Umwertung seiner
Terminologie um 1931 fordert hermeneutische Techniken heraus, die es sich zu
reflektieren lohnt.
„Geschichte“ wird ab 1931 zum zentralen theoretischen Begriff stilisiert. Dabei
unterlässt Nishida eine geschichtsphilosophische Reflexion oder eine Bestimmung des
Geschichtsbegriffs. Man erfährt wohl, dass Geschichte, aber nicht wie. In einem
repräsentativen Text von 1937, „Logik und Leben“ (Ronri to seimei 論理と生命), der
Nishidas Wende eindrucksvoll belegt, heißt es an einer Stelle:
Unsere Tat entspringt nicht aus dem Fundament des Bewusstseins, sondern lebt als
Formierungsakt der geschichtlichen Welt. Unser körperliches Selbst ist als produzierendes
Element der geschichtlichen Welt denkend (shi´iteki 思惟的). Man denkt zwar den Verlust der
Betrachtung des körperlichen Selbst als das denkende Selbst, aber unser körperliches Selbst ist
aus der Welt geschichtlicher Wirklichkeit heraus geboren.520
Diese wie andere Äußerungen Nishidas zur „geschichtlichen Wirklichkeit“ in dieser
Zeit dürfen aber den Blick dafür nicht trüben, dass er der Sache nach auch hier noch an
seiner Identitätsphilosophie des Selbstbewusstseins festhält. Davon wird in diesem wie
auch in Kapitel V, der Analyse seiner Kulturschriften, wieder zu sprechen sein.
Die äußerliche Transformation der Bestimmung des Selbstbewusstseinsbegriffs scheint
auf den ersten Blick jedoch beträchtlich. So heißt es in einem der letzten Texte Nishidas
von 1945: „[…] unser Körper ist ein kreativer Akt der kreativen Welt, die unser Selbst
selbstausdruckshaft (jiko hyôgen teki 自 己 表 現 的 ) formt. Unser Körper ist das
körperliche Organ (kikan 器官) des geschichtlichen Lebens.“521 Hier wird der Homo
exterior deutlich als körperliches Selbst identifiziert. Diese biologistische Ansicht und
die Überzeugung, dass Menschen primär als Lebewesen, nicht als denkende,
selbstbewusste Wesen determiniert sind, steht konträr zu allen Überzeugungen
Nishidas von ZnK bis zu seinem 1930 erschienenen Werk Das selbstbewusste System
des Allgemeinen (Ippansha no jikakuteki taikei 一般者の自覚的体系). Doch ist die
Wende nicht ohne Tanabes Einfluss denkbar. Dabei ist der marxistische Zirkel, der sich
Mitte bis Ende der 20er Jahre auch am literarischen Seminar (wie die Philosophische
Fakultät damals hieß) an der Kaiserlichen Universität Kyoto bildete und von Miki
Kiyoshi 三 木 清 (1897-1945) und Tosaka Jun angeführt wurde, zwar ein nicht
unwichtiger Faktor in der Bildung einiger für Nishida signifikanter Begriffe, wie z.B.
„vom Erzeugten zum Erzeugenden“ bzw. „vom Geschaffenen zum
Schaffenden“ (tsukurareta mono kara tsukuru mono e 作られたものから作るものへ)
und der „Produktion“ (seisan 生産), doch Nishida hat die marxististische Lehre zu
keinem Zeitpunkt in seine eigene Lehre integriert, was auch mit mangelnder Empathie
für die marxistische Agenda erklärt werden muss.522 Um die Tragweite von Tanabes
520
In NKZ VIII (1966), S. 330.
In NKZ XI (1966), S. 334.
522
Yusa erwähnt in ihrer Nishida-Biographie eine Episode, in der Nishida den marxistischen Philosophen
Kawakami Hajime 1926 in einer Diskussionsrunde mit Studenten angreift, indem er dem Marxismus
vorwirft, den „Ursprung der Sprache mit den Mitteln des dialektischen Materialismus“ nicht erklären zu
521
143
Fundamentalkritik an Nishidas Ortlogik und Erkenntnistheorie deutlich zu machen,
muss vorerst noch ein Blick auf Nishidas Erkenntnistheorie geworfen werden, wie er sie
in Das selbstbewußte System des Allgemeinen (hiernach: System) entwickelt. Es waren
eben die zwischen 1928 und 1930 publizierten Aufsätze aus System, die Tanabes Kritik
herausforderten. Ohne die darin entwickelte Terminologie, die in der
Auseinandersetzung mit der Phänomenologie entstand, kann Tanabes Kritik nur
ungenügend nachvollzogen werden.
1.
Die stille Auseinandersetzung mit der Phänomenologie
Der Einfluss der Freiburger Phänomenologie auf die japanische philosophische
Akademie seit den 20er Jahren war immens. Viele von Nishidas Schülern studierten in
dieser Zeit in Freiburg bei Husserl, Rickert und sogar bereits bei Heidegger. Es war
Tanabe, der in dem 1924 erschienenen Aufsatz – also noch 3 Jahre vor Sein und Zeit –
die Heideggersche „hermeneutische Phänomenologie“ als „Neue Wende in der
Phänomenologie“ (Genshôgaku ni okeru atarashiki tenkô 現象学に於ける新しき転
向)523 lobte und somit Heideggers Namen erstmalig einem japanischen Fachpublikum
vorstellte; der Anfang der begeisterten Aufnahme der Heideggerschen Philosophie in
Japan, die bekannter weise bis heute anhält. Dieses Interesse an der Phänomenologie
wurde von Nishida geteilt. 524 Wie sich in den Briefen an die meist in Freiburg
studierenden jüngeren Philosophen, etwa Mutai Risaku 務台理作(1890-1974) oder
Yamanouchi Tokuryû 山内得立 (1890-1982) zeigt, war Nishida, der Japan zeit seines
Lebens nicht verlassen hatte, begierig zu erfahren, was Husserl für ein Redner sei, ob er
in seinen Vorlesungen auch „schwierige Begriffe wie Noesis und Noema“525 verwende.
Diese „schwierigen Begriffe“ mochten indes Nishida so sehr zu faszinieren, dass er sie
ab 1928 zu seiner festen Terminologie machte.526 Auch fing Nishida in dieser Zeit an,
können. Nishida weise somit implizit auf das Fehlen der „geistigen, spirituellen“ Dimension des
marxistischen Denkens hin. Yusa (2002), S. 213. Diese wie auch spätere Bemerkungen Nishidas zum
Thema Marxismus verraten eher seine philosophische Gegnerschaft zum Marxismus, wie auch die
mangelnde Bereitschaft, sich theoretisch mit ihm auseinanderzusetzen, als eine profunde Kenntnis selbst
grundlegender Aussagen Marx’ und Engels’. In der Deutschen Ideologie (1845-46) heißt es: „Der ‚Geist’
hat von vornherein den Fluch an sich, mit der Materie ‚behaftet’ zu sein, die hier in der Form von
bewegten Luftschichten, Tönen, kurz der Sprache auftritt. Die Sprache ist so alt wie das Bewusstsein –
die Sprache i s t das praktische, auch für andere Menschen existierende, also auch für mich selbst erst
existierende wirkliche Bewusstsein, und die Sprache entsteht, wie das Bewusstsein, erst aus dem
Bedürfnis, der Notdurft des Verkehrs mit anderen Menschen. Wo ein Verhältnis existiert, da existiert es
für mich, das Tier „ v e r h ä l t “ sich zu Nichts und überhaupt nicht. Für das Tier existiert sein Verhältnis
zu andern nicht als Verhältnis. Das Bewusstsein ist also von vorn herein schon ein gesellschaftliches
Produkt, und bleibt es, solange überhaupt Menschen existieren.“ Marx/Engels (1932), S. 20, 21.
Vergleicht man diesen Abschnitt mit den Ideen Nishidas aus der Entstehungszeit von Texten wie
„Geschichte“ (Rekishi 歴史) (1931) und „Goethes metaphysischer Hintergrund“ (Gête no haikei ゲーテ
の背景) (1931), in denen das menschliche Bewusstsein als gesellschaftliches Produkt begriffen wird,
sieht man, dass Nishida, der sich reflexartig gegen marxistische Ideen verwehrt, in Marx durchaus einen
Stichwortgeber hätte. Ich würde das Verhältnis Nishidas zu Marx als schlicht unreflektiert bezeichnen.
523
THZ IV, S. 17-34.
524
Obwohl Nishida Husserl bereits in Anschauung rezipiert, bleibt sein Interesse selektiv. Erst nach
„Ort“ kann davon gesprochen werden, dass Husserls Terminologie in kritischer Weise zu einem
Bestandteil von Nishidas Denken wird.
525
NKZ XVIII, Brief Nr. 302, S. 239.
526
Berücksichtigt man das erste Auftauchen des Begriffspaares Noema-Noesis bei Nishida, die zeitlich in
direktem Zusammenhang mit der „Ankunft der Phänomenologie in Japan“ steht – im wahrsten Sinne in
Form der nach Kyoto zurückkehrenden japanischen Studenten Husserls –, kann kaum bezweifelt werden,
144
sich gründlicher mit der Theorie der Intentionalität des Bewusstseins
auseinanderzusetzen, die er aufgrund seiner eigenen bewusstseinsimmanenten
Selbstbewusstseins-Konzeption kritisch rezipierte. So fließen auch die Begriffe
„Abbildungsbewusstsein“ (hyôshô ishiki 表象意識) und „Wesensschau“ (honshitsu
chokkan 本質直観), sowie „Erlebnis“ (taiken 体験) und „reines Ich“ (junsui jiko 純粋
自己) in die Nishische Terminologie ein, werden aber, was die Häufigkeit ihrer
Verwendung sowie ihre theoretische Zentralität betrifft, von dem Begriffspaar Noema
(noema ノエマ) und Noesis (noejisu ノエジス/ noeshisu ノエシス) jedoch in den
Schatten gestellt.
Noema und Noesis werden Nishida ab den späten 20er Jahren zu den Grundbegriffen
für „Bewusstseinsgegenstand“ bzw. das dieses intentional erfassende Bewusstsein. Wie
genau Bewusstseinsgegenstand (Nishida selbst verwendet diesen Begriff nur selten und
dann in kritischer Absicht) sich jedoch vom Husserlschen Noema abhebt und wie
Nishida Noesis im Gegensatz zu Husserl bestimmt, kann bereits im Aufsatz „Die
intelligible Welt“ (Eichiteki Sekai 叡智的世界)527 vom Oktober 1928 gesehen werden,
dem Ort eines sehr frühen expliziten Gebrauchs der Begriffe in definitorischer Absicht.
Allerdings ist diese Auseinandersetzung primär mit Husserls Denken indirekt oder
„still“: Husserl selbst oder die „phänomenologische Schule“ werden als Stichwortgeber
namentlich nicht erwähnt, und auch
das Vermächtnis phänomenologischer Terminologie scheint Nishida keiner Nennung
würdig.
Nishida entwickelt aus seiner Ortlogik heraus das „letzte“ oder auch das konkrete
Allgemeine, das als intelligible Welt den Gegensatz von Stofflichem und Gedanklichem,
Sein und Nichts, Wert und Existenz transzendiere. Nishida nennt dieses Allgemeine
oder dieses „Basho“ die „intelligible Welt“. Hierin seien alle anderen Basho aufgehoben
bzw. konstituiert, das Urteils-Allgemeine (handanteki ippansha 判断的一般者) ebenso
wie das selbstbewusste Allgemeine (jikakuteki ippansha自覚的一般者). Doch welche
Rolle spielen Noesis und Noema darin? Zunächst lässt sich mit der Begrifflichkeit aus
„Ort“ folgende, wenn zunächst auch simplifizierende Zuschreibung formulieren: In
seinem noetischen Aspekt entspricht das Selbstbewusstsein (jikaku 自 覚 ) dem
erkenntnistheoretischen Subjekt, das Nishida entgegen dem aristotelisch
formallogischen Verständnis „grammatikalisches Prädikat“ oder „transzendentale
Prädikatsebene“ (chôetsuteki jutsugomen 超 越 的 述 語 面 ) nennt, in seinem
noematischen Aspekt entspricht es dem Objekt, d.h., dem „grammatikalischen
Subjekt“ oder auch der „Subjektebene“ (shugomen 主語面).528 Man sieht sofort, welche
problematische Annahme Nishidas Noesis- und Noema-Begriff unterliegt: sie seien nur
Aspekte eines und desselben (Selbst-)Bewusstseins. Die Aufgabe des intelligiblen
Selbst sei Nishida zufolge dabei, genau diesen Zusammenhang zu erkennen: dass kein
„Bewusstseinsinhalt“ existiere, der nicht gleichzeitig im Bewusstsein seinen
(Existenz-)Grund habe. Der Primat der Noesis vor dem Noema ist dadurch angezeigt.
Anders gesagt:
dass dieses von Husserl übernommen wurde, und Nishida nicht – wie Huh behauptet –aus der antiken
griechischen Philosophie übernimmt. Siehe Huh (1990), S. 369, Fußnote 4.
527
NKZ IV, S. 101-150.
528
Vgl. NKZ IV, S. 103.
145
Wir denken unseren Bewusstseinsakt als Realität, während er auch intentional ist, wir denken
ihn als noetisch als auch noematisch. Aber das, was dort intentional ist (shikô suru 志向する),
bleibt nicht einfach beim Bewusstseinsinhalt stehen, sondern ist der trans-bewusste Inhalt (chô
ishiki naiyô 超意識内容) […] Unser Bewusstseinsakt ist intentional auf das gerichtet, was
unser Bewusstsein transzendiert, ja, ohne Beziehung zum bewusst Gemachten, intendiert es in
sich selbst die ewige Wahrheit.529
Für Nishida ist also das Trans-bewusste, das Bewusstsein Transzendierende, selbst
wieder nur Bewusstsein, aber Selbstbewusstsein. Im strengen Sinne kann sich das
Bewusstsein nicht transzendieren. Es ist auf sich selbst gerichtet. Das Noema wird
transzendiert, und die Noesis ist das Transzendierende. Zwar behält Nishida sich vor,
den Akt die Noesis zu nennen und das, was der Akt intentional erfasst, das Noema, aber
solange der „über-“ oder „trans“-bewusste Inhalt – das Noema – gewusst werden kann,
muss sich dieser Inhalt in einer bestimmten, noch nicht näher erklärten Weise im
Bewusstsein selbst befinden. „Das“, so Itabashi, „ist nichts anderes als das ‚Erkennen’
des „Ort“-Aufsatzes.“530 Neu ist, dass Nishida das Selbstbewusstsein noch stärker als
vorher als „sehend“ begreift, als das, was sich in sich selbst sieht (jiko ga jiko ni oite
jiko wo miru 自己が自己において自己を見る). Später wird Nishida dieses als ein
Selbstbewusstsein bestimmen, das, indem es sich zu Nichts macht, sich selbst sehe (mu
ni shite miru mono 無にして見るもの).
Michiko Yusa interpretiert hier im Sinne der Prädikatenlogik, dass das sehende Selbst P
(das grammatikalische Prädikat) das gesehene Selbst S (das grammatikalische Subjekt)
umfasse: „In terms of their contents, P is a topos/field that contains all that can become
the ‚object’ of self-consciousness, whereas S is the topos/field of all that is: selfconsciousness in its prereflected state.“ 531 Die Pointe besteht im Selbstbewusstsein als
Nichts, das im „Ort“-Aufsatz bereits als das „wahre Selbstbewußtsein“ bezeichnet
wurde. In den „Zusammenfassenden Erklärungen“ (Sôsetsu 総 説 ) aus System –
eigentlich eine vollständige philosophische Abhandlung, die seine Grundthesen aus
System nicht nur zusammenfasst, sondern ausführlich erklärt532 – fasst Nishida das
Selbstbewusstsein des Nichts ausdrücklich als Noema: das gesehene Selbst sei „die
Selbstbestimmung des Selbst, das – sich nichtend – sieht (mu ni shite miru no jiko
gentei 無にして見る自己の自己限定), das heißt, die Noema-Ebene.“ 533 Doch als
Nichts bleibt das Noema nur als das Gesehene bestimmt, als „mich“ (jiko wo自己を)534.
Es sei die Selbstbestimmung des Urteils-Allgemeinen, worin das Individuum dasjenige
sei, was zum Subjekt, aber nicht zum Prädikat werden könne.535 Doch sei dies noch eine
ungenügende, eine „einseitige“, dem „intellektuellen Bewusstsein“ (chiteki ishiki 知的
意識) zuzuschreibende Selbstbestimmung des Allgemeinen. Das wahre Individuum, das
als konkretes Allgemeines verstanden werden müsse, sei auf der „noetischen Ebene“ zu
finden.
529
NKZ IV, S. 102.
Itabashi (2004), S. 164.
531
Yusa (2002), S. 229.
532
in NKZ IV, S. 333-382.
533
NKZ IV, S. 361.
534
Siehe die von Nishida selbst im deutschen Original verwendeten Übersetzungsbegriffe. NKZ IV, S.
307.
535
NKZ IV, S. 307: „Von diesem Standpunkt [des Urteilsallgemeinen] aus muss auch das Individuum als
dasjenige gedacht werden, was zum Subjekt, aber nicht zum Prädikat werden kann und was vom
Allgemeinen bestimmt werden muss.“
530
146
Hier bestimme
die Prädikatsebene das Subjektive (shugoteki naru mono 主語的なるもの), das es in seinem
Inneren umfasst. Wenn unser Selbst auf dem Grund der Noesis (noeshisu no soko ni ノエシス
の底に) transzendierend auf dem Standpunkt des transzendentalen Selbst steht, umfasst dessen
Selbstbewusstseinsebene (jikakumen 自覚面) das Individuum und das, muss man sagen, ist
seine Bestimmung.536
Nishidas transzendentale Prädikatsebene – das Basho, das das Individuum als solches
erst wahrhaft bestimme, indem es dasselbe „umfasse“ – sei die Noesis. Daher könne
auch das „Ich“ (jiko ga 自己が) die transzendentale Ebene des intelligiblen Ich nicht
erreichen, welche nur im Erreichen der Verschmelzung von „Ich“ und „In mir“ (jiko ni
oite 自己に於いて) möglich sei. Die noetische Ebene repräsentiere daher genau diese
Ebene der Einheit von „Ich“, „Mich“ und „in mir“, aber so, dass es als Sehendes nicht
mehr sehen könne, ein „Sehendes ohne Sehendes“ wäre. Und das ist wie bereits in
„Ort“ Nishidas Definition des Selbstbewusstseins, des Jikaku. Anders ausgedrückt: das
Noema sei die Bestimmung des Urteilsallgemeinen, und die sich selbst undurchsichtige,
das eigene Nichts sehende Noesis die Bestimmung des selbstbewussten Allgemeinen.537
Damit erhält es eine exklusive Stellung gegenüber dem Noema. Es ist die die Aspekte
„Ich“, „Mich“ und „In mir“ vereinigende Struktur, die alle Aspekte der Noema in sich
umfasse. Die Noesis stellt sich also nicht nur als Wahrnehmung oder als Denkakt dar,
sondern als Wahrnehmung-qua-Wahrgenommenes, als Denkakt-qua-Gedanke. Nishida
sagt selbst deutlich: „Als Grundstruktur des Selbstbewusstseins ist das Selbst, das im
Selbst sich selbst sieht, die Struktur des selbstbewussten Bewusstseins, welches als
‚Gravitationszentrum’ (jûshin 重心) auf der Ebene des Bewusstseins liegt.“538 Genau so
definiert er die Noesis, das Sehende ohne Sehendes. Daher ist es unverständlich, wie in
einer solchen Zuschreibung dennoch die Eigenständigkeit der Noema bewahrt werden
kann. Das behauptet aber Itabashi, wenn er sagt:
Die Eigenständigkeit der Noema-Erkenntnisgegenstände wird betont, indem der Existenzgrund
(sonzai konkyo 存在根拠) der Erkenntnisgegenstände im Innern des Bewusstseins nicht einfach
unter dem Aspekt der „Bewusstseinsimmanenz“ (ishikinaizairon 意識内在論) stattfindet; es ist
nicht der Standpunkt des „bewusst gemachten“ Bewusstseins, sondern der des „bewussten
Bewusstseins“, und dieses „bewusste Bewusstsein“ muss von der Bewusstseinsimmanz deutlich
unterschieden werden.539
Es ginge darum, den Standpunkt der Noesis aufzusuchen, auf dem die Noesis „von sich
selbst spricht“ (noeshisu jishin ni tsuite kataru noeshisu no tachiba ノエシス自身につ
いて語るノエシスの立場), in dem die Noesis sich über ihre Eigenstruktur, über die
Struktur ihrer Selbstbestimmung aufklärte. 540 Die „Vergegenständlichung“ des
Selbstbewusstseins solle dadurch vermieden, das cartesianische Cogito sowie die
ursprünglich-synthetische Apperzeption als „subjektivistische“ Erklärungsmodelle
erkannt werden, die der „wahren“ Struktur des Selbst keine Rechnung tragen. Erst die
536
NKZ IV, S. 287.
Siehe NKZ IV, S. 299-300.
538
NKZ IV, S. 359.
539
Itabashi (2004), S. 167.
540
Ebd.
537
147
Selbstbestimmung des absoluten Nichts bzw. das Sehende ohne Sehendes könne das
Irrationale am Grund des Seins rationalisieren, wie in „Die intelligible
Welt“ systematisch dargestellt werde, so Itabashi.541 Es bleibt zu fragen übrig, wie die
„Eigenständigkeit“ der Noema – sofern damit die reale Existenz derselben gemeint ist –
so bewahrt werden kann. Auch, wenn es, wie Husserl, Nishida nicht darum ginge, dass
dem Wahrnehmungsgegenstand „in der Realität“ etwas entspreche542, muss er zeigen,
wie das Noema durch die Noesis apperzipiert werden kann. Sonst ließe sich nur schwer
plausibel machen, wie Nishidas Theorie der Noesis dem Abfallen in den
Bewusstseinsmonismus oder der Bewusstseinsimmanenz entkommt. Vermutlich sorgt
auch die Undifferenziertheit der Betrachtungsweise für dieses grundsätzliche
systematische und methodische Problem Nishidas, das in der Tanabe-Kritik wieder
relevant wird. Bei Nishida ist in den Texten zwischen 1928 und 1930 trotz der
Auseinandersetzung mit Husserl ein durchgehend undifferenzierter Noema- und
Noesisbegriff vorherrschend.
Noesis und Noema sind indes nicht die einzigen neuen Bestimmungen, die Nishida ab
System verwendet. Als Weiterentwicklung des Noema kommt das AusdrucksAllgemeine (hyôgen teki ippansha 表現的一般者) bzw. das Ausdrucks-Ich (hyôgen teki
jiko 表 現 的 自 己 ) 543 ins Spiel, als Weiterentwicklung der noetischen Ebene das
Handlungs-( oder Tat)-Allgemeine (kôiteki ippansha 行 為 的 一 般 者 ) bzw. das
handelnde (oder tätige) Ich (kôiteki jiko 行為的自己). Nishidas recht komplizierte
Erkenntnistheorie in System sieht gleichfalls vor, die Ebene des handelnden Ich
wiederum in noematisch und noetisch zu unterscheiden:
Ursprünglich ist das handelnde Ich das Sehen des zum Nichts gewordenen eigenen Selbst. Aber
solange es sehen kann, ist es nicht das sich nichtend Sehende (mu ni shite miru to ha iwarenai
無にして見るとは云われない), d.h. nicht das wahre handelnde Ich und enthält einen
Widerspruch. In diesem kann man zwischen der Bestimmung des Handlungs-Allgemeinen, die
sich im engen Sinne 544
in der noetischen Bestimmung des handelnden Ich als
Gravitationszentrum (jûshin 重 心 ) befindet, und dem Ausdrucks-Allgemeinen, das das
Gravitationszentrum der noematischen Bestimmung ist, unterscheiden.545
Beide Ebenen sind noch nicht zur Ebene des Selbstbewusstseins verschmolzen. Erst
wenn das „Mich“ zum „Ich“ werde, habe das „Mich“ des Ausdrucks-Allgemeinen
noetische Bestimmung, mit anderen Worten werde erst dann das Urteilsallgemeine, das
sich stets noematisch ausrücke, zum selbstbewussten Allgemeinen, das sich noetisch
bestimme.546 Das Ausdrucks-Allgemeine sei also, wie Nishida in einer sehr seltenen,
541
Ebd.
So Husserl in den Ideen I (1913): „Hier haben wir an die Wahrnehmung und auch an einen beliebig
fortgehenden Wahrnehmungszusammenhang […] keine Frage in der Art zu stellen, ob ihm in ‚der’
Wirklichkeit etwas entspricht. Und doch bleibt sozusagen alles beim alten.“ Husserl (1976), S. 204.
543
Nishida verwendet zunehmend jiko 自 己 , was im Deutschen mit „Selbst“ oder „Ich“ oder
„Ego“ wiedergegeben werden kann. Um Nishidas Terminologie von der Husserls und anderer
Phänomenologen zu unterscheiden, übersetze ich „jiko“ meist mit „Selbst“, es sei denn, der japanische
Begriff verlangt die konkrete Übersetzung mit „Ich“, wie z.B. im Ausdrucks-Ich oder Handlungs-Ich, das
selbst ein konkretes Verhältnis wiederzugeben versucht. Nishida selbst gibt die terminologisch
verwandten Begriffe „jiko wo“, „jiko ni“ und „jiko ga“ mit dem deutschen „mich“, „in mir“ und
„ich“ wieder. Siehe NKZ IV, S. 307.
544
Auch eine Husserlsche Redewendung, die Nishida stets (wissentlich?) bemüht.
545
NKZ IV, S. 353.
546
Ebd.
542
148
durch Absätze kenntlich gemachten Begriffsdefition im Abschnitt in den
„Zusammenfassenden Erklärungen“ in System zu verstehen gibt, die „noematische
Ebene des handelnden Ich“547, vereinige aber „in seinem noetischen Aspekt die Dinge,
die durch die noetische Bestimmung des handelnden Ich nicht gesehen werden
können.“548 Das Ausdrucks-Allgemeine versteht Nishida konsequenterweise vor allem
im Kontrast zum Husserlschen „Abbildungsbewusstsein“, wenn dieses auch von
Husserl selbst gegen die Auffassung des Bewusstseins als intentional abgelehnt wird.
Konsequenterweise deshalb, weil das bewusst Gemachte nicht dem Bewusstsein von
außen gegeben, sondern ein „Selbstausdruck“ des Bewusstseins sein müsse.
1.1.
Nishidas Kritik der Intentionalität
Nishidas Erkenntnistheorie, die aus der neuen Begrifflichkeit ein komplexes Gebilde
baut, das auch daher so verzweigt ist, weil die früheren Begriffe – „Wille“ und
„Anschauung“ einerseits, sowie weitere Bestimmungen aus der Orts- oder
Prädikatenlogik andererseits – nicht einfach der neuen Terminologie weichen, sondern
in die neue integriert werden, kann hier nicht im Einzelnen besprochen werden.
Dennoch möchte ich versuchen, Nishidas Kritik an der Intentionalitäts-Theorie des
Bewusstseins zusammenfassend zu erläutern. So kann dann auch die stille
Auseinandersetzung mit der Phänomenologie, die prägend ist für Nishidas reife
Bewusstseinstheorie, deutlich gemacht werden. Aus dieser wird sich ein
Geschichtsbegriff ergeben, den Nishida einerseits als Versäumnis der Phänomenologie
diagnostizieren, andererseits auch wieder als Phänomen der Noesis verstanden wissen
will.
In Abschnitt 3 der „Zusammenfassenden Erklärungen“ wird die Auseinandersetzung
mit dem Begriff der Intentionalität, dem von Franz Brentano (1838-1917)
übernommenen Grundbegriff Husserlscher Terminologie, deutlich. Diese ist
gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit der Phänomenologie, obwohl Nishida auch
hier erst zu Ende dieses Aufsatzes allgemein von der „Phänomenologie“ spricht,
Brentanos Namen gar nicht und Husserl nur ein Mal erwähnt. Nishidas Auffassung des
Selbstbewusstseins als Grundstruktur des Bewusstseins wird hier ins Extrem getrieben:
so gibt Nishida den noch in „Ort“ vertretenen Gedanken auf, dass das Bewusstsein aktiv
oder prozesshaft zu denken sei. Intuition wird nicht mehr als Aktivität, sondern als
Transzendenz der Aktivität verstanden. Indem Nishida die „Anschauungs“- oder
„Intuitions-Ebene“ (chokkakumen 直覚面, auch ein Begriff aus der Phänomenologie)
mit der Ebene des „wahren Selbstbewusstseins“ gleichsetzt, kann er das Sehen des
Selbst „in sich“ als intuitiv behaupten und sagen: „Die fundamentale Struktur unseres
Bewusstseins ist das Sehen des Selbst, das sich Selbst in sich sieht (jiko ga jiko ni oite
jiko wo miru 自己が自己において自己を見る).“549 Nishida bemüht diese Definition
mehrmals in System, so dass sie zu einer feststehenden Wendung wird. Der intentionale
547
Es scheint an manchen Stellen, als habe die „Welten“-Sprache eine Sprache der
„(Bestimmungs-)Ebenen“ bei Nishida abgelöst. Ein inflationärer Gebrauch der Ebenen-Sprache findet
sich an folgender Stelle: „Was die Prädikatsebene, die die Bestimmungsebene des Subjekts war, wird zur
Ebene des abbildenden Bewusstseins […] Wenn die Prädikatsebene des Urteilsallgemeinen sich selbst
bestimmt, […] dann siedelt die noematische Bestimmungsebene zur noetischen Bestimmungsebene
über.“ NKZ IV, S. 309.
548
NKZ IV, S. 358.
549
NKZ IV, S. 360.
149
Akt dagegen sei nichts anderes als „ein Selbstbewusstseins-Akt, der zwar selbstbewusst
sein soll, aber nicht ist“ 550 – und zwar deswegen, weil er nicht auf das
Selbstbewusstsein gerichtet sei. Dass Nishida „Gegenstand des Bewusstseins sein“ mit
„Gegenstand sein“ identifiziert, schlägt sich in seiner Auffassung von Intentionalität
nieder. Bereits in den früheren Abschnitten aus den „Zusammenfassenden
Erklärungen“ weist Nishida auf seine spätere These hin, die besagt, dass nicht
Intentionalität – verstanden z.B. als erinnerndes oder wahrnehmendes Erfassen eines
„noematischen Sinns“ (Wahrnehmungsgegenstand) – das Grundcharakteristikum des
Bewusstseins ausmache, sondern ein „sich selbst sehendes“ Selbstbewusstsein.
Intentionalität ist für Nishida eine inakzeptable Annahme, weil sie behaupte, dass das
Bewusstsein Wahrnehmungen von Dingen haben könne, die diesem vollkommen
äußerlich seien. Von einer wahrhaften Intentionalität könne man erst dann sprechen,
wenn das Ich in sich selbst seinen eigenen Inhalt bestimme.551 Doch Wissendes und
Gewusstes fallen nicht einfach in eine Einheit als Ergebnis eines Prozesses zusammen,
sondern „[d]amit Dinge (mono 物) von mir gewusst werden, müssen sie mir immanent
sein, ich muss der Ort sein, in dem diese Dinge liegen.“552 Dass Nishida durch eine
solche Redeweise der von ihm in Abrede gestellten „Verobjektivierung“ des
Bewusstseins gefährlich nahe kommt, scheint ihm nicht aufzufallen. Mehr noch scheint
diese Konsequenz in Nishidas Auffassung von Intentionalität durch, da sie davon
ausgeht, dass sich Gegenstände (kotobutsu 事 物 ) „auf der Bewusstseinsebene
befinden.“553 In einer Diskussion der Unterscheidung des Abbildungsbewusstseins, das
verschiedene „Richtungen“ (hôkô 方 向 ) intendiere und der Ebene der inneren
Wahrnehmung, meint Nishida, dass es Dinge (Gegenstände, Sachen) seien, die
irgendetwas intendierten:
Also wird gedacht, daß die sich in der Bewusstseinsebene befindlichen Dinge irgendetwas
intendieren (sorede ishikimen ni oite aru kotobutsuteki naru mono ha nanbutsuka wo shikô suru
to kangaerare それで意識面に於いてある事物的なるものは何物かを志向すると考へら
れ), und insofern das handelnde Ich den Inhalt seiner Selbstbestimmung sieht, d.h. der
selbstbewusste Inhalt sichtbar ist, denken wir, dass dieser die Gegenstände (taishô 対象)
intendiert.554
Diese Formulierung, die auch den Übersetzer des englischen Textes nicht ins Schwitzen
zu bringen scheint,555 birgt erhebliche Schwierigkeiten in sich, die in diesem Kontext
nicht auf Anhieb zu klären und mehr Fragen zu Nishidas Begriff von Intentionalität
aufwerfen als sie zu lösen im Stande sind. Denn wenn Intentionalität eine Fähigkeit von
Dingen auf der Bewusstseinsebene sein soll, sich selbst oder etwas anderes bewusst zu
machen, ist das etwas anderes als das, wovon Husserl in den Ideen (1913) und schon in
den Logischen Untersuchungen (1901) spricht. Dennoch möchte sich Nishida mit der
550
Ebd., S. 359.
NKZ IV, S. 342.
552
Ebd., S. 342.
553
Wargo übersetzt: “It is true, of course, that we intend things in the plane of consciousness, but it must
be remembered that the word ‘things’’ has various meanings and that there are various modes of
intending.” Wargo (2002), S. 210. NKZ IV, S. 361.
554
NKZ IV, S. 362. Hervorh. EL.
555
Wargo (2005), S. 211: „Thus things in the plane of consciousness are thought to intend something, and
as long as the acting self sees the content of its self-determination, its self-conscious content, these things
are thought to intend objects.“
551
150
Husserlschen Bestimmung von Noesis und Noema, Intentionalität, Erlebnis,
Wesensschau und „reines Ich“ auseinandersetzen, wie die folgende Passage zeigt, die
ich in Länge zitieren möchte:
Wenn das sich im prozessualen Prozess Befindliche seinen eigenen Inhalt sieht, also das sich in
der noetischen Ebene des Ausdrucks-Allgemeinen Befindende seinen noetischen Inhalt sieht,
kann man es als Erlebnis (taiken 体験) denken, das seine eigene Welt sieht. Dieses Erlebnis ist
aber nicht die Wesensschau. Wesenschau bedeutet nicht, dass etwas auf der Ebene der
Anschauung, d.h. auf der Ebene des prozessualen Selbstbewußtseins, seinen eigenen Inhalt sieht,
sondern muss eine Anschauung sein, die ihr akthaftes Ich auf der Anschauungsebene selbst
umfasst […] Im Selbstbewußtsein des absoluten Nichts gibt es natürlich weder Noema noch
Noesis, aber wenn das Selbst sich selbst sieht, ist das der Anfang der Opposition von Noema
und Noesis.556
Das Erlebnis ist für Nishida der Ort, in dem der Gegenstandsbereich des Bewusstseins
reflektiert ist. Nishidas Hauptvorwurf an die Phänomenologie ist ihre angebliche
Unfähigkeit zur Begründung der Instanz der „Opposition“ von Noema und Noesis.
Interessanterweise ist für ihn die Unterbestimmung des Noema der Mangel der
phänomenologischen Methode. Es gebe in ihr nur das „gereinigte Selbstbewusstsein
des handelnden Ich in der noetischen Richtung“557 und der Grund für die objektive
Bestimmung des Ausdrucks-Inhalts werde nicht klar. Obwohl zwar das handelnde
Selbst als noetische Bestimmung gedacht werde, sei in seiner noematischen
Bestimmung die noetische überwunden. Jedoch heißt das bei Nishida wiederum, dass
der noematische Inhalt nicht „leibhaftig“ (raipuhafuteigu ライプハフテイヒ) gesehen
werden könne, d.h. keine konkrete, für sich bestehende Existenz habe. Hier distanziert
sich Nishida wieder von seiner Parteinahme für das Noema. Das, was
„leibhaftig“ gesehen werden könne, sei der Erlebnisinhalt der noetischen Richtung. So
sei die Noesis das „Sehende“ und das Noema das „Gesehene“, wobei beides, Sehen und
Gesehen-werden, in der noetischen Bestimmung des Selbstbewusstseins als das „sich
nichtend Sehende“ fundiert sei. Daher bezweifelt Nishida, dass Erkenntnisobjekte in der
Wahrnehmung intuiert, d.h. angeschaut werden können, „wie die Phänomenologen
sagen.“ 558 Desweiteren sei im „inneren Leben“ (naiteki seimei 内的生命) – ein
weiterer terminus technicus der Nishidaschen Erkenntnistheorie, die den Sprung in die
Auseinandersetzung mit der Phänomenologie überlebt hat – das noematische Selbst
untergegangen, wenn auch nicht ganz: „Da wir aber normalerweise das Selbst als
prozesshaft sehen, denken wir, es müsste entweder mit dem Ding verschmelzen oder
ganz verschwinden, aber das Selbst verschwindet nicht. Alles, was existiert, existiert im
Selbst.“ 559 Nolens volens übergibt sich Nishida hier der Gegenkritik: was er der
Phänomenologie vorwirft, hat er sich selbst zuzuschreiben. Außer dem Selbst ist nichts
zu denken. Das noematische Korrelat der Noesis bleibt unterbestimmt.
Auch der Begriff der Geschichte erfüllt im weiteren Verlauf des Nishidaschen Denkens
nur eine subalterne, vom Selbst abgeleitete Funktion. Nishida subsumiert ihn unter die
Noesis. Die Irrationalität der Geschichte, ihre Regellosigkeit und Unberechenbarkeit,
556
NKZ IV, S. 363-365.
Ebd., S. 367.
558
Ebd., S. 365.
559
Ebd., S. 367.
557
151
wird – in einem dezidierten Sinne – als Charakter des Selbst rationalisiert. Somit stehe
selbst der Weltenlauf unter dem Zeichen des Bewusstseinsmonismus, eine These, von
der sich die Phänomenologie, die es schließlich nur mit Bewusstseinsstrukturen, also
den Sachen selbst zu tun hat, abgrenzt.
1.2.
Kein Noema ohne Noesis
Natürlich kann man fragen, ob die phänomenologische Reduktion als Methode zur
Gewinnung von Erkenntnissen über Tatsachen des Bewusstseins überhaupt erforderlich,
geschweige denn tatsächlich durchführbar ist. So interessant diese Diskussion auch ist –
wie überhaupt eine nähere Beschäftigung mit Husserl im Vergleich mit Nishidas
Auffassung von Noema und Noesis – muss in dieser Arbeit leider darauf verzichtet
werden; lediglich eine „Standortbestimmung“ Nishidas wichtigster Terminologie sollte
Licht auf seine Erkenntnistheorie werfen. Unnötig zu sagen, dass Husserl in den Ideen I
bereits ein ungleich komplexeres Gedankengebäude vorstellt. Allein der Begriff der
Intentionalität, der für Husserl nur ein Grundbegriff für „allgemeinste
Unterscheidungen“560 innerhalb der Phänomenologie ist (und sich somit von seiner
Bestimmung in der üblichen Bewusstseinsphilosophie, die keine phänomenologische
Methode wählt, z.B. der Psychologie, und auch vom Positivismus unterscheidet), setzt
per definitionem schon den Eidos-Begriff, die Epoché, sowie Komponenten der
intentionalen Erlebnisse und deren intentionale Korrelate voraus. Doch will sich die
phänomenologische Methode als eigenständige Disziplin behaupten, muss sie auch eine
eigene begriffliche Komplexität bewahren. Die phänomenologische Reduktion oder die
Epoché, die Ausschaltung der natürlichen Einstellung, sieht daher nur das minimale
Prinzip vor, nach der Wahrnehmung selbst zu gehen und nicht zu fragen, „ob ihm in
‚der’ Wirklichkeit etwas entspricht.“561 Dieser Ansatz ist rational. Er hält es zudem
nicht für nötig, sich disziplinarisch von der Ontologie abzugrenzen, denn Husserl geht
es bekannter weise um die „Sachen selbst“. Dass wir – lakonisch ausgedrückt – Dinge
wahrnehmen, besser gesagt, Wahrnehmungen und Erinnerungen von etwas haben, lässt
sich nicht bestreiten, auch wenn man für dieses Argument nur die conditio humana
geltend machen kann und keine notwendige logische Aussage. Doch anders als Nishida,
dessen Anliegen ja insofern ein Ontologisches ist, als er „alles Seiende“ im
Selbstbewusstsein verortet, und somit in die unausweichlichen Widersprüche gerät, die
nun einmal entstehen, wenn man das Bewusstsein mit seinem intentionalen Korrelat
identifiziert, sieht die phänomenologische Methode, d.h. die Reduktion
(Einklammerung, Epoché) vor, dass man sich jedes Urteils über den „ontologischen
Status“ der erfahrenen Wirklichkeit enthält. Interessanterweise wird die Reduktion aber
so zu einer aussagekräftigeren Methode, was unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit
betrifft, als Nishidas abstrakter Bewusstseinsmonismus, der weder etwas über die
Struktur der Wahrnehmung sagt, noch über das Seiende, das sich auf der transzendierten
Noesis des sich „nichtend Sehenden“ befinde. Husserl zufolge verhindere die Reduktion
jedes Urteil über die wahrgenommene Wirklichkeit […] Sie hindert aber kein Urteil darüber,
daß die Wahrnehmung Bewußtsein von einer Wirklichkeit ist (deren Thesis nun aber nicht mit
„vollzogen“ werden darf); und sie hindert keine Beschreibung dieser wahrnehmungsmäßig
560
561
Husserl, Ideen I (1976), S. 204.
Ebd.
152
erscheinenden „Wirklichkeit als solcher“ mit den besonderen Weisen, in der diese hierbei, z.B.
gerade als wahrgenommene, nur „einseitig“, in der oder jener Orientierung usw. erscheinende
bewußt ist.562
Gerade die Beschränkung auf die wahrgenommene Wirklichkeit als solche führt meines
Erachtens aber zu aussagekräftigen Urteilen, die weit über das hinausgehen, was ein
Bewusstseinsmonismus behaupten darf. Der Monismus ist ontologischer Natur, da er
dem Bewusstsein (die einzige) Seinsberechtigung zuspricht. Indem Nishida nicht
zwischen Weisen des Seins und Weisen des „Bewusst-Seins“, nicht zwischen Noema
und Noesis, Phainomenon und Noumenon, Sache und Begriff unterscheidet – d.h. die
objektive Wirklichkeit des Wahrgenommenen methodisch verunmöglicht – begeht er
(unter anderem) den Fehler, den Kant im Kapitel über die Amphibolie der
Reflexionsbegriffe dem Leibnizschen Rationalismus und infolge dessen der
Monadologie nachweist. 563 Für Leibniz sei demzufolge die innere Realität und
Determiniertheit der Gegenstände – das Ding an sich selbst – aufgrund der Begriffe
erkennbar; das sinnliche Material hingegen spiele für die Erkenntnis keine Rolle. Doch
sollte es so sein, dann – so Kant – könne man keinen Tropfen Wasser von einem
anderen unterscheiden:
Freilich, wenn ich einen Tropfen Wasser als ein Ding an sich selbst nach allen seinen inneren
Bestimmungen kenne, so kann ich keinen derselben von dem anderen für verschieden gelten
lassen, wenn der ganze Begriff desselben mit ihm einerlei ist. Ist er aber Erscheinung im Raume,
so hat er seinen Ort nicht bloß im Verstande (unter Begriffen), sondern in der sinnlichen
äußeren Anschauung (im Raume), und da [im Verstand, EL] sind die physischen Örter in
Ansehung der inneren Bestimmungen der Dinge ganz gleichgültig […] Die Verschiedenheit der
Örter macht die Vielheit und Unterscheidung der Gegenstände als Erscheinungen ohne weitere
Bedingungen schon für sich nicht allein möglich, sondern notwendig.564
Kant spricht hier nur von einem Wassertropfen, welche drastischen Konsequenzen hätte
die Leibnizsche rationalistische Erkenntnistheorie erst für die Erkenntnis einer
umfangreicheren Realität! Während Leibniz aber alles in die Begriffe hineinnimmt,
nimmt Nishida „alles Seiende“ ins Selbstbewusstsein, mit ähnlichen Konsequenzen.
Auch Husserl orientiert sich wie Nishida am Bewusstsein und macht sogar die „reine
Intuition“ als Modus der Wirklichkeitserfahrung geltend.565 Doch deshalb allein darf
nicht geschlossen werden, dass für Husserl nur Bewusstsein existiert. Seine Frage ist,
wie das Noema selbst strukturiert sei. Er will die „Wahrnehmung in noematischer
562
Husserl, Ideen I (1976), S. 209.
Wobei natürlich im Auge behalten werden muss, dass es Kant gegen Leibniz um die Unterscheidung
der sinnlichen von der rein „verständigen“, begrifflichen Erkenntnis geht, die sich in der Kritik ausdrückt,
dass für Leibniz die Bedingungen der Sinnlichkeit, „die ihre eigenen Unterschiede bei sich führen.[…]
kein besonderer Quell der Vorstellungen“ sei.
Nishida dagegen grenzt seinen Begriff des
Selbstbewusstseins gegen die Urteils- d.h. Begriffserkenntnis ab, und doch gibt es bei ihm so wenig wie
bei Leibniz ein „sinnliches Material“, das zu erkennen zu den strukturellen Bedingungen des
Bewusstseins gehöre. Kants Kritik an Leibniz Monadologie lässt sich in aller Kürze so beschreiben, dass
die völlige Unterbestimmung der Monaden (das Innere der Monaden hat keinen Ort, keine Gestalt, keine
Berührung, keine Bewegung), d.h. ihre Bestimmung als res cogitans gegen die res extensa nun aber –
neben diesen - eine dritte Ursache verlange, für die Gemeinschaft der Substanzen/Monaden, die die
„Einheit der Idee einer für alle gültigen Ursache“ plausibel mache. KrV, B 330 (1998).
564
KrV B 328 (1998).
565
„Die Phänomenologie ist nun in der Tat eine r e i n d e s k r i p t i v e , das Feld des transzendental reinen
Bewußtseins in der p u r e n I n t u i t i o n durchforschende Disziplin.“ Husserl, Ideen I (1976) S. 127.
563
153
Hinsicht“ beschreiben, was er deswegen kann, weil es ihm zufolge der Grundcharakter
des Bewusstseins ist, „Sinn zu haben, bzw. etwas ‚im Sinne zu haben’, das darum nicht
nur überhaupt Erlebnis, sondern sinnhabendes, ‚noetisches’ ist“566 (wobei sich Noema
nicht bloß im Sinn und Noesis nicht bloß in der Sinngebung erschöpfe). „Sinn“ (igi 意
義) – Nishida selbst verwendet diesen Ausdruck häufig – kann es aber nur geben, wenn
dieser (auch sich selbst) „verliehen“ werden kann, es gibt keinen Sinn ohne das, was
Sinn „hat“, das Sinntragende. Ebensowenig kann es eine Intentionalität ohne das
Intendierte geben, die Richtung auf das „Andere“ des Bewusstseins.
Der entscheidende Unterschied zwischen Nishida und Husserl besteht darin, dass für
Nishida kein Noema ohne Noesis, für Husserl keine Noesis ohne Noema möglich ist.
Mehr noch, für Husserl ist die Gegebenheit des Noema als Bedingung für den
noetischen Sinn, der bekannter weise die Grundstruktur des Bewusstseins ausmacht, ein
Gesetz: „Denn kein noetisches Moment ohne ein ihm spezifisch zugehöriges
noematisches Moment, so lautet das sich überall bewährende Wesensgesetz.“567 Nishida
übersieht, dass das „sinnliche Material“ strukturell zu den Bedingungen des
Bewusstseins gehört. Uneingesehen bleibt bei Nishida auch die Abhängigkeit eines IchBegriffs von dem, was ausdrücklich nicht Ich ist.
Muss man also noch beim Nishida der mittleren Phase behaupten, dass er
erkenntnistheoretisch-methodologisch nicht über den bereits in ZnK dargelegten
Bewusstseinsmonismus hinausgekommen ist? Es scheint in der Tat, als sei ein und
derselbe Sachverhalt in den verschiedenen Stufen seines Denkens maßgebend gewesen
und drücke sich nur durch unterschiedliche Terminologie aus. Was zunächst die Reine
Erfahrung war, wird zum Jikaku (Selbstbewusstsein), der „Ort des absoluten Nichts“.
Dieser wird in einer nächsten terminologischen Erweiterung zur noetischen
Transzendenz des intelligiblen Allgemeinen und endet schließlich mit einem Begriff der
japanischen Geschichte, dem das Kaiserhaus Alpha und Omega ist. Das ist zwar ein
Vorgriff auf in Kapitel IV und V zu Erörterndes, aber der bisher erfolgte Nachvollzug
des Denkwegs lässt diesen Schluss bereits erahnen, wieweit er sich im Einzelnen erst
aus dem nun Folgenden verstehen lässt.
2.
Tanabe Hajimes Kritik am Homo interior
Woo-Sung Huh stellt in seinem wichtigen Aufsatz zum „philosophic turn“ bei Nishida
die Frage, warum Nishida die Wende von einer unpolitischen Bewusstseinsphilosophie
zu einer metaphysischen Philosophie der Geschichte und der Kultur überhaupt
einschlägt. Huh:
One may pose an important question: Why did this turn occur? Or, why did he move from the
philosphy of self-consciousness to the philosophy of history? Unfortunately, Nishida did not
point to any reason for this turn. I suspect that, together with the philosophical preparations for
this turn, various not strictly philosophical pressures may have contributed to Nishida`s
rethinking of his historical-political notions. His disciples and colleagues may have pushed
Nishida to reconsider the problem of history.568
566
Ebd., S. 206.
Husserl, Ideen I (1976) S. 215.
568
Huh (1990), Fußnote S. 369.
567
154
Ich gehe hier davon aus, dass Tanabe Hajimes Kritik an Nishida und nicht seine
Auseinandersetzung mit Marx das äußere Motiv gewesen sein dürfte, welche die
Einführung einer neuen Terminologie des Homo exterior bei Nishida bewirkte. Im
Folgenden soll zunächst gezeigt werden, wie Nishidas Marx-Kritik sich formierte, um
dann Tanabes Nishida-Kritik und seinen Einfluss auf die Wende Nishidas im einzelnen
zu untersuchen.
Die Kritik durch Tanabe findet sich ursprünglich in der Tetsugaku Kenkyû No. 170 vom
Mai 1930 unter dem Titel „Ich bitte Professor Nishida um Unterweisung“ (Nishida
sensei no oshie wo aogu 西田先生の教えを仰ぐ). Meiner These zufolge war es in
erster Linie nicht die Bekanntschaft mit den Marxschen Texten, die Nishidas wichtige,
auch terminologische Wende, zu einem Begriff wie der der „Handlung“ bzw. „Tat“ (kôi
行 為 ) ermöglicht, sondern die Fundamentalkritik an Nishidas Homo interiorPhilosophie, die durch Tanabe hervorgebracht wurde.569 Dabei kann es selbstredend
nicht um Vollständigkeit in der Darstellung der Nishidaschen Marx-Rezeption gehen,
sondern lediglich darum, warum allein Nishidas abwertend-kritisch Haltung dem
Marxismus gegenüber ein unwahrscheinlicher Auslöser für seine Wende ist. Darüber
hinaus gibt es Hinweise in der Chronologie der Werkentstehung, die dafür sprechen,
dass Tanabes Kritik die entscheidenden Impulse geliefert hat. Nishidas MarxVerständnis erhellt jedoch auch das intellektuelle Setting der Kyoto Schule und verdient
meines Erachtens in dieser Studie eine kurze Darstellung.
2.1.
Wegen Marx kein Schlaf?
Und wir sprachen wieder bis lang
in die Nacht über Marx.
Wegen Marx kein Schlaf.570
Nishida (1929)
Obwohl Nishida durch die Marx- und Hegel-Diskussionen, die in seiner unmittelbaren
Umgebung unter seinen Studenten und Kollegen geführt wurden, beeinflusst war, waren
es nicht diese, die seinen Schritt vom „Fließen des inneren Lebens“ zur geschichtlichdialektischen Welt erklären. Nishida war, was Marx anging, im Gegensatz zu einigen
seiner (jüngeren) Kollegen, „immun“ – auch wenn sein Tagebuch und selbst das
bekannte oben zitierte waka ein anderes Bild vermitteln. Die Auseinandersetzung mit
dem Marxismus fand verstärkt als Abgrenzung von diesem statt, deren Motivation eine
doppelte gewesen sein dürfte: mit der Pauschalverurteilung des historischen
Materialismus konnte er einerseits die Belastung kaschieren, eine nur oberflächliche
Kenntnis des Marx-Engelschen (Spät-)Werkes zu haben und zweitens, vielleicht sogar
wichtiger – er konnte sein Desinteresse an Marx als theoretischen Dissenz
verkaufen. 571 Nishidas Unterlegenheitsgefühl, was die Auseinandersetzung mit
569
Ich relativiere hiermit Kobayashis Behautung, dass Nishidas zentraler Begriff der „Tat“ bewusst im
Marx-Verständnis Nishidas angelegt ist. Kobayashi (2003) S. 209. Wie oben bereits gezeigt werden
konnte, spielt der aus der Jikaku-Theorie heraus entstandene Begriff schon in Die Selbstbestimmung der
Allgemeinen (1929) eine Rolle. Dass er nun auf das Äußere, Geschichtliche angewendet wird, lässt sich
nicht allein durch Nishidas Marx-Rezeption, die erst einige Jahre nach der Wende intensiviert wurde,
plausibel machen.
570
Nishidas bekanntes Waka vom 17. September 1929. NKZ XII, S. 193.
571
Das sollte nicht immer so bleiben. Aus einem 1937 an seine Tochter Shizuko verfassten Brief geht
hervor, dass Nishida die Deutsche Ideologie zu lesen wünscht und sie deshalb bittet, sie ihm aus Zürich
zu bestellen (Brief vom 29.01.1937), NKZ XVIII (1966), S. 585. Im Juni desselben Jahres erfährt man
aus einem Brief an Nishitani, der zu der Zeit in Berlin lebt, dass Kautskys Karl Marx noch nicht einmal
155
systematisch-dialektischem Denken angeht, zeigt sich auch darin, dass seine
philosophischen Theoreme noch lange nach der Veröffentlichung von „Ort“ einen
„logischen Symbolismus“ oder auch „eine Art Ästhetizismus“ darstellen, wie Tosaka
befand, 572 während sein langjähriger jüngerer Freund und Kollege Tanabe bereits
mehrere Aufsätze zur Hegel veröffentlicht hatte.573 Auch Miki Kiyoshi und Tosaka Jun
als hegelianisch geschulte Marxisten interessierten sich mehr für gesellschaftliche
Fragen: Mikis Aufsätze aus der Zeit, „Materialistische Geschichtsauffassung und das
moderne Bewusstsein“ (Yuibutsushikan to gendai no ishiki 唯物史観と現代の意識)
(1928), sowie „Der vorläufige Begriff einer Sozialwissenschaft“ (Shakaikagaku no yobi
gainen 社 会 科 学 の 予 備 概 念 ) (1929) oder „Marx’ Formen der
Anthropologie“ (Ningengaku no marukusuteki keitai 人 間 学 の マ ル ク ス 的 形 態 )
(1927)574 legen davon ebenso Zeugnis ab wie die Tatsache, dass Tosaka Ende der 20er
Jahre bereits zur Arbeit an seinem einflussreichen Die japanische Ideologie (Nihon
ideorogii ron 日本イデオロギー論) (1934) – eine offensichtliche Hommage in der
Wahl des Titels an Marx und Engels Schrift – begann.575
Andere, wie der ursprünglich aus der Phänomenologie stammende Takahashi Satomi,
fingen an, über Hegel zu veröffentlichen.576 Hier muss deutlich unterschieden werden:
Nishidas Interesse an und Verehrung für Hegel blieb wie die seiner Kollegen
unverändert; an Marx allein schieden sich die Geister. Nishida sah das methodische
Problem der materialistischen Dialektik im Gegensatz zur idealistischen darin, dass sie
die dialektische Bewegung nicht dem Subjekt zuschreibe, sondern einer „das Subjekt
vollkommen negierenden Materie“577. Nishidas Kritik und Distanzsuche zu den Ideen
des Marxismus setzte sich fort: so zum Beispiel in dem Aufsatz „Die logische Struktur
der realen Welt“ (Genjitsu no sekai no ronriteki kôzô 現実の世界の論理的構造)
mehr in den Antiquarien der Schweiz zu haben ist, was Nishida sehr ärgert. Beunruhigt erkundigt sich
Nishida, was mit dem Berliner „Vorwärts“-Verlag, der die Werke der marxistischen Fraktion bislang
veröffentlicht hat, sei und ob inzwischen sogar die Antiquarien nicht einmal mehr mit marxistischen
Werken handeln dürften. Brief vom 17.06. 1937, NKZ XVIII (1966), S. 604. Die Wende zum
Geschichtsdenken war zu diesem Zeitpunkt bei Nishida bereits vollzogen und sollte auch in den letzten
Lebensjahren nicht revidiert werden.
572
In Die Philosophie der Kyoto-Schule (Kyoto gakuha no tetsugaku 京都学派の哲学), TJZ III, S. 173.
Weiter heißt es in Anspielung auf Nishida: „Dass die hermeneutische, übergeschichtliche, formalistische,
romantische phänomenologische Philosophie gegenüber den Fragen der Praxis irgendeine Haltung
bekennen muss, habe ich hier größtenteils dargestellt. Für die Nishida-Philosphie gilt die Praxis als etwas
Hohes, geht aber nicht über die Handlung einer bloßen ‚Sozialethik’ (shakai rinrigaku tekina kôi 社会倫
理学的な行為) hinaus. Sie kümmert sich nicht um [Begriffe wie] ‚Produkt’ oder ‚Politik’, die mit den
materiellen Charakteristiken einer Gesellschaft verbunden sind [...]“ Ebd.
573
So z.B. „Die Logik der Dialektik“ (benshôhô no ronri弁証法の論理), in Tetsugaku Kenkyû Nr. 6
(1929), ein Aufsatz, der mit sechs anderen zum Thema Hegelsche Dialektik in dem 1932 erschienenen
Iwanami-Band „Hegel-Philosophie und Dialektik“ (Hegeru tetsugaku to benshôhô ヘーゲル哲学と弁証
法) (heute vollständig in THZ III) aufgenommen wurde. Siehe Hattori (2000), S. 27.
574
Alle heute in MKZ III.
575
In Tosaka (1966), TJZ II, S. 223-443.
576
Takahashis Aufsatz „Hegelianismus und Neukantianismus“ (Hegeru shugi to Shin Kanto shugi ヘー
ゲル主義と新カント主義) findet sich gemeinsam mit Aufsätzen von Miki, Tanabe, und Nishidas „Die
Hegelsche Dialektik von meinem Standpunkt aus gesehen“ (Watakushi no tachiba kara mita Hegeru no
benshôhô 私の立場から見たヘーゲルの弁証法) (Februar 1931) in der von Iwanami zum 100.Todestag
Hegels herausgegebenen, und von der Internationalen Hegel-Gesellschaft organisierten Anthologie Hegel
und Hegelianismus (Hegeru to Hegeru shugi ヘーゲルとヘーゲル主義 (1931), dessen japanische
Sektion von Miki betreut wurde. Siehe Hattori (2000), S. 28. Zwei weitere Persönlichkeiten wären zu
nennen, die den Marxismus in Kyoto popularisierten: der Wirtschaftswissenschaftler Kakehashi Akihide
梯明秀 (1902-1996) und Funayama Shin’ichi 船山信一 (1907-1994).
577
NKZ XII (1966), S. 83.
156
(1935)578, in dem ungewohnt klare Referenzen zu konkreten Texten gemacht werden –
zum einen zu Engels „Anti-Dühring“ (Herr Eugen Dührings Umwälzung der
Wissenschaft) (1878) und zum anderen zu Marx’ Thesen über Feuerbach (1845) und
dem Kapital (1867-1895). Nishida kritisiert am „Anti-Dühring“, Engels System der
Entwicklung des Universums ginge nicht über das „Residuum biologischer
Entwicklungsgedanken“ hinaus und dessen wichtigste Begriffe liegen nur seinem
(Nishidas) Begriff einer ewigen Zukunft zugrunde.579 Engels „drei Grundregeln der
Dialektik“ seien zudem von den „Erfahrungstatsachen“ (keikenteki jijitsu 経験的事実)
abstrahiert. Darüberhinaus sei diese Ansicht nicht mehr als eine dem intellektuellen
Selbst gegenüber gestellte naturwissenschaftliche Realität und nicht das handelnde Ich,
nicht die das Ich umfassende Weltsicht. „Wahre Dialektik“, so Nishida in einer
kritischen Bemerkung zu den Feuerbach-Thesen, sei das Begreifen des handelnden Ich
(kôiteki jiko 行為的自己), welches das „subjektive“ Begreifen aus dem Praktischen
(Ich) sei (jissen ni yotte [...] shukanteki ni tsukamaerareru mono denakereba naranai 実
践によって[...]主観的に捉まへられるものでなければらない). Und im Kapital
schließlich werde nicht über die Bestimmung der „Ware“ hinausgegangen. Die Ware sei
bei Marx bloß materiell bestimmt, was Nishida als „einseitig“ befand, da es so bloß ein
„Ding“ in der Welt der Tat sei.580 Als sich „dialektisch“ fortbewegend sei die Ware die
Bestimmung
des
dialektischen
Allgemeinen,
jedoch
nicht
„materialistisch“ (busshitsuteki ni 物質的に) aufzufassen. Das Individuum, um das es
Nishida in seiner Auseinandersetzung mit den Ideen des Marxismus primär geht, könne
so nicht gedacht, die „wahre Welt der Tat“ nicht bestimmt werden, da die konkrete
geschichtliche Realität angeblich fehle. Allerdings trennt Nishida nicht zwischen
Naturbegriff und Geschichtsbegriff. Die Erscheinungen der handelnden Welt (kôiteki
sekai 行為的世界), d.h. auch die gesellschaftlichen Phänomene, werden insgesamt dem
„dialektischen Allgemeinen“ zugeordnet. Unnötig zu sagen, dass so der innere
Zusammenhang von gesellschaftlichem Zwang und menschlicher Praxis verdeckt, oder
besser, von ihm abstrahiert wird. Nishida erklärt die reale Dynamik der Dialektik zu
einer Erscheinungsform der „Tat“, die er so zu einem metaphysischen Terminus
stilisiert, der zur treibenden Kraft der Objektivierung des Subjektiven und der
Subjektivierung des Objektiven werde. Nishida zufolge besteht die Besonderheit der Tat
darin, dass hier nicht nur Dinge geschaffen, sondern auch gesehen würden und dass die
Tat Selbstausdruck des (handelnden) Ich sei.581 Hattori Kenji 服部健二 dazu:
Die Tat vermittelt meinen Körper und meine Werkzeuge mit den Dingen und der Umwelt und
verbindet uns so mit ihr. Aus der körperlich-werkzeuglichen Tat heraus wird das Subjekt zum
Objekt, das Objekt zum Subjekt; ein gegenseitiger Austausch entsteht.582
Diese simplifizierende Sicht von Dialektik, die gegen die materialistische
Geschichtsauffassung gerichtet sein will, lässt unerwähnt, dass auch dieser zufolge das
578
in NKZ XII, S. 293-342.
NKZ XII (1966), S. 235.
580
Nishida behauptet in einem Brief an Tosaka vom 4. Okt. 1932 ausdrücklich, dass ihm die Marxisten
„einseitig“ (dt. i. O.) seien. NKZ XVIII (1966), S. 460.
581
„Aus der Tat heraus können wir die Dinge sehen […] das, was uns objektiv gegenübersteht, ist nicht
etwas Materielles, sondern das Ausdruckshafte. [Die Form unserer Tat] ist nicht bloß objektiv; aber auch
nicht bloß subjektiv. Hier ist das Subjektive das Objektive, das Objektive das Subjektive.“ NKZ VII
(1966), S. 338. In: Die Welt als dialektisches Allgemeines (Benshôhôteki ippansha to shite no sekai 弁証
法的一般者としての世界).
582
Hattori (2000), S. 49.
579
157
Geschaffene nur unter den Bedingungen des Kapitalismus vom „tätigen Ich“ entfremdet
wird. Es gehört auch Marx zufolge nicht zum Wesen der allgemeinen Produktion, dass
das Geschaffene dem Schaffenden nicht mehr „gehöre“, vielmehr trete dieser Prozess
erst als objektive Wirklichkeit der kapitalistischen Produktionsverhältnisse auf. Doch
bei Nishida werden die objektiven, realen Bedingungen und die subjektiven,
potentiellen – d.h. die die kapitalistischen Zwänge verändernden Bedingungen –als
solche weder identifiziert noch differenziert. Nishida missversteht den Materialismus,
den Marx und Engels bereits in der Deutschen Ideologie (1845) thematisieren, als eine
Art Vulgärmaterialismus, dem es um ein „Primat des Materials“ gehe. Im Gegenteil
geht es in der Marxschen Lehre u.a. darum, dass der gesellschaftliche Widerspruch zwar
von den Produktionszwängen – d.h. den „materialistischen“ Zwängen – aus gedacht
werden muss, aber die Befreiung von den Zwängen des Materials zum Ziel hat, was
bereits eine oberflächliche Kenntnis der einschlägigen Marx-Engelschen Werke – man
denke an das Manifest der kommunistischen Partei (1848) – zeigen dürfte. Nishidas
Kritik an Marx, für ihn zähle nur die „Welt der Materie“, ist erschreckend verkürzt.
Eine Gesellschaftstheorie wie die marxistische betreibt ihre materialistische Analyse
nicht um ihrer selbst willen. Auch bei Marx sind es mit einem Selbstbewusstsein
ausgestattete Menschen, die das Bestehende umstürzen, keine leblosen Automaten: das
würde den Zweck der kommunistischen Revolution parodieren.
Nishidas
impliziter
Vorwurf
der
„Verflachung“
des
metaphorischen
„Reichtums“ inneren Lebens durch die Reduktion auf die Analyse ökonomischer
Lebensbedingungen
erinnert
an
Ernst
Blochs
Versuch,
den
„bloß
ökonomischen“
historischen
Materialismus
durch
eine
hypostasiere
„Verbundenheit“ mit dem Religiösen aufzuwerten. Lukács hat dazu das nötige
kommentiert:
Indem er [Bloch, EL] das Ökonomische ebenfalls als objektive Dinglichkeit faßt, dem das
Seelische, die Innerlichkeit usw. entgegengestellt werden soll, so übersieht er, daß gerade die
wirkliche gesellschaftliche Revolution nur die Umgestaltung des konkreten und realen Lebens
des Menschen sein kann und daß das, was man Ökonomie zu nennen pflegt, nichts anderes als
583
das System der Gegenständlichkeitsformen dieses realen Lebens ist.
Marx’ und Engels’ eigene Ausführungen sind nicht ganz unschuldig an diesem
Missverständnis, wenn sie in kritischer Abhebung von Feuerbach davon sprechen, dass
in ihrer Geschichtsbetrachtung nicht von „gesagten, gedachten, eingebildeten,
vorgestellen“, sondern „von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen“ werde, von
ihrem „wirklichem Lebensprozess“.584 Terry Eagleton merkt polemisch an:
Wenn Marx und Engels davon sprechen, daß sie von „wirklichen, tätigen Männern“ ausgehen
und nicht davon, was diese „Männer“ sagen, sich vorstellen oder wahrnehmen, dann schrammen
sie gefährlich dicht an einem naiven Sinnesempirismus vorbei, dem es nicht gelingt zu
begreifen, daß es keinen „wirklichen Lebensprozeß“ ohne Interpretation gibt [...] Das
hypnotisierende Insistieren auf Begriffen wie „wirklich“, „sinnlich“, „tatsächlich“, „praktisch“,
583
„Indem er [Bloch, EL] das Ökonomische ebenfalls als objektive Dinglichkeit faßt, dem das Seelische,
die Innerlichkeit usw. entgegengestellt werden soll, so übersieht er, dass gerade die wirkliche
gesellschaftliche Revolution nur die Umgestaltung des konkreten und realen Lebens des Menschen sein
kann und dass das, was man Ökonomie zu nennen pflegt, nichts anderes als das System der
Gegenständlichkeitsformen dieses realen Lebens ist.“ Lukács (1968), S. 379-380.
584
Marx/Engels (1932), S. 16.
158
die forsch und höhnisch den einfachen „Ideen“ gegenübergestellt werden, lässt Marx und
Engels wie FR Leavis klingen, wenn er einen schlechten Tag hat [...]585
Marx/Engels streiten allerdings nicht ab, dass Ideen existierten, wenn sie auch erst
durch die denkwürdige historische Unterscheidung von manueller und geistiger Arbeit
entstanden seien. Im Gegenteil, Ideen existieren als Bestandteil des oben erwähnten
„wirklichen Lebensprozesses“: „Auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen
sind notwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatierbaren, und an
materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses.“ 586 Bewusstsein ist für
Marx/Engels etwas „Produziertes“. Allein so lässt sich der berühmte Satz begreifen:
„Das Bewusstsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der
Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess.“ 587 Hier zeigt sich übrigens, dass
Bewusstsein und wirklicher Lebensprozess intrinsisch verknüpft sind, so dass ein
monokausales Schema, demzufolge die wirtschaftlichen Produktionsbedingungen
(Basis), salopp gesagt, das Denken der Menschen (Überbau) hervorbringen oder in
seinem Charakter bestimmen, zu kurz gegriffen ist. Nishida unterschätzt den
normativen, handlungsorientierten Charkater der marxistischen Idee, als kannte er die
letzte Feuerbachthese nicht, dass es nicht auf eine Interpretation, sondern eine
Veränderung der Welt ankäme.588
Zwar sind die meisten Texte, in denen Nishida sich ausführlich mit Marx beschäftigt,
erst rund zehn Jahre Jahre nach der ersten marxistischen Welle in Kyoto Anfang der
1920er Jahre entstanden, doch bereits während dieser ist Nishidas Skeptik gegenüber
Gesellschaftstheorien marxistischer Provenienz groß. Da gezeigt werden kann, dass der
große Einschnitt in Nishidas Denken zwischen Ende 1930 und Mitte 1931 stattgefunden
haben muss und sich zum ersten Mal in den Texten „Das, was ich die die
selbstbewusste Bestimmung des absoluten Nichts nenne“ (Watakushi no zettai mu no
jikakuteki gentei to iu mono 私の絶対無の自覚的限定というもの) (Feb.-März 1931),
besonders aber in Geschichte (Rekishi 歴史) (August 1931), niederschlägt, war der
Begriff der „Tat“ bereits angelegt, einige Jahre bevor Nishida in Die logische Struktur
der realen Welt (Jan-März 1934) und Die Welt als dialektisches Allgemeines (Jun-Aug.
1934) explizite Referenzen zu marxistischen Theoremen macht. Daher kann die MarxRezeption nicht der Auslöser für Nishidas Turn gewesen sein. Kobayashi befindet,
grundsätzlich lasse sich Nishidas Verhältnis zu Marx als „ambivalent“ bezeichnen,
bezieht sich damit aber auf einen Vergleich der Texte um 1933 und um 1937, in denen
er eine spätere „Neubewertung“ (saihyôka 再評価) der Marxschen Thesen durch
Nishida feststellt. 589 Tatsächlich setzt sich Nishida in seinen späteren Schriften
detailliert mit Marx auseinander und integriert die Begrifflichkeit der Kritik der
politischen Ökonomie in seine späte Theorie der „Tat-Anschauung“ (kôiteki chokkan 行
為的直観). Doch die Neubewertung kommt ebenfalls aufgrund der Wende zum Homo
exterior zustande, die bereits 1930 von Tanabe angeregt wurde. Zur Kritik Tanabes nun
mehr.
585
Eagleton (2000), S. 91.
Marx/Engels (1932), S. 16.
587
Ebd., S. 15.
588
„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu
verändern.“ MEW, Band III, S. 533.
589
Kobayashi (2003), S. 211 ff.
586
159
2.2.
„Ich bitte Professor Nishida um Unterweisung“ (Nishida sensei no oshie wo
aogu 西田先生の教えを仰ぐ) (1930)
Die Kritik von Tanabe ist bislang in der Nishida-Literatur zwar nicht unbedingt
unterschätzt, jedoch auch nicht besonders berücksichtigt worden. Auch ihr Einfluss auf
Nishida ist bislang ungenügend untersucht. Zunächst einige Worte zu Tanabes
Biographie.
Tanabe Hajime war alles andere als ein Marxist. 1886 in Tokyo geboren und ebendort
aufgewachsen, studiert er an der Kaiserlichen Universität zunächst Mathematik,
wechselt aber dann zur Philosophie. 1913 wird er Englischlehrer an einer Oberschule in
Tokyo, geht aber im August als Dozent nach Sendai an die Kaiserliche Universität
Tôhoku (Nordjapan). Im selben Jahr lernt er den 15 Jahre älteren Nishida kennen, der
ihn sofort seinem Mentor vorstellt, um Tanabes Karriere zu fördern. Eine rege
Korrespondenz zwischen Tanabe und Nishida beginnt. Während Nishidas Arbeit an
Anschauung ist es auch Tanabe, der Nishidas Interesse an mathematischem Denken
stimulierte, welches dementsprechend in die Arbeit einfließt. 590 Im Austausch regt
Nishida Tanabe an, sich in Zen-Literatur zu vertiefen, um die geistige Isolation, die in
Sendai Besitz von Tanabe ergreift, zu überwinden. Ihre Beziehung war freundschaftlich,
obwohl Nishida bereits 1914 mit Tanabe in einer Diskussion über das Verhältnis von
Erkennen und Wirklichkeit, innerer Entwicklung und Wert-Bewusstsein, wie Nishida es
aus dem Kontext des Neukantianismus versteht, verstrickt ist. Tanabe scheint sich im
Gegenzug auf eine kleinere Arbeit Nishidas, „Naturwissenschaft und
Geschichtswissenschaft“ (Shizen kagaku to rekishigaku 自然科学と歴史学) (1913)591,
zu beziehen. Da Nishida die an ihn adressierten Briefe nicht aufbewahrt hat, lässt sich
das nur aus einem Hinweis in einem an Tanabe adressierten Brief Nishidas vom 28.
Aug. 1914 rekonstruieren.592 1916 scheint zum ersten Mal eine grundsätzlichere Kritik
an Tanabe von Seiten Nishidas durch, angeregt durch Tanabes Aufsatz Kontinuität,
Differentialrechnung und das Unendliche (Renzoku, bibun, mugen 連続 ・微分・無
限), der ab Februar 1916 in der Tetsugaku Zasshi veröffentlicht wird.593 Hier fragt
Nishida rhetorisch, ob einige Gedanken Tanabes, in denen es um philosophische Kritik
gehe, nicht mehr oder weniger als „seicht“ zu bezeichnen seien (tasho kangaekata ga
asaika to zonjimasu 多少考え方が浅いかと存じます) 594 . Vor allem aber sei es
Nishida zufolge keine Forderung der „Existenz“ (sonzai 存在), dass Denken durch das
Denken selbst ge“fordert“ [dt.i.O.] sei, sondern mehr als das „on“ müsse „das
Ganze“ (zentai 全体) von „on“ und „me on“ gefordert werden; die Beziehung von
Denken (dt. i. O.) und unmittelbarer Erfahrung.595 Damit richtet er sich ausdrücklich
gegen Cohen, den er hier namentlich erwähnt, indirekt aber auch gegen Tanabe.
Dennoch bleibt das Verhältnis zwischen Nishida und Tanabe freundschaftlich.
1918 promoviert Tanabe an der Kaiserlichen Universität Kyoto mit einer Arbeit zu
„Untersuchungen zur mathematischen Philosophie“ (Sûritetsugaku kenkyû 数理哲学研
究) 596 , 1919 wird er dort durch Einwirken Nishidas zum Assistenzprofessor am
590
Siehe Yusa (2002), S. 153-155.
In NKZ I, S. 216-239.
592
NKZ XIX (1966), S. 517. Ich bin dem Hinweis in Hattori (2000), S. 96, nachgegangen.
593
Dieser Aufsatz wird in THZ 1963 nicht mehr aufgenommen.
594
NKZ XIX (1966), S. 528.
595
Ebd.
596
Jetzt in THZ II, S. 361-582 mit einem Vorwort von Nishida, ebd., S. 361-364.
591
160
literarischen Institut. Von 1922 bis 1924 geht Tanabe nach Freiburg, um bei Husserl zu
studieren und unterhält Kontakt mit Heidegger, dessen „Phänomenologie des Lebens“ –
so die Zuschreibung Tanabes – er in einem Aufsatz zum ersten Mal im Okotber 1924 in
Japan vorstellt.597 Er stellt auch den Kontakt zwischen Nishida und Husserl her, wenn
Yusa auch überliefert, dass Nishidas Originalität dem letzteren verborgen bleibe.598
1927 wird Tanabe ordentlicher Professor an der Universität Kyoto, eine Position, die er
bis 1945, dem Jahr seiner durch die US-Amerikanische Nachkriegsadministration
bewirkte Entlassung, ausführt.
Die Kritik, die im Mai 1930 in der Tetsugaku Kenkyû unter dem Titel „Ich bitte
Professor Nishida um Unterweisung“ (Nishida sensei no oshie wo aogu 西田先生の教
えを仰ぐ)599 erscheint, trifft Nishida also nicht ganz unvorbereitet. Radikal an dieser ist
lediglich, dass sie sich nicht bei einzelnen terminologischen Fragen aufhält, sondern
sich an das Ganze der Nishidaschen Philosphie richtet, an System wie Methode. Kôsaka
Masaaki 高坂正顕 (1900-1969) fasst im kommentierenden Nachwort zu THZ IV die
seinem Verständnis nach drei Hauptpunkte der Kritik folgendermaßen zusammen: 1.
Das sich aus verschiedenen „Allgemeinen“ zusammensetzende stufenhafte Allgemeine,
das in der selbstbewussten Bestimmung des absoluten Nichts seinen Anfang nimmt,
laufe Gefahr, zur einer Art Struktur der Plotinschen Emanationslehre (Purochinusu teki
na hasshutsuronteki kôsei プロティノス的な発出論的構成) zu verkommen., 2. als
Kritik am sogenannten „konkreten Inhalt“ der Nishidaphilosophie müsse das Problem
von Geschichte und dem Bösen erörtert werden, das bei Nishida nur in eine abstrakte
Metaphysik falle und 3., Nishidas Kritik an Husserl und Heidegger sei nicht
aufrechtzuerhalten, da Husserls Philosophie [im Gegensatz zu Nishida, EL] eine strenge
Wissenschaftlichkeit aufweise und Heidegger [wieder im Gegensatz zu Nishida, EL]
auch das „Mitsein“ (kyôdô sonzai 共同存在) thematisiere.600
Obwohl diese drei Punkte durchaus von Wichtigkeit sind, geht Tanabes Kritik doch sehr
viel weiter als von Kôsaka dargestellt. Ich möchte deshalb geltend machen, dass Tanabe
drei grundsätzliche Ideen in Nishidas System zur Diskussion stellt: erstens, die
Bedeutung des Begriffs des Jikaku (d.h. die gesamte Ortlogik), zweitens die positive
Bewertung der geschichtlichen „Irrationalität“, und drittens das Theorem des „Fließen
des inneren Lebens“, dessen Begrifflichkeit er als religiöse Emanationslehre auffaßt.
Methodisch kritisiert er an Nishida das, was in dieser Arbeit bereits als Hauptproblem in
Nishidas System diagnostiziert worden ist: das Fehlen von begrifflichen Bestimmungen.
597
„Eine neue Wende in der Phänomenologie – Heideggers Phänomenologie des Lebens“ (Genshôgaku
ni okeru atarashiki tenkô. Haideggâ no shô no genshôgaku 現象学に於ける新しき転向.ハイデッガー
の生の現象学), in: THZ IV, S. 17-34.
598
Siehe Yusa (2002), S. 182: “Takahashi Satomi, who studied with Husserl in Freiburg 1926-27, tells us
that Husserl failed to see the originality of Nishida`s thought; instead, he believed that Nishida’s
‘intuitionism’ was something akin to his own and considered Nishida an adherent to his branch of
phenomenology.” Leider belegt Yusa die Aussage Husserls nicht.
599
Jetzt in THZ IV, S. 303-328.
600
THZ IV, S. 434-436. Kôsaka führt die Hauptpunkte in einigen Unterpunkten etwas genauer aus, zeigt
jedoch nicht, inwiefern Tanabe auf das Ganze des Nishidaschen Systems zielt. Stattdessen vergleicht
Kôsaka – etwas überhoben – Tanabes Verhältnis zu Nishida mit Aristoteles Verhältnis zu Platon:
„Aristoteles sprach: ‚Ich liebe meinen Lehrer Platon. Aber noch mehr liebe ich die Wahrheit.’ Professor
Tanabe wird ähnlich gefühlt haben. Die Kritik an Nishidas Philosophie wurde so notwendig. Inwiefern
die Kritik richtig ist, ist etwas Anderes. Professor Tanabe hat später darauf hingewiesen, dass sein
Verständnis [von Nishida] mehr oder weniger falsch war. Doch wie auch immer es um sie bestellt
gewesen sein mag, ist Tanabe seit dieser Zeit seinen Weg als eigener Wissenschaftler (Professor)
gegangen und konnte schon bald mit seiner ‚Logik der Spezies’ sein eigenes System der ‚TanabePhilosophie’ begründen.“ Ebd. S. 436.
161
Im Einzelnen sollen die drei Themen in den folgenden Abschnitten untersucht
werden.601
2.2.1. Kritik am System des Selbstbewusstseins (Ortlogik-Kritik)
Tanabe selbst gibt zu verstehen, dass die Kritik sich vor allem an die in System
enthaltenen Aufsätze richtet: „Jedes Mal, wenn ein in diesem Band enthaltenes Essay
veröffentlicht wurde [April 1928- Januar 1930], behelligte ich Prof. Nishida mit meinen
Fragen und Zweifeln, denn ich konnte seinen Gedanken nicht folgen.“602
Tanabes Kritik nimmt ihren Ausgang von einer Äußerung der Wertschätzung für seinen
Lehrer, dessen „Organisation eines Systems des Selbstbewusstseins“ mit der
Konstruktion eines „gothischen Tempels“ verglichen werden müsse und schickt vorweg,
dass die „tiefen Gedanken“ des Lehrers, sein kontemplatives Leben und seine
jahrelangen Anstrengungen ein vollkommenes Verständnis verlangten.603 Doch die das
Verständnis erschwerenden Stellen seien sicher nicht wenige, wie Tanabe behauptet.
Daher sei es eine „Bereicherung meines Glücks“, wenn „ich vom freundlichen Herrn
Lehrer einige Unterweisungen erhielte.“604
Tanabe beginnt mit einer Zusammenfassung von Nishidas wichtigsten Gedanken aus
System, dessen Ausgangspunkt das Ausdrucks-Allgemeine sei und auf den
noematischen Inhalt eines noetisch bestimmten, sich nichtend sehenden Selbst
hinausliefe. Nishida nenne diesen Zustand auch die „Tat“ (kôi 行為). Tat und Ausdruck
seien jedoch keine Ergebnisse der Reflexion eines bewusst gemachten Inhalts, sondern
stellten die das Bewusstsein (ishiki 意識) transzendierende, „präreflexive“ Anschauung
(chokkan 直感) dar. Tanabe stellt hiernach die These in den Mittelpunkt, dass Nishida
zufolge das sich nichtend Sehende (mu ni shite miru mono 無にして見るもの)
noetisch bestimmt sei. Als solches sei es das „Fließen des inneren Lebens“ (naiteki
seimei no nagare 内的生命の流れ); also der jeglichen Standpunkt überwindende
Standpunkt des Selbstbewusstseins. Tanabe merkt an, dass Nishida diesen Standpunkt
als das Selbstbewusstsein des absoluten Nichts identifiziert, das „Letzte“ des religiösen
Erlebnisses.
Für Tanabe ergibt sich aus der Begriffskonstellation „Ausdruck“, „Tat“, „Fließen des
inneren Lebens“ und „religiöses Erlebnis“ jedoch ein schwerwiegendes Problem, das er
zunächst jedoch nicht ausdrücklich als Kritik formuliert: „Selbst in einem absolut
unbestimmten Standpunkt kann – das steht außer Frage – das völlige Fehlen von
begrifflichen Bestimmungen gegenüber der Philosophie nicht erlaubt werden
(gainenteki gentei wo zenzen ketsujô suru koto yurusazaru 概念的限定を全然欠場す
ること許さざる ).“605 Ein Begriff wie „Fließen des inneren Lebens“ könne nicht in
eine der philosophischen Kategorien „gepresst“ werden, d.h. auch die Philosophie
601
Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass ich Tanabes mathematischen Analogien – so zum
Beispiel der Analogie des Infinitesimalen (kyokubi 極 微 ) mit dem Geschichtlichen und dem
Integralprinzip (sekibun 積分) mit dem Religiösen – nicht auf den Grund gehe. Man kann Tanabes Kritik
auch ohne die mathematische Begrifflichkeit verstehen, die ihm im Übrigen auch nur als Pointierung
seiner Kritik gilt.
602
Zitat bei Yusa (2002), S. 231. Yusa selbst belegt die Quelle leider nicht.
603
THZ IV, S. 305.
604
THZ IV, S. 305.
605
THZ IV, S. 306.
162
müsse über die selbstbewusste Vernunft hinaus so einen Begriff reflektieren können.606
So weit übt sich Tanabe in Empathie mit Nishida.
Eingeläutet wird die Kritik an der Struktur des Selbstbewusstseins: wenn das
Selbstbewusstsein dasjenige sei, in dessen Innerem das Selbst das eigene Selbst
bestimme, und die wahre Bedeutung das nichtende, sich selbst verlierende (und dadurch
liebende) Selbst sei, ist es logisch gesprochen die Selbstbestimmung des Ortes des
absoluten Nichts. Es gehe Nishida schließlich um die Bestimmung des Selbst als Ort des
absoluten Nichts. Tanabe geht hier zunächst sehr vorsichtig vor. Er fragt, was es
bedeute, dass der Ort sich selbst bestimme. Könne er als „Erstes“ gesetzt werden, aus
dem sich alle anderen selbstbewussten Bestimmungen entwickeln sollen? Tanabe
bezweifelt, dass der Ort als das ultimative Nichts sich aus sich selbst heraus bestimmen
könne. „Vielmehr entsteht umgekehrt erstmalig aus der Bestimmung heraus der Ort.“607
Wenn der Ort sich uns zeigte, dann ginge die Substanz (honshitsu 本 質 ) der
Bestimmung voraus, aber dann wäre es das „Dasein“ (dt. i. O.) des Ortes, das der
Bestimmung vorausginge, nicht das „Sosein“ (dt. i.O.). 608 Es müsse vielmehr die
Bestimmung sein, die der Substanz vorausginge, so dass der Ort daher erstmalig als
Sosein bestimmt sei. Nur als Sosein wäre er ohne Substanz. Es könne Tanabe zufolge
kein Zweifel daran bestehen, dass eine Philosophie, die sich die Struktur des
Selbstbewusstseins zum Prinzip mache, das Sosein eines Ortes, nicht sein
nachträgliches Dasein meine. Der Bezug auf Hegels Unterscheidung in der
Daseinslogik ist gewollt, sieht Tanabe die orthafte Bestimmung des Selbst Nishidas als
wichtige Korrektur des „späten Schelling“ und des „Hegelschen Denkens“.609 Allein
„[…] weil Professor Nishidas Erklärung zufolge der Ort der Ort des Nichts und nicht
des Seins sei, wird außer dem Dasein [dt.i.O.] kein Sosein [dt.i.O.] verlangt.“610 Diese
Kritik an Nishidas Konzeptionierung des Ortes als Dasein statt als Sosein, ist nur
schwierig nachvollziebar, wenn man nicht Tanabes Hegelverständnis einbezieht.
Offensichtlich sieht Tanabe das Dasein, da es Hegel zufolge bereits den Begriff der
Negation in sich einschließt, näher an Nishidas Ort-Bestimmung als das noch völlig
unbestimmte Sosein als sich selbst gleiches Sein-Nichts. Dem Ort ginge also
mindestens eine Bestimmung – das Sosein – voraus, weshalb er nur als ein „abgeleiteter
Modus“ des Selbstbewusstseins verstanden werden könne. Tanabes Kritik ist hier recht
knapp formuliert. Schließlich betont Nishida selbst, dass Negation als „gegensätzliches
Nichts“ – d.h. als Nichts, das dem Sein gegenübersteht – nicht der von ihm gemeinte
Ort sei. Viel wertvoller ist Tanabes Beobachtung, dass der Ort sich nicht selbst
bestimmen könne – und somit der erste Grund aller Dinge sei – weil im Mindesten die
Bestimmung dem Ort vorausginge. Will der Ort nicht als Substanz verstanden werden,
d.h. als bereits bestimmte Entität, dann muss der Begriff des Ortes selbst noch den
Begriff der Bestimmung reflektieren. Diese Beobachtung Tanabes muss als scharfe
Kritik gewertet werden. Um jedoch von der abstrakten, ein bestimmtes
Hegelverständnis voraussetzenden Dasein/Soseins-Kritik zu einer grundsätzlicheren
Kritik zu kommen, untersucht Tanabe von hier aus das Begriffspaar Noema und Noesis,
wie es bei Nishida bestimmt ist. Tanabe wendet sich im Folgenden dem Problem zu, das
sich aus der „Noetisierung der Wirklichkeit“ ergibt:
606
Ebd.
THZ IV, S. 308.
608
Ebd.
609
Ebd., Z. 5-6.
610
Ebd., Z. 15-16.
607
163
Das Bedürfnis der Philosophie ist kein orthaft sich-selbst-bewusst-werden-Könnendes (jikaku
serareru mono 自覚せられるもの) als ein letztes Allgemeines, das alle Noema in sich
einschließt und die Noesis transzendiert […] aber wenn man vom philosophischen Standpunkt
aus den Ort des Selbstbewusstseins absoluten Nichts denkt, der darüber hinaus eine jegliche
Konkretheit vermindernde unbestimmte Existenz in sich schließt, dann kann noch irgendwie die
selbstbewusste Bestimmung aus dem eigenen Selbst verstanden werden, die als das
„Letzte“ (saigo no mono 最後のもの) hypostasiert wird […] wenn man sich aber eine in einem
selbstbestimmten mehrstufigen Allgemeinen befindende Existenz denkt, die diese irgendwie
„noetisch“ transzendiert, und diese als Ort des Selbstbewusstseins absoluten Nichts bestimmt,
wird diese in einer Art Emanationslehren-Struktur (isshu no hasshutsuron teki kôsei 一種の発
出論敵構成) zu einer Achse der Plotinschen Philosophie.611
Tanabes Polemik zielt hier auf Nishidas fehlende Begriffsbestimmung. Zum einen sieht
er ein alle Noema in sich umfassendes System des Selbstbewusstseins absoluten Nichts
als abstrakt an – es fehlen ihm jegliche Bestimmungen an ihm selbst, denn es reiche
nicht zu sagen, es sei eben die Bestimmung des „Letzten“, des Ortes absoluten Nichts,
alle Noema in sich zu fassen. Zum anderen sieht er eine daraus resultierende Plotinsche
Emanationslehre am Werk, die er – wie gleich zu zeigen ist – mit einer Dialektik von
Denkbestimmungen kontrastiert. Zu behaupten, dass der Ort des absoluten Nichts das
„Letzte“ sei, das alle Noema in sich enthalte, könne nicht aus der Begriffsbestimmung
selbst deduziert werden und sei daher nichts weiter als eine Emanationslehre. Obwohl
Tanabe selbst nicht darauf hinweist, kann man hier bereits sehen, dass Nishidas System,
anstatt ein „Inneres“ darzustellen, letztlich nur äußere Verhältnisse berücksichtigt. Das
zeigt sich schon daran, wie Nishida Selbstbewusstsein mit Ort des absoluten Nichts
identifiziert, ohne an diesem selbst zu zeigen, dass es sich so und nicht anders verhält.
Hiernach wendet sich Tanabe der Hauptkritik an dem von Nishida behaupteten
Absolutheitsanspruch der Noesis zu. Diese Kritik an der „Noetisierung der
Wirklichkeit“
oder
an
der
Bewusstseinsimmanenz
muss
sich
dem
erkenntnistheoretischen Problem einerseits – als Garantie der „Absolutheit“ des
Selbstbewusstseins – und dem ontologischen Problem andererseits – als Garantie der
Abhängigkeit der Phänomene – stellen. Doch zunächst schrittweise. Tanabe sieht diese
Auffassung Nishidas stark in seinem religiösen Verständnis von Ich/Selbst begründet.
Doch damit allein könne er kein philosophisches System rechtfertigen:
Mein Zweifel besteht darin, dass Philosophie als Religionsphilosophie (in dem Sinne wie
Plotins Philosophie eine Religionsphilosophie ist) ein letztes unerreichbares Allgemeines
aufstellen und die tatsächliche Existenz als die von ihr abhängige Bestimmung interpretieren
kann – das führt zur Selbstabschaffung der Philosophie (tetsugaku sore jishin no haiki 哲学それ
自身の廃棄).612
Abgesehen davon, dass Tanabe Nishidas System unterstellt, unphilosophisch
vorzugehen, muss hier besonders die Interpretation der Nishidaschen Erkenntsnistheorie
durch Tanabe beachtet werden, denn auch Tanabe sieht den Monismus in Nishidas
Theorie des Bewusstseins. Leider fehlt es Tanabe an überzeugenden Gegenargumenten.
So müsste er auch zeigen können, warum ein Bewusstseinsmonismus seinen eigenen
Voraussetzungen widerspricht. Er wird darauf zurückkommen. In der Frage nach der
611
612
THZ IV, S. 309.
THZ IV, S. 309.
164
Stellung der Wirklichkeit im Verhältnis zu einem alle Noema umfassenden NichtsSelbstbewusstsein sagt Tanabe zunächst weiter:
Dieser Standpunkt [Nishidas religiöse Philosophie] behauptet bis zum Äußersten ein auf der
Realität begründetes, lebendiges Fundament, aber anstatt die Noetisierung (noeshisu-kaノエシ
ス化), die Vergeistigung und Subjektivierung zu thematisieren, wird nicht – und das ist meine
Frage – eine Philosophie erschaffen, die strukturell einer Anhäufung (ruisô 累層) von mehreren
bereits selbst-bewusst gemachten, mehrstufigen Allgemeinen ähnelt?613
Anstatt das Problem der Noesis ernst zu nehmen, werde schlichtweg alles zur
Selbstbestimmung des Allgemeinen erklärt. Auch scheint Tanabe hier das Problem der
Synomyme anzusprechen. Für das Allgemeine stehen bei Nishida nicht nur das
„konkrete“ oder das „intelligible Allgemeine“, sondern so verschiedene Begriffe wie
der „Ort“, das „Selbstbewusstsein“, die „Anschauung“, der „Wille“ und das „Nichts“ –
eine genaue begriffliche Absetzung dieser Bestimmungen sucht man bei Nishida
vergebens. Auch eine ausdrückliche Thematisierung des Subjekts, sowie der
Möglichkeit der Noetisierung findet nicht statt. Nishida weiche so den wirklich
wichtigen erkenntnistheoretischen Fragen aus. Auch logisch mache der
Absolutheitsanspruch des Selbstbewusstseins wenig Sinn, denn „ich möchte wissen, wie
die Noesis das Noema umfasst und der Ort als das die Gegenstände Umfassende nicht
eine Emanationslehre mit sich bringt, bei der die noetisch-ortshafte Bestimmung in
jedem Fall die Bedeutung einer noematisch-gegenständlichen Bestimmung hat.“614
Inwiefern sich dann Noesis und Noema, bzw. (Selbstbewusstseins-) Ort und
Gegenstand dann unterscheiden, lasse Nishida, so Tanabes Vorwurf, offen. In der Tat:
wenn alle geistigen Phänomene zu Phänomenen des Geistigen erklärt werden, macht es
keinen Sinn mehr, überhaupt noch zwischen Objekt und Anschauung, Sache und Geist
zu differenzieren. Nishida halte diese Dichotomie terminologisch aufrecht, auch wenn
sie der Sache nach keinen Sinn mache.
Letztlich bestehe aber genau hier die Gefahr: macht die Philosophie den Standpunkt des
Selbst zu einem religiösen Standpunkt, ereile das Selbst das Schicksal der
Selbstabschaffung, so Tanabe. Problematisch ist, dass Nishidas „religiöses Selbst“ als
absolutes Selbst aufgefasst werden müsse. Wie in der Mengenlehre die Menge aller
Mengen (subete no shûgô no shûgô すべての集合の集合) – Tanabe spielt hier auf
Russell an – ein Paradox darstelle, so führe die Verabsolutierung des Selbst (jiko no
zettaika 自己の絶対化) notwendig zum Selbstwiderspruch – nämlich zu seiner eigenen
Relativierung. 615 Hier wird das Problem des Bewusstseinsmonismus wieder
613
Ebd.
THZ IV, S. 312.
615
THZ IV, S. 313-314. Dieses Problem hat auch Katsuhiro Inoue in seiner Interpretation der
Nishidakritik Tanabes hervorgehoben. „Was ist nun das eine Absolute, das bei Nishida als eine ‚absolutwidersprüchliche Selbstidentität’ hervorgehoben wird, welches mit dem Relativen nicht im
Zusammenhang sein kann? Tanabe sagt: Falls das Absolute nicht vom Relativen vermittelt wird, bleibt
das Absolute als Absolutes: Es lässt sich selbst nicht negieren. Hiermit bleibt das Absolute in seiner
Selbstidentität; es lässt sich nicht dynamisch entwickeln. Ein solches Absolutes ist – von der Position
Tanabes aus gesehen – ein vom Relativen isoliertes Absolutes. Es ist ein transzendentes Absolutes, hat
aber keinen Zusammenhang mit dem Relativen. Das war die kritische Position Tanabes gegenüber
Nishida.“ Inoue (2007), S. 96. Inoue bietet eine weitere Interpretation an: Tanabe stehe in einer stärkeren
Beziehung zum dialektischen Zen Dôgens, während Nishida dem dialogischen Zen zuzuordnen sei.
Leicht geschwächt wird diese These durch Inoues richtige Behauptung, dass es nur „ganz wenige Stellen
in den Schriften von Nishida [gibt], in denen er Dôgen zitiert und erwähnt hat.“ Ebd., S. 95.
614
165
aufgegriffen. Tanabe will sagen, dass gerade die Verabsolutierung eines alles in sich
umfassenden Selbst den Widerspruch begeht, mindestens ein Element nicht zu
beinhalten – sich selbst, denn dazu müßte es außerhalb seiner Selbst liegen, was absurd
ist. Anders gesagt: Ist das Noematische nur ein Abfall-Produkt, ein Residuum der
Noesis, kann die Noesis selbst diesem nicht entkommen, ist es ja ihr Produkt. Es muss
also selbst für den residuellen Charakter der Noema – die Nishida zufolge schließlich
nichts anderes seien als die Noesis selbst – verantwortlich gemacht werden können. Die
Hegelsche Dialektik von Etwas und Anderem spricht dieses Verhältnis aus. 616 Es
korrespondiert zu Tanabes Behauptung, dass der Antagonismus im besonderen
Allgemeinen die Spaltung von Noesis und Noema sei.617
Die Hauptkritik an Nishidas Absolutheitsanspruch des Selbstbewusstseins führt Tanabe
in einzelnen Unterpunkten weiter aus. Wäre es so, dass das Selbstbewusstsein in der
Bestimmung des Allgemeinen durch sich selbst „in“ sich selbst bestehe, sei das eine
Selbstbestimmung, dessen Prinzip vom Allgemeinen abhinge. Allein diese Annahme sei
zirkulär; Tanabe geht darauf allerdings nicht weiter ein. Vielmehr problematisiert er,
dass ein Noema, dessen Inhalt eine ungenügende Bestimmung bei sich führe – denn der
noematische Inhalt sei, wie die Irrationalität der Geschichte zeige, unerkennbar –
niemals durch die Noesis erreichbar. Im Inneren des Selbstbewusstseins müsse klar sein
Gegenteil liegen (sore ha akarini jikaku no uchi ni atte, shikamo jikaku ni hantai suru
mono denakerebanaranu それは明に自覚の内にあって而も自覚に反対するもので
なければならぬ)618, etwas, das selbst nicht Selbstbewusstsein sei. Tanabe behauptet
dies emphatisch, auch wenn dies zufolge haben sollte, dass das „Prinzip des Lichts“ im
Hintergrund ein „Prinzip der Dunkelheit“ bei sich führe.619 Um dieses Verhältnis auf
Noema und Noesis zu beziehen, thematisiert er das Verhältnis von „aktiver
Affirmation“ und „passiver Negation“ in logischer Hinsicht, um zu zeigen, dass das
Noema, das Nishida ungültigerweise zu Nichts erklärt, durchaus eine Kraft (hitotsu no
chikara 一の力) darstelle.620 Zwar sei die passive Negation der aktiven Affirmation
untergeordnet, doch könne sie nicht allein bestehen (kore wo hanarete dokuritsu suru
mono dehanai 之を離れて独立するものではない). 621 Hier bringt Tanabe seine
wichtige Beobachtung an, dass ein Selbstbewusstsein, das nur auf die Idee des Selbst
reduziert sei, kein „absolutes Selbstbewusstsein“ sein könne. Dieses erst recht im
Vergleich mit Hegels „Begriff“, den Nishidas „Selbstbewusstsein“ mitnichten
überwinde.
616
WL I, S. 136: „Etwas ist also als unmittelbares Dasein die Grenze gegen anderes Etwas, aber es hat sie
an ihm selbst und ist Etwas durch die Vermittlung derselben, die ebensosehr sein Nichtsein ist. Sie ist die
Vermittlung, wodurch Etwas und Anderes sowohl ist als nicht ist.“ Man kann auch die Dialektik von Sein
und Nichts, Endlichkeit und Unendlichkeit, Identität und Verschiedenheit, als Modelle des
Selbstbewusstseins und seiner „Realität“ verstehen. Gut nachvollziehbar an der Dialektik von Etwas und
Anderes ist Hegels Aufzeigen des Etwas als sein Anderes.
617
THZ IV, S. 314.
618
THZ IV, S. 316.
619
Ebd. Ein Wort zu Tanabes Sprache: Tanabes Sprache ist komplexer als die Nishidas, allerdings auch
unklarer. So bedient er sich häufiger bei altchinesischen und buddhistischen Symbolsystemen oder auch
ausdrücklich beim altchinesichen Zitatenschatz (siehe S. 309, Z. 1), ohne diese Querverweise in einen
deutlichen Zusammenhang mit seiner ansonsten recht geradlinigen Argumentation zu stellen.
620
Ebd. An einer anderen Stelle (S. 321) betont Tanabe die Wichtigkeit von Husserls Intentionalität des
Bewusstseins gegenüber Nishidas voluntaristisch-intelligiblem Selbstbewusstsein. Husserls noematische
Bestimmungen innerhalb der Erkenntnistheorie fielen wenigstens nicht in einen „mystischen
Intuitionismus“ (shinpiteki chokkan 神秘的直感), so Tanabe.
621
THZ IV, S. 316.
166
Denn
[w]ürde das sich nichtend sehende Selbstbewusstsein Hegels „Begriff“ überwinden, wenn das
Selbstbewusstsein ein von allen noematischen Rückständen entferntes orthaftes
Selbstbewusstsein zu seiner Substanz (sono honshitsu to suru mono その本質とするもの)
macht, dann käme das Selbstbewusstsein nur durch einen ständig noematisch bestimmten Inhalt
zustande.622
Anders gesagt, der noematische Charakter des Selbstbewusstseins kann selbst dann,
wenn es sich von den Vorgaben desselben frei gemacht zu haben glaubt, nicht
überwunden werden. Erst wenn dieser Zusammenhang gesehen werde, könne Nishida
der Emanationslehre, die sich intrinsisch in dessen Selbstbewusstseinsidee verberge,
ausweichen. Es reiche auch nicht aus zu sagen, dass das Selbstbewusstsein durch
„negative Bestimmungen“ vermittelt sei, wenn diese jeglicher noematischen – d.h.
realen, nicht dem Bewusstsein angehörigen – Grundlage entbehren. Vor allem aber sei
die Negation nicht nur eine Vermittlungsinstanz, sondern die Grundlage jeder
Vermittlung. So sei sie die Grundlage für die Tat und das Wirkende, das Nishida
zufolge umgekehrt erst durch das Sehen des Nichts im Selbstbewusstsein ermöglicht
werde. An einer anderen Stelle betont Tanabe bereits die Wichtigkeit der Negation als
logisch verstandene Instanz. Das bedeutet für ihn nicht, dass ein absolutes Nichts
verunmöglicht werde, es bedeutet nur, dass ein absolutes Nichts eben auch durch Sein
vermittelt und diesem kontradiktorisch gegenüberstehen muss:
Ich denke, dass auch das absolute Nichts gleichzeitig durch Negation vermittelt werden muss.
Doch was bedeutet es, dass das absolute Nichts durch Negation vermittelt werden muß? Weil
das absolute Nichts durch und durch Nichts ist, muss das, was ihm in Negation gegenübersteht,
ein Sein sein.623
Für Tanabe ist die Grundlage sowohl des Wirkens, der Irrationalität der Geschichte, als
auch des Selbstbewusstseins absoluten Nichts „bis zum Letzten das
Negationsprinzip.“624
Auch Nishidas langgehegte Sympathie mit Fichtes „voluntaristischem
Idealismus“ (ishiteki kannenron 意志的観念論) lässt Tanabe nicht unerwähnt, fragt
aber, ob diese nicht ein „Verrat“ am heutigen Standpunkt des orthaften
Selbstbewusstseins sei. Philosophie dürfe ihre begriffliche Erkenntnis nicht durch ein
Verständnis der Wirklichkeit eintauschen, bei der der Realitätsprozess vom Standpunkt
der „Willens-Tat“ beurteilt werde. Bei Nishida, so Tanabe, gebe es noch keine
vollständige Synthese von Sehen und Wirken, ein Problem, das bereits bei Augustinus
auftritt, der versuche, den Neuplatonismus mit den Ideen des Christentums zu verbinden.
Doch das grundsätzliche Problem sieht Tanabe in Nishidas Auffassung von
Selbstbewusstsein, und somit in Nishidas gesamter Bewusstseinsphilosophie:
Die Philosophie von Prof. Nishida, die alles in einem System des Selbstbewusstseins organisiert,
welches auf Bestimmungen beruht, die als äußerste Prinzipien einer Philosophie das
„Selbstbewusstsein absoluten Nichts“ haben, das außerhalb des Selbst als noetisches
622
THZ IV, S. 317.
THZ III, S. 110, auch zit. in Pörtner/Heise (1995), S.364.
624
THZ IV, S. 318.
623
167
Selbstbewusstsein keine Erkenntnisgegenstände übrig lässt und alle sehbaren Noema in sich
faßt, hat das Problem, die Irrationalität der Geschichte, obgleich von ihm betont, nicht in ihr
System integrieren zu können.625
Wie Tanabes Verständnis nach der Geschichtsbegriff bei Nishida bewertet ist, soll im
Folgenden kurz dargestellt werden.
2.2.2. Kritik am Geschichtsbegriff
Tanabe wendet sich primär gegen das „Übergeschichtlich-Absolute“ (chôrekishi zettai
teki naru mono 超歴史絶対的なるもの) in Nishidas System, das – als noetisch
bestimmtes Noema des Jikaku – unerkennbar, irrational und nicht von der
„Idee“ getragen sei. Tanabe behauptet sogar, hier sei der „fundamentale
Kritikpunkt“ seiner Skepsis gegenüber Nishidas System (konpon no gimon ha kono ten
ni kansuru 根本の疑問はこの点に間する)626. Das „Übergeschichtliche“ werde bei
Nishida zum Absoluten und zum „Prinzip“ des Systems erklärt und ende daher in der
ordnenden Organisation eines geschichtlich Relativen, anstatt dass Nishida im
Gegenteil die Abhängigkeit des Übergeschichtlichen durch das es erst begründende
Geschichtliche erkenne. Für Tanabe hat die Relativierung der Geschichte ihren
Hintergrund in der „Religionisierung“ (shûkyôka suru koto 宗教化すること) der
Philosophie. Doch eben diese sei durch Nishidas Bestimmung der Noesis als „alles
verschlingender Grund“ der Noema motiviert, in der auch das Geschichtliche seinen
Platz habe. Tanabe zitiert eine wichtige Passage aus Nishidas Die Selbstbestimmung des
Allgemeinen (Ippansha no jiko gentei 一般者の自己限定) (1929), aus der Nishidas
Bestimmung der Geschichte als defizienter Modus der Noesis klar wird:
In der Geschichte kann die Existenz niemals mit ihrem Inhalt verschmelzen, die [geschichtliche]
Existenz ihren Inhalt niemals zur Regel machen und der [geschichtliche] Inhalt nicht seine
Existenz.627
Noematisch sei dieser Inhalt die unvollkommene, vollständig nicht auszudrückende
Selbstbestimmung eines geschichtlichen Selbst, das noematisch nicht zu erreichen, d.h.
nicht mit den Mitteln der rationalen Erkenntnis erklärbar sei. Hier sei die Irrationalität
der Geschichte auszumachen. Es gebe keine Regel, keine Dialektik in der Geschichte.
Hiermit wendet sich Nishida eindeutig gegen die hegelianisch-marxistische Auffassung.
Tanabe gibt zu, dass das „Warum?“ der Geschichte mit philosophischen Kategorien
allein nicht zu beantworten sei, legt man eine irrationale Wirklichkeit zugrunde. Doch
das „Wie?“ müsse erklärbar sein, wolle die Philosophie nicht sich selbst abschaffen.
„Die Frage nach dem Wie (ikaga ni shite 如何にして) verlangt ein strukturelles Prinzip
dieser Existenz, welches eine selbstverständliche Aufgabe der Philosophie sein
muss.“628 Das Selbstbewusstsein, das Jikaku allein reiche als ein solches Prinzip nicht
aus. Das Problem der Allgemeinheit der Jikaku wurde oben bereits erwähnt: ein die
Geschichte bestimmendes Selbstbewusstsein könne ihr Prinzip nur aus ihrer
625
Ebd.
THZ IV, S. 311.
627
NKZ IV, S. 314, zit. in THZ IV, S. 316.
628
THZ IV, S. 316.
626
168
„Allgemeinheit“ gewinnen, Allgemeinheit sei aber erst durch das Selbstbewusstsein
gegeben. Nishidas Bestimmung des Selbstbewusstseins ist zirkulär und gewinnt ihren
Boden nur aus der Behauptung, dass Geschichte „irrational“ sei.
Doch wie steht es mit der von Nishida geschätzten Idee geschichtlicher Irrationalität?
Tanabe stellt fest, dass auch diese an ihren eigenen Voraussetzungen zu Grunde geht.
Denn es sei das Negationsprinzip, das sich nicht in die geschichtliche Irrationalität
auflösen lasse:
Das sich im Grund (kontei 根底) der Geschichte als wirkender Ursprung (kongen 根源)
befindende Prinzip der Irrationalität muss gegenüber dem Selbstbewusstsein des absoluten
Nichts bis zum Letzten das Negationsprinzip sein. Solange aber das Selbstbewusstsein des
absoluten Nichts die Geschichte als Vermittlung des Wirkenden in sich umfasst, ist es in
Wirklichkeit kein absolutes Selbstbewusstsein und solange es ein wahres absolutes
Selbstbewusstsein sein soll, entsteht die Schwierigkeit, dass Geschichte und Tat nicht in dieses
integriert werden können.629
Hat die Geschichte als Vermittlungsinstanz eine als Negationsprinzip verstandene
Irrationalität und „umfasst“ das absolute Selbstbewusstsein diese, kann es nicht mehr
als „absolut“ gedacht werden, denn es enthält hier bereits seine eigene Negation.
Entweder geschichtlich gedachte Irrationalität lässt sich nicht durch das
Selbstbewusstsein vereinnahmen oder das Selbstbewusstsein ist nicht absolut. Eine
dritte Möglichkeit sieht Tanabe nicht. Grundsätzlich steckt in dieser Kritik aber auch die
Annahme, dass es Nishida an einem fundierten Negationsprinzip fehle. Indirekt setzt
Nishida dieses bereits voraus, wenn er die geschichtliche Noema als „unerreichbar“,
„nicht ausdrückbar“ versteht.
Werde Irrationalität als reine Positivität gedacht, widerspreche es also dem Prinzip der
Unerkennbarkeit des geschichtlichen Inhalts der Noesis, denn dann müsste es erkennbar,
klar und verifizierbar sein. Doch eine als Negation gedachte Irrationalität kann sich das
absolute Selbstbewusstsein nicht einverleiben, ohne an ihm als Absolutes zugrunde zu
gehen. Anders gesagt, das Negationsprinzip als solches widersteht der Vereinnahmung
durch das Selbstbewusstsein schon strukturell:
Das, was der vollständigen Vereinnahmung (tsutzumareru to iu koto 包まれるということ) der
geschichtlichen Irrationalität durch das letzte Allgemeine des Selbstbewusstseins widersteht,
nimmt seinen Ursprung im Negationsprinzip.630
Daher spricht Tanabe auch vom „Schattendasein“ (kage no sonzai 影 の 存 在 )
geschichtlicher Irrationalität, das sie entgegen Nishidas eigener Behauptung in seinem
Denken friste. Ein Selbstbewusstsein des absoluten Nichts, das sein eigenes Prinzip
nicht in der Negation fundiert, könne nicht als ein Allgemeines bestimmt sein. 631
Stattdessen müsse das „Bewusstsein überhaupt“ unter die geschichtliche Systematik
gefasst sein. Nicht das Selbstbewusstsein des absoluten Nichts enthalte das
Handlungsallgemeine, sondern das Handlungsallgemeine reflektiere (utsusu 映す) das
Selbstbewusstsein des absoluten Nichts, und auf Grund dessen sei es das
Negationsprinzip, das das „Letzte“ in sich fasse. Hier werde die Geschichte
629
THZ IV, S. 318.
Ebd., S. 326.
631
Ebd., S. 324.
630
169
rationalisiert. Tanabe will also weitaus mehr sagen, als dass Nishidas Bestimmung des
Selbstbewusstseins als Allgemeines sich relativiere: das Negationsprinzip mache die
Existenz des Allgemeinen erst möglich. Es seien die „Reflexionskategorien“ (wörtlich:
„Die reflexiven Bereichskategorien“ (hanseiteki ryôiki hanchô 反省的領域範疇), die
im Bereich der Erkenntnis die geschichtliche Rationalität ausdrückten. Bekannter weise
ist die Negation in den Reflexionskategorien bereits „reflektiert“, eingegangen. Nishidas
„intelligibles Selbstbewusstsein“ müsse aber genau wie dieses den Geltungsbereich der
Geschichte anerkennen. Nishida versäume dieses und damit auch die Bedeutung der
Geschichte, so Tanabe.
Für Tanabe ist die Struktur der Geschichte durch die Idee vorgegeben. Es komme allein
darauf an, sie so zu bestimmen, dass das intelligible Allgemeine nicht durch sie
begrenzt sei, sondern sie auch begreifen könne. Damit hebt Tanabe Nishidas
Unerkennbarkeits-Prinzip auf. Das Wahre, Schöne und Gute, das bei Nishida
übergeschichtlich strukturiert sei, werde vielmehr erst aus der Geschichte heraus
verstanden. Tanabes recht abstrakte Zuweisung einmal beiseite, sollte nicht unerwähnt
bleiben, dass Nishida die seit ZnK sich durchhaltende positive Bestimmung der
künstlerischen Intuition und des künstlerischen Ausdrucks das erste Paradigma ist, das
gleich nach der Tanabekritik fällt; zu sehen ist das in Nishidas erster und einziger
Reaktion auf Tanabe im Aufsatz Der Bewusstseinsakt als Selbstbestimmung des Ortes
(Basho no jikoteki gentei to shite no ishiki sayô 場所の自己限定としての意識作用)
(September 1930)632, wo die Kunst erstmalig als ein mangelhaftes Derivat der Dialektik
dargestellt wird. Bleibt noch die Religion. Muss am Ende gar davon gesprochen
werden, dass Nishidas Denken, Tanabe zufolge, weniger als philosophisches, sondern
eher als durch religiöse Elemente motiviertes System aufzufassen ist? Wenden wir uns
der grundsätzlichsten Kritik Tanabes zu.
2.2.3. Kritik an der „Religionisierung“ der Philosophie
Methodisch kritisiert Tanabe an Nishida primär das Fehlen begrifflicher Bestimmung.
Sachlich geht Tanabes Kritik vor allem gegen die Konfundierung religiöser und
philosophischer Motive, wie die folgende Darstellung der Kritik zeigt.
Tanabes Kritik an Nishidas „Religionisierung“ der Philosophie beruht auf zwei
Eckpfeilern. Zum einen versteht Tanabe den grundsätzlichen Unterschied von Religion
und Philosophie in der (Nicht)-Systematisierbarkeit der Religion. Jeder Versuch, ein
„religiöses Selbstbewusstsein“ (shûkyôteki jikaku 宗 教 的 自 覚 ) philosophisch zu
systematisieren, müsse scheitern. Zum anderen sei die Erklärung der religiösen
Wahrheit zum Thema der Philosophie der Untergang der Philosophie als „philosophia“,
es bliebe nur eine „sophia“ übrig. Dahinter steckt zum Einen Tanabes Annahme, dass
Philosophie nicht allein durch Weisheit, sondern durch die „Liebe“ zur Weisheit
vorangetrieben werde – eine zunächst nicht ausdrücklich gegen Nishida gewendete
Kritik. Zum Anderen behauptet Tanabe, dass Nishidas Verständnis des
Selbstbewusstseins des absoluten Nichts als religiöses Selbstbewusstsein eine
„Gleichmachung“, „Gleichschaltung“ (dôyô 同様) der Philosophie als Ganze mit ihrem
religiösen Einzelelementen vorantreibe. Der religiöse Inhalt dürfe nicht durch die
Philosophie legitimiert werden. Man muss hier klar sehen, dass Tanabe nicht gegen die
632
In NKZ V, S. 69-92.
170
Religion argumentiert. Er plädiert lediglich für eine klare Unterscheidung beider
Disziplinen, die er bei Nishida vermisst.
Die Religion sei demnach ein alle Bewegung in sich umfassender „absoluter Stillstand“,
die Philosophie dagegen sei die Bewegung, die auf den Stillstand hinauswill.633 Dabei
sei jedoch für die Philosophie der Stillstand stets nur ein vorläufiger, denn sie sei die
stetige Bewegung. So habe sie der Religion die Vermittlungskategorie voraus, durch die
sie sich selbst erhalten kann. Anders gesagt: denke man, dass die Religion sich als
„übergeschichtlich-absolutes“ System konstituiere und die Philosophie sich als
„geschichtlich- relatives“ untergeordnetes Element, und man davon ausginge, dass das
Geschichtliche sich erst durch das Übergeschichtliche, das Relative erst durch das
Absolute begründe, bliebe das System in sich statisch, denn eine Vermittlung des
Absoluten könne nicht gedacht werden. So muss sich Tanabe zufolge umgekehrt das
Übergeschichtliche auf dem Grund des Geschichtlichen formieren. Tanabe macht
Nishida zum Vorwurf, genau dieses Verhältnis von Geschichtlichkeit und
Übergeschichtlichkeit zu ignorieren. In einer „Religionisierung“ der Philosophie ginge
dieser Unterschied unter.634 Daher wolle „die Philosophie qua Relatives gleichzeitig auf
das Absolute hinaus, was der Grund für ihre wahrheitsliebende Bewegung ist.“635 Eine
zur Religion gemachte Philosophie werde, sehe man dieses nicht ein, zu einer
„mangelhaften Kopie“ der Religion.
Das wirkliche Problem bestehe aber in der Nichterfüllbarkeit des Selbstbewusstseins
absoluten Nichts als philosophisches Prinzip.
Das Selbstbewusstsein des absoluten Nichts kann nur als ein religiöses Erlebnis akzeptiert
werden, wenn es sich in einer wie auch immer beschaffenen Realität zeigt; als philosophischsystematisches Prinzip, das als Standpunkt der mannigfaltigen Wirklichkeit das Totale (zentai
全体) organisiert, jedoch gar nicht.636
In Wirklichkeit sei aber auch das religiöse Erlebnis etwas anderes als das
Selbstbewusstsein absoluten Nichts. Es sei die „Rationalisierung des Irrationalen, die
Valuierung (kachika 価値化) des Anti-Werts“, die sich in einem über-rationalen, dem
Wert erhabenen Selbstbewusstsein konstituiere.637 Das religiöse Erlebnis konstituiere
sich nicht in einem als Nichts gedachten Selbstbewusstsein, in dessen Abstraktheit
Irrationalität und Anti-Wert bloß zu „nichts“ verkämen. Die Philosophie müsse ihren
eigenen Standpunkt als Standpunkt der Standpunkte stets vervollkommnen. Die
„Verabsolutierung“ führe dagegen zum Stillstand und Tod der Bewegung.
Es muss als ironisch angesehen werden, wenn Tanabe, der Nishidas System nur als
religionsphilosophisches Derivat anerkennt, zum Ende seiner Kritik hin selbst einen
priesterlichen Ton anschlägt:
Die Philosophie bewahrt einen Standpunkt der Unabgeschlossenheit und wohnt (sumu 住む) in
der Grenzbeziehung einer unendlich reflektierten Bewegung, die zum Absoluten geht; aber ist
nicht im Gegenteil in der Tat (kôi 行為) dieser „unvollkommenen“ freien Stelle (ketsugeki 欠
隙) die Kraft eines Lebens beherbergt, die in der Realität ihren Platz hat?638
633
THZ IV, S. 311.
Ebd.
635
Ebd.
636
Ebd. S. 312, Z. 12 ff.
637
Ebd., S. 315.
638
Ebd., S. 328, Z. 8-10
634
171
Neben Tanabes frommem Ton ist der Impetus des von ihm Intendierten klar. Gerade
dort, wo Philosophie nicht fordert, als das Letzte zu gelten, das unterschiedslos alle
Bestimmungen in einer der Realität erhabenen, weil sie fundierenden Entität – dem sich
als Nichts sehenden Selbstbewusstsein – in sich schließt, entwickelt sie erst ihre
besondere Dignität. So muss gegenüber einer religionisierten Philosophie Widerspruch
erhoben werden. Tanabe stellt sich hier ausdrücklich auf die Seite Kants. Nishida wird
kurze Zeit später, in einem an seinen Schüler und späteren Existenzphilosophen Mutai
Risaku 務台理作 (1890-1974) adressierten Brief vom Juni 1930 behaupten, dass
Tanabe seine Gedanken nicht genügend verstanden habe und noch sieben Jahre später,
wiederum in einem Brief an Mutai, Tanabe konzedieren, er habe sich nicht vom
639
Standpunkt
Kantischer
Erkenntnistheorie
lösen
können.
Eine
„Unterweisung“ Tanabes bleibt jedoch aus.
Gleichzeitig muss jedoch auch gesehen werden, dass Tanabes Kritik zwar auf
fruchtbaren Boden fällt, doch weit davon entfernt ist, einen aufklärerischen Habitus in
Nishidas System zu implementieren. Hier muss eine Anmerkung zu Tanabes eigener
philosophischer Entwicklung erlaubt sein: mehr noch als Nishida versteigt Tanabe sich
ab Mitte der 30er Jahre mit seiner Logik der Spezies (Shu no ronri 種の論理), auf die
die Logik der sozialen Existenz (Shakai sonzai no ronri 社会存在の論理) (1934-35)
und Die Logik der nationalen Existenz (Kokkateki sonzai no ronri 国家的存在の論理)
(1939) folgt, zu einem metaphysisch abgeleiteten Ultranationalismus, in dem die
Religionisierung der Philosophie durch eine Quasi-Religionisierung der Nation ersetzt
wird, die ihm als „die absolute Manifestation der Inkarnation Buddhas“640, das „einzig
Absolute auf der Welt“ sei. 641 Tanabes mit Nishida durchaus vergleichbare
metaphysische Borniertheit muss ebenso wie bei diesem im Fehlen des
materialistischen Gegengewichts in der logischen Erkenntniskritik gesehen werden: die
Verabsolutierung begrifflichen Denkens allein schützt nicht vor den
„Partikularitäten“ des absoluten Geistes. Es ist allerdings Nishidas Denkerische
Entwicklung, die hier thematisiert wird, welche weiter textnah und begriffskritisch
verfolgt werden soll.
3.
Die Geburt des Homo exterior
Zwischen 1931 und 1932 entstehen diejenigen Texte in Nishidas umfangreichem
Oeuvre, die den Schritt von der Welt des fließend-inneren Lebens des
Selbstbewusstseins (Jikaku) zur „geschichtlichen Welt“ des Selbstbewusstseins und zur
639
In Brief Nr. 1339 vom 12.06.1930 heißt es: „Ich kann dieses Begehren nach einer sich auf die
Gelehrtenwelt erstreckenden Hochstimmung, die in Tanabe-kuns Aufsatz zu einer wahrhaft
angriffslustigen Haltung wird, kaum ertragen. Wäre es nicht so, gäbe es womöglich keinen
wissenschaftlichen Fortschritt in unserem Land. Meiner Meinung nach hat Tanabe-kun jedoch noch
immer weder meinen Standpunkt noch mein grundlegendes Denken verstanden. Es macht von nun an
keinen Sinn, ihm zu antworten. Stattdessen sollte ich schnellstens meine Gedanken klären und
niederschreiben. Zunächst erscheint derweil in der nächsten Ausgabe von Shisô der Aufsatz Der
Bewußtseinsakt als Selbstbestimmung des Ortes, den ich Dich bitten würde zu lesen.“ NKZ XX, S. 399400. Am 22.11. 1937 (Brief Nr. 2631) schreibt Nishida an Mutai: „Tanabe-kuns Diskussion (rongi 論議)
mag zwar akkurat (seimitsu 精密) sein, aber sie bleibt abstrakt und kann sich, wie auch immer man es
betrachtet, vom Standpunkt Kantscher Erkenntnistheorie nicht lösen und in die geschichtliche Welt
eintreten.“ NKZ XXII, S. 91.
640
Siehe M. Cestari, „The individual and individualism in Nishida and Tanabe“, Cestari (2008), S. 67.
641
Ebd.
172
Kultur, vom Homo interior zum Homo exterior, markieren. Dabei konfundiert Nishida
seine Selbstbewusstseinsphilosophie des Inneren mit seiner Auffassung des
geschichtlichen, „körperlichen“ Menschen und überträgt die Formen des Selbst auf die
Formen von Geschichte und Kultur. Woo-Sung Huh hat in seinem Aufsatz über den
„philosophic turn“ bei Nishida dieselbe Beobachtung gemacht, die Frage nach Grund
und Motiv allerdings nicht vertieft (Huh 1990). Eine systematische Analyse in Kapitel
IV soll zeigen, wie durch die seinem Denken zu Grunde liegende Annahme eines
hypertrophen Idealismus die problemlose Übertragung des „Inneren“ auf das
„Äußere“ gelingt; vorgängig wäre die Darstellung dieser Übertragungsleistung zu
zeigen, die hier nun erfolgt.
Die die Wende in der 1932 erschienenen Aufsatzsammlung Die selbstbewusste
Bestimmung des Nichts (Mu no jikakuteki gentei 無の自覚的限定) repräsentierenden
Texte „Das, was ich die selbstbewusste Bestimmung des absoluten Nichts
nenne“ (Watakushi no zettai mu no jikakuteki gentei 私の絶対無の自覚的限定という
もの) (Februar/März 1931)642, „Die Selbstbestimmung des ewigen Jetzt“ (Eien no ima
no jikogentei 永 遠 の 今 の 自 己 限 定 ) (Juli 1931) 643 , „Das Zeitliche und das
Nichtzeitliche“ (Jikanteki naru mono oyobi hijikanteki naru mono 時間的なるもの及
び非時間的なるもの) (September 1931)644, sowie „Eigenliebe, Nächstenliebe und
Dialektik“ (Jiai to ta’ai oyobi benshôhô 自 愛 と 他 愛 及 び 弁 証 法 ) (Februar/März
1932) 645 sind nicht die einzigen in dieser Zeit Nishidas Positionsveränderung
markierenden Aufsätze. Zusammengefasst erst 1937 unter dem Titel „Fortsetzung zu
Denken und Erleben“ (Zoku shisaku to taiken 続思索と体験) erschienen, müssen auch
die in einzelnen, meist von Iwanami herausgegebenen Heften publizierten Essays „Das
Studium des Menschen“ (Ningengaku 人間学) (August 1930) 646 , „Die Hegelsche
Dialektik von meinem Standpunkt aus gesehen“ (Watakushi no tachiba kara mita
Hêgeru no benshôhô 私の立場見たからヘーゲルの弁証法) (Februar 1931)647 und
„Geschichte“ (Rekishi 歴史) (August 1931) 648 als Nishidas wesentliche turn-Texte
gelten. Man weiß nicht, warum Nishida 1937, 22 Jahre nach Erscheinen von Denken
und Erleben eine Fortsetzung herauszugeben für nötig hielt, zumal man eine inhaltliche
Kontinuität vermisst. Hinweise mögen die Kommentare Nishidas geben, wie sie in der
Neuausgabe von 1937 seine zwischen 1930 und 1931 entstandenen Texte in ihrer
Relevanz für sein „heutiges Denken“ zu relativieren suchen. So sei der in „Das Studium
des Menschen“ vertretene Geschichtsbegriff, der noch gegenüber dem intuitionistischen
der Augustinischen triadischen Theologie abgewertet wird, „gewöhnlich“ (futsû 普通).
Nishida bemängelt, er habe die Geschichte mit dem „inneren Menschen“ kontrastiert,
und diesen, nicht die Geschichte, als „konkret“ gewürdigt:
Aber heute denke ich nicht mehr in diesem Sinne. Das „innere Selbst“ existiert in der
geschichtlichen Welt. Schriebe ich nun hiernach einen Aufsatz mit dem Titel Das Studium des
Menschen, so fiele er außerordentlich anders aus. Der Mensch ist geschichtlich; er ist ein
642
In NKZ V, S. 93-142.
In NKZ V, S. 143-182.
644
In NKZ V, S. 183- 204.
645
In NKZ V, S. 205-234.
646
In NKZ VII, S. 225-235.
647
In NKZ VII, S. 262-277.
648
In NKZ VII, S. 236-261.
643
173
kreatives Element (sôzôteki yôsô 創造的様相) in der kreativen Welt. Der in Über die
Dreieinigkeit repräsentierte Menschheitsbegriff Augustinus’ ist das Menschenbild, das
Menschen von der Perspektive des transzendenten Gottes sieht; viel eher müsste man das
Menschenbild als Studium des geschichtlichen Menschen neu überdenken. Ich denke, als ich
diesen Essay schrieb, lag mein Schwerpunkt noch auf dem „inneren Menschen.“649
Auch im ebenfalls 1937 verfassten Nachwort zur Hegelschen Dialektik, wie ich den
Aufsatz der Kürze halber nennen möchte, beklagt Nishida sein ungenügendes
Verständnis Hegels in den frühen 30er Jahren, das er sich aus dem „Zeitgeist“ der
Aufsätze von Die selbstbewusste Bestimmung des Nichts selbst zuzuschreiben habe,
Repräsentant eines „unvollständig-abstrakten“ Denkens. Nishida befasste sich im Zuge
der Tanabe-Kritik vermehrt mit Hegel, wie die Auseinandersetzung mit dem
Dialektikbegriff zeigt, die er als „diskontinuierliche Kontinuität“ mit eigener
Begrifflichkeit auszustatten versucht. In diesem im Februar 1931 entstandenen Aufsatz
geht es ihm wie so oft um Standortbestimmung seines Verständnisses des absoluten
Nichts als das „konkrete Leben“, das von Hegels prozessualer, abstrakt-allgemeiner
Logik unterschieden werden müsse. Die wahre Selbstbestimmung des Allgemeinen, das
Hegelsche konkrete Allgemeine, sei der „innere Zusammenhang“ des
Selbstbewusstseins in seiner noetischen Ausrichtung. Das sei „wahre“ Dialektik.650
Hier versucht Nishida auch eine Neubestimmung der Irrationalität, die er nicht mehr
eng als das Unerkennbare definiert. Sie wird nun als „Tatsache, die die Tatsache selbst
bestimmt“ (jijitsu ga jijitsu jishin wo gentei suru 事実が事実自身を限定する),
„Gegenwart, die die Gegenwart selbst bestimmt“ (genjitsu ga genjitsu jishin wo gentei
suru 現 実 が 現 実 自 身 を 限 定 す る ), „Wirklichkeit, die die Wirklichkeit selbst
bestimmt“ (jitsuzai ga jitsuzai jishin wo gentei suru 実在が実在自身を限定する)651
gefasst und als in ihrem Inneren zutiefst irrationale Idee verstanden. Nishida spricht der
Idee jegliche Teleologie und Rationalität ab, wendet sie damit einerseits gegen Hegel,
lässt sich andererseits so aber auch auf eine Diskussion des Idee-Begriffs ein, die nun
nicht mehr zu den zu vernachlässigenden Aspekten der Selbstbewusstseins-Rhetorik
gehört. Die Idee interpretiert Nishida zwar anders als Hegel – Nishida ist in dieser Zeit
vornehmlich von der Geschichtslehre Leopold von Rankes (1795-1886) geprägt, der
sich als ausdrücklicher Gegner Hegels versteht –, gesteht ihr aber Daseinsberechtigung
zu. Im Hintergrund der Vernunft und gegen die Natur wird hier auch zum ersten Mal
Geschichte als eigenständige Instanz gedacht.
An dieser Stelle sei an das Vorwort der Neuausgabe von ZnK aus dem Jahre 1936
erinnert, das auch deutliche Spuren von Nishidas Umdenken und der Ablehnung seiner
früheren Bewusstseinsphilosophie aufweist. Nishida sieht 1936 die Position aus ZnK als
„psychologistisch“ – dann jedoch, wie um den theoretischen Überbau aus demselben
Werk in die neue Philosophie des geschichtlichen Menschen hinüberzuretten, legt er
fest:
Die Welt der unmittelbaren Erfahrung und die Welt der reinen Erfahrung, wie sie in diesem
Buch erörtert wird, denke ich heute als die Welt der geschichtlichen Realität. Die Welt der
649
NKZ VII, S. 234-235.
NKZ VII, S. 271.
651
Alle Wendungen: NKZ VII, S. 272.
650
174
handelnden Anschauung (kôiteki chokkan 行為的直観) und die Welt der Poesis ist genau das,
was die Welt der reinen Erfahrung eigentlich ist.652
Nishida sucht nun eine neue Bühne für die Austragung seines identitätsphilosophischen
Schauspiels auf. Auf dieser wird nun das zwischen 1911 und 1931 im Selbstbewusstsein
sich Abspielende im Rahmen von Geschichte, Handlung und Akt reinszeniert. So
konkretisiert Nishida im Jahre 1940 die Idee des (absoluten) Nichts, indem er sie auf die
Geschichte des japanischen Kaiserhaus anwendet: „In der Geschichte unseres Landes
war das Kaiserhaus immer das Sein des Nichts, die widersprüchliche Selbstidentität.“ 653
Jedoch werden beide Ebenen, sowohl die Bewusstseinsphilosophie, als auch die
geschichtliche Welt, von ontologischen Kategorien zusammengehalten. Huh, der
dieselbe Diagnose macht, spricht in diesem Zusammenhang von einem
„Kategorienfehler“. 654 Um die Übertragungsleistung der Konstanten der
Selbstbewusstseinsphilosophie auf die „Geschichte“ aber im Einzelnen
nachzuvollziehen, muss bei Nishidas Versuch, jene in Abrede zu stellen, aber genau
gefragt werden, was an ihre Stelle tritt. Zunächst scheint es nämlich, er würde er die
Begriffe des Jikaku, der Noesis etc. von nun an rundheraus und der Sache nach
ablehnen. An ihre Stelle treten Begriffe wie die „gesellschaftliche
Bestimmung“ (shakaiteki gentei 社会的限定), die „Selbstbestimmung des ewigen
Jetzt“ (eien no ima no jiko gentei 永遠の今の自己限定), die „Handlung“, die Dialektik
von Allgemeinem und Besonderen usw., die ebenso wenig bestimmt und erklärt werden
wie die Begriffe seiner Philosophie des Homo interior. Sie weisen einen immensen
Abstraktionsgrad auf, der heikel für die angebliche Konkretion ist, die Nishidas Denken
seiner Selbstauskunft zufolge erfahre. Der Text Geschichte 655 (August 1931)
verdeutlicht dieses, und im Nachwort aus der Neuauflage von 1937 gibt Nishida zu
verstehen:
In diesem Aufsatz wird unser Selbst bereits in der geschichtlichen Welt gedacht. Aber dass die
Basis der geschichtlichen Welt wiederum im Selbstbewusstsein (jikaku 自覚), der Liebe oder
einfach in den noetischen Dingen gesehen wird, war wohl in dieser Zeit unvermeidlich. Dieser
Gedanke war zwar kein Fehler, kann aber dem Abstrakten nicht entkommen. Darüberhinaus ist
die gesellschaftliche Bestimmung hier mit einem gewöhnlichen Denken nicht zu verstehen. Wie
ich später sage, hat die gesellschaftliche Bestimmung die Bedeutung, die Selbstbestimmung des
ewigen Jetzt, die die Basis der Geschichte ist, als dialektische Selbstidentität von individueller
Bestimmung und allgemeiner Bestimmung gedacht zu werden. Der Hintergrund dieses
Aufsatzes bildet die Entstehungszeit von Die selbstbewußte Bestimmung des Nichts.656
Ausdrücklich distanziert sich Nishida vom Selbstbewusstsein (Jikaku) als dem alles in
sich Umfassenden. Das muss als eindeutige Neubewertung seiner früheren Ideen aus
„Ort“ und den „Zusammenfassenden Erklärungen“ gewertet werden. In Geschichte
bahnt sich bereits der Primat der Handlung und der „Geschichte“ vor dem Ausdruck
und dem Jikaku an, der ab 1934 in Nishidas Theorie der „handelnden
652
„Vorwort zur Neuausgabe“ (Han wo aratani suru ni atatte, 版を新たにする当たって), NKZ I, S.3,
Elberfeld (1999a), S. 22-23.
653
NKZ IX, S. 49. Dazu mehr in V.2.
654
Huh (1989), S. 1.
655
Ich behalte die kursive Schreibweise des Aufsatztitels bei, um ihn im Schriftbild besser vom Begriff
„Geschichte“ absetzen zu können.
656
NKZ VII, S. 261.
175
Anschauung“ (kôiteki chokkan 行為的直観) zu einer Identität der Gegensätze von
Individuum und Gesellschaft, Subjekt und Umwelt, Einzelnem und Allgemeinem in der
„geschichtlich-schöpferischen Welt“ verdichtet wird. Nishida geht es um das
„Konkrete“: „Auch wenn die Phänomenologie behauptet, sie spreche über Konkretes,
so muss die wirklich konkrete Phänomenologie eine Phänomenologie der
geschichtlichen Realität sein.“657 Dass die Phänomenologie der geschichtlichen Realität
bei Nishida sich in der Sache kaum als Konkretes erweist und entgegen der Rhetorik
mit der Selbstbewusstseinsphilosophie verhaftet bleibt, will die Darstellung der Wende
bei Huh Woo-Sung zeigen.
3.1.
Die Wende nach Huh Woo-Sung
Huh Woo-Sung hat mit seiner Dissertation A Critical Exposition of Nishida Philosophy
(1989) und seinem wichtigen Aufsatz „The philosophy of history in the ‚later’ Nishida:
A philosophic turn“ (1990) nicht nur entscheidende Impulse für die vorliegende
Untersuchung geliefert, sondern steht mit seiner These einer Unterteilung des
Nishidaschen Schaffens in zwei Phasen, die er im Turn vom Homo interior zum Homo
exterior begründet, allein auf weiter Flur. Andere, wie Elberfeld oder Kobayashi, sehen
die zwei Phasen in Nishidas Denken zwar, begründen aber die letztere Phase nicht aus
der ersteren.658
Tanabe stellt der Ungenügendheit der Selbstbewusstseins- und Noesis-Philosophie
Nishidas mit seiner Kritik ein öffentliches Zeugnis aus. Sie besteht wesentlich auch in
dem von Nishida nicht geleisteten Geschichtsbegriff. In seiner Reaktion, den
Geschichtsbegriff nun in sein System zu integrieren, bleibt Nishida jedoch methodisch
konsequent mit seinem intuitionistischen Identitätsdenken verhaftet, das „geschichtliche
Tatsachen“ als Phänomene eines einheitlichen Selbstbewusstseinsphänomens denkt.
Wie oben bereits angedeutet, behauptet Huh, dass Nishidas Philosophie als Ganze einen
Kategorienfehler aufweise, die der direkten Identifikation der Formen des HistorischPolitischen mit den Formen des Selbstbewusstseins geschuldet ist. Huh:
Nishida’s extension of ontological operators to his historical-political thinking, or his assertion
of a direct union of self-consciousness and the historical world, is seen as fundamentally
inappropriate. It fails to appreciate the incompleteness of a historical epoch and the culpability
of the state. I call this union a category mistake, since acts of self-consciousness and a historical
epoch are not similar enough to be treated by similar ontological operators.659
Inwiefern der These Huhs ausdrücklich zugestimmt werden muss, soll sich in diesem
und im nächsten Abschnitt (III. 3.2.) durch eine genauere Untersuchung der Wende zum
Historischen bei Nishida erweisen. Wie genau zeigt sich Huh zufolge Nishidas Abkehr
vom Homo interior hin zum Homo exterior?
657
NKZ VII (1966), S. 4, Elberfeld (1999a), S. 59
Huh wendet sich dagegen explizit gegen die Interpretation D. Dilworths, der in Nishidas Denken eine
soteriologisch-religiöse Kontinuität sieht, ohne der Eigenständigkeit des Politisch-Historischen eine
maßgebliche Rolle zuzusprechen. Begründet wird dieser Vorwurf aus den stark tendenziösen und
interpretierend eingreifenden Übersetzungen der Nishidaschen Werke durch Dilworth. Siehe Huh (1990),
S. 372-373.
659
Huh (1989), S. 1.
658
176
In seinem Aufsatz „The philosophy of history in the ‚later’ Nishida: A philosophic
turn“ verweist Huh auf einen frühen Brief Nishidas von 1896, in dem dieser von der
vergänglichen Welt (ukiyo 浮き世) spricht, die er als lästig empfindet und der er mit
einem Rückzug auf das innere Selbst, nicht zuletzt durch Zen-Meditation, antwortet.660
Das eigene Selbst sei der einzig verlässliche Grund, der einzige unbeugsame „Fels in
der Brandung“ in einer Welt voller äußerer Enttäuschungen, die die „reale Welt“ mit
sich bringe. Ob dies tatsächlich als Grund für die Beschäftigung Nishidas mit
Bewusstseinsphilosophie gewertet werden muss, möchte ich bezweifeln; Huhs
Bewertung und Interpretation von Nishidas schließlicher „Rückkehr“ zu der Welt, die er
einst als „vergänglich“ bezeichnet hatte, halte ich für aufschlussreicher. Die einst als
vergänglich erachtete Welt erhält eine volle ontologische Realität in der Phase zwischen
1931 und 1932:
By virtue of this philosophy of history, Nishida is going to return to the world he once deserted
and called transitory. But this time, the transitory world does not remain transitory. It takes on
full reality and becomes as divinelike as an individual act of self-consciousness. His returning to
ukiyo is possible only after this world is secured as an ontologically real world or religious
world by the application of the forms of self-consciousness. In that newly born world, there is
an almost perfect harmony or unity between individuals and state, in a way similar to Hegel’s
argument in Reason in History. Hence, the state becomes the divine Idea as it exists on earth.661
Wie entwickelt Nishida nun aus dem Gedanken eines sich in seinem eigenen Selbst
sehenden Ich 662 eine identitätsphilosophische Staatstheorie, die ihre realen
Ausformungen in Geschichte, Epoche bzw. Zeitgeist, Gesellschaft und sogar in der
„Art“ (shu 種) hat?
In Geschichte kann man in der Tat den ersten Keimling erkennen, der sich zu einer auf
die Philosophie des Selbstbewssßtseins gestützten Geschichtshermeneutik entwickeln
wird, zu deren theoretischem Zentrum Nishida ab 1937/38 den japanischen Staat
bestimmt. In diesem Sinne gibt es bei Nishida auch keine politische Theorie oder
Staatstheorie. Die objektive Welt wird in die Idealität seiner Jikaku-Philosophie
aufgehoben; auch ein Grund dafür, dass der Begriff prästablilierter Harmonie zum Ende
seiner Schaffenszeit eine immer wichtigere Rolle spielt.663 Nishidas späte Ideen zur
Selbstbewusstseinsproblematik lassen sich nach Huh folgendermaßen zusammenfassen:
das Jikaku sei 1). aktiv und selbstbestimmend, 2). selbsterkennend, woraus folgt, dass es
3). selbst-intentional sei und die Husserlsche Vorstellung von Intentionalität abgelehnt
werde. 4). Sei das Jikaku in einem dezidierten Sinne zeitlich, nämlich als
Selbstbestimmung
des
absoluten
Jetzt,
oder
als
„diskontinuierliche
Kontinuität“ (hirenzoku no renzoku 非連続の連続). Hier verorte Nishida sich erstmals
gegen Bergsons reine Dauer, die den Aspekt der Negation, des „wahren Todes“, in
660
Huh (1990), S. 352-353, NKZ XVIII (1966), S. 41.
Huh (1990), S. 353.
662
Diese „dreifaltige Struktur“ des Selbstbewusstseins – „sich“, „in sich selbst“, „selbst sehend“ – sieht
auch Huh: “The complete form of self-consciousness is ‘self’s seeing itself in itself’ which involves three
moments: ‚seeing’, ‚itself’ and ‚in itself’. ‚Seeing itself in itself’ is deemed religious salvation […]“ Huh
(1990), S. 345.
663
Nishida selbst erläutert seine Vorstellung des Staates erst in den Texten Ende der 30er, Anfang der
40er Jahre, darunter Das Problem der Staatsräson (Kokka riyû no mondai 国家理由の問題 (1941) in
NKZ IX, S. 301-356. Auch hier bleiben politiktheoretische Erörterungen der Art, wie man sie aufgrund
des Titels vielleicht erwarten würde – etwa über die legislative, exekutive und judikative Gewaltenteilung
in einem (Ideal-)Staat – ausgespart.
661
177
seiner schöpferischen Lebensphilosophie unterbestimmt habe. Auch das Räumliche
greift bei Bergson zu kurz, wie Nishida meint.664 Der Gedanke des Diskontinuität, den
Nishida bei Bergson vermisst, wird allerdings in Geschichte beibehalten und vehement
vertreten, worauf ich in der Textanalyse zurückkommen werde (III. 3.2.2.). Eine weitere
Idee aus der Spätphase der Nishidaschen Selbstbewusstseinsphilosophie sei das sich 5).
zu „the most important logical apparatus in Nishida’s philosophy“ entwickelnde
Einzelne-zugleich-Viele (One-qua-Many), die Logik des Eines-zugleich-Vieles (ichisoku-ta 一即多). Sie bilde den logischen Apparat in Nishidas Welt als dialektisches
Allgemeines (Benshôhôteki ippansha toshite sekai 弁 証 法 的 一 般 者 と し て 世 界 )
(1934).665Weitere Aspekte der reifen Selbstbewusstseinstheorie seien hiernach 6). der
emotionale Aspekt (Liebe) und 7). Die Religiosität. Mit der Wende zur Geschichte wird
für Huh aber klar:
Self-consciousness is changed into historical self-consciousness, individual becomes historical
individual, activity becomes historical activity, and place becomes historical or public place.666
Die Neubestimmung des Ortes ist jedoch Huh zufolge der wesentliche Austragungsplatz
für Nishidas Umdenken nach 1931. Es sei der Begriff des Ortes, der eine neue
Bedeutung erhalte: als geschichtlicher und als „öffentlicher Ort“ (ôyake no basho 公の
場所) werde er direkt in den staatsideologischen Tennô-Diskurs integriert – schließlich
bedeutet ôyake, ein Begriff, der mit „öffentlich“ oder „offiziell“ nur ungenau
wiedergegeben werden kann, die Identifikation des Tennô mit allen öffentlichen, aber
auch privaten Aspekten des japanischen Lebens.667 Seine Ubiquität ist in der Tat als
Vorstellung von einem Staatsrepräsentanten in ausgezeichnetem Sinne einzigartig: der
Tennô repräsentiert nicht Japan, sondern ist Japan und umfasst alle Aspekte des
alltäglichen Lebens. Möglicherweise hat Nishida genau dieser Aspekt des Tennôismus
fasziniert, weshalb der „Ort“ zum öffentlich-offiziellen, mit dem objektiven Glauben an
die Gottgleichheit des Tennô einhergehender Ort bezeichnet wird. „Öffentlicher
Ort“ wird in engem Zusammenhang mit dem geschichtlich-räumlichen Ort, sowie der
eingangs erwähnten absolut-widersprüchlichen Selbstidentität (ein noch genauer zu
betrachtender Begriff) diskutiert. Die Identifikation des „Öffentlichen“ als Tennô ist
zudem eine feststehende, anerkannte Redeweise, da der Tennô nicht namentlich genannt
werden darf. In einem 1941 veröffentlichten Text, den Preliminarien zu einer
Philosophie der Praxis (Jissen tetsugaku joron 実践哲学序論) heißt es:
664
„[Das wahre Leben] ist nicht wie bei Bergsons schöpferischem Prozess eine kontinuierliche innere
Entwicklung, sondern diskontinuierliche Kontinuität. Es ist das, was stirbt und so neu geboren wird.“ In
„Ich und Du“ (Watashi to nanji 私と汝 ) NKZ VI (1966), S. 356.
665
NKZ VII (1966), S. 305-428.
666
Huh (1990), S. 357.
667
Der oft in linken Diskursen vertretene Ausspruch „Das Private ist politisch“ ist in Japan innerhalb der
Tennôideologie für reaktionäre Sprechakte reserviert: im strengen Sinne gibt es kein Privates und
Öffentlichkeit wird nicht durch den Bürger (shimin 市民), sondern durch den Tennô bestimmt. Hinzu
kommt, dass die japanische Verfassung den Begriff des Bürgers im Sinne der Zivilgesellschaft nicht
kennt. Der zivilgesellschaftliche Bürger wird durch den Volks- oder sich auf die ethische Zugehörigkeit
beziehenden Staatsbürger ersetzt (kokumin 国民). Siehe zu dieser Problematik: Saitô Junichi 斉藤純一
Kôkyôsei 公共性 (Öffentlichkeit), Iwanami (2000) und Yamawaki Naoshi 山脇直司 Kôkyôtetsugaku to
ha nanika 公共哲学とは何か (Was ist die Philosophie der Öffentlichkeit?), Chikuma Shinsho (2004).
Ich danke Mai Aoki (Martin Luther-Universität Halle) für diesen Literaturhinweis.
178
Die widersprüchlich-selbstidentische absolute Gegenwart nenne ich Ort, welcher zugleich ein
geschichtlicher Raum ist […] im öffentlichen Ort qua geschichtlichem Ort formen wir die Dinge,
was bedeutet, dass wir die Dinge im geschichtlichen Raum sehen.668
In Huhs Verständnis ist die Historisierung des Ortes nicht die einzige „Konkretisierung“,
die sich in der späteren Philosophie Nishidas bemerkbar macht. In diesem
Zusammenhang erfahre auch der Raum eine Neubestimmung.669 Der Raum verliere in
Nishidas Spätphilosophie den abstrakten Charakter und werde zu einer konkreten,
Ausdehnung bezeichnenden Räumlichkeit hypostasiert, die gerade auch für die
geographische Lage Japans stehen könne.670 Die Logik des Raumes, wie die der Zeit,
die sich in der offiziellen Formel des Bansei ikkei 万世一系 niederschlägt – der
ununterbrochen-ewigen Reihe der göttlichen Herrschaft seit Urzeiten, ein Terminus, der
auch von Nishida in seinen Spätschriften emphatisch verwendet wird – bekomme so in
der Philosophie der Geschichte ein festes Fundament.
Auch der Zeitaspekt erfährt eine grundsätzliche Erweiterung:
Wenn Geschichte die Bestimmung des ewigen Jetzt ist, dann ist unser Selbstbewusstsein als
Bestimmung des Nichts der ideelle Inhalt (ideyateki naiyô イデヤ的な内容), der in der
geschichtlichen Bestimmung Epoche und Epoche miteinander vereinigt., d.h. der
„Zeitgeist“ (jidai no seishin 時代の精神) [...] In dieser Epoche ist als das Absolute unser
ganzes Leben zu sehen und zu bestimmen (sono jidai, sono jidai ga zettai toshite soko kara
zenjinsei to iu mono ga mirare, gentei serareiku no dearu その時代、その時代が絶対として
そこから全人生というものが見られ、限定せられ行くのである).671
Huh kommentiert: „In this passage, one of the forms of self-consciousness, the
determination of the eternal now, is employed to explain ‚history’ and ‚epoch’. The
‚spirit of the epoch’, previously rejected, is raised to full ontological status by the form
of determination of the eternal now.“672 Nicht nur wird der Zeitaspekt wie in den
früheren Werken aus der Struktur des Selbstbewusstseins gewonnen, sondern in der
Philosphie des „äußeren“ Menschen wird der Selbstbestimmung des ewigen Jetzt eine
ontologische Priorität zugedacht, dessen inhaltliche Seite jetzt das geschichtliche
Selbstbewusstsein ausmache. Darauf wird ebenfalls in III. 3.3.2. („Idee und
Zeitlichkeit“) zurückzukommen sein.
Ein weiterer Transferprozess von Begriffen seiner Homo interior- auf seine Homo
exterior-Philosophie kann beobachtet werden, so Huh. In Über die Lebensphilosophie
(Inochi no tetsugaku ni tsuite 生の哲学について) (1932)673 werde der emphatisch
verwendete Begriff der Unmittelbarkeit dem Kontext der Selbstbewusstseinsphilosphie
enthoben und in den Geschichtsdiskurs überführt. Tatsächlich suggeriert Nishida
668
NKZ X (1966), S. 98. Hervorh. EL.
Huh (1990), S. 363: „In the philosophy of self-consciousness, the ‚spatial’ is a metaphor which does
not imply spatial extension. In philosophy of history, however, it refers not only to a logical character of
absoluteness, but to extensive spatiality. It refers to a specific place, for example, Japan.“
670
Ich verweise auf Das Problem der japanischen Kultur (Nihon bunka no mondai 日本文化の問題,
1938 und 1940), der Japan als kulturell-geographischen Raum explizit thematisiert. Dazu mehr in V.2.
671
NKZ VII, S. 251.
672
Huh (1990), S. 354.
673
NKZ VI (1966), S. 428-451.
669
179
geradezu eine Intimität mit Geschichte, indem er sie mit dem persönlichen „Du“ (nanji
汝) identifiziert:
Wenn wir auf dem Standpunkt des handelnden Ich auf dem Grund unseres Selbst das Du sehen,
das heißt das absolut andere als das Du sehen, dann sehen wir in unserem Selbst die
Geschichte.674
Auch der transzendente Gott wird wie in früheren Werken abgelehnt, aber aus anderen
Gründen: nicht, weil Gott in uns sei, sondern weil der neue Gott in uns als Geschichte
verstanden werden müsse. Rankes Ausspruch von der Gottesunmittelbarkeit jeder
Epoche – „Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott“ – ist der hier auch bei Nishida
programmatisch zu verstehende Satz, der in Geschichte eine tragende Rolle spielen wird.
Bereits einige Jahre vor Nishidas expliziter Bezugnahme auf das realpolitische
Geschehen mit dem Apparat seiner Identitätslogik des Homo exterior muss eine Phase
des Sich-Losreißens von der Selbstbewusstseinsproblematik ausgemacht werden, die
sich in einigen Texten des Übergangs niederschlägt. Außer in Geschichte findet sich ein
Dokument dieses scheinbaren Abschieds von der Philosophie der Innerlichkeit auch in
dem irreführend betitelten Selbstliebe, Nächstenliebe und Dialektik (Jiai to ta’ai oyobi
benshôhô 自愛と他愛及び弁証法) (März 1932)675 – zeitlich also bereits ein Text nach
der Wende – in dem sich der Primat des Historisch-Körperlichen gegenüber dem
Geistig-Psychologischen, aber auch gegenüber dem Bewusstseinsbegriff überhaupt
bemerkbar macht. Nicht nur distanziert sich Nishida hier für seinen kühlen Stil
ungewöhnlich hitzig gegen die angeblichen Versuche der Physiologen, das
„wahre“ Bewusstsein „in der Hirnrinde“ zu lokalisieren, sondern verortet unser
„körperliches Selbst“ (shintaiteki jiko 身体的自己) in der geschichtlichen Welt, denn
wir sind Nishida zufolge „Geschichtsmenschen“ (rekishijin 歴 史 人 ) 676 . Ein
„sogenanntes Bewusstseins-Ich“ sei ohnehin nur etwas „Gedachtes.“ 677 Vielmehr
besitzen wir als Geschichtsmenschen und als Freiheitsmenschen (jiyûjin 自由人) einen
„geschichtlichen Körper“ (rekishiteki shintai 歴史的身体)678. In konkreter Bedeutung
seien unsere Sinnesorgane „individuell“ und „geschichtlich“, worin die wahre
Rationalisierung des Irrationalen liege.679 Die geradezu entrüstete Ablehnung eines den
Menschen als Geist, Bewusstsein und reine Spiritualität verstehenden Menschenbildes –
ein Menschenbild, das Nishida selbst in ZnK, aber auch darüber hinaus vertreten hatte!
– wird unmissverständlich klar. Der „neue Mensch“ ist bei Nishida der Mensch der
Geschichte.
3.2.
Geschichte (Rekishi 歴史) (1931) – Annäherung an eine Hermeneutik des
Geschichtsmenschen
Bis zu den sich in Fortsetzung zu Denken und Erleben versammelten Texten hatte das
intuitive „Fließen des inneren Lebens“ bei Nishida eine eindeutige ontologische
674
Ebd., S. 444.
NKZ V, S. 205-234.
676
NKZ V, S. 210.
677
Ebd.
678
Ebd., S. 230.
679
Ebd.
675
180
Priorität vor dem Geschichtlich-Gesellschaftlichen. Dieses wird nach 1931 allerdings
zum primären Ort der Selbstbewusstseinsproblematik erklärt. Wichtig zu bemerken ist
jedoch, dass diese Absetzbewegung rein äußerlich ist. Sie steht nicht für eine Wende zu
einem etwa „materialistischen“, „konkreten“ Denken, sondern vertritt vehement die
Integration der Philosophie der Geschichte in die Formen des Selbstbewusstseins.
Indem Nishida sein abstraktes rhetorisches Werkzeug nach der Wende in Abrede stellt
und sich auf den Weg macht, die „Dialektik“ von Einzelnem und Allgemeinem in der
Geschichte zu evaluieren, sorgt er nicht etwa für eine Erhellung oder Konkretisierung –
man erfährt wohl, wie oben bereits erwähnt, dass Geschichte irgend sei, aber nicht wie.
Weiterhin bleibt die politische Dimension, die bei einer Exegese des Geschichtsbegriffs
nahe läge, ausgeblendet. Vagheit bestimmt auch hier das philosophische Unternehmen
Nishidas, wird jedoch nun auf einem neuen Feld ausgetragen: Selbstbewusstsein als das
sich nichtend Sehende verstanden lässt keine Entwicklung zu, weder aus sich noch aus
dem per se schon verunmöglichten Anderen. In Geschichte überträgt Nishida daher den
„selbstbewussten Prozess“ auf das Verhältnis der Gesellschaft und der Geschichte.680
Man sollte vielleicht sagen, dass Geschichte ein das eigene Selbst ausdrückender
selbstbewusster Prozess ist. Aber wenn das sich nichtend selbst Sehende (mu ni shite jikojishin
wo miru mono 無にして自己自身を見るもの) unser wahres Ich ist, dann ist unser wahres Ich
in der Geschichte; unser wahres Selbstbewusstsein besteht in der Geschichte [...]681
Wie stark Geschichte das neue Feld seiner Ontologie des Selbstbewusstseins bestimmt,
verdeutlicht auch folgende Aussage:
Daher werden wir in der geschichtlichen Welt geboren und sterben auch darin. Kein Held (ijin
偉人) kann der Tatsache entkommen, ein geschichtliches Produkt zu sein.682
In den einleitenden Zeilen zu Geschichte liefert Nishida einen Rundumschlag über
allgemein bekannte, als Sternstunden in der Entwicklung der Wissenschaften geltende
philosophiehistorische Momente: so begründete Aristoteles als „Vater der modernen
Wissenschaft“ Wissen auf Erfahrung, stellte Newton mit seinem „Ich erfinde keine
Hypothesen“ („Hypothesis non fingo“) den strengsten Begriff von Wissenschaft auf,
wurde Kant durch Hume aus seinem „dogmatischen Schlummer“ geweckt und stellte
sich daraufhin die dann zur „Revolution in der Denkweise“ führende Frage, wie reine
Mathematik und Physik als Wissenschaften möglich seien.683 Nishida sieht sich nun in
der Tradition dieser Sternstunden, wenn er sein Projekt als Frage nach der Möglichkeit
der „Geschichte“ als Wissenschaft stellt: Kant habe eine Bestimmung der Geschichte
als Wissenschaft unterlassen, weshalb nun ihm, Nishida, diese Aufgabe zufalle.
Nishidas Frage lautet: mit welchen (natur-)wissenschaftlichen Paradigmen könne man
Geschichte erklären? Dabei bezweifelt er die Möglichkeit, aus den bisherigen Methoden
zur Erklärung von Phänomenen, die nur auf Erfahrung, aber auch auf bloßer
Spekulation beruhen (wie die Weissagungen aus der chinesischen Junjû-Zeit [ca. 722481 v. Chr.]), auf eine Regelmäßigkeit in der Geschichte schließen zu können.
Gleichzeitig sucht Nishida nach einer Abgrenzung gegen die sich Ende des 19.
680
NKZ VII, S. 248 ff.
Ebd., S. 248. Hervorh. EL.
682
Ebd., S. 240.
683
Ebd., S. 236.
681
181
Jahrhunderts formierende Geschichtswissenschaft, in der „Dilthey hegelianisch“ und
„Windelband kantianisch“ 684 dachten. Besonders gegen die Herausbildung
hermeneutischen Denkens bei Dilthey ist Nishidas Geschichtsbegriff gerichtet: Das
emphatische Verstehen von Regelmäßigkeit und Zusammenhang steht im schärfsten
Kontrast zu dem von Nishida Intendiertem, sucht er ja nach einer Grundlage der sich in
allen geschichtlichen Phänomenen und Ereignissen angeblich zeigenden Irrationalität
und Zusammenhanglosigkeit. Der hermeneutische Zentralbegriff des Verstehens sei
zwar ebenfalls für die Erklärung von Geschichte untauglich – soweit er als Auslegung
begriffen werde – in enger thematischer Nähe zur Selbstbewusstseinsproblematik lasse
sich aus ihm jedoch historische Erkenntnis gewinnen. Darauf möchte ich in III. 3.2.2.
eingehen.
Die antike Geschichtsschreibung – Nishida nennt Herodot, aber auch Homer – habe nur
geschichtliche Fakten gesammelt, im Hintergrund müsse aber auch hier eine Idee
angenommen werden, da man geschichtliche Tatsachen (rekishiteki jijitsu 歴史的事実)
von Erfahrungstatsachen unterscheide und jenen somit ein nicht-empirisches Paradigma
unterstelle: „Hier liegt der fundamentale Unterschied der Objektivität von
naturwissenschaftlichen und geschichtlichen Tatsachen.“685 Wie könne ein solches, sich
ausdrücklich nicht auf Messen und Sezieren gründendes Geschichtswissen
verallgemeinert und so zu einer eigenständigen Wissenschaft werden? Hieraus wird
deutlich, dass die Philosophie des objektiven Geistes für das irrational gedachte Selbst
keine „Bedrohung“ mehr darstellt. Nishida:
Aber Geschichte ist nicht einfach das, was wir in unserem Herzen denken oder fühlen, keine
sogenannte Tatsache unserer sogenannten „inneren Wahrnehmung“, sondern ein
Bewusstseinsinhalt, der sich durch die Handlung im Außen zeigt, im weitesten Sinne ein
Ausdrucksinhalt. Aber ein nur ausgedrückter Bewusstseinsinhalt kann keine Geschichte formen.
Nicht unser subjektives Bewusstsein formiert (keisei suru 形成する) den objektiven Geist,
sondern im Gegenteil – das Letztere formiert das Erstere.686
Auch wenn das Grundsätzliche dieser hier reflektierten Haltung sich nicht in allen hier
geäußerten Argumenten niederschlägt – stets wird noch von Ausdruck und vor allem
vom Inhalt (naiyô 内 容 ) gesprochen – ist die neue Richtung vorgegeben. Am
Ausdrucksbegriff vollzieht sich daher merklich ein Einschnitt; er rückt gegenüber der
Handlung in den Hintergrund.
Schließlich kann man an Geschichte beobachten, wie leichtfertig Nishida mit seinen
philosophischen Vorbildern umgeht: hier ist es Geist und Rhetorik Leopold von Rankes,
der sich selbst als Gegenspieler Hegels verstand und als solcher für Nishidas
großangelegte Gegenvernunfts-Metaphysik herhalten muss. Es ist das bereits in ZnK
geltend gemachte „ewige Jetzt“, das als Zentralbegriff Nishidas Verständnis von
Geschichte als sich selbst bestimmende Gegenwart mit Rankes hauptsächlich in der
Einleitung zu „Über die Epochen der neueren Geschichte“ 687 vertretenen Ideen
verschmolzen wird. Nishida sieht in Ranke nicht zuletzt einen Advokaten seiner
Auffassung von Geschichte als „Bestimmung ohne Bestimmendes“, die sich mit dem
684
Ebd., S. 239.
Ebd., S. 238.
686
Ebd., S. 239. Hervorhebung EL.
687
Neunter Teil der großen Weltgeschichte, Abt. II. Ranke (1886-88).
685
182
absoluten Nichts verbinde und so ihren absoluten Wert erhalte.688 Das sei der wahre
Grund für die Uneinheitlichkeit und Prinzipienlosigkeit der geschichtlichen Idee. Weil
Geschichte Nishida zufolge nicht dem zeitlichen Kausalitätsgesetz gehorcht, sondern
zutiefst irrational ist, muss es in ihr eine neue Auffassung von Zeit geben, die sich mit
der klassischen Dreifachaufteilung nicht mehr sinnvoll verstehen lasse. Man kann sich
fragen, warum Zeit nun zu einer so grundlegenden Bestimmung avanciert: wäre eine
nicht-zeitliche Geschichte anzunehmen nicht durchaus sinnvoller, zumal man so der
Verlegenheit entgehen könnte, das überall um sich greifende Gesetz von Ursache und
Wirkung, das in der Zeit besteht, innerhalb der Geschichte rechtfertigen zu müssen?
Nishida identifiziert nun aber die ausdruckshafte Welt mit dem Nicht-zeitlichen, das
wiederum nur eine Seite des Verhältnisses repräsentiert. Nicht mehr nicht-zeitlich, d.h.
gänzlich zeitüberhoben werden die neuen Phänomene des Selbstbewusstseins gedacht,
wie es noch in den Texten der Jikaku-Philosophie der Fall ist, sondern zeitbestimmend,
somit aber intrinsisch zeitlich: Nishida wird in Geschichte erstmalig ein Verständnis
von Zeit geltend machen, das weder als Zeit, innerhalb derer sich Naturkausalitäten
abspielen, noch als gänzliche Negation der Zeit verstanden werden darf, sondern als
zeitumfassend gedacht werden müsse. Mit der Selbstbestimmung der Gegenwart, die
auf die Selbstbestimmung des Einzelnen und des Besonderen verstanden wird, meint er,
eine Lösung gefunden zu haben.
3.2.1. Idee und Zeitlichkeit
In Die Selbstbestimmung des Allgemeinen (Ippansha no jiko gentei 一般者の自己限定)
(1930)689, einem späten Text seiner Homo interior-Phase, diskutiert Nishida noch einen
Geschichtsbegriff, der gegen den in Mode gekommenen Marxismus gerichtet war.
Nishidas Abwehrhaltung diesem gegenüber drückt sich in seiner Bestimmung des
geschichtlichen Bewusstseins als „abstrakt“ und dem Selbstgewahren der Noesis
gegenüber sekundär aus. Für Nishida steht fest, dass man aus der Natur allein nicht das
Leben, und aus der wirtschaftlichen Gesellschaft nicht den kulturellen „Inhalt“ ableiten
könne. Doch selbst als noematische Bestimmung des Selbst reiche das „geschichtliche
Selbst“ nicht aus.
Das geschichtliche Selbst kann niemals die noematische Bestimmung des eigenen Selbst
erreichen. Geschichte kann niemals ideell seinen eigenen Inhalt bestimmen, ideell kann man
seines eigenen Selbst nicht gewahr werden. Der geschichtliche Inhalt hat keine innere Einheit,
er bleibt als Idee abstrakt. Seine Existenz und sein Inhalt können nicht verschmelzen, die
(bloße) Existenz kann ihren Inhalt nicht bestimmen.690
688
NKZ VII, S. 259.
in NKZ IV, S. 281-332.
690
NKZ IV, S. 314. Dem mit Nishida nicht vertrauten Übersetzer stellt sich die Frage, ob das „eigene
Selbst“ ein Genitivus subjectivus oder objectivus sei. Aus dem japanischen Original ist nicht ersichtlich,
ob die „noematische Bestimmung des eigenen Selbst“ ein allgemeines „Selbst überhaupt“ meine oder hier
dezidiert auf das geschichtliche Selbst zurück verweise: ob also „Bestimmung des Selbst“ das Selbst als
Objekt oder Subjekt meine. Wie aus dem oben Erörterten aber inzwischen deutlich geworden ist, sind alle
Phänomene des Selbst auch Selbstphänomene. Genitivus subjectivus wie objectivus gelten
gleichermassen.
689
183
In Geschichte wird die Idee uminterpretiert und dadurch aufgewertet. Die Idee wird
nicht mehr als das „Andere“ der geschichtlichen Irrationalität verstanden, etwa aus
Ausdruck der „Vernunft“, sondern in die zutiefst irrationale und diskontinuierliche
Selbstbestimmung integriert. Die Aufwertung begründet sich aus der Umwertung;
Nishida setzt Irrationalität und die bislang als Instrument der Vernunft gehandelte Idee
nicht mehr in Opposition.
Das wichtigste neue terminologische Instrument innerhalb der Geschichtsrhetorik ist die
sich selbst bestimmende Gegenwart oder das ewige Jetzt. Nishida, der versucht,
Geschichte von Naturwissenschaft abzugrenzen, muss der der Natur vorbehaltenen
Kausalität einen Begriff von Zeit entgegensetzen, der Kausalität nicht mehr als einzige
Erkenntnisform derselben bestimmt. Erst eine Zeit, die die Zeit „umfasse“, könne
Geschichte herausbilden; erst eine Zeit, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als
im jedem Moment selbstbestimmend und unwiederbringbar neu bestimmt, wäre uns
„als Geschichtsmenschen“ angemessen.691 Nishida bringt sich hier wieder in Opposition
zu Kausalität, Prozesshaftigkeit und Fortschritt, will er ja mit Ranke nicht nur der
Hegelschen Geschichtsauffassung widersprechen, sondern auch dem Paradigma der
durch Vernunft geprägten Naturwissenschaften. Damit erhält auch die Idee in der
Geschichte zumindest ansatzweise einen Sinn, denn die bloße Aneinanderreihung von
geschichtlichen Epochen ähnele Nishida zufolge dem blinden Zufall.692 Es scheint fast
so, als würde Nishida gerade der Irrationalität die Aufgabe zusprechen, die
geschichtliche Idee, den höheren Sinn, zu repräsentieren, wenn er sagt: „Das, was man
als Irrationalität der Geschichte denken kann, ist nicht die Negation der Idee, sondern
die innerhalb des Selbst sich vollziehende ideelle (ideyateki イデヤ的) Bestimmung des
Selbst ist die sie umfassende (kore wo tsutsumu 之を包む) Bestimmung des Nichts.“693
Das Vernünftige ist also das Nichtvernünftige in Nishidas Auffassung von Zeit und
Geschichtlichkeit.
Geschichtliche Zeit werde durch ein ewiges Jetzt gebildet.694 So will Nishida sich
sowohl von den Materialisten der Naturkausalität als auch von den Idealisten der
selbstbestimmt teleologischen Idee abgrenzen. Der teleologische Akt führe Nishida
zufolge nur zu einer Vergegenständlichung der Idee, sie verliere ihre freie Lebendigkeit.
Nur im Leben von Augenblick zu Augenblick sei die wahre Bedeutung der
geschichtlichen Idee intakt. Durch welches geschichtliche Phänomen kann die
Selbstbestimmung des Augenblicks sich aber darstellen? Nishida sieht hier den
„Zeitgeist“ (jidai seishin 時代精神) oder auch die „Epoche“ (jidai 時代) am Werk. In
Selbstbestimmung des Allgemeinen heißt es noch:
Diejenigen, die auf dem Standpunkt der geschichtlichen Existenz stehen, denken die Idee nur
als „ideell“. Aber was soll in einem solchen Fall die geschichtliche Realität sein? Nicht mehr als
der abstrakte Inhalt geschichtlichen Selbstbewusstseins, ein abstrakter noematischer Inhalt, ein
als sogenannter „Zeitgeist“ gedachter Inhalt […] Nicht der Zeitgeist, das Formale an sich (keitai
691
NKZ VII, S. 248-249.
NKZ VII, S. 249.
693
Ebd.
694
Ausführlich geht Nishida bereits in „Das, was ich die selbstbewusste Bestimmung des Nichts
nenne“ auf die Idee des ewigen Jetzt ein und grenzt sie gegen den Kontext der Mystik ab: „Vielleicht
denkt man sofort an etwas Mystisches, wenn man ‚ewiges Jetzt’, nunc aeternum [lt. i.O.] sagt, aber die
Mystiker haben durch das Ewige Gott gedacht. Was ich jedoch das ewige Jetzt nenne, bedeutet einzig,
dass die Gegenwart die Gegenwart selbst bestimmt.“ NKZ V, S. 109.
692
184
sono mono 形態其者) bestimmt das Selbst, sondern das Selbst bestimmt sich als Offenbarung
(kengen 顕現) der individuellen Idee.695
Diese Auffassung von Zeitgeist ist in Geschichte obsolet. Der Zeitgeist wird im
Gegenteil zum „Absoluten“ stilisiert, das seinen Sinn – d.h. seine Erfüllung – in der
Selbstbestimmung des ewigen Jetzt habe:
Wenn Geschichte die Bestimmung des ewigen Jetzt ist, dann ist unser Selbstbewusstsein als
Bestimmung des Nichts der ideelle Inhalt (ideyateki naiyô イデヤ的な内容), der in der
geschichtlichen Bestimmung Epoche und Epoche miteinander vereinigt., d.h. der
„Zeitgeist“ (jidai no seishin 時代の精神) [...] In dieser Epoche ist als das Absolute unser
ganzes Leben zu sehen und zu bestimmen.696
Nicht nur wird Nishidas eigene „Epoche“ hier hyperbolisch aufgewertet, indem er sie
zum Absoluten erklärt697, sondern nun müsse man als „Geschichtsmensch“ gerade den
Wert der Geschichte in jeder einzelnen Epoche sehen, die ihre eigene, individuelle
Bestimmung legitimiere. Für Nishida gehört zur Einheit der Persönlichkeit gerade das
Sehen der Epoche, die wiederum durch die Idee vereinheitlicht werde. Indem die
Gegenwart die Gegenwart selbst bestimme, sei von dieser Epoche als das Absolute
unser ganzes Leben zu sehen. Was Nishida hier leistet, ist offensichtlich die
Übertragung seiner Idee der Unmittelbarkeit aus der Selbstbewusstseinsidiomatik auf
Geschichte: die Idealisierung prä-reflexiver Intuition als Direktheit wird zu einer
ausgezeichneten Form geschichtlicher Hermeneutik. Aus dem obigen Zitat wird zudem
deutlich, dass die Struktur des Selbstbewusstseins sowie die Begriffe, diese verständlich
zu machen, auf die Geschichte transferiert wird. Das Selbstbewusstsein als Bestimmung
des Nichts ist der „Zeitgeist“, der Geist einer geschichtlichen Epoche. Der Sache nach
wird das Geschichtliche dem Selbstbewusstsein einverleibt. Eine Konfundierung beider
Begriffe als „grundlegende Bestimmung“ lässt sich beobachten. Nishida überhöht
Rankes Interpretation von Geschichte als sich in der jeweiligen Epoche ausdrückende
jeweilige
Selbstbestimmung
unzusammenhängender,
dennoch
bedeutsamer
Einzelereignisse. Doch für Ranke ist Geschichte nicht ganz so unsystematisch, wie
Nishida gern glauben möchte. Wohl „offenbare sich nicht eine unbedingte
Nothwendigkeit, aber ein genauer innerer Causalnexus“ in der Geschichte.698 Zwar
könne sie „nie die Einheit eines philosophischen Systems“ haben, „aber ohne inneren
Zusammenhang“ sei sie auch nicht. Doch an einen stetigen Fortschritt möchte Ranke
ebensowenig glauben wie Nishida:
Wollte man aber in Widerspruch mit der hier geäußerten Ansicht annehmen, dieser Fortschritt
bestehe darin, daß in jeder Epoche das Leben der Menschheit sich höher potenzirt, daß also jede
Generation die vorhergehende vollkommen übertreffe, mithin die letzte allemal die bevorzugte,
695
NKZ IV, S. 317.
NKZ VII, S. 251.
697
Huh sieht zu Recht, dass Nishida vornehmlich in den Texten der späten 30er Jahre seine eigene
geschichtliche Zeit zu einem „ontologically real unit“ verklärte. Huh (1990), S. 357. Dieser Gedanke der
Erfüllung der welthistorischen Mission, die sich durch die besondere historische Konstellation der
Zeitumstände herausgebildet habe – ein Gedanke, der auch in der Naziideologie eine wichtige Rolle
gespielt hat, findet sich bei Nishida bereits auf den ersten Seiten von Das Problem der japanischen
Kultur (1938/1940). Ich werde dazu in Kapitel V ausführlicher Stellung nehmen.
698
Ranke (1886-88), aus dem Vorwort, S. XIII.
696
185
die vorhergehenden aber nur die Träger der nachfolgenden wären, so würde das eine
Ungerechtigkeit Gottes sein […] Ich aber behaupte: jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr
Werth beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in
ihrem eigenen Selbst. Dadurch bekommt die Betrachtung der Historie, und zwar des
individuellen Lebens in der Historie einen ganz eigenthümlichen Reiz, indem nun jede Epoche
als etwas für sich Gültiges angesehen werden muss und der Betrachtung höchst würdig
erscheint.699
Die Attraktivität der Position Rankes für Nishidas Einstieg in eine Hermeneutik des
„Geschichtsmenschen“ muss wohl auch darin gesehen werden, dass die
Selbstbewusstseinsrhetorik Nishidas – der Selbstbezug auf das eigene, sich nichtende –
ebenso ihren eigenen Wert hat wie jede geschichtliche Epoche, dass ein Fortschritt, eine
Transzendenz des „sich nichtend Sehenden“ oder ihre Begründung in „etwas
anderem“ nicht gedacht werden kann. Zwar versucht Nishida in Geschichte erstmalig,
den Sinn der eigenen Bewusstwerdung als Geschichtsmensch als Bedingung für „unser
Leben“ zum Ausdruck zu bringen. Das selbstbezügliche Selbstbewusstsein scheint jetzt
nur noch eine Art „begrifflicher Erfüllungsgehilfe“ der weitaus gewichtigeren und
gewaltigeren „Geschichte“ zu sein.
Diese Neubestimmung erweist sich jedoch als Schein. Das als Selbstbestimmung des
Nichts verstandende Selbstbewusstsein als die alles fundierende ontologische Kategorie
bleibt erhalten – auch wenn Nishida allein auf einer rhetorischen Ebene aus Tanabes
Kritik Konsequenzen gezogen zu haben scheint. Der Nichtsbegriff bleibt als „ewiges
Jetzt“ aktiver theoretischer Bestandteil auch seiner späteren Schriften.
Kobayashi sieht das Problem in Nishidas Neubestimmung des Nichts in den Texten der
Wende, vor allem in Das, was ich die selbstbewusste Bestimmung des absoluten Nichts
nenne (Feb./März 1931), das einfach mit dem ewigen Jetzt gleichgesetzt werde: „Wenn
die Gegenwart sich selbst bestimmt, ist sie ewig unfaßbar, in diesem Sinne ist die
Gegenwart das Nichts […] Der Grund der Gegenwart muß das absolute Nichts sein.“700
Die Neubestimmung des Nichts-Begriffes innerhalb der Realphilosophie Nishidas Ende
der 30er Jahre besteht in seiner Identifikation mit dem Sein des Kaiserhauses. Auch hier
liegt das ewige Jetzt nahe: es wird zum heuristischen Werkzeug der
Geschichtsbetrachtung Japans, dessen „Rückkehr in die Vergangenheit““ – gemeint ist
die Restaurationsbewegung mit der erfolgreichen Wiedereinsetzung des Tennô 1868 –
keine bloße Rückkehr sei, sondern bedeute, „als Selbstbestimmung des ewigen Jetzt
einen Schritt nach vorne zu machen.“701
3.2.2. Das Verstehen
Bevor ich zur Erörterung des Begriffs des „Verstehens“ in Geschichte komme, möchte
ich kurz ausführen, wie man Nishida verstehen kann – besser gesagt, wie ich vorgehe,
um Nishidas neue Terminologie (besser) zu verstehen.
Spreche ich in diesem Abschnitt von einer „Hermeneutik des Geschichtsmenschen“, bin
ich mir der überzogenen Anwendung des Begriffs der Hermeneutik im Kontext von
Nishidas Philosophie durchaus bewusst. Nishidas unterlassene Begriffsbestimmungen –
699
Ranke (1886-88), S. 4-5.
Zit. in Kobayashi (2002), S. 96.
701
NKZ IX, S. 49.
700
186
Geschichte, Gesellschaft und ewiges Jetzt werden gesetzt und nicht erklärt – legen aber
hier wie an früheren Texten nahe, dass Nishida eher als das analytische Erkennen von
Sachverhalten einen verstehenden Zugang zu Phänomenen des Bewusstseins anstrebt.
Dass Nishidas Intuitionismus bereits den Anforderungen einer geschichtlichen
Hermeneutik standhalten kann, ist ohne Frage zweifelhaft. Problematisch an Nishidas
Denken ist ungeachtet der nackten Proklamation von Begriffen, die deren Deduktion
ersetzen, auch sein suggestiver Stil und seine unablässige Instrumentalisierung und
Subsumierung anderer Denker für bzw. unter eigene Theoreme. Ich habe bereits in
meiner Begriffsanalyse im Zusammenhang von ZnK von der Hierarchie einzelner
Begriffe in Nishidas System gesprochen, die sich in der Steigerung von Adjektiven
niederschlagen und so ihre Überzeugungskraft entfalten sollen – so sei intellektuelle
Anschauung identisch mit intellektueller Wahrnehmung, ihr Inhalt aber „um vieles
reicher und tiefer“. 702 Überzeugen möchte Nishida, indem er sich auf die Kraft
sprachlicher Ausdrücke, hauptsächlich Attribute, verlässt („wahre“ Wirklichkeit,
„bloßer“ Ausdruck), die erst im Vergleich mit weniger „wahren“ eine besondere
ontologische Dignität erhalten.
Nishida argumentiert nicht. Die schwierige Aufgabe des Exegeten besteht zum einen
darin, diesen Sachverhalt in Nishidas Stil und seiner Sprache aufzudecken, den Mangel
an begrifflicher Bestimmung, d.h. den Mangel an Deduktion aber durch die Art und
Weise, wie Nishida sich seinen eigenen Begriffen gegenüber verhält, zu kompensieren.
Insofern übernimmt der Interpret die grösstenteils recht undankbare Aufgabe, an
einzelnen Begriffen herauszulesen, ob Nishida sich beispielsweise dem neu
eingeführten Begriff A gegenüber positiv oder abwertend verhält – Leitfragen wären
hierbei: beziehen sich die qualifizierenden Attribute „bloß/nur“ (tan 単 ) oder
„abstrakt“ (chûshôteki 抽象的) auf den Begriff A? Wird Begriff A mit den Begriffen B
und C identifiziert, die bislang keinen hohen Stellenwert in Nishidas Begriffshierarchie
innehaben – zu denken wäre an „intellektuelle Erkenntnis“ (chishikiteki ninshiki 知識的
認識) oder an „Urteilswissen“ (handanteki ninshiki 判断的認識)? Können diese Fragen
mit einem Ja beantwortet werden, liegt ein Indiz dafür vor, dass Nishida Begriff A einer
eher niedrigen Stufe seines Begriffsgerüstes zuteilt. Können sie mit einem Nein
beantwortet werden, liegt eine reale Möglichkeit vor, dass Nishida sich diesem Begriff
gegenüber empathisch verhält, ihn womöglich in sein System integriert. Dennoch lassen
sich daraus trotz aller interpretatorischen Vorsicht oft keine inhaltlichen Konsequenzen
für zentrale Begriffe wie „Selbstbestimmung“ gewinnen (bestimmt A das Selbst?
Bestimmt A sich selbst?) Das Einerlei von Genus Subjectivus und Genus Objectivus bei
einem unzweideutig zweistelligen Begriff wie Bestimmung führt ja gerade nicht zur
Transparenz des Verhandelten, sondern zur Gleichgültigkeit gegenüber dem, was da
eigentlich bestimmt wird bzw. bestimmt. Zur Verdeutlichung folgende Stelle aus
Geschichte:
Wie ich eben sagte, ist die Bestimmung der Zeit (toki no gentei 時の限定) durch das
Selbstbewusstsein fundiert und das, was man als selbstbewusste Bestimmung (jikakuteki gentei
自覚的限定) denken kann, ist auf dieser Basis die Bestimmung der Liebe (ai no gentei 愛の限
定); und wenn das, was die Zeit umfassend Zeit bestimmt, die gesellschaftliche Bestimmung in
meinem Sinne ist, dann ist Geschichte in der tiefsten Bedeutung als Gesellschaft zu denken,
kann aber als selbstbewusster Prozess gedacht werden, der in seinem Eigenen sich selbst
702
ZnK, S. 63.
187
bestimmt (jiko no naka ni jiko wo gentei shi iku jikakuteki katei 自己の中に自己を限定し行く
自覚的過程).703
Die Bestimmung der Zeit, die durch das Selbstbewusstsein fundiert ist: wird Zeit (im
Selbstbewusstsein, durch dieses) bestimmt oder bestimmt Zeit sich (auf der Basis des
Selbstbewusstseins), liegt ein Genitivus objectivus oder ein Genitivus subjectivus vor?
Was soll weiterhin die „Bestimmung der Liebe“, die auf dieser Basis (sono kontei ni
oite 其の根底に於いて) „selbstbewusste Bestimmung“, sein? Wird Liebe durch die
Basis der Bestimmung der Zeit bestimmt oder bestimmt Liebe sich aufgrund dieser
Basis? Ebenso ist der Begriff einer „gesellschaftlichen Bestimmung“ (shakaiteki gentei
社会的限定) nicht unmittelbar klar.
Was auf den ersten Blick wie eine bloße Spitzfindigkeit aussieht, erweist für den
Exegeten als einziger Zugang zur Erschließung der Begriffsverhältnisse bei Nishida.
Es konnte gezeigt werden, dass Zeit hier zum ersten Mal emphatisch positiv diskutiert
wird. Das wird in der Diskussion des ewigen Jetzt, welches die die Zeit umfassende,
nicht mehr nur Zeit negierende Zeit ist, deutlich. Stellen wie die obige können diesen
Erkenntnisgewinn allerdings relativieren. Erst mit einer Klärung des Verhältnisses der
einzelnen Begriffe zueinander kann begriffliche Klarheit geschaffen werden. Ein
hermeneutischer Zirkel scheint unausweichlich. Zur Interpretation des obigen Zitats
muss man vorerst davon ausgehen, dass alle gesellschaftlichen Phänomene
Selbstbewusstseinsphänomene sind, weshalb sich die Frage des „Was bestimmt
was?“ erübrigt. Doch selbst hier wäre zu fragen: bestimmt Gesellschaft sich selbst (sei
es auch als Selbstbewusstseinsphänomen), oder obliegt es der Bestimmung durch das
Selbstbewusstsein? Es bleibt das Unbehagen in der Nishida-Lektüre, nicht über ein
konkretes hermeneutisches Werkzeug zu verfügen, das das Verhältnis einzelner (Selbst)Bestimmungen klärte.
Eine Erörterung darüber, ob Nishida sich dieser Doppeldeutigkeit bewusst ist, sie also
auch bewusst auf die Spitze treibt, oder ob sie ihm verborgen bleibt, führt hier meines
Erachtens nicht weit. Ich denke, für beide Seiten lassen sich ähnlich überzeugende
Argumente finden. Mangelhaftigkeit in der überzeugenden Beweisführung Nishidas
jedenfalls müssten beide Positionen unterstellen.
Wie verhält sich nun aber Nishida selbst dem „Verstehen“ als grundlegende Form des
hermeneutischen Zugangs gegenüber? Verstehen ist ein neuer, aber ambivalenter
Begriff in Nishidas Geschichtsidiom. Er wird zur Erkenntnisform des Historikers
(rekishika 歴史家). Diese habe ihr gutes Recht, denn indem man sich auf den
Standpunkt begebe, auf dem die Gegenwart die Gegenwart selbst bestimmt (auch hier
unterlässt es Nishida zu sagen, dass Gegenwart sich selbst bestimmt) sei man „einerseits
Geschichtsmensch, andererseits Historiker“. 704 Gleichzeitig entstehe die Welt des
Verstehens erst dort, wo Individuum gesellschaftlich und Liebe überhaupt negiert
werden.705 Darüber hinaus sei es der Standpunkt des allgemeinen Ich oder Selbst, ein
Standpunkt, der schon als abstrakt und rational abgetan wurde. Ist Verstehen nun nur als
negativer Gegenentwurf zur Rhetorik der Selbstbewusstseinsphilosophie zu denken, mit
dessen grundlegenden Charakteristika Nishida in Geschichte noch verhaftet ist, stellt
sich das Verhältnis simpel dar. Zur Komplikation trägt aber bei, dass gerade das
703
NKZ VII, S. 248.
NKZ VII, S. 255.
705
Ebd. S. 254.
704
188
„Erlöschen“ des Selbst-Standpunkts der Grund für die Selbstbestimmung des Nichts sei,
das erst über das Verstehen geleistet werde:
Er [der Historiker] steht auf dem Standpunkt, auf dem die die Zeit umfassende Zeit der in
tiefstem Sinne gesellschaftlichen Bestimmung erloschen ist. Von diesem Standpunkt aus wird
alles Inhalt des Verstehens. So wie die Zeit sich in ihrem eigenen Selbst selbst bestimmt (toki ha
jikojishin no naka ni jiko wo gentei shi iku tomo ni 時は自己自身の中に自己を限定し行く共
に), hat sie den Sinn, sich auszulöschen. Das ist der Grund für die Selbstbestimmung des
Nichts.706
Was sich hier deutlich beobachten lässt, ist eine Verquickung der Positionen von früher
mit mit einem neuen Verständnis von „Selbst“. Selbstnegation und der Gedanke des
Sterbens der wahren Selbsterschaffung zuliebe sind bereits aus ZnK bekannt, allerdings
wurde diese Leistung der Selbstnegation (jikohitei 自己否定) einzig dem Selbst,
niemals einer der Formen des objektiven Geistes zugeschrieben. Neu ist, dass Nishida
Verstehen, das rationale Erfassen geschichtlich-gesellschaftlicher Zusammenhänge, der
Leistung der Selbstnegation zuschreibt. Erst hieraus könne man die Idee des sich selbst
liebenden Selbstbewusstseins gewinnen, das freilich in „absoluter Liebe“ gleichzeitig
Selbstnegation bedeuten muss. Wie auch immer man das Blatt wendet, vom Verstehen
führt über die Negation des Einzelnen gerade der Weg zur Selbstliebe und von der
Selbstliebe der Weg über die Selbstnegation zum Verstehen.
Möglicherweise hat Nishida sich auch durch seine zeitweilige Beschäftigung mit der
hermeutischen Schule Diltheys und ihrer Kritik durch Heidegger dazu bewogen, sich
mit dem Begriff des Verstehens, der inhaltlich keine weitreichenden Konsequenzen hat
und in späteren Texten fast gar nicht thematisiert wird, auseinanderzusetzen. Zumindest
hat Nishida 1931 Heidegger gelesen und auch kritisiert, ein Grund, weshalb das
Verstehen in Geschichte in einem längeren Passus verhandelt wird. Aus einem Brief an
einen seiner in Freiburg studierenden Schüler vom 4. Januar 1931 geht Nishidas reges
Interesse an Heidegger hervor, mit dessen Begriff der Wahrheit als aletheia,
Unverborgenheit, Nishida unter anderem ringt:
Es ist nicht genug, Wahrheit [dt.i.O.] einzig als Unverborgenheit [dt.i.O.] zu sehen, so wie
Heidegger es tut. Faktische Wahrheit ist das jedenfalls nicht. Das ist doch nicht mehr als das
griechische Denken. Wo in Heideggers Denken Entwurf und Entschlossenheit [beide: dt. i.O.]
entstehen, verstehe ich wirklich nicht. Hier muss man auf jeden Fall mal über mein
„Selbstbewusstsein des Nichts“ nachdenken. Auch bei der Zeit finde ich, dass Heideggers Zeit
[dt. i. O.] eine möglich[e, dt. i. O.] Zeit, keine actuell[e, dt. i.O.] Zeit ist […].707
Der Begriff des Verstehens kann ein Produkt der Auseinandersetzung mit Heideggers
Denken sein, genaues kann man nicht sagen. In Geschichte wird dem Selbstbewusstsein
zwar rein begrifflich ein neuer Teppich ausgerollt, der aus den Fäden der Begriffe
Gesellschaft, Geschichte und Handlung gewebt ist; auch finden sich hier erstmalig
Reflexionen über den Kulturbegriff statt, ein Paradigma, das Nishida in seinen späteren
Schriften ähnlich wie Spengler mit der Zivilisation kontrastiert. Inhaltlich bleibt
Nishidas Geschichtsbegriff jedoch mit seinem Dogma eines selbstbezüglichen
Selbstbewusstseins ohne Vermittlungstätigkeit der objektiven Welt verhaftet.
706
707
NKZ VII, S. 254.
NKZ XVIII, S. 421-422.
189
Das bislang wichtigste Ergebnis der Analyse der einschlägigen Texte aus der WendeZeit Nishidas (1929-31) dürfte die Einsicht sein, dass Nishida eine Konfundierung von
Geschichts- und Selbstbewusstseinsbegriff vornimmt. Der Geschichtsbegriff wird nicht
näher bestimmt; ferner spricht die Übertragung der Terminologie aus der
Bewusstseinsphilosphie auf die „geschichtliche Welt“ für diese Einsicht. Die Kritik
Tanabes diente Nishida als Vehikel für die ausdrückliche Beschäftigung mit Geschichte
überhaupt. Bevor diese Erkenntnis um die Analyse der Texte aus der
kulturnationalistischen Phase (1934-1944) vertieft wird, möchte ich auf den
ideologischen Mechanismus
der Identifikation
eingehen,
der
Nishidas
Konfundierungsakt primär ermöglicht. Um das am Nishidaschen Text ausweisen zu
können, wird eine Darstellung des Ideologiebegriffs, wie ich ihn hier verstehe, von
nöten sein. Die Entfaltung des Begriffs in den verschiedenen Verständnissen bei Žižek,
in erster Linie aber bei Marx und Adorno, wird ein genaueres Verständnis des kritischen
Potentials erlauben. Wie genau sich der ideologische Mechanismus bei Nishida
einschreibt, kann meines Erachtens hier deutlich gezeigt werden. Um das leisten zu
können, wird im Folgenden ein Exkurskapitel vonnöten sein, das sich systematisch dem
Begriff der Ideologie nähert.
190
KAPITEL IV
EXKURS IDEOLOGIEBEGRIFF
Nishida interessiert in dieser Untersuchung, wie durch die obigen Ausführungen
deutlich geworden sein sollte, nicht als historische Figur oder als „Phänomen des
Sozialen“, sondern als Theoretiker. Besser gesagt: sein der Konstitutionsproblematik
von Subjekt und Objekt verhaftetes Denken gilt der kritische Fokus. In der Frage nach
der Ideologie Nishidas macht es deshalb Sinn, Ideologietheorien in Anschlag zu bringen,
die sich dem Ideologiebegriff auch als Problem der Erkenntnis, zumindest aber der
stetigen Hinterfragung des Verhältnisses von Denken und Sein, nähern. Die
soziologischen (Karl Mannheim, Emile Durkheim, Pierre Bourdieu), historischen (Jorge
Larrain, Terry Eagleton), „kommunikationstheoretischen“ (Jürgen Habermas) oder
„semiotischen“ (Roland Barthes) Ideologiereflexionen scheinen mir dagegen wenig
geeignet, einen analytischen Zugriff auf das Problem der Ideologie bei Nishida zu
gewinnen. Im vorliegenden Kapitel möchte ich daher im Rückgriff auf ein durch Slavoj
Žižek dargelegtes Ideologieverständnis zeigen, inwiefern ich in der Kritik an der
Identität als „Urform von Ideologie“ bei T. W. Adorno das geeignete heuristische Mittel
zur Kritik des Ideologieproblems bei Nishida sehe. Nach der in Kapitel I, II und III in
den Texten von 1911-1931 nachgewiesenenen Grundannahme der Nishidaschen
Selbstbewusstseinsphilosophie kann nun der strukturell ideologische Mechanismus
dargelegt werden, dem sich die Entwicklung des „Systems“ verdankt. Bereits in den
vorausgegangenen Überlegungen in Kapitel I und II, besonders aber durch die
Übertragung der Selbstbewusstseinsformen auf die „Geschichte“ in Kapitel III, kommt
dieser ideologische Mechanismus als Nishidas (Vulgär-)Idealismus bzw. als
Identitätsphilosophie zur Sprache. Die systematische Kritik an diesem kann hingegen
erst nun erfolgen.
Noch einmal: eine soziologisch-historische Ideologieanalyse oder ein moralisch
motivierter
Ideologievorwurf
kann
meines
Erachtens
keine
kritische
Auseinandersetzung mit dem strukturellen Problem der Ideologie bei Nishida liefern.
Das wäre der Ansatz von Pierre Lavelle (1994), Klaus Kracht (2001) und – mit
Abstrichen – Bernard Faure (1995), die sich den Texte der „fraglichen“, d.h.
kulturnationalistischen Phase Nishidas nähern und dann entscheiden, welchem Typus
„autoritäter Ideologie“ Nishidas Denken zuzuorden sei, ohne den Ideologiebegriff selbst
systematisch zu reflektieren.708 Dieses ist jedoch als ein grundsätzlicher Mangel in der
Nishida-Rezeption, der kritischen wie der unkritischen, zu werten. Der folgende Exkurs,
der sich keineswegs als hermeneutisches Allzweckmittel zur Erschließung ideologischer
Strukturen
in
Theorietexten,
sondern
nur
als
hermeneutischer
„Aufblendungsmechanismus“ versteht, um Nishidas Ideologie als Symptom einer
bestimmten Auffassung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses zu verdeutlichen, möchte das
ansatzweise nachholen: in der Konstitutionsproblematik muss das Feld der
Auseinandersetzung mit Nishidas Ideologisierungsprozess gesucht werden.
In einem ersten Diskussionsansatz möchte ich daher in aller Kürze Žižeks systematische
Analyse des Ideologiebegriffs darstellen, die sich an der hegelianischen Aufteilung ansich/für-sich/an-und-für-sich (Auffassung der Ideologie an sich, Auffassung der
708
Ausdrücklich möchte ich darauf hinweisen, dass die Arbeiten von Lavelle (1994) und Faure (1995)
überhaupt erst einen kritischen Umgang mit Nishida ermöglichen, indem sie die politische Prekarität
Nishidas problematisieren. Ich verdanke Lavelle und Faure somit wichtige Impulse für diese Arbeit.
191
Ideologie für sich und Auffassung der Ideologie an-sich-für-sich) orientiert und
begründen, weshalb ich für den analytischen Zugang die Auffassung von Ideologie-ansich als heuristisches Mittel wähle (VI. 1.). Mit Ideologie-an-sich ist ist ein bestimmtes
Verständnis von Ideologie gemeint, das Ideologie als Problem eines (notwendig)
falschen Bewusstseins versteht. Als solches wird es klassischerweise bei Marx/Engels,
Lukács und Adorno thematisch.
Wenngleich der spätere Marx den Ideologiebegriff selbst nicht mehr verwendet, möchte
ich im Abschnitt IV. 2., „Ideologie im Spiegel der Theorie Nishidas – Der
Inversionsmechanismus im Waren- und Substanzfetisch“ zunächst die Diskussion des
Verkehrungs- oder Inversionsmechanismus bei Nishida in den Mittelpunkt stellen. Sie
wird vor dem Hintergrund der einschlägigen Idealismuskritik durch Marx in „Der
Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“ aus dem 1. Band des Kapital (1867)
geführt.
Um allerdings redundante Theoriesegmente zu vermeiden – die Ansätze Marx’, Lukács’
und Adornos überschneiden sich vielerorts, so im Verdinglichungstheorem709 – , liegt
der Fokus im Folgenden primär auf Adornos erkenntniskritischem Zugriff auf das
Problem der „Ideologie-an-sich“. Dargestellt wird dieser in der Negativen Dialektik und
in den „Dialektischen Epilegomena“ in den Kritischen Modellen 2, während Lukács aus
noch näher auszuführenden Gründen aus der Heuristik meines Ansatzes herausfällt.
Entsprechend wird in Anlehnung an ein Adornitisches Verständnis von Subjekt und
Subjektivität als „Wiedergutmachung am Subjekt“ die ideologische Operation bei
Nishida abgelehnt, welche Thema des 3. Abschnitts ist. Hier wird primär Adornos
Kritik am Identitätsbegriff als „Urform von Ideologie“ (IV. 3.1.1.) darzustellen sein, um
zu zeigen, wie die ideologische Operation bei Nishida zu verstehen und warum sie zu
kritisieren ist. Die „Wiedergutmachung am Subjekt“ durch Adorno ist hier der
paradigmatische Gegenentwurf zur Überwindung des Subjekts bei Nishida. Im
Anschluss möchte ich das Problem des Verhältnisses von Subjekt und Objekt als
Programm eines materialistischen Subjektivismus und als Gegenmodell zu Nishidas
ontologischem Idealismus vorstellen (IV. 3.2.). Adornos Betrachtungen zur
„Ideologienlehre“ bringen den erkenntniskritisch anvisierten Begriff der SubjektObjekt-Identität für einmal als Problem der gesellschaftlichen Dimension der Ideologie
zur Sprache, wobei das Theorem des Legitimationsdenkens das leitende Motiv ist,
Nishidas Grundkategorie der Identität auch in seinen kulturalistischen Schriften als
solches auszuweisen (IV. 3.3.). Diese Diskussion soll das strukturelle Problem der
Ideologie bei Nishida abschließend behandeln und dient gleichzeitig als Vorbereitung
der Analyse seiner staatsideologischen Schriften wie Das Problem der japanischen
Kultur.
709
Zwar sehen Lukács wie Adorno (und Marx) einen engen Zusammenhang von gesellschaftlichen
Produktionsbedingungen
und
den
Modi
des
(herrschenden)
Denken,
in
Lukács
„positivistischem“ Hegelianismus dürfte gleichzeitig jedoch auch der größte systematische Unterschied
zu Adornos letztlich Kantischem Modell der Kritik bestehen. Adorno verwehrt sich gegen Lukács’
Fortschrittsoptimismus und die Vorstellung von einem „Subjekt-Objekt der Geschichte“ – das Proletariat
– dann auch als gegen eine „erpresste Versöhnung“: „Das Postulat einer ohne Bruch zwischen Subjekt
und Objekt darzustellenden und um solcher Bruchlosigkeit willen, nach Lukács Sprachgebrauch‚
‚wiederzuspiegelnden’ Wirklichkeit jedoch [...], postuliert, daß jene Versöhnung geleistet, daß die
Gesellschaft richtig ist; daß das Subjekt, wie Lukács [...] einräumt, zu dem Seinen komme und in seiner
Welt zu Hause sei.“ In demselben Aufsatz wird auch Lukács’ ‚Bekehrung’ zum Stalinismus heftig
kritisiert. Adorno (1974), S. 178.
192
Trotz dieser systematischen Überlegungen sollte ein Exkurs über den Ideologiebegriff
meines Erachtens auch historische Bezüge berücksichtigen. Einige sehr knappe
Bemerkungen zur Begriffsgeschichte der Ideologie, die die verschiedenen Auffassungen
von Ideologie an ihren Wendepunkten thematisieren, sollen daher der systematischen
Analyse vorausgeschickt werden dürfen.
Obwohl der Ideologiebegriff ursprünglich auf Destutt de Tracy (1754-1836) und seine
„Schule der Ideologen“ zurückgeht – de Tracy verwendete erstmalig den Begriff
Ideologie in einem Vortrag 1796 – kann sich der Begriff vor allem in seiner pejorativen
Bedeutung, die ihren Anfang mit Napoleons Versuch nahm, die sensualistische Schule
de Tracys als „bloße Ideologie“ in Abrede zu stellen, „nur von Marx aus zureichend
darlegen.“ 710 Marx selbst entwickelte bekannter weise keine Ideologietheorie,
wenngleich sein frühes Denken um das Problem kreiste. Er verstand Ideologie zunächst
als Form der Entfremdung, als System von Ideen und Weltanschauungen, „das dem
Menschen fremd gegenübertritt und ihn dergestalt beherrscht.“ 711 Von dort aus
entwickelten Marx und Engels vor allem in ihrer Polemik gegen den Linkshegelianer
Feuerbach im ersten Abschnitt der Deutschen Ideologie 1845-1846 ein rudimentäres
Verständnis des Ideologiebegriffs, das von Friedrich Engels später zur Idee des
„falschen Bewusstseins“ 712 weiterentwickelt wurde, der in Engels’ Konzeption
problematische reduktionistische Momente aufweist.713 Dennoch knüpfte das gesamte
710
Ritter et al (1998), HWPHIL, Eintrag „Ideologie“ von U. Dierse, S. 164.
S. Khatib, „Ideologie und ihre Kritik. Ein Problemaufriss mit einigen Leerstellen und vielen
Fußnoten“ (2008), S. 2 unter http://anthropologicalmaterialism.hypotheses.org/texts/die-ideologie-undihre-kritik-ein-problemaufriss-mit-einigen-leerstellen-und-vielen-fusnoten (Zugriff am 07.07.2010). Im
folgenden Khatib (2008). Trotz des bescheidenen Titels ist dieser Aufsatz der übersichtlichste mir
bekannte Text zu einer systematischen Auseinandersetzung mit dem Ideologiebegriff.
712
Die vollständige Zitation dieses locus classicus der Ideologiekritik lohnt sich. In einem Brief an Franz
Mehring vom 14.07.1893 formuliert Engels: „Sonst fehlt nur noch ein Punkt, der aber auch in den
711
Sachen von Marx und mir regelmäßig nicht genug hervorgehoben ist und in Beziehung auf den uns
alle gleiche Schuld trifft. Nämlich wir alle haben zunächst das Hauptgewicht auf die Ableitung der
politischen, rechtlichen und sonstigen ideologischen Vorstellungen und durch diese Vorstellungen
vermittelter Handlungen aus den ökonomischen Grundtatsachen gelegt und legen müssen. Dabei
haben wir dann die formelle Seite über der inhaltlichen vernachlässigt: die Art und Weise, wie diese
Vorstellungen etc. zustandekommen [...] Die Ideologie ist ein Prozeß, der zwar mit Bewußtsein vom
sogenannten Denker vollzogen wird, aber mit einem falschen Bewußtsein. Die eigentlichen
Triebkräfte, die ihn bewegen, bleiben ihm unbekannt, sonst wäre es eben kein ideologischer Prozeß.
Er imaginiert sich also falsche oder scheinbare Triebkräfte. Weil es ein Denkprozeß ist, leitet er
seinen Inhalt wie seine Form aus dem reinen Denken ab, entweder seinem eigenen oder dem seiner
Vorgänger. Er arbeitet mit bloßem Gedankenmaterial, das er unbesehen als durchs Denken erzeugt
hinnimmt und sonst nicht weiter auf einen entfernteren, vom Denken unabhängigen Prozeß
untersucht, und zwar ist ihm dies selbstverständlich, da ihm alles Handeln, weil durchs Denken
vermittelt, auch in letzter Instanz im Denken begründet erscheint.“ Mehring (1919), S. 386.
713
Engels spricht sich hier für einen verkürzten Materialismus innerhalb der Subjekt-Objekt-Problematik
aus. Wiewohl Marx in den Feuerbachthesen und den 1844er Manuskripten die ganze
„idealistische“ bewusstseinstheoretische Veranstaltung der klassischen Philosophie von Descartes bis
Hegel in eine materialistische, praxisorientierte überführen wollte – mit dem „Auseinanderreißen“ von
Sein und Bewusstsein, das sich auch im Basis-Überbau-Modell der Deutschen Ideologie wiederfindet
(Marx/Engels 1932, S. 16), wird der erkenntnistheoretische Dualismus auf der Seite der
Ideologieproblematik wieder eingeführt. Ideen müssen der These der Deutschen Ideologie zufolge eine
wenn auch scheinbare Selbständigkeit haben, sonst brauchte man den Überbau nicht, dessen
„falsche“ Repräsentation der „wirklichen“ Verhältnisse die kapitalistische Gesellschaft erst
zusammenhalte. Aus dem theoretischen Konflikt, einerseits eine materialistische Erkenntnistheorie zu
begründen, die alle Erscheinungen – auch das Bewusstsein mit seinen Vorstellungen – auf die Seite des
„Materials“ zwingt, andererseits zu erklären, warum es falsche Vorstellungen, d.h. Ideen überhaupt gibt,
die gegenüber den „wirklichen Produktionsverhältnissen“ eine illusorische Realität produzieren, entstand
in der späteren marxistischen Tradition die falsche Alternative, Sein mit Bewusstsein zu identifizieren –
193
Ideologieverständnis des Arbeiterbewegungsmarxismus hieran an. In seiner Kritik der
politischen Ökonomie verwendet Marx selbst den Ideologiebegriff nicht mehr, was
nicht bedeutet, dass hier keine ideologietheoretischen Reflexionen zu entdecken waren
bzw. Marx’ Reflexionen für eine Theorie der Ideologie nicht brauchbar gemacht wurden.
So nahm Georg Lukács 1923 die erste Absetzbewegung gegen das frühe, sprich: der
Deutschen Ideologie entsprechende, Marx-Engelsche Ideologieverständnis als
„Umkehrabbildung“ der Wirklichkeit vor. In Lukács’ Aufsatzsammlung Geschichte und
Klassenbewußtsein (1923), dessen theoretisches Hauptstück der Aufsatz „Die
Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats“ bildet, steht Marx’ Theorie des
Warenfetisch aus dem ersten Band des Kapital im Zentrum eines neuen
Ideologieverständnisses. Hier sei der strukturelle Charakter der Ideologie nicht mehr
einer „Illusion“ über die Wirklichkeit geschuldet, sondern einem objektiven
Gesellschaftsverhältnis – zwar wird hier Ideologie noch als Erkenntnisproblem
verstanden, aber nicht mehr als falsche Erkenntnis einer „richtigen“ Wirklichkeit,
sondern als gesellschaftlich-historisch vermittelte, „notwendig“ falsche Erkenntnis,
„notwendig“ falsches Bewusstsein.
Die zweite Absetzbewegung vom frühen Marx wie von Lukács gleichermaßen findet
sich bei Althusser, der mit einer strukturalistischen, „anti-humanistischen“ Lesart des
Kapital versucht, den konstitutitionstheoretischen Problemen der Fundierung von
Ideologie im Bewusstsein zu begegnen, indem er Ideologie kurzerhand vom
Bewusstsein in die sog. „Ideologischen Staatsapparate“ (Althusser 1970) auslagert.
Ideologie somit keine Frage des Bewusstseins falscher Weltanschauungen oder Ideen
mehr, sondern führe nun eine rein materielle Existenz. Dennoch greift auch Althusser
terminologisch wie theoretisch auf erkenntnistheoretische Begriffe zurück, auf die er
auch nicht verzichten kann, weil er zeigen will, wie das Subjekt in der Ideologie erst
angerufen und dann suspendiert wird. Wichtig ist die Entwicklung von Lukács zu
Althusser, weil Althussers Kritik der Ideologiekritik sich nun als Ideologietheorie
versteht. Sie markiert die Wende von einem aufklärerischen Wahrheitsbegriff, der sich
noch in einigen Texten der ideologiekritischen Tradition der Kritischen Theorie
bemerkbar macht zu einem Strukturalismus, auf den dann auch Theoretiker wie
Foucault und Derrida aufschließen konnten und als deren gemeinsames Kennzeichen
der Versuch, ohne einen emphatischen, aufklärerischen Subjekt- wie auch
Wahrheitsbegriff auszukommen, bezeichnet werden muss.
Eine dritte Abweichung vom traditionellen wie auch strukturalistischen
Ideologieverständnis kann bei den Theoretikern der sogenannten Neuen Slowenischen
Schule, insbesondere bei Slavoj Žižek ab den 1980er Jahren beobachtet werden (siehe
Žižek (1989)). Ähnlich wie Lukács, aber auch Althusser, die jeweils unter dem
Eindruck einer bestimmten historischen Schwellensituation standen – die Verarbeitung
der „gescheiterten“ Revolution 1918 bei Lukács, das Scheitern der 1968er Bewegung
bei Althussser – versucht auch Žižek in einigen seiner Schriften, den Zusammenbruch
des „real existierenden Sozialismus“ 1989 mit den Mitteln der Ideologiekritik zu
begegnen, wobei er in seiner lacanschen Lesart Hegels – bzw. der hegelianischen Lesart
Lacans – durchaus einen „psychoanalytischen Perspektivwechsel“ vornimmt.
was heute als positivistische Farce in den sogenannten Neurowissenschaften beobachtet werden kann –
oder Sein und Bewusstsein im Sinne der klassischen Erkenntnistheorie für dialektisch unvermittelbar zu
halten. Eine andere Aporie wäre die vulgärhegelianische der ideellen Subjekt-Objekt-Einheit gegen die
„frühe“ Marxsche praxisphilosophische Auffassung der praktischen Subjekt-Objekt-Einheit, deren
Synthesis durch Lukács angestrebt wurde.
194
Žižek selbst nun führt in seinem Aufsatz „The Spectre Of Ideology“ den Versuch einer
systematischen Unterteilung des bisherigen Ideologiediskurses durch, der für eine
strukturelle Aufblendung des Ideologieproblems hilfreicher ist als eine nur historische,
womöglich gar „historisierende“ Schau auf ideologische Texte.714 Sie könnte auch dabei
helfen, die Komplexität des Ideologischen bei Nishida auf ein strukturelles Symptom,
welches in der konstitutionsproblematischen Auffassung der Ideologie thematisch wird,
einzuschränken.
1.
Ideologie an sich, für sich, an und für sich, oder: Where is Nishida’s
Hamster?
Slavoj Žižek berichtet in In Defense of Lost Causes (2008) von einer merkwürdigen
Geschichte, die ihm zufolge in „psychiatic circles“ umgehe.715 Es geht darin um einen
Mann, bei dessen Ehefrau Krebs im letzten Stadium diagnostiziert wurde und die kurz
darauf starb. Der Ehemann schien vom Tode seiner Frau vollkommen unbeeindruckt
und konnte kühl und distanziert mit Freunden über seine Frau und ihren plötzlichen Tod
sprechen. Wie sei das möglich gewesen? War er ein herzloses, gefühlloses Ungetüm?
Hatte er seine Frau vielleicht nicht geliebt? Nichts von alledem. Wie seine
Gesprächspartner feststellten, hatte dieser Mann, wenn er über seine Frau sprach, stets
einen lebenden Hamster dabei, den er in seinen Händen hielt: der Hamster gehörte
seiner Frau und wurde nun zu seinem Fetisch, die verkörperte Leugnung ihres Todes.
Als der Hamster einige Monate später starb, brach der Mann psychisch zusammen und
musste lange Zeit wegen akuter Depression stationär behandelt werden. Žižek erzählt
diese Geschichte, um darauf aufmerksam zu machen, dass dieser Mann kein besonders
pathologischer Fall ist, im Gegenteil: der ideologische Fetisch, die Verkörperung eines
speziellen Verleugungsmechanismus, greift in fast allen Lebensbereichen – vor allem
dort, wo man sich besonders unvoreingenommen währt und meint, „Ideologie“ in
unserer post-ideologischen, post-politischen, postmodernen Ära auf den berühmten
Scheiterhaufen der Geschichte werfen zu können. Gerade der postmodern
vorherrschende Gedanke, man „glaube“ eben an nichts mehr und sei von allen
„ideologischen Verstrickungen“ und „Verirrungen“ befreit, eben weil man eben schon
„durchschaue“, mit was man es zu tun habe, weist zurück auf den Hamster und muss als
ideologische Verirrung „par excellence“ (ein Lieblingsausdruck Žižeks) begriffen
werden:
So, when we are bombarded by claims that in our post-ideological cynical era nobody believes
in the proclaimed ideals, when we encounter a person who claims he has been cured of any
beliefs, accepting social reality the way it really is, one should always counter such claims with
the question: OK, but where is your hamster – the fetish which enables you to (pretend to)
accept reality „the way it is“?716
In Bezug auf Nishidas theoretische Verstrickung möchte ich hier dieselbe Frage stellen:
Wo ist Nishidas Hamster, der Fetisch, der ihm erlaubt, seine eigene theoretische
Wirklichkeit für die reale Wirklichkeit zu halten, um sie danach so zu akzeptieren, „wie
714
Žižek (1994), S. 7-15.
Žižek (2008), S. 299.
716
Žižek (2008), S. 299.
715
195
sie ist“? Ich möchte hier argumentieren, inwiefern die Totalität und volle Positivität
eines einstellig selbstbezüglich gedachten Selbstbewusstseins ohne materialistisches
Gegengewicht als „Nishidas Hamster“, sein ideologischer Fetisch, zu bestimmen ist.
Kategorial liegt dieser Realitätsauffassung Nishidas der Begriff der Identität zugrunde.
Der Gedanke der Immanenz, kategoriell der Identität, ist für Nishidas Wende zur
Geschichtsphilosophie und zum kulturalistischen Diskurs vor allem deswegen
bedeutsam, weil Nishida die sozialen und politischen Antagonismen, die das Japan der
ultranationalistischen Phase charakterisieren, nun unter sein Identitätssystem subsumiert.
Identität gerät bei Nishida zum Fetisch, weil theoretisch dort unerkannt bleibt, was sich
praktisch nicht mehr erkennen lässt. Auch dieser lässt sich auf den strukturellen
Mechanismus seiner idealistischen Operation im Identitätsdenken zurückführen, der die
Identifikation des sich „nichtend sehenden Ortes des absoluten Nichts“ mit den
tatsächlich beobachtbaren, den realen Verhältnissen – die Identifikation von Noesis und
Noema – möglich macht. Ist es nämlich (theoretisch) unzweifelhaft, dass „alles“ im
absoluten Nichts zusammenkommt, so ist ebenso unzweifelhaft, dass das Kaiserhaus
„Ursprung und Ende“ der Geschichte sei; ist es (theoretisch) unzweifelhaft, dass die
„absolut widersprüchliche Selbstidentität“ das Prinzip alles Lebens sei, so ist auch
unzweifelhaft, dass in der spezifischen Geschichte Japans dieses Prinzip zur vollen
Geltung komme. Nishida hält es für absolut unproblematisch, die historische, soziale etc.
Wirklichkeit dem Prinzip anzupassen, nicht umgekehrt. Als hintergründige Struktur
konnte oben bereits das emphatische Festhalten am Einheitsgedanken festgestellt
werden, methodisch gesehen subsumiert Nishida alle realen Phänomene schlicht seiner
Begrifflichkeit. Auch dieses Denken verdankt sich einem Inversionsprozess, der
Nishidas Ideologie charakterisiert.
Nicht aus den Augen verloren werden sollte hier, dass Nishida als Theoretiker in Frage
steht, nicht eine bestimmte, hier „kapitalistische“ Gesellschaftsformation, auf die sich
die Ideologiediskurse mit der Ausnahme von Adorno, der primär ideologisiertes Denken
in seine kritische Analyse aufnimmt, beziehen. Im Folgenden möchte ich zeigen,
worauf es mir hier im Gegensatz zu den primär gesellschaftskritischen
Ideologiemodellen ankommt und dazu auf Žižeks inzwischen klassische systematische
Ideologieheuristik zurückgreifen.
Žižek schlägt vor, eine systematische Unterteilung einzuführen, die die verschiedenen
Arten, sich dem Ideologiephänomen zu nähern, berücksichtigt. Er lehnt sich dabei an
die Hegelsche Dreifach-Aufteilung der Religion an, der zufolge die drei Momente der
Doktrin, des Glaubens und des Rituals Religion konstituieren und Religion in ihren
Momenten an sich, für sich und an und für sich begreift. Eine ähnliche Struktur ließe
sich Žižek zufolge auch für die Ideologie ausmachen. Hier stehe für die erste Säule die
„Ideologie an sich“: hierunter lässt sich ein Ideologieverständnis subsumieren, das
Ideologie
als
Konglomerat
von
bestimmten
Ideen,
Glaubenssätzen,
„falschen“ Vorstellungen und Weltanschauungen versteht, kurz, als falsches
Bewusstsein, welcher die Ideologiekritik zu begegnen versucht (die gesamte Tradition
der Kritischen Theorie von Lukács bis Adorno). Die zweite Säule ist durch den
„Glauben“ in der „Ideologie für sich“ repräsentiert: hierunter versteht Žižek vor allem
Althussers Ideologietheorie mit ihrer „Externalisierung“ von Ideologie in Ideologischen
Staatsapparaten und einer sehr bestimmten Interpretation des Glaubens-Mechanismus,
kurz, Ideologie als falsches Handeln; drittens hat man es mit einer Thematisierung des
196
Ideologiephänomens „an sich-für sich“ zu tun: Ideologie in den Zeiten der Postmoderne,
in denen ein aufgeklärt zynisches Bewusstsein zwar ritualmäßig „ganz genau weiß was
es tut, aber es dennoch tut“ und Ideologie und Realität nicht mehr unterscheidbar sind.
Hierin liegt aber erst die Dringlichkeit der Ideologiekritik auf ihrer gesellschaftlichen
Ebene: „die externe Realität schlägt um in Ideologie“.717 Konsequenterweise läßt sich
hier Ideologie als falsches Bewusstsein und falsches Handeln ausweisen.
Ich möchte im folgenden Nishidas Denken in der Auffassung von Ideologie-an-sich
thematisieren, wobei die damit gemeinte Tradition klassischer Ideologiekritik von Marx
über Lukács bis Adorno als Kritik eines bestimmten (falschen) Erkenntnismodus in
Frage steht und nicht ihr Bezug auf ihre gesellschaftstheoretische Dimension.718 Dabei
bildet Lukács hier insofern eine Ausnahme als er in „Die Verdinglichung und das
Bewußtsein des Proletariats“ Ideologie als gesellschaftliches Phänomen der
Verdinglichung versteht, weshalb dieses Verständnis sich als Mittel der Kritik nicht
uneingeschränkt auf Nishidas Theorie abbilden lässt, wenngleich der
Verdinglichungsbegriff bei Lukács auch erkenntnistheoretische und erkenntniskritische
Grundlagen hat. 719 Lukács’ Versuch, die „Antinomien bürgerlichen Denkens“ 720
strukturell aus dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion zu erklären, endet mit
der Konzipierung des Proletariats als revolutionäres „identische[s] Subjekt-Objekt der
Geschichte“ 721 , die in der Rhetorik eines hegelianisch-leninistischen
Fortschrittsoptimismus vorgetragen wird. So ist Lukács’ Verdinglichungstheorem
schliesslich als Geschichtseschatologie konzipiert, weshalb dieser Ansatz aus meiner
ausschliesslich erkenntniskritische Motive berücksichtigenden Ideologieheuristik
herausfallen muss.
717
Khatib (2008), S. 15.
Wiewohl Marx’ idealismuskritische Reflexionen im ersten Band des Kapital auch nicht als
Ideologiekritik deklariert sind – Marx selbst spricht nach 1848 nicht mehr von Ideologie – können sie für
eine ideologiekritische Betrachtung fruchtbar gemacht werden, worauf in 2. zurückzukommen ist.
719
Lukács’ Ideologietheorem der Verdinglichung zielt in besonderem Maße auf die Konsequenzen
unreflektierter, d.h. inhaltlich unterschlagener theoretischer Voraussetzungen bestimmter Denkformen.
Der entscheidende Zusammenhang von gesellschaftlichen Prozessen wie Arbeit und einem bestimmten
Denken wird von Lukács erstmalig in „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats“ in
Geschichte und Klassenbewußtsein (1923/1968) hergestellt und kategorienkritisch begründet. Lukács
entwickelt hier seine Verdinglichungstheorie, die er zum einen aus Marx’ Analyse des Warenfetisch, zum
anderen aber vor allem aus einer Kritik der „Antinomien bürgerlichen Denkens“ – d.h. vornehmlich der
Kantischen und nachkantischen Tradition – gewinnt. Seiner Hauptthese zufolge kann die Form der
gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion strukturell nur als totalitäres, selbst das bürgerliche
Kategoriendenken unter sich subsumierendes Phänomen verstanden werden. Das bürgerliche
Begriffsdenken weise daraufhin konsequent die Struktur des Warenfetisch auf – ein rein
gesellschaftliches Verhältnis erscheint als ein naturwüchsiges Verhältnis von ‚Dingen’ – und liefere
innerhalb seiner eigenen Logik gleichzeitig einen Verdeckungsmechanismus mit, der die in einigen seiner
wesentlichen Denkbestimmungen (Kategorien von Sein und Sollen auf der Ebene der praktischen,
„unendlicher Progreß“ auf der Ebene der theoretischen Philosophie, Kategorie der „Unmittelbarkeit“)
sich manifestierende Verdinglichung nicht transparent machen könne. Die Verwandlung aller
gewöhnlichen Gegenstände in Waren, d.h. das „Zur-Ware-Werden“ aller Gebrauchsdinge, drücke Lukács
zufolge somit „dem ganzen Bewußtsein des Menschen ihre Struktur auf.“ Lukács (1968), S. 275. Die
„Befreiung“ aus dem verdinglichen Denken kann Lukács zufolge nur das „Bewußtsein des
Proletariats“ leisten, das sich selbst als „Subjekt-Objekt der Geschichte“ manifestiere. Am Ende dieses
Prozesses stehe für das „identische Subjekt-Objekt der Geschichte“ – das Proletariat – die sozialistische
Revolution. Der „Standpunkt der Proletariats“ im dritten Teil der Schrift, worin Lukács diese These
ausführt, ist ein Dokument leninistischen Fortschrittsoptimismus, das hier wiederzugeben sich nicht lohnt.
Lukács (1968), S. 366 ff.
720
So der Titel des 2. Abschnitts von „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats“, Lukács
(1968), S. 287-330.
721
Lukács (1968), S. 385.
718
197
Es wird in diesem Zusammenhang vielmehr von einem locus classicus der
Idealismuskritik als Kritik der Ideologie zu sprechen sein, „Der Fetischcharakter der
Ware und sein Geheimnis“ im ersten Band des Kapital.722 Dieses Marxsche Theorem,
das ausdrücklich allerdings erst durch die neomarxistische Tradition, insbesondere
durch Lukács, zu einem Instrument der Ideologiekritik bestimmt wurde, lässt sich auch
bei Nishida als Idealismuskritik formulieren.
2.
Ideologie im Spiegel der Theorie Nishidas – Der Inversionsmechanismus im
Waren- und Substanzfetisch
Wie in Kapitel II und III dargelegt, greift in Nishidas Theorie ein bestimmter
Verkehrungs- bzw. Inversionsmechanismus. Seine Intention besteht darin, die
Unmittelbarkeit – sei sie als „Reine Erfahrung“, „absolutes Nichts“, „Noesis“,
„Geschichte“ oder „ewiges Jetzt“ gedacht – als Nicht-Dingliches jenseits des SubjektObjekt-Verhältnisses zu bestimmen. Durch die Explikation stellt sich die so
hypostasierte Unmittelbarkeit jedoch als etwas höchst Dingliches oder Substantielles
heraus: sie darf Nishida zufolge ja bereits logisch nicht zugänglich sein. Aber das
Inversionsverhältnis von Begrifflichem und Dinglichem geht weiter und erstreckt sich
über die gesamte Nishidasche Theorie.
Im Kontext der „Ideologie an sich“ – Ideologie als Symptom „verkehrten
Bewusstseins“ – erscheint es mir daher sinnvoll, das „Verkehrungsverhältnis“ von
Dinglichem und Nicht-Dinglichem im locus classicus der Idealismuskritik Marx’ zu
diskutieren. Marx selbst spricht hier zwar nicht mehr von „Ideologie“, da die
Thematisierung des Ideologie-an-sich jedoch der Logik „verkehrten“ Bewusstseins folgt,
kann Marx Analyse des Warenfetisch für einen interpretatorischen Zugriff auf Nishida
fruchtbar gemacht werden.
Im berühmten Abschnitt „Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“723 im
Kapital (Band I) wird das Inversionsverhältnis von Konstitutum und Konstituens von
Marx genau untersucht. Dabei ist es nicht erst die nachträgliche neomarxistische
Aufwertung dieser Passage durch Lukács, die Marx’ Warenfetisch-Analyse in das
Zentrum der Ideologieproblematik hebt. Marx selbst sagt hier mehr als auf den ersten
Blick ersichtlich wäre, geht es ihm in seiner Kritik der politischen Ökonomie doch
zunächst „nur“ um die „kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden
Produktions- und Verkehrsverhältnisse.“ 724 Deren Analyse beginnt mit der ganz
dinghaften, substantiellen und „elementaren“ Ware und ihres Werts. Marx selbst erklärt
hier ganz entgegen dem Gestus der Aufklärungsphilosophie, deren Sache noch die
„Entzauberung“ mystischer Begriffe war, die Ware zu einem „vertrackte[n] Ding, voll
metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken“ ja, belegt sie mit einem
„mystischen Charakter“ 725 . Allerdings geht es Marx selbst ebenfalls um eine Art
„Entzauberung“. Um diese leisten zu können, müsse der Trivialcharakter der Ware
umgekehrt als eben nicht so augenscheinlich trivial konstatiert werden. Paradoxerweise
722
Marx (2008), S. 85-98.
Marx (2008), S. 85-98.
724
Marx (2008), Vorwort zu ersten Auflage, S. 12.
725
Marx (2008), S. 85.
723
198
stellt sich für Marx das Problem der (dinglichen) Ware als Problem des (nichtdinglichen) Bewusstseins dar. Was bedeutet das?
Die Produktionsweise des Kapitalismus sieht Marx zufolge vor, dass die Menschen sich
des gesellschaftlichen Charakters ihrer eigenen Arbeit nicht bewusst sind. Diese
„Bewusstlosigkeit“ drücke sich innerhalb des Warentausches aus: hier „erhalten die
Arbeitsprodukte eine von ihrer sinnlich verschiedenen Gebrauchsgegenständlichkeit
getrennte, gesellschaftlich gleiche Wertgegenständlichkeit.“ 726 Die Arbeitsprodukte
werden kommensurabel gemacht. Das sei nach Marx deswegen möglich, weil
Menschen zunächst ihre Arbeitsprodukte als Werte aufeinander beziehen, aber Ursache
und Folge miteinander verwechseln:
Die Menschen beziehen also ihre Arbeitsprodukte nicht aufeinander als Werte, weil diese
Sachen ihnen als bloß sachliche Hüllen gleichartig menschlicher Arbeit gelten. Umgekehrt.
Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen,
setzen sie ihre verschiedenen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das
nicht, aber sie tun es.727
Die Verkennung der Wertkonstituierung führe im Warentausch zu einem
Inversionsmechanismus, weil darin das Konstitutionsverhältnis von Ware und Wert
nicht reflektiert werde. Hierin bestehe auch der „mystische“ Charakter der Ware: der
Konstitutionsprozess werde nicht reflektiert, weil Reflektion sozusagen einen
„Mindestabstand“ vom Geschehen verlange, welcher im Warentausch ausgeblendet
werde.728
Marx hat nun im „magischen“ Tauschprozess den performativen Akt der
Verdinglichung gesehen. Die verdinglichende Handlung des Warentausches führt nach
Marx dazu, dass den Akteuren bzw. den Produzenten der Ware ihre Arbeit so erscheint,
als realisiere sie einen spezifischen Wert, der der Ware „naturwüchsig“ – dinglich –
zukomme. Gleichsam als stünde dem Wert, Marx zufolge, „auf der Stirn geschrieben,
was er ist,“ 729 wird er als feste Größe und „Ungeschaffenenes“ gedacht und
wahrgenommen. Anstatt dass die Akteure des Tauschprozesses sich über die
gesellschaftlich bedingte Konstituierung des Wertes bewusst sind, halten sie sich für die
Erfüllungsgehilfen einer ewigen Wahrheit, des auf alle Zeiten unverrrückbar
festgelegten und von gesellschaftlichen Bedingungen unabhängigen Werts. Kurzum: ein
gesellschaftliches Verhältnis (Tauschprozess) stellt sich als ein Verhältnis von Dingen
dar. Auch weil die Agenten im Tauschprozess sich nicht anders als durch eben diesen
Prozess gesellschaftlich verständigen können, nivelliere sich die gesellschaftliche
Dimension des Wertes. Die Apotheose des Wertes als dinglich fällt so mit dem
Verdinglichungsprozess des Bewusstseins zusammen. Das Bewusstsein der Akteure
führt im Tausch nur noch aus, was sein nicht durchschautes Verhältnis von Wert und
Ware bzw. Konstitutum und Konstituens verlangt und voraussetzt.730
726
Marx (2008), S. 87.
Marx (2008), S. 88.
728
Sohn-Rethels Idee von der Realabstraktion, aus der sich Waren- wie Denkform ableiten, nimmt dieses
Motiv wieder auf. Siehe A. Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der
gesellschaftlichen Synthesis (1970), S. 34 ff.
729
Marx (2008), S. 88.
730
Es verwundert nicht, dass dem radikalen Materialisten Althusser, der in der Waren- und
Wertformanalyse den humanistischen Marx, den „idealistischen“ Marx sehen will, diese kritischen Töne
– es gelte, den Schleier des unreflektierten Automatismus von den verdinglichten Bewusstseinen zu
727
199
Die Konstatierung dieses Verhältnisses stelle indes nur die eine Seite der
Verdinglichung dar. Gleichzeitig könne hier beobachtet werden, dass hinter der
„phantasmagorischen Form eines Verhältnisses von Dingen“731 nicht noch eine Realität,
eine Gesellschaft „wirklicher Menschen“ und „unverdinglichter“ Bewusstseine existiere.
Die gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus sind Marx zufolge schlicht
„dinglich“: sie haben nur diese eine Form eines Verhältnisses von Dingen. Es ist also
diese doppelte Charakteristik des Warenfetisch, die das Verhältnis von Wert und Ware
gleichzeitig als „phantasmagorisch-gesellschaftlich“, aber auch als reale
gesellschaftliche Realität instand setzt.
Ein anderes Beispiel, mit dem Marx versucht, das Verkehrungsverhältnis von
Konstitutum und Konstituens in der Wert- und Warenform zu verdeutlichen, ist die
Darstellung des römischen und des deutschen Rechts als bloße Derivate,
„Verkörperungen“ des „Rechts überhaupt“, anstatt sie einfach als zwei verschiedene
Rechtsformen zu begreifen. Marx problematisiert mit diesem Beispiel die Verdrehung
von Abstrakt-Allgemeinem und Sinnlich-Konkretem und formuliert nebenbei eine
knappe und dennoch prägnante Idealismuskritik:
Diese Verkehrung, wodurch das Sinnlich-Konkrete nur als Erscheinungsform des AbstraktAllgemeinen, nicht das Abstrakt-Allgemeine umgekehrt als Eigenschaft des Konkreten gilt,
charakterisiert den Werthausdruck. Sie macht zugleich sein Verständniß schwierig. Sage ich:
Römisches Recht und deutsches Recht sind beide Rechte, so ist das selbstverständlich. Sage ich
dagegen: Das Recht, dieses Abstraktum, verwirklicht sich im römischen Recht und im
deutschen Recht, diesen konkreten Rechten, so wird der Zusammenhang mystisch.732
Hier mag die vorläufige Antwort auf die im Exkurskapitel eingangs gestellte Frage nach
Nishidas Hamster liegen. Der Nishidasche Hamster, welcher ihm erlaubt, die
Wirklichkeit „so zu akzeptieren wie sie ist“, stellt sich in seiner Theorie als das
Abstrakt-Allgemeine des Selbstbewusstseins dar, dessen Erscheinungsformen sich nun
im Sinnlich-Konkreten der Geschichte und der Politik ausdrücken. Bei Nishida
verwirklicht sich das Selbstbewusstsein in der Geschichte und der Kultur. Drastisch
wird dieser Verkehrungsmechanismus in seinen Ausführungen zum japanischen Staat,
der japanischen Kultur und Geschichte in seinen späten Schriften, die ich in Kapitel V
thematisiere.
Mit den obigen Ausführungen zum Warenfetisch lässt sich entsprechend eine Parallele
von Warenfetisch und „Substanzfetisch“ ziehen. Grundmodell ist bei Marx die
unreflektierte Hypostasis, Verdinglichung oder Substantialisierung eines durch und
durch gesellschaftlichen Begriffs – des Wertes. Dieser ist gleichzeitig wiederum Index
eines gesellschaftlichen Verhältnisses „hinter“, „über“ und/oder „davor“ es nichts
anderes gibt. Nishidas Theorie weist hier dieselbe Struktur auf. Erstens die unzulässige
Substantialisierung bei Nishida als Analogie zur unbewusst ablaufenden
Wertkonstituierung zu verstehen: so wie bei Marx Warenform und das Wertverhältnis
der Arbeitsprodukte „mit ihrer physischen Natur und ihren daraus entspringenden
reißen und ihnen ihre Autonomie zurückzugeben – verachtete, da er ja bereits die ursprüngliche Dualität
von Materie und Bewusstsein nicht anzuerkennen gewillt ist.
731
Marx (2008), S. 86.
732
Marx (2009), S. 71.Vgl. MEW 3, 346ff. Anmerkung: Diese Textstelle findet sich nur in den Zusätzen
zur 1. und als Fußnote 21 in der 2. Auflage des Kapital, nicht aber in der 4., von Engels editierten Auflage
(=MEW 23).
200
dinglichen Beziehungen absolut nichts zu schaffen“733 haben, dieser Eindruck aber
entsteht, weil der gesellschaftliche Charakter der Arbeit als gegenständlich-äußerliches
Verhältnis zurückgespiegelt wird, werden die Nishidaschen Begriffe verdinglicht, weil
auch hier ihr rein begrifflicher Charakter außerhalb des logischen Gefüges angesiedelt
und so nur als Substanz, als materiell-irrationaler Rest, zurückgespiegelt werden kann.
Paradigmatisch konnte das am Theorem des „absoluten Nichts“ in II. 2.1.1. gezeigt
werden.
Zweitens gibt es eine weitere Analogie der Theorie Nishidas zur Warenfetischlehre: im
Warentausch gibt es nur dieses eine Verhältnis der Warendinge zueinander als
Repräsentationen der Gesellschaft, keine andere, tiefere oder „dahinter liegende
Realität“. Auf der Seite Nishidas: es gibt keine Realität jenseits des „reziproken
Durchdringens“ 734 von Subjekt und Objekt, keine „dritte“ Ebene, die wegen ihres
alogischen Charakters angeblich auch ihren substantialisierenden Grundlagen
entkommen könne. Das Gegenteil ist der Fall. Bereits die Denkbarkeit der Begriffe der
Reinen Erfahrung, des Jikaku und des absoluten Nichts verdankt sich dem Verhältnis
von Subjekt und Objekt, die der Nishidasche irrationalistische Idealismus so vehement
in Abrede stellt und dem er doch folgen muss. Genau diese Verleugnung der eigenen
Determinanten führt dazu, dass bei Nishida hinter der Welt der Begriffe noch eine Welt
auftaucht, die an der Vorgabe zusammenfällt, sich aus sich selbst begründen zu können.
Marx drückt dieses Verhältnis satirisch-ironisch aus, wenn er den Waren Bewusstsein
zuschreibt und sagt:
Könnten die Waren sprechen, so würden sie sagen, unser Gebrauchswert mag den Menschen
interessieren. Er kommt uns nicht als Dingen zu. Was uns aber dinglich zukommt, ist unser
Wert. Unser eigner Verkehr als Warendinge beweist das. Wir beziehen uns nur als Tauschwerte
aufeinander.735
Aber was bedeutet „dinglich zukommen“? Marx konstatiert, dass „noch kein Chemiker
Tauschwert in Perle oder Diamant entdeckt“ habe.736 Ebensowenig kann ein Philosoph
in Nishidas Verabsolutierung des irrationalen Selbstbewusstseins das deduktive Prinzip
der gesamten bekannten und unbekannten Welt entdecken: die Welt des alles ungründig
spiegelnden Jikaku bei Nishida ist ein ebenso wunderbarer Schein wie ein
naturwüchsiger Wertbegriff. Die Nichtanerkennung der materiellen Konstituenten –
seien es gesellschaftliche Prozesse, sei es die sinnliche Anschauung – führt meiner
Analyse nach zu einer fetischistischen Inversion, in der zuerst die objektive Welt und in
der Konsequenz das Subjekt annuliert wird.737
733
Marx (2008), S. 86.
Adorno (1966), S. 142. „Weil aber in Wahrheit Subjekt und Objekt nicht [...] fest gegenüberstehen,
sondern reziprok sich durchdringen, affiziert die Degradation der Sache zu einem chaotisch Abstrakten
durch Kant auch die Kraft, die es formen soll.“
735
Marx (2008), S. 97.
736
Marx (2008), S. 98.
737
Auch Hegel war diesem Inversionsmechanismus grundsätzlich abgeneigt. Er spricht sich eindeutig
dagegen aus, das Allgemeine – Produkt des Denkens – als das „Ding“ zu nehmen, was eine
„Verkehrung“ sei, und dafür, den Abstand von Subjekt und Objekt in reflektierter Form zu bewahren.
Der „Löwe überhaupt“, also sein Begriff, so macht Hegel an einer Stelle der Natur-Enzyklopädie deutlich,
existiere nicht: „Dadurch, dass wir die Dinge denken, machen wir sei zu etwas Allgemeinem; die
734
Dinge sind aber einzelne, und der Löwe überhaupt existiert nicht. Wir machen sie zu einem
Subjektiven, von uns Produzierten, uns Angehörigen, und zwar uns als Menschen Eigentümlichen;
denn die Naturdinge denken nicht und sind keine Vorstellungen oder Gedanken [...] Hier also tritt
201
Was Marx als gesellschaftliches Phänomen im Kapitalismus diagnostiziert, untersucht
Adorno – für unseren Zusammenhang geeigneter – als Paradigma der Ideologie im
Verhältnis von Subjekt und Objekt.
3.
Adorno: Wiedergutmachung am Subjekt
Der obige Abschnitt stellt einen Versuch dar, den Inversionsaspekt des
Gesellschaftsbegriffs in der Lehre vom Warenfetisch mit Nishidas Theorie des
absoluten Selbstbewusstseins zu parallelisieren, wiewohl thematisiert werden müsste,
wie diese sich nicht nur in ihrer formalen Hinsicht der Inversion, sondern unter dem
Gesichtspunkt einer „materialistischen Logik“ bzw. eines materialistischen
Subjektivismus wieder synthetisieren lassen: auch die Nishidaschen Zentralbegriffe sind
nicht einfach Produkte „reinen Denkens“. Die Lukácssche Ausweisung des
Verdinglichungsphänomens als Symptom der Antinomien bürgerlicher Philosophie
wollte das zeigen. Nichtsdestoweniger stellt sich die Frage, ob die Kritik der Kategorien
sich auch jenseits eines arbeitermarxistischen Geschichtsverständnisses und
Fortschrittsoptimismus formulieren lässt.
Adornos in der Negativen Dialektik ausführlich und in zahlreichen Essays, so z.B. in Zu
Subjekt und Objekt (in den Stichworten – Kritische Modelle 2 738 ) in aller Kürze
formulierte Erkenntnistheorie lässt sich als ein solcher Versuch auffassen. Die
Kategorien, um die es Adorno primär geht, sind Subjekt und Objekt, und das sie
begleitende Grundproblem das der Identität. Mehr noch als Lukács bietet Adorno seine
Kritik auf der Basis sprachlicher und erkenntnistheoretischer Überlegungen an, gemäß
seinem Verständnis, dass Ideologiekritik „Kritik des konstitutiven Bewußtseins
selbst“739 sei. Adornos unter dem Stichwort „Identitätskritik“ verhandelter Zugang zur
Konstitutionsproblematik stellt daher ein nützliches Modell dar, im Kontext des
Ideologiebegriffs dem System Nishidas eine materialistische Kritik entgegenzustellen.
Die Begriffe des Nichtidentischen und des Objekts wollen indes auch im Kontext der
Theorie Adornos auch nicht mehr sein als das: heuristische Mittel zum kritischhermeneutischen Verfahren der Kritik selbst.
Nach Anke Thyens Interpretation ist die Nichtidentität (bzw. seine Auffassung des
Ding-an-sich selbst), die Adorno vor allem den Systemen der Deutschen Idealismus
entgegenstellt, eine Erinnerung daran, „dass die Dinge sich nicht in ihrem Erkanntsein
erschöpfen.“740 Hinzugefügt werden muss hier das aus dem in dieser Arbeit bereits
hinlänglich untersuchte irrationale Prinzip Nishidas: ebenso wenig in ihrem NichtErkanntsein. Das erklärte auch Adornos erkenntnistheoretische Mittelstellung zwischen
Kants brüchigem Transzendentalismus und Hegels absoluter Synthese. Da die
vorliegende Untersuchung Nishidas Denken in erster Linie als Identitätsdenken
problematisiert, scheint die Thematisierung der kritischen Erwägungen Adornos gegen
ein solches Denken, um die schließlich seine ganze Anstrengung kreist, jedoch sinnvoll.
Die Problematisierung des Identitätsdenkens zielt bei Adorno zwar auf die
Anerkennung der Konstitutivität des Nichtidentischen für das Subjekt, diese darf aber
die Schwierigkeit ein: Wie kommen wir Subjekte zu den Objekten hinüber? Lassen wir uns beigehen,
diese Kluft zu überspringen, und wir lassen uns dazu allerdings verleiten, so denken wir diese Natur;
wir machen sie, die ein Anderes ist als wir, zu einem Anderen als sie ist.“ Enz. II, S. 16-17.
738
Adorno (2003c), S. 741-759.
Adorno (1966), S. 151.
740
Thyen (1989), S. 153.
739
202
ebensowenig als „der Erkenntnis Letztes“ hypostasiert werden. Im Gegenteil geht es
auch Adorno in einer letzten dialektischen Wendung um eine Wiedergutmachung am
Subjekt – durch dasjenige Subjekt, welches sich als durch seine materiale Dimension
vermittelt begreift. Nicht der Schaden, den das Objekt nimmt, steht zur Diskussion,
sondern letztlich der Selbstschaden, den das Subjekt sich durch die Unmöglichkeit
seiner totalen Hypostasierung, oder um mit Kant zu sprechen, durch die „Subreption des
hypostasierten Bewußtseins“741, zufügt. Die „Hegelsche Furie des Verschwindens“742,
die auch Nishidas Jikaku-Subjekt belauert, generiert sich erst durch die absolute
Vermitteltheit, die dasselbe suggeriert. Die erste Lehre aus der nachkantischen Tradition
muss demzufolge lauten, dass der Sieg über die subalternen Erscheinungen der
materialen Welt – sind sie doch schon immer „subjektiv vermittelt“ – nur um den Preis
der Demontage des Subjekts zu haben ist. So verstehe ich Adornos
erkenntnistheoretische Überlegungen aus der Negativen Dialektik als einen
materialistischen Subjektivismus, der sich dem Kantschen Transzendentalismus
anschließt und gegen die späteren Identitätssysteme Fichtes und Schellings gerichtet ist,
welche in ihren verschiedenen Versuchen, das Noumenon der Erkenntnis wieder positiv
zu bestimmen (etwa als „intellektuelle Anschauung“), hinter Kant zurücktreten und
ihren systematischen Ort der Chronologie zum Trotz wieder in der „alten
Metaphysik“ einnehmen. Gegen den Kant der reinen Vernunft wendet Adornos negative
Dialektik sich explizit erst in ihrer gesellschaftstheoretischen Dimension, speziell in
seiner Anlehnung an Sohn-Rethels zentrale These der Realabstraktion, die durch die
Identifikation eines erkenntnis- mit einem gesellschaftstheoretischen Subjekt in
Adornos Kantinterpretation nicht unproblematische reduktionistische Momente in
seinen eigenen Begriff des Nichtidentischen hineinträgt.743 Leider muss das Verhältnis
Adornos zu Kant im Rahmen dieser Arbeit in den einzelnen Aspekten unberücksichtigt
bleiben.
Den Grund für Adornos Materialismus sehe ich dessen ungeachtet in erster Linie nicht
als Teil eines Wahrheitsdiskurses, der sich „auf“ richtige Erkenntnis „versteht“;
Ideologiekritik soll nicht richtige Erkenntnis von der falschen scheiden. Die
philosophische Kritik am Identitätsprinzip überschreitet, dem Wort Adornos zufolge,
Philosophie selbst 744 , solange sie als reine Kontemplation verstanden wird. Der
folgende wichtige Zusammenhang ist hierbei für ein richtiges Verständnis der Dialektik
des Nichtidentischen bei Adorno ausschlaggebend: Gegen Hegels Identifikation des
Begriffs mit dem absoluten Subjekt, das sich dem materiellen Objekt in allen
Dimensionen habhaft wähnt, will Adorno zeigen, dass dieser „Trug konstitutiver
Subjektivität“745 Konsequenzen zeitigt, die von diesem nicht nur nicht mehr abzusehen
sind, sondern ihm geradezu kontrafaktisch zuwiderlaufen. Adornos Haupterkenntnis
741
KrV A 402 (1998).
Adorno (1966), S. 142.
743
Siehe Thyen (1989), S. 155. Dabei ist das Verhältnis Adornos zu Sohn-Rethel komplexer: auch bei
Sohn-Rethel verschwinde „das Nichtidentische möglicher Erkenntnis [...] in einem Einheitsmoment [...]
Die Ambivalenz des Identitätsbegriffs hängt mit der Negativität des Denkens aufs engste zusammen, so
dass Identität als Reflexionsbegriff in Adornos Sinne der Logik des Kapitals [bei Sohn-Rethel, EL]
gerade nicht analog zugeordnet werden kann.“ Ebd. S. 159. Auf die Aneignung Sohn-Rethels durch
Adorno kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden.
744
„Ihre eigene Vernunft, welche, bewußtlos wie das Transzendentalsubjekt, durch den Tausch Identität
stiftet, bleibt den Subjekten inkommensurabel, die sie auf den gleichen Nenner bringt: Subjekt als Feind
des Subjekts [...] Darum überschreitet philosophische Kritik an der Identität die Philosophie.“ Adorno
(1966), S. 22.
745
Adorno (1966), S. 10.
742
203
besteht darin, dass das Subjekt im Versuch, seine eigenen konstitutiven, materiellen
Determinanten von sich abzuhalten bzw. nicht anzuerkennen, diesen ähnlich wird, sich
als verdinglichte Entität reproduziert und so nicht nur nicht absolut frei ist, sondern Teil
des verblendeten Naturzusammenhanges, dem seine Freiheit ja gerade „entragen
will“746, bleibt: die Dialektik des Subjekts besteht in seiner Selbstaufhebung durch
totale Hypostasis ohne materielles Gegengewicht. Adornos Fundamentalkritik an der
Apotheose des Subjekts in der Denktradition des Idealismus enthält so ein
emanzipatorisches Desiderat: erst die Anerkennung der materiellen, nicht-identischen
Konstituenten des „Selbstbewusstseins“ ermöglicht ihre Veränderung. Das ist der
ganze Sinn der notwendig materialistischen Dimension von Ideologiekritik: was nicht
existiert – oder als „je schon“ Aufgehobenes, subaltern Peripheres „immer schon“ durch
das Subjekt vermittelt ist – kann auch nicht verändert werden, und schon gar nicht zum
Besseren. Als materialistische, ihre gesellschaftliche Bedingtheit reflektierende
überwindet Ideologiekritik ihren eigenen theoretischen Standpunkt und verlagert ihn ins
Praktische; sie ist „mehr“ als sie ist. Ebenso muss Ideologiekritik in Adornos Sinn
einen emphatischen Subjektbegriff vertreten: die Auflösung des Subjekts in die
Nichtigkeit, derer sich der Idealismus schuldig macht, ist gerade das Skandalon
nachkantianischen, nicht mehr kritischen Denkens. Die durch die materialistische
Auffassung gegebene Veränderbarkeit der Verhältnisse erfolgt entsprechend erst durch
das Subjekt; es bemächtigt sich seiner eigenen Konstitutionsbedingungen gerade durch
ihre Anerkennung. So kann es überhaupt erst die Bedingungen der Möglichkeit von
Freiheit als autonom Handelndes schaffen. Man kann sagen, die materialistische
Auffassung kommt gerade einem transzendentalphilosophisch begründeten,
emphatischen Subjektbegriff zugute – ein Gedanke, den Nishida nicht denken konnte.747
Hier ist auch das Moment zu erkennen, in dem die negative Dialektik nicht mehr nur
„Ontologie des falschen Zustands“748 ist.
Wie sehr Adorno mit diesem Kantischen Grundgedanken verhaftet ist, zeigen fast
ausnahmslos alle Bemerkungen zum Subjekt-Objekt-Verhältnis. Andererseits kann die
transzendentalphilosophische Methode den Form-Inhalt-Dualismus, die ursprüngliche
Nichtidentität von Ding an sich und Erscheinung, von Denken und Sein nur wieder mit
transzendentalen Argumenten beweisen; die Erfahrung jeglicher Materialität bleibt der
irrationale Rest, der mit den Mitteln der konkreten Erfahrung nicht zugänglich gemacht
werden kann und seinen Begründungsort doch wieder im Transzendentalsubjekt hat.
746
Adorno (1966), S. 181.
Birgit Recki hat in ihrer Untersuchung über das „Verhältnis von Metaphysik und Erfahrung bei Max
Horkheimer und Theodor W. Adorno“ dann auch auf die „metaphysische Prätention“ zumindest Adornos
aufmerksam gemacht. Die Kritik an der Metaphysik muss sich demzufolge - bei Horkheimer gar nicht
und bei Adorno nur ansatzweise reflektiert – selbst als Metaphysik verstehen: „In den ‚Meditationen zur
Metaphysik’, mit denen [Adorno] die ‚Negative Dialektik’ beschließt, ist zwar keine Definition von
Metaphysik zu finden, in der alle Momente seiner Reflexion selbst auch aufgingen; wohl aber tritt hier
eine Intention zutage, die nicht nur den philosophischen Begriff von Metaphysik umschreibt, sondern
sogar ihren Anspruch rechtfertigt [...] Metaphysisch ist zum einen das Denken, das das Ganze begreift –
oder ein Ganzes wenigstens zu unterstellen genötigt ist – und schon darin das Maß des Empirischen als
des Erfahrbaren übersteigt; darüber hinaus ist das Metaphysische das, was in einem utopischen Sinne über
die ‚physis’ der bestehenden Gesellschaft hinausgeht.“ Recki (1991), S. 158-159. Weiter unten heißt es
noch deutlicher: „An dem doppelten Bestreben, die Gesellschaft in der universalen Vermittlung alles
einzelnen als ein Ganzes zu begreifen und dies ganze im visionären Blick auf ein ganz Anderes zu
bestimmen, tritt in den Meditationen zur Metaphysik der metaphysische Charakter der Kritischen Theorie
vollends zutage.“ Ebd., S. 159. In diesem Sinne formuliere ich meine Einschätzung der Philosophie
Adornos – über den Umweg eines „subjektiven Materialismus“ – letztlich als Subjektphilosophie, die
ihrem Wesen nach Metaphysik ist.
748
Adorno (1966), S. 22.
747
204
Im Folgenden möchte ich die Identitätskritik Adornos im Anschluss an Anke Thyens
Interpretation (Thyen 1989) genauer als eine Kritik der ontologischen Dimension im
Gegensatz zu einem formallogischen Verständnis des Identitätsbegriffs fassen. Auch
hier wird sich zeigen, wie nahe Adorno der Kantischen Kritik der rationalen Seelenlehre
im ersten Paralogismus steht. Sie wird aber als „Urform von Ideologie“ aufgefasst, was
sich aus der obengenannten materialistischen Position erklärt. Im Anschluss versuche
ich, Adornos Kritik des Fichteschen Systems, aber auch Hegels, als Kritik des „Trug[s]
konstitutiver Subjektivität“ in rudimentären Ansätzen wiederzugeben.
Dass ich nicht in der für diese Problematik erforderlichen Tiefe auf Intention, Methode
und Programmatik von Adornos Negativer Dialektik als negative Dialektik eingehen
kann, versteht sich aufgrund des Kontextes, in der sie erscheint, von selbst. Dennoch
hoffe ich, hiermit die Frage nach der Zwangsläufigkeit der Entwicklung einer rein
erkenntnistheoretisch-phänomenologisch motivierten Identitätsphilosophie hin zu einem
„ideologisch“ gefärbten Autoritätsdenken ab den 30er Jahren bei Nishida abschließend
beantworten zu können: nicht erst die Wende zum Homo exterior ist ideologisch,
sondern das subsumierende Denken des Immanenzzusammenhangs als strukturell
notwendiges Legitimationsdenken selbst.
3. 1.
Die „Urform von Ideologie“
Wie oben an Adornos programmatisch zu verstehenden materialistischem
Subjektivismus erläutert, besteht das Ideologische des identitätsphilosophischen
Immanenzzusammenhangs
des
nachkantischen
Idealismus
und
seiner
Nachfolgeerscheinungen, u.a. in der Fundamentalontologie und – verwickelter – im
Positivismus 749 , in der Hypostase eines Subjektbegriffs, das sich erst aus der
Desavouierung der objektiv-materiellen Determinanten erklärt, dieser als solche nicht
mehr habhaft werden kann und konsequenterweise in einer für dasselbe nicht mehr
durchschaubaren
Verdinglichung
terminiert.
Die
der
„subjektiven
Intention“ entgegenstehende Verdinglichung ist demzufolge das Ergebnis einer
einseitigen und totalen Apotheose des Subjekts. Erst die Anerkennung, dass die
Leistung des Subjekts sich immer an der Grenze zum ihm Heterogenen misst, kann das
Subjekt aus seiner es verarmenden totalen Hypostase, seiner Selbstidentität als
„Lüge“ befreien:
Das Subjekt ist die Lüge, weil es um der Unbedingtheit der eigenen Herrschaft willen die
objektiven Bestimmungen seiner selbst verleugnet; Subjekt wäre erst, was solcher Lüge sich
entschlagen, was aus der eigenen Kraft, die der Identität sich verdankt, deren Verschalung von
sich geworfen hätte.750
Die von Adorno kritisierte Identität von Denken und Sein ist philosophiehistorisch
gewissermaßen bereits in Parmenides angelegt, allerdings kann erst nach Descartes
davon gesprochen werden, dass die Möglichkeit von Objektivität auf die konstitutiven
Leistungen des Subjekts zurückzuführen sei, wobei diese Leistungen bei Kant nur im
Sinne einer transzendentalphilosophischen Methode für die Erscheinung, nicht für das
Objekt möglicher Erkenntnis absolut konstitutiv sind. Identitätsdenken ist in Adornos
749
750
Siehe dazu Adorno (2003c), S. 750 ff., Adorno (1966), S. 171-172.
Adorno (1966), S. 274.
205
Verständnis identifizierendes Denken, welches die fundamentale Differenz zwischen
Allgemeinem und Besonderen unterwandere, indem das dialektische Verhältnis beider
schlicht der einen Seite, dem als „konstitutiv“ empfundenen Allgemeinen, unterstellt
werde. Das Allgemeine teilt sich „bewusstlos“ die Verfügungsgewalt über das
Besondere zu, indem es dieses auf seine begriffliche Dimension reduziert, genauer,
indem es „die ‚Sache’, die es erkennen will, auf dasjenige reduziert, was es als
begriffliches Denken an ihr begreift.“751
In letzter Konsequenz ist der Idealismus stets nur auf sich selbst verwiesen, wenn bei
Hegel auch die Beziehung auf das Andere des Gedankens als erstes ontologisches
Moment des An sich aufscheint. Präformiert ist jedoch auch dieses Denken als Denken
des Selbst, da es sich über die Bewusstwerdung dessen, dass es in allen Erscheinungen
nur sich selbst erkennt, zuallererst aufzuklären hat. Es verbleibt ontologisch gesprochen
in der Immanenz selbstidentifizierender Akte. Dagegen setzt Adorno einen Anspruch an
das Denken, die materialen Gehalte als konstitutiv für ein jegliches Denken,
insbesondere des philosophischen, anzuerkennen. Der eindringlichste Satz aus der
Negativen Dialektik lautet dementsprechend:
An Philosophie ist es, das vom Gedanken Verschiedene zu denken, das allein ihn zum
Gedanken macht, während sein Dämon ihm einredet, daß es nicht sein soll.752
Identitätsdenken als identifizierendes Denken ist Adorno zufolge subsumierend,
klassifizierend und tautologisch, welche Symptome allerdings nicht nur
argumentationstheoretisch-logisch zu kritisieren wären – eine solche Thematisierung
verfiele schon wieder der Denkimmanenz – , sondern im Gegenteil vor dem
Hintergrund der unüberbrückbaren Differenz von Geltung und Genesis als Kritik der
Verdeckung ihres Zusammenhangs. Weil Identitätsdenken das Recht des Materials auf
die Formbestimmtheit durch das subsumierende, klassifizierende – ontologisch
gewendet – tautologische Denken reduziert, vergisst es auch, dass es selbst sich nicht
allein der Geltung der begrifflichen Schemata, sondern einem Außerbegrifflichen
verdankt. Zur Erinnerung daran, dass das Subjekt nicht in sich „aufgeht“, setzt Adorno
das Nichtidentische als Grenzbegriff, ausdrücklich nicht als Gegenbegriff, nicht als das
„Gegenteil“ von Identität. Gegen ein sich einfach aus der Opposition gegen das
identifizierende Denken gerichtetes erneutes Postulat oder gar den Primat eines
Nichtidentischen verwehrt sich Adorno ausdrücklich.753
Dabei ist sich Adorno im Klaren über die Unhintergehbarkeit begrifflichen Denkens,
woraus sich allerdings kein ontologischer Primat des Bewusstseins über die Sache
ergibt: „Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne
es ihnen gleichzumachen.“754 Und: „Nur Begriffe können vollbringen, was der Begriff
verhindert.“755
Dieses ambivalente Verhältnis von Sache und Begriff, Nichtidentischem und
Identischem, ist der Dialektik Adornos geschuldet, die sich zu sich selbst gleichermaßen
751
Thyen (1989), S. 114.
Adorno (1966), S. 193.
753
„Kritik an der Ontologie will auf keine andere Ontologie hinaus, auch auf keine des
Nichtontologischen. Sie setzte sonst bloß ein Anderes als das schlechthin Erste; diesmal nicht die absolute
Identität, Sein, den Begriff, sondern das Nichtidentische, Seiende, die Faktizität. Damit hypostasierte sie
den Begriff des Nichtbegrifflichen und handelte dem zuwider, was er meint.“ Adorno (1966), S. 140.
754
Adorno (1966), S. 21.
755
Adorno (1966), S. 62.
752
206
positiv wie negativ verhält: positiv als Affirmation des Begriffenen im Medium des
Begriffs – gegen einen begriffslosen und doch gleichsam identitätsphilosophischen
Intuitionismus – und negativ als Erkenntnis, dass das zu Begreifende nicht im Begriff
aufgeht.
Der Identitätsbegriff wird bei Adorno primär als Identität von Denken und Sein
thematisiert, wovon die Identität von Begriff und Sache, Allgemeinem und Besonderen,
Identischem und Nichtidentischem praktisch wie Synonyme gebraucht werden.
Offensichtlich erschöpft sich hierin der philosophische Identitätsbegriff nicht. Ohne
auch nur im Geringsten die Diskussion des Identitätsbegriffs innerhalb der analytischen
Philosophie berücksichtigen zu können, müsste man – auch hier folge ich Thyen –
dennoch
zwischen
mindestens
drei
verschiedenen
Bedeutungen
von
„Identität“ unterscheiden, allein schon, um dem Vorwurf zu begegnen, Adorno
differenziere nicht genau genug zwischen den verschiedenen Verwendungsweisen von
Identität und mache sich zahlreicher Äquivokationen, wie z.B. mit dem principum
identitatis,
der
Subsumtion,
Klassifikation,
Adäquanz,
Äquivalenz,
Widerspruchslosigkeit, psychologischer und logischer Identität usw. schuldig. Man ist
hier auf das Selbstverständnis von Adornos Kategorienkritik zurückverwiesen, dessen
Fokus auf Identität in einem ontologischen (nicht in einem formallogischen Sinne),
besser als Ausdruck der Identifikation logischer mit ontologischen Prinzipien zielt.
Zunächst könne man Thyen zufolge Adornos Redeweisen über Identität „hinsichtlich
eines formalen, eines logischen und eines psychologischen Gebrauchs voneinander
unterscheiden,“756 wobei ich die Ambivalenz des psychologischen Identitätsbegriff bei
Adorno unberücksichtigt lassen muss; sie ist meines Erachtens auch nicht
ausschlaggebend für ein richtiges Verständnis seiner Identitätskritik.
In aller Kürze und unter platzbedingter bewusster Auslassung selbst wichtiger Theorien
der Identität möchte ich daher nur zu erhellen versuchen, in welchem Sinne Adorno
„Identität“ meint und kritisiert.
Zunächst ist eine formale Unterscheidung zu treffen, die zweierlei Hinsichten betrifft,
die Bedeutung des Identitätsbegriffs zu fassen. Zum einen kann Identität als
„Identifizieren mit“, zum anderen als „Identifizieren als“ verstanden werden. Im
ersteren, von Adorno kritisierten Fall, werden alle Bestimmungen der Sache „mit“ dem
Allgemeinen, dem Übergeordneten identifiziert, so dass ein spezieller Fall von
Subsumtion vorliegt, bei der von den Besonderheiten des Gegenstands abgesehen wird.
Etwas „als“ etwas zu identifizieren kann dagegen auch bedeuten, einen Aspekt an dem
Gegenstand hervorzuheben, durch den er für den Betrachter Bedeutung hat, ohne dass
der Gegenstand notwendig auf dieses Merkmal reduziert würde. Wird jemand z.B. als
„Theodor W. Adorno“ identifiziert, so bedeutet das nicht zwangsweise, dass der Name
– eine relativ willkürliche Abfolge von Buchstaben – mit der ganzen Person identifiziert
wird.
In einem engeren Sinne formal, d.h. im formallogischen Gebrauch stellt sich das
Phänomen der Identität anders dar. Ohne hier auf Adornos Husserl-Rezeption in Zur
Metakritik der Erkenntnistheorie genauer eingehen zu können, bei der der „logische
Absolutismus“ der Logischen Untersuchungen als Prinzip in Frage steht, möchte ich
vielmehr die Kritik des Satzes der Identität A=A genauer untersuchen, der in erster
Linie als Prinzip konstitutiven Bewusstseins bei Fichte problematisiert wird. Logik
756
Thyen (1989), S. 117.
207
überhaupt wird bei Adorno nur im Hinblick auf ihre „Sachvergessenheit“ zum
Gegenstand der Kritik einer wissenschaftlichen Methode, deren Logik sich geradezu als
Ablösung vom Denken verstehen lässt, weil sie nicht mehr „dessen Form“ sein soll,
„sondern die der vorhandenden Wissenschaft.“757 Nicht die formale Logik ist demnach
Gegenstand der Kritik Adornos, sondern der Satz der Identität, das principium
identitatis in einem bestimmten Sinne, wie zu zeigen ist: Thyen stellt zur Diskussion, ob
der Satz der Identität überhaupt in einem formallogischen Sinne verstanden werden
kann und will von hier aus zeigen, dass gerade die „Überschreitung“ des
Geltungsbereichs
der
Formallogik,
seine
Ontologisierung
durch
das
transzendentalidealistische Prinzip bei Fichte und Schelling primär unter Adornos
Verdikt der Verdinglichung falle. Paradoxerweise ist es also gerade die Nichtlogizität,
der „Überschuss“ über das Logische im Satz der Identität, der zur Kritik, speziell der
sich hinterrücks vollziehenden Reifizierung, steht. Aus den drei „Grundprinzipien“ der
Logik, dem Satz der Identität, und den daraus folgenden Sätzen des Widerspruchs und
des ausgeschlossenen Dritten, könne keine Logik abgeleitet werden, sie seien vielmehr
Voraussetzungen der Logik. Bei Adorno steht entsprechend nicht die formale Logik des
Identitätssatzes zur Kritik, sondern die Identifikation des principium identitatis mit dem
subjektiven Bewusstsein, als Grund und Begründung desselben. Fichtes Übergang von
A=A zur absoluten Identität ist hierbei entscheidend, weil das Fichtesche
Selbstbewusstsein nicht mehr nur als „Selbstgleichheit“ verstanden wird, aus der „nichts
folgt“, sondern als Fundierung alles Seienden konzeptuiert und somit ontologisch
verabsolutiert wird. Hierbei ist die wichtige Einschränkung zu machen, dass Fichte eine
formalisierte Logik, welche die beiden „A“ ausweist sowie eine Definition des
„=“ angibt, noch nicht vorlag, er also den wichtigen Unterschied einer formallogischen
Bedeutung von A=A und dem Satz der Identität als qualitativer Identität nicht machen
konnte und den Satz entsprechend nur in letzterer Bedeutung nimmt. Insofern haben,
Thyen zufolge „die formale Logik und der Satz der Identität unterschiedliche
Geltungsbereiche.“758 Ihre Begründung stützt sich auf die inhaltliche Bestimmtheit des
Identitätssatzes, der nur Sinn macht, wenn etwas als qualitativ identisch bestimmt wird,
was nicht in den Geltungsbereich des formallogischen Satz der Identität A=A mit seiner
Austauschbarkeit der Variablen fällt.
Insofern unterscheidet auch Adorno das principium identitatis, das allein Gegenstand
seiner Kritik ist, von der formallogischen Bedeutung von Identität. Das A=A steht bei
Fichte für die transzendentalphilosophische Transformation logischer Grundprinzipien
bzw. ihrer tautologischen Voraussetzung. Die Behauptung der Unhintergehbarkeit
logischer Prinzipien, die sich gerade im Fall von A=A nur eingeschränkt als solches
verstehen lasse, wird unzulässiger Weise mit der Behauptung konstitutiven
Bewusstseins identifiziert. Hier setzt Adornos Kritik am Identitätsprinzip an: nicht als
Formallogisches, sondern als Qualitatives wird es zum Fokus seiner Kritik, insofern die
idealistische Transzendentalphilosophie das Bewusstsein mit dem Sein als qualitative
Identität – als Identität ihrer Eigenschaften – identifiziert. Sie tut es in einem
757
Adorno (2003a), S. 120. Adornos Husserlkritik lässt sich zwar auch als eine Spielart seiner Kritik an
Kants „Subjektivismus“ lesen, schlägt aber gerade deshalb nicht in dieselbe Kerbe wie seine Kritik am
Identitätsprinzip des transzendentalen Idealismus Fichtes. Problematisiert wird bei Husserl vielmehr sein
Gebrauch der Logik als Übergang von einer Regelrekonstruktion zu einer Regelkonstitution, womit der
Logik ein ontologischer Status zu Teil wird. Von dort aus lässt sich aber nicht zwingend auf die absolute
Identität konstitutiven Bewusstseins schließen. Husserls Diktum, dass ohne Noema keine Noesis sei, zeigt
an, dass er keine solche Identität im Sinn hat.
758
Thyen (1989), S. 123.
208
ausgezeichneten Sinne, weil die Beziehung des Bewusstseins auf das Sein
unberücksichtigt gelassen werden kann, da die „qualitative Identität von etwas als etwas
durch das sich selbst erkennende Bewußtsein hergestellt wird.“ 759 Die so
programmatisch hergestellte Nicht-thematisierung der Vermittlung des Bewusstseins
mit seinen materialen Bedingungen führt so notwendigerweise zur Verdinglichung
desselben: ein Bewusstsein, das sich nur in Abhaltung des Dinglichen frei wähnt, hat
auch keinen Einfluß mehr auf dieses (von Einfluss zu sprechen wäre nur dann sinnvoll,
wenn dasjenige, das Einfluss nimmt, von demjenigen, auf das es Einfluss nimmt,
qualitativ unterschieden werden kann) und lässt sich fortwährend von diesem
bestimmen – bewusstlos und in völliger Verkennung seines Potentials zur
Selbstbestimmung. Ontologisch verabsolutierte Logik wird für Adorno so zum
„Abwehrmechanismus des verdinglichten Bewußtseins.“ 760 Hintergrund ist hier wie
auch in seinem und Sohn-Rethels Verständnis von Erkenntniskritik als
Gesellschaftskritik „und umgekehrt“, dass die Genese des Subjekts in der Geltung
seiner Begriffe unterging und als Verdeckungsmechanismus überhaupt zu thematisieren,
d.h. auch zu kritisieren wäre. „Reines Bewußtsein – ‚Logik’ – selber ist ein Gewordenes
und ein Geltendes, in dem seine Genese unterging.“761 Im Untergang der Genese des
Bewusstseins in das Absolute seiner Geltung, d.h. in seiner hypostasierten
Selbstidentität, ist daher für Adorno die Urform von Ideologie zu finden.
Identität ist die Urform von Ideologie [...] [Sie] dankt ihre Resistenzkraft gegen Aufklärung der
Komplizität mit identifizierendem Denken: mit Denken überhaupt. Es erweist darin seine
ideologische Seite, daß es die Beteuerung, das Nichtich sei am Ende das Ich, nie einlöst; je mehr
das Ich es ergreift, desto vollkommener findet das Ich zum Objekt sich herabgesetzt. Identität
wird zur Instanz einer Anpassungslehre, in welcher das Objekt, nach dem das Subjekt sich zu
richten habe, diesem zurückzahlt, was das Subjekt ihm zugefügt hat.762
Hiermit sollte deutlich geworden sein, dass die Ansiedlung der Ideologieproblematik in
der Konstitutionsproblematik kein Peripheres ist, sondern stets auf das Verhältnis von
Subjekt und Objekt rückführbar. Das ambivalente Verhältnis Adornos zur Kantschen
Erkenntniskritik zeigt, dass selbst diese von Adorno nicht ohne weiteres in ihrer
geradezu ideologiekritischen Dimension erkannt worden ist, da er ihren Formalismus
zum Anlass nimmt, sie reflexartig auf die Tradition des Idealismus zurückzubinden.
Ihren systematischen Ort indes hat seine Kritik dort, wo seiner Auffassung nach Kant
die prinzipielle Differenz zwischen empirischen und transzendentalen Ich ausblendet: in
seiner Auflösung des Empirischen in den intelligiblen Charakter in seiner
Freiheitskonzeption der praktischen Philosophie.
Auf Adornos brüchige theoretische Mittelstellung zwischen Kant und Hegel kann indes
nicht erschöpfend eingegangen werden; um allerdings Adornos materialistischen
Subjektivismus als Programm nachvollziehen zu können, lohnt sich ein kurzer Blick
auf sein Verständnis der Subjekt-Objekt-Dialektik in Abhebung gegen seine
Interpretation ihres Verständnisses bei Kant und Hegel.
759
Thyen (1989), S. 127.
Adorno (1966), S. 65.
761
Adorno (1966), S. 229.
762
Adorno (1966), S. 151.
760
209
3. 2.
Subjekt und Objekt
In der Negativen Dialektik, vornehmlich im Zweiten Teil, „Begriff und Kategorien“,
bildet Adornos Auseinandersetzung mit Kants transzendentalphilosophischer
Subjektlehre auf der einen und mit Hegels Lehre des mit sich selbst absolut vermittelten
Geistes als im Subjekt angelegte Dialektik auf der anderen Seite den Angelpunkt seines
eigenen Verständnisses einer materialistischen, den Vorrang des Objekts einräumenden
Dialektik. Dass es damit Adorno um einen nachdrücklichen Subjektbegriff geht, wurde
oben bereits mehrfach angedeutet: für Adorno ist das Subjekt primärer Träger der
Nichtidentität, dasjenige, das das „Potential der Aufhebung seiner eigenen
Herrschaft“763 allererst in sich trägt, einer Herrschaft, die in Adornos Verständnis für
seine eigene Gefangenschaft in den objektiven Verhältnissen blind macht. Dass Adorno
in der Hauptsache als Kritiker des Idealismus auftritt, versteht sich vor diesem
Hintergrund von selbst, allein ist die Gewichtung seines ambivalenten Verhältnisses zu
einerseits Kant, andererseits Hegel unterschiedlich. Ich möchte hier ausdrücklich auf die
theoretische Nähe der erkenntnistheoretischen Grundzüge Adornos mit dem Kant der
KrV hinweisen, eine Nähe, die Adorno allerdings durch die in seiner Kantinterpretation
angelegten Vorwurf des Identitätsprimats stellenweise übersieht. Nichtsdestoweniger ist
eine materialistische Interpretation der Kantschen Transzendentallehre möglich, die bei
Hegel auf einer sachlichen Ebene nicht mehr einzuholen ist. Adorno hat sie gegen Hegel
auch immer wieder betont, so in seiner Hervorhebung des Amphibolienkapitels gegen
die „Vermessenheit, das Innere der Dinge erkennen zu wollen“ 764 und die
Verwechslung des „Begriffs mit seiner eigenen Wirklichkeit“, sowie der expliziten
Aneignung der Ding-an-sich-Lehre für sein eigenes Verständnis des Nichtidentischen:
In dem angeblichen Fehler der Kantschen Apologie des Dinges an sich, den die
Konsequenzlogik seit Maimon so triumphal beweisen konnte, überlebt in Kant die Erinnerung
an das gegen die Konsequenzlogik widerspenstige Moment, die Nichtidentität [...] Die
Konstruktion von Ding an sich und intelligiblem Charakter ist die einer Nichtidentischen als
Bedingung der Möglichkeit von Identifikation, aber auch die dessen, was der kategorialen
Identifizierung entschlüpft.765
Wesentlich für Adorno ist das Festhalten an den irreduziblen, nicht ins Bewusstsein
auflösbaren Momenten der Erkenntnis, die er z.B. in Kants Begriff der Empfindung als
des „unauslöschlich Ontischen“766 entdeckt. Dieses ist bereits Ausdruck des ihm formal
zu Grunde liegenden Konstrukts des nicht erkennbaren Ding-an-sich selbst, den Adorno
als „Block“ gegen die vereinnahmend-verabsolutierenden Versuche des späteren
Idealismus wertet, das Ding-an-sich selbst einfach dem Subjekt zuzuschlagen und im
Denken aufzulösen. An der Ding-an-sich-Problematik entzündet sich auch das
„Materialistische“ der Transzendentallehre Kants, da die Unterscheidung von
Phaenomena und Noumena, theoretisch exerziert am Ende der transzendentalen
Analytik, das Ding-an-sich als Drittes neben der dem Subjekt zugewiesenen formalen
Seite der Erkenntnis und der dem Objekt zugewiesenen materialen Seite aufscheinen
lässt: es bleibt ein Tertium, ein „Rest“, der nicht materiell, sondern
763
Adorno (2003c), S. 755.
Adorno (1966), S. 80.
765
Adorno (1966), S. 286, Anmerkung.
766
Adorno (1966), S. 140.
764
210
„materialistisch“ auftritt – also als Ganzes der Vermittlung von Subjekt und Objekt, das
weder ganz im einen noch im anderen aufgeht. Das Ding-an-sich selbst ist als
„Erinnerung daran, [...] daß die Subjektseite der Erkenntnis materiale Anteile haben
könnte und sich nicht in der Form erschöpft, die sie als Träger von Urteilsfunktionen,
als Ort der Synthesis als formaler Tätigkeit ausweist.“767 Das „reziproke Durchdringen
von Subjekt und Objekt“, von dem Adorno spricht, weist sich so in erster Linie als
durch ein Nichtidentisches vermittelte Subjektivität aus, deren theoretischer Ausdruck
das Ding an sich ist. Im Kantischen Form-Inhalt-Dualismus sieht Adorno daher schon
rein konzeptuell eine Einspruchsinstanz gegen die ins Bewusstsein aufgelöste
Objektivität als das „Letzte“ der Erkenntnis. Ambivalent wird derselbe Form-InhaltDualismus, da er gleichzeitig den Primat der formalen Subjektivität setze – die
Zuordnung der formalen Seite der Erkenntnis, d.h. die transzendentalen
Verstandesleistungen, auf das Subjekt unterschlage wiederum die Vermitteltheit
desselben durch das synthetisierte Objekt. Die Leistungen des Subjekts seien deshalb
nicht nur seine eigenen, sondern bildeten sich auch einem Moment an, „das sie nicht
selbst sind“768: Subjekt sei somit nicht nur die äußerliche, durch es selbst wieder zu
reflektierende Vermittlung des Objekts, sondern selbst wesentlich Objekt. Werden die
aktivischen Leistungen daher Adornos Kantverständnis zufolge nur der Formalität der
Verstandeskategorien zugeschlagen, verarme auch die Erfahrung. Die Anerkennung
seiner eigenen inhaltlichen, d.h. seiner materiellen, nicht-identischen Dimension wäre
dagegen die Stärke des Subjekts. Die
Degradation der Sache zu einem chaotisch Abstrakten durch Kant [affiziert] auch die Kraft, die
es formen soll [...] um, was ihm gegenüber ist, bestimmen, artikulieren zu können [...], muß es
der objektiven Gültigkeit jener Bestimmungen zuliebe, sich zur bloßen Allgemeinheit
verdünnen, nicht weniger von sich selbst amputieren, als vom Gegenstand der Erkenntnis, damit
dieser programmgemäß auf seinen Begriff gebracht werde.769
Was verarmt, wäre so nicht nur der Gehalt der Erkenntnis, sondern – virulenter – das
Erkennende selbst. Adornos Verständnis von Subjektivität ist konsequenterweise nicht
einfach das Ergebnis einer harmonischen Vermittlungsaktion, bei der Subjekt und
Objekt zu gleichen Teilen einander bedingen. Wiewohl Objekt auch Subjekt ist –
„wenngleich abgeschwächt“770 – ist Subjekt bei Adorno wesentlich Objekt, „subiectum
ist obiectum“771:
[Das Subjekt] ist selber Objekt insofern, als das „gibt“, das die idealistische Konstitutionslehre
impliziert – es muss Subjekt geben, damit es irgend etwas konstituieren kann –, seinerseits der
Sphäre von Faktizität entlehnt ward. Der Begriff dessen, was es gibt, meint nichts anderes als
der des Daseienden, und als Daseiendes fällt Subjekt vorweg unter Objekt.772
Daher schließt Adorno, dass von Subjekt Objekt „nicht einmal als Idee
wegzudenken“773 sei, wohl aber vom Objekt Subjekt. Mit dieser Feststellung scheint der
767
Thyen (1989), S. 153.
Adorno (1966), S. 142.
769
Adorno (1966), S. 142.
770
Adorno (2003c), S. 756.
771
Adorno (1966), S. 181.
772
Adorno (2003c), S. 754.
773
Adorno (1966), S. 184.
768
211
„Kantianismus“ Adornos erschöpft: schließlich ist bei Kant bekannterweise die Analyse
der Subjektivität erst der Garant nicht nur für die Objektivität der Erkenntnis, sondern
auch des Zu-Erkennenden als Erscheinung. Adornos Kantkritik setzt dementsprechend
bei der Methode der transzendentalen Subjektivität an – der Bedingung der Möglichkeit
der Erkenntnis als Wie, nicht als Was der Erkenntnis. Dabei bleibt bei Adorno
unterbestimmt, dass Kants Methode doch überhaupt erst die Möglichkeit einer nicht in
das Subjekt auflösbaren Sphäre impliziert. Adorno sieht in der Methode Kants, der
Frage nach dem Wie, dennoch den Wegbereiter der späteren Theorie konstitutiven
Bewusstseins nicht nur bei Fichte und Schelling, sondern auch bei Hegel. Ohne hier
auch nur im geringsten eine „richtige“ oder gar eine „berichtigte“ Kantexegese in
Anschlag zu bringen, möchte ich in Anschluss an A. Thyens Interpretation doch für eine
stärkeren theoretischen Absatz Kants von seinen Nachfolgern plädieren, die sich bereits
aus der Methode Kants und dem von ihm empfundenen theoretischen Ungenügen an der
ontologischen Auffassung von Erkenntnis ergibt – einer Auffassung, die später
insbesondere bei Hegel reinitialisiert wurde. Zwar mag man Adorno dem Vorwurf einer
„Ontologisierung“ der Kantschen Lehre aussetzen – ein Vorwurf, der naheliegt,
vergegenwärtigt man sich Adornos in kritischer Absicht erfolgenden Parallelisierungen
des Kantschen Grunddualismus mit der prima philosophia der alten Metaphysik774 –
jedoch steht Adorno der Transzendentallehre näher als seine Rede vom „Vorrang des
Objekts“ es vermuten lässt. Leider kann ich im Rahmen dieser Untersuchung nicht
genauer auf das Programm der Kantschen Transzendentalmethode im Verhältnis zu
einer möglichen gesellschaftstheoretischen Reflexion eingehen, die mit Adornos Kritik
intrinsisch verhaftet ist und zu der Sohn-Rethels Überlegungen zur Geltung und Genesis
des Transzendentalsubjekts den entscheidenden Impuls liefern. Der Hinweis mag mir
erlaubt sein, dass eine eingehende Untersuchung dieses Zusammenhangs unter dem
Titel „Transzendentaler Materialismus“ als nachfolgendes Projekt geplant ist.
Nachdem die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Ideologiekritik Adornos in
Ansätzen wiedergegeben worden sind, kann von hier aus mit einer sehr überblickhaften
Darstellung der Adornoschen Ideologienlehre auf- und der kategorientheoretischen
Reflexion über den Ideologiebegriff abgeschlossen werden. Hiernach kann Nishidas
„Ankunft“ in der Ideologie als das Legitimationsdenken seiner kulturalistischen und
geschichtshermeneutischen Schriften dargestellt und kritisiert werden.
3. 3.
Grundzüge der Ideologienlehre
Wieweit Nishidas Selbstbewusstseinsphilosophie ein Immanenzsystem darstellt, konnte
durch obige Textanalyse in den Kapiteln I-III gezeigt werden. Ich schließe mich
774
Beispielhaft in folgender Formulierung: „Wo ein absolut Erstes gelehrt wird, ist allemal, als von
seinem sinngemäßen Korrelat, von einem Unebenbürtigen, ihm absolut Heterogenen, die Rede; prima
philosophia und Dualismus gehen zusammen.“ Adorno (1966) , S. 142. Die gleich darauffolgende
Textstelle jedoch stellt Adornos Verständnis von Kant mit seinem Hinweis auf die „spontanen Leistungen
des Verstandes“ als transzendentalphilosophisch unter Beweis, und von hier aus entwickelt er seine
zentrale Kritik. Der Vorwurf der Ontologisierung Kants durch Adorno, d.h. der Vorwurf, Adorno habe
Kants System als plumpen Dualismus (miss)verstanden und die Ding an sich-Problematik wieder in eine
vorkantische Metaphysik eingeebnet, ist so – auch ausdrücklich bei Adorno - nicht haltbar: „[Die
Kantsche Erkenntnislehre] duldet zwar die Annahme einer An sich jenseits der Subjekt-Objekt-Polarität,
läßt sie aber mit voller Absicht so unbestimmt, dass keine wie immer geartete Interpretation aus ihr eine
Ontologie herauszubuchstabieren vermöchte.“ Adorno (1975), S. 74.
212
Adornos erkenntnistheoretischem Verdikt an, demzufolge Identität, die Einverleibung
heterogener in eine homogene Struktur, welche letztlich ihrer eigenen unreflektierten
Voraussetzungen zum Opfer fällt, die Urform der Ideologie ist. Nichtsdestoweniger
betrifft das nur die logisch-erkenntnistheoretische Dimension der Ideologie. Wie lässt
sich das erkenntnistheoretische als ideologiekritisches Prinzip auf Nishidas
Kulturnationalismus anwenden?
Zunächst: es ist sachlich falsch, Nishidas Vorstellung eines selbstidentischen
Kulturraums namens Japan, seiner Tennôverehrung zum Trotz, als „faschistisch“ zu
bezeichnen. Der Faschismus als eine Ideologie der Moderne kommt bei Nishida zumal
in seinen antisemitischen Dimensionen strukturell gar nicht vor. Der Hilfsbegriff des
Tennôfaschismus möchte hier den korrekten Zugang erleichtern, verschleiert ihn indes
nur. Nishidas umstandslose Hypostase der Kultur steht außerdem konträr zur
allgemeinen Desavouierung kultureller Lebensdimensionen in allen bekannten
faschistischen und faschistoiden Ideologien.775 Das macht Nishidas Ideologie jedoch
nicht harmlos. Die Bezeichnung der Nishidaschen Volkskulturtheorie als
„reaktionär“ dagegen trifft besser, was auch in seiner theoretischen Nähe zu den
Untergangsphantasien Oswald Spenglers in einer späteren Ausführung deutlich werden
soll. Doch auch sie trifft den Gehalt seiner Geschichts- und Kulturhermeneutik nur am
Rande. Pierre Lavelle hat Nishida einem kulturellen Nationalismus zugerechnet, der
letzten Endes von einem zutiefst bürgerlichen, d.h. auch kapitalistischen Geist geprägt
ist.776 Ungeachtet der Nishidaschen Attacken gegen die Moderne im allgemeinen und
der Technik im speziellen, sind sie in ein Menschenverständnis gebettet, das die
Unterwerfung vieler durch einige als harmonische Weise des Zusammenlebens, des
Respekts vor anderen Kulturen etc., letzten Endes als prästabilierte Harmonie umdeutet,
der die Annahme der Identität von Bewusstsein und Sein unbedingter Grundsatz ist.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang zunächst nur, dass Nishidas die Kultur Japans
thematisierende Schriften ab den 30er Jahren keine faschistische Ideologie vertreten.
Würden sie sich explizit für die Unterwerfung fremder Kulturen unter die Herrschaft
Japans aussprechen, d.h. in Konsequenz auch der Eliminierung alles Nicht-Japanischen,
vermochte eine kritische Lesart nichts auszurichten. Anders gesagt: wenn Ideologie sich
selbst performativ – z.B. im antisemitischen Pogrom – „wahr macht“, d.h. wenn sich
die „Volksgemeinschaft“ in rituellen Praktiken ihrer selbst als „egalitäre“ vergewissert,
und sich so „ihren eigenen Wahrheitshorizont schafft“777, kann eine Analyse dieser
Phänomene in Absicht auf eine rationale Auseinandersetzung mit diesen nichts
bewirken. So sieht auch Adorno den Versuch, den Nationalsozialismus oder den
Faschismus einer Ideologiekritik zu unterziehen, als vergeblich an:
Demgemäß ist auch Ideologiekritik, als Konfrontation der Ideologie mit ihrer eigenen Wahrheit,
nur soweit möglich, wie jene ein rationales Element enthält, an dem die Kritik sich abarbeiten
kann. Das gilt für Ideen wie die des Liberalismus, des Individualismus, der Identität von Geist
775
Lavelles Argument, dass Nishida kein Faschist war, da er sich im Gegensatz zu Heidegger keiner
Partei und ihrer Doktrin anschloss, ist nicht überzeugend und erstaunlich uninformiert: in Japan gab es
zur Zeit des Ultranationalismus keine Parteien mehr, auch nicht in der Einzahl. Auch die „Vereinigung
zur Unterstützung der Kaiserherrschaft“ (taisei yokusankai 大政翼賛会) ging nicht wie die NSDAP aus
Wahlen hervor wie Lavelle selbst feststellt: „The Imperial Rule Assistance Association [...] was not a
one-party system that had gained power ‘from below’, but was an organization of the Ministry of the
Interior.“ Lavelle (1994), S. 141
776
Vgl. Lavelle (1994), S. 163 ff.
777
Khatib (2008), S. 10.
213
und Wirklichkeit. Wollte man jedoch etwa die sogenannte Ideologie des Nationalsozialismus
ebenso kritisieren, man verfiele der ohnmächtigen Naivetät.778
Nishidas Ideologie besteht in der Identität von Geist und Wirklichkeit, die ein rationales
Element enthält, „an dem Kritik sich abarbeiten kann.“ Das konnte sich bereits an
Adornos Kritik identifizierenden Denkens ausweisen. Adorno geht in seinen
soziologischen Betrachtungen des Ideologiebegriffs im Beitrag zur Ideologienlehre
(1954) im Rückgriff auf Lukács weiter auf die Definition des „objektiv notwendigen
und zugleich falschen Bewußtseins“779 als Ideologie, eine Definition, die auch den
Horizont möglicher Aufklärung anzeigt, denn von falsch lässt sich sinnvollerweise nur
sprechen, wenn ihm ein Richtiges, und sei es noch so utopisch, gegenübergestellt wird.
Adornos Grundfrage in Weiterführung der erkenntnistheoretischen Identitätskritik auf
die soziologischen Aspekte der Ideologie ist zwar noch immer im „Verhältnis der
inneren Konsistenz und Selbständigkeit des Geistes zu seiner gesellschaftlichen
Stellung“780 angesiedelt, fragt jedoch neu nach Strukturwandel und Funktionswechsel
der Ideologie. Adorno macht drei Aspekte zu Hauptmerkmalen der Ideologie, von deren
Ausgang eine mögliche Kritik erst erfolgen kann. Erstens, das Wesen von Ideologie
selbst ist bürgerlich – Ideologie ist stets bürgerliche Ideologie – , zweitens, Ideologie ist
wesentlich Legitimation und drittens, Ideologien sind zwar „falsches Bewußtsein, aber
doch nicht nur falsch“.781
Warum Ideologie in Adornos Sinn mit Fug und Recht erst mit Eintritt der bürgerlichen
Geschichtsschreibung notwendig auftritt, hat mit dem Aufkommen der bürgerlichen
Gesellschaft und ihrer speziellen Befassung mit der Ideologienfrage selbst zu tun.
Während vorher noch nicht einmal „der Zweifel sich regte, ob mit der Herstellung
formaler staatsbürgerlicher Gleichheit in der Tat auch die Freiheit erreicht sei“782,
glaubte die voll etablierte bürgerliche Gesellschaft, „es genüge, das Bewußtsein in
Ordnung zu bringen, um die Gesellschaft in Ordnung zu bringen.“783 Hier befindet sich
Ideologie aber in einem ambivalenten Verhältnis zur Wahrheit bzw. Unwahrheit dessen,
auf was sie geht, zumal in ihrer besonderen Form der Befassung mit Ideologie, die mit
Destutt de Tracy und seiner Verfolgung durch Napoleon aufkam: zum einen ahnt sie,
dass mit der formalen Anerkennung bürgerlicher Rechte noch keine Freiheit gegeben ist,
zum anderen sieht sie sich überhaupt zu einer rationalen Standards – Argumentation –
unterliegenden Erklärung verpflichtet und tritt hier ihr aufklärerisches Erbe an. Die
„Unwahrheit“ der Ideologie ist in Adornos Verständnis der Preis der Verleugnung der
gesellschaftlichen Bedingtheit des Geistes. Wahr ist Ideologie, insofern die teuer
erkaufte Selbständigkeit des Bewusstseins „mehr ist als Abdruck des Seienden und
danach trachtet, das Seiende zu durchdringen.“784
So ist Adorno zufolge Ideologie auch wesentlich Rechtfertigung (Legitimation) der
bürgerlichen Gesellschaft selbst:
778
Adorno (1972), S. 465.
Adorno (1972), S. 465.
780
Ebd., S. 464.
781
Ebd., S. 472.
782
Ebd., S. 464.
783
Ebd., S. 465.
784
Ebd., S. 474.
779
214
Die Restaurationsdenker, Lobredner feudaler oder absolutistischer Verhältnisse, sind allein
schon durch die Form der diskursiven Logik, des Argumentierens, das in sich ein egalitäres,
antihierarchisches Element enthält, bürgerlich, und höhlen darum immer bloß aus, was sie
glorifizieren.785
Adornos Analyse trifft den Kern des Nishidaschen Vorgehens wie der in Kapitel V. zu
analysierenden Schrift Das Problem der japanischen Kultur oder anderen das
Tennôsystem in apologetischer Absicht thematisierenden Texten: auch hier wirkt
Nishidas Legitimationsargumentation, die das Tennôsystem mit der „Tatsache“ des
(geschichtlichen) Selbstbewusstsein beweisen will, merkwürdig verdächtig: warum
noch ein Erklärungsmodell für das rechtmäßige Bestehen der der ununterbrochenen
Thronfolge (bansei ikkei 万世一系), liefern, wenn diese quasi selbsterklärend ist? Dass
das vermeintlich Selbsterklärende in Nishidas Legitimationsschriften nun erklärt wird –
wenn auch nur durch die ausgleichende Harmonie eines die Wirklichkeit
„repräsentierenden“ Selbstbewusstseins – , ist an sich schon ein den eigenen Ansatz in
Abrede stellendes Vorgehen. Dennoch entspringt der Versuch, das japanische
Tennôsystem einem mehr oder weniger rationalistischen Erklärungsansatz
einzugliedern, bürgerlicher Reflexionstätigkeit. Insofern ist das notwendig falsche
Bewusstsein Nishidas nicht nur falsch. Gerade weil es das Potential zur Infragestellung
dessen, was es begründet, durch die Form, in der es begründet wird, mitliefert, scheint
ein rationales Element aufzublitzen. Allerdings nur dem Anschein nach – die Analyse
der in Frage stehenden Texte, vornehmlich Das Problem der japanischen Kultur,
gestaltet sich in der kritischen Lektüre deswegen so schwierig, weil streckenweise gar
keine Argumentation vorliegt. Die Aufgabe der Ideologiekritik muss demnach darin
bestehen, die unexpliziten Argumente Nishidas explizit zu machen.
Nishidas Weg zur Ideologie ist bislang nur als konsequente Entwicklung seines
Denkwegs – die idealistische Operation der Aufnahme der Formen des Homo exterior in
die Identitätsphilosophie des Selbstbewusstseins – aufgezeigt worden. Ein Aufzeigen
des tatsächlichen „Ankommens“ in der Ideologie als strukturales Legitimationsdenken,
deren kritische Analyse im Folgenden unternommen wird, steht noch aus. Mit welchen
ideologischen Paradigmen des Kulturalismus Nishidas Denken ab den späten 30er
Jahren sich genau identifiziert, soll daher nun dargestellt und kritisiert werden.
785
Adorno (1972), S. 465.
215
KAPITEL V
DIE IDENTITÄT DER KULTUR - DIE „CHIFFRE DES GROSSEN“ (1934-1944)
Alles Einzelne und noch das Entlegene wird
zur Chiffre des Großen, der ‚Kultur’, weil
die Welt so lückenlos gedacht ist, daß für
nichts Raum bleibt, was nicht seinem
Wesen nach spannungslos mit jenem
Großen identisch wäre.786
T. W. Adorno über Oswald Spengler
Die begrifflichen Dichotomien, die Nishida in seinen bewusstseinsphilosophischen
Schriften nach der Wende zur Geschichtsmetaphysik aufstellt – Irrationaliät und
Rationalität, Zeitlichkeit und Räumlichkeit, Sein und Nichts, um nur einige zu nennen –
werden erstmals im Kontext eines neuen Diskurses politisch: im Diskurs um die
„Kulturformen“ des „Ostens“ und des „Westens“. 787 Mit „politisch“ ist hier die
Anschlussfähigkeit der zentralen Thesen Nishidas für die Selbstbehauptungsrhetorik der
japanischen Regierung gemeint, der primär über die „Kultur“ geführt wurde. Zentral ist
hier der Begriff des Kokutai 国 体 , des japanischen „Volkskörpers“ oder der
„Nationalsubstanz“, der als Begriff durch die shintôistisch orientierte Mito-Schule der
Tokugawa-Zeit zum Zwecke der kulturellen Identitätsstiftung und zur Absetzbewegung
vom primär chinesischen Einfluss initialisiert wurde.788 In der Meiji-Zeit fungierte der
Begriff zunehmend auch als nationale Chiffre im Milieu der anti-westlichen bzw. antimodernistischen „Meinungsmacher“ der Minkan-Ideologen, wie Carol Gluck
786
Adorno, „Spengler nach dem Untergang“, in Adorno (2003b), S. 59.
Siehe auch Maraldo, der zu derselben Einschätzung kommt: „It seems to me [...] that Nishida’s
analysis of competing conceptual systems became political only when he framed it in the context of East
versus West.“ Maraldo (2006b), S. 380.
788
Siehe Kobayashi (2002), S. 136-137. Carol Gluck macht darauf aufmerksam, dass eine genaue
Definition des Kokutai im politischen Leben Japans eine weniger große Rolle spielt als sein ideologischer
Gebrauch. Das Verständnis des Kokutai war Gluck zufolge seit der Edo-Zeit mehreren Veränderungen
unterworfen. War das Kokutai bereits in der Edo-Zeit das „Grundprinzip“ der kaiserlichen
Restaurationsbewegung – etwa bei Kokugaku- bzw. Mito-Gelehrten wie Aizawa Seishisai 会沢正志斎
(1782-1863) oder dem von Nishida zitierten Fujita Tôko – , argumentierte der Meiji-Aufklärer Fukuzawa
Yukichi 福 沢 諭 吉 (1835-1901) für die Adaptation der westlichen Zivilisation in Japan zur
„Stärkung“ des Kokutai. Fukuzawa verstand darunter „die sozialen, historischen und geographischen
Eigenschaften, die die ‚Essenz’ einer Nation ausmachen.“ Gluck (1985), S. 144. Das Kokutai wäre somit
kein exklusiv der japanischen Tradition zugewiesener Begriff. In der Terminologie der Minkan 民間Ideologen erhielt der Kokutai-Begriff ab den späten 1880er Jahren dann eine nationalistisch aufgeladene
Bedeutung. Er wurde stärker an den shintôistischen Tennôdiskurs, insbesondere an das Bansei Ikkei, die
ununterbrochene Thronfolge, gebunden und diente schließlich auch den Differenzierungsbestrebungen
Japans, dem auch hier ein Selbstbehauptungsgedanke vorausging: „By generalizing the living emperor
into a timeless series of emperors-in-sequence, kokutai seemed to offer the abstract grandeur possessed by
such notions as patrie or Vaterland in the West. Kokutai provided a past that was ageless, continuous, and
secure in its ancestral tradition. Amuletic and ambiguous, eventually kokutai served to identify the nation
and separate ‚them’ form ‚us.’“ Gluck (1985), S. 144-146. Auch Maruyama stellt in Bezug auf die
bewusst instabile Definition des Kokutai zum Zwecke einer nach außen gerichteten Absetzbewegung fest:
„Da eine theoretische Fixierung des ‚Kokutai’ durch eine bestimmte ‚Lehre’ oder ‚Definition’ ihn
automatisch ideologisch eingeschränkt und relativiert hätte, wurde eine solche Fixierung sorgfältig
vermieden. Negativ, d.h. gegenüber den einmal als ‚anti-Kokutai’ klassifizierten äußeren und inneren
Feinden, funktionierte er als ein sich klar abgrenzender, harter Machtapparat. Positiv jedoch stellte er sich
als ein ausgedehntes, vielfach verhülltes Etwas dar, welches seinen Kern nur schwer
offenbart.“ Maruyama (1988), S. 47.
787
216
feststellt. 789 Eng an den shintôistischen Begriff des Kokutai knüpft sich die
Tennôideologie, die wesentlich auf den mythologischen Themenkomplex der „alten
Chroniken“ Japans, des Kojiki 古事記 (712) und des Nihon shoki 日本書紀 (720)
aufbaut.790 Lavelle hat eine dankbare Übersicht über die zentralen Termini, die ab der
Meiji-Zeit zur Propagierung der Tennôideologie gebräuchlich waren, geschaffen.791
Dazu gehören die Vorstellung vom arahitogami 現人神, des „Menschgottes“, der
Kaiserfamilie als tenjô mukyû 天 壌 無 窮 („ewig wie Himmel und Erde“), der
„ununterbrochenen Thronfolge“ der Kaiserfamilie (bansei ikkei oder bansei fueki 万世
一系 oder 万世不易), der Manifestation Japans als Götterland (shinkoku 神国) im
„ewigen Jetzt“ (eien no ima 永 遠 の 今 ), der Auffassung Japans als
„Familienstaat“ (kazoku kokka 家族国家), der durch die „Einheit der Monarchie mit
dem Volk“ (kunmin ittai 君民一体) gestiftet werde, sowie die Vorstellung vom „ganzen
Volk zu Diensten des Kaiserhauses“ (banmin hoyoku 万民輔翼) und der saiseikyô icchi
祭政教一致, der Einheit von (Shintô-)Religion, Politik und Erziehung. Vor allem sei
die Tennôideologie ein Tennôzentrismus (tennô chûshin shugi 天皇中心主義) bzw. ein
Kaiserhaus-Zentrismus (kôshitsu chûshin shugi 皇室中心主義). Auch das ab 1940 fest
in den Jargon der Staatsideologie integrierte expansionistische Propagandawort vom
Hakkô Ichiu 八紘一宇792 der „Welt unter einem Dach“ stammt ursprünglich aus dem
Nihon Shoki.
Mit dem Aufkommen eines neuen Nationalbewusstseins angesichts erfolgreicher
kriegerischer Auseinandersetzung mit China (1894-95) und Russland (1904-05)
versuchten sich viele japanische Intellektuelle an der Idealisierung japanischer Kultur,
die fast ausschließlich über die Kulturalisierung des Kokutai-Begriffs inklusive seiner
essentialisierenden Implikationen lief. Die Idealisierung und Romantisierung
japanischer Kultur reichte von der Teezeremonie über das Haiku bis hin zu der noch
heute weitverbreiteten Vorstellung, dass das „Wesen“ des Mahāyāna-Buddhismus in
Asien in seiner reinsten Form heute nur noch in Japan anzutreffen sei.793 Die Rolle des
789
Gluck (1985), S. 138-145.
Lavelles Einschätzung zufolge hat der japanische Kaiserstaat von 1868-1945 die politische Form eines
„religious traditionalism, its ultra-nationalist phase included. It therefore belongs, for example, to the
same family as the theocratic school of Christian traditionalism [...] or Islamism, but not to the nationalist
family to which fascism belongs. But it differs from Christian and Muslim traditionalisms in two respects.
One was fundamental: while these traditionalisms constitute families not inherently related to any
nationalisms, the imperial doctrine was intrinsically nationalist, like Hindu or Judaic fundamentalism [...]
During the 1930s, the official doctrine in Japan became ultra-nationalist. From 1868 to the 1930s, it had
passed through what is called its traditional nationalism phase. These are not not two distinct doctrines;
ultra-nationalism was merely the result of the radicalization of the authoritarianism, expansionism, and to
some extent anti-capitalism that already existed in traditional nationalism. Expansionist slogans such as
the ambiguous ‚Eight corners, one roof’ (Hakkô Ichiu 八紘一宇 ), and the clearer ‚Construction of East
Asia’ (Tôa no kensetsu 東亜の建設) and ‚New World Order’ (Sekai shin-chitsujo 世界新秩序),
expressed the aims of Japan and its allies, Germany and Italy.“ Lavelle (1994), S. 140-141.
791
Lavelle (1994), S. 139-140.
792
Auch die Lesung als Hakkô Iu ist möglich, allerdings unüblich.
793
Beispielhaft dafür: Okakura Kakuzo (Tenshin) 岡倉覚三 (1863-1913), der als ein theoretischer
Stichwortgeber des späteren Nihonjinron gilt (siehe dazu meine Erläuterung in V.2.3.). Andere national
orientierte Intellektuelle und Intellektuellenkreise wie Kamei Katsuichirô 亀井勝一郎 (1907-1966) oder
die Nihon Roman-ha 日本浪漫派, die an der deutschen Romantik angelehnte „Romantische Schule“,
nahmen auch am berüchtigten Symposium „Überwindung der Moderne“ (Kindai no chôkoku 近代の超克)
(Juli 1942) teil. Die Idealisierung japanischer Kultur spielte in dieser Diskussion eine große Rolle. Für
eine gute Übersicht über die Teilnehmer und ideologische Ausrichtung des Symposiums siehe Minamoto
Ryôen, „The Symposium on ‚Overcoming Modernity’“, in Heisig/Maraldo (Hg.) (1994), S. 197-233. Für
790
217
Kokutai-Begriffs für den kulturellen Selbstbehauptungsdiskurs ist nach der Meiji-und
der Taishô-Zeit ab den 30er Jahren in der Shôwa-Zeit auch für den Nationaldiskurs
fruchtbar gemacht worden. Die einflussreichsten Propagandawerke im Auftrag der
nipponistischen Regierungsideologen des Kultur- und Erziehungsministeriums
(Monbushô 文 部 省 ) waren das Kokutai no Hongi 国 体 の 本 義 (1937)
(„Grundbedeutung des japanischen Volkskörpers“) und das Shinmin no Michi 臣民の道
(1941) („Der Weg der Untertanen“), die im Wesentlichen die systematische schriftliche
Niederlegung der offiziellen Doktrin darstellten. Das Kokutai no Hongi, das sich an das
japanische „Volk“ richtet, ruft zu Untertanentum und Gehorsam gegenüber den
(shintôistischen) Göttern, dem Tennô und dem japanischen Staat auf und propagiert die
Idee Japans als Stifter einer fortschrittlichen Weltkultur.794 Diese Idee findet sich, wie
ich zeigen werde, zentral auch bei Nishida. 795 Außerdem werden hier wesentliche
Kriterien des Differenzierungsdiskurses gegenüber dem „Westen“ bemüht, die über eine
Kritik „westlicher“ Ideologien wie Demokratie, Sozialismus, Kommunismus,
Anarchismus,
im
Grossen
und
Ganzen
aber
als
Kritik
der
„individualistischen“ Ansichten der „okzidentalen Kulturen“ formuliert wird.796 Auch
hier lassen sich die wesentlichen Idee aus den späteren Schriften Nishidas
wiedererkennen, wobei er den Individualismus nicht als Wert kritisiert, sondern
vielmehr versucht, ihn als eine Form des japanischen (Staats-)Wesens zu hypostasieren.
Rationalisiert und dagegen abgegrenzt werden diese Vorstellungen in Kokutai no Hongi
durch das Ideal des „Geistes der Harmonie“, durch den japanische Kultur und
Geschichte zu einer essentialistischen Einheit verdinglicht wird:
Wenn wir die Tatsachen unserer Landesgründung sowie die Spuren der Entwicklung unserer
Geschichte zurückverfolgen, ist der Geist der Harmonie (wa 和) stets auffällig. Harmonie ist das
Produkt unserer Landesgründung, sie ist die Kraft unserer geschichtlichen Entwicklung ebenso
wie der Weg der Menschlichkeit untrennbar von unserem alltäglichem Leben ist.797
Eine fast identische Formulierung findet sich auch in NBM mit der Ausnahme, dass
Nishida an dieser Stelle das Kaiserhaus und nicht das Harmonieprinzip zum Zentrum
japanischer Geschichte erklärt.798 Allerdings ist der Gedanke der Harmonie auch bei
Nishida leitend in seinen Kulturreflexionen über Japan. Umgekehrt spielt im
Selbstverständnis der japanischen Staatsideologie das Kaiserhaus bzw. der „göttliche
Tennô“ als arahitogami eine wesentliche Rolle als das unhinterfragte und einzige
Fundament der Kultur, Geschichte und auch Politik. Alle Elemente des alltäglichen
eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Rolle der Kyoto-Schule in diesem Diskurs ist die Arbeit von
Hiromatsu Wataru 広松渉 (1933-1994), Kindai no chôkoku ron 近代の超克論 einschlägig. Hiromatsu
(1981), S. 3-171.
794
„Die Mission unseres Volkes ist es nun, mit dem Kokutai als Basis die westliche Kultur zu absorbieren
und zu veredeln (junka shi 醇化し) und so eine neue japanische Kultur zu erschaffen, die zum Fortschritt
der Weltkultur beiträgt.“ Kokutai no hongi, Monbushô (1937), S. 155. Siehe auch Tsunoda et al (Hg)
(1958), S. 288.
795
Einen minutiösen Vergleich des politischen Denkens Nishidas mit der offiziellen Staatsideologie in
Kokutai no Hongi hat P. Lavelle bereits unternommen (Lavelle 1994). In meiner Untersuchung geht es
primär nicht um einen Vergleich der politischen Philosophie Nishidas mit Kokutai no Hongi, sondern um
die Problematisierung der Einbettung der Nishida-Philosphie in den Kulturdiskurs bzw. die Einlagerung
des Kulturdiskurses in die Nishida-Philosophie, wobei die Übereinstimmungen der zentralen Nishdaschen
Annahmen mit den Doktrinen aus Kokutai no Hongi auffällig und deshalb erwähnenswert sind.
796
Tsunoda et al (Hg.) (1958), S. 285-287.
797
Kokutai no Hongi, Monbushô (1937), S. 50, Tsunoda et al (Hg.) (1958), S. 282.
798
NKZ IX, S. 48.
218
Lebens japanischer Bürger, die nicht mehr als solche, sondern als „Volk“ adressiert
werden, sollen gleisam vom Tennô-Gehorsam erfasst werden – bis gar zur (nicht nur
bildlichen) Selbstopferung:
Loyalität (chû 忠) bedeutet, den Tennô als Mittelpunkt zu verehren und ihm absolute Reverenz
zu erweisen. Absolute Reverenz bedeutet, das Ego (waga 我) fortzuwerfen, das Ich (watakushi
私) zu verlassen und dem Tennô ergeben zu folgen. Diesen Weg der Loyalität zu gehen ist für
unser Volk der einzige Weg zu leben, die Quelle unserer Kraft. Daher ist die Opferung unseres
Lebens für den Tennô keine sogenannte Selbstaufopferung, sondern das Fortwerfen unseres
kleinen Selbst, um in des Tennô großer Gnade zu leben und uns als Volk zum wahren Leben zu
erheben.799
Nishidas emphatisch positiver Bezug zum Tennôismus reflektiert sich in seinen Texten
hauptsächlich im Versuch, ihn in die Begrifflichkeiten seiner bisherigen Philosophie zu
integrieren. Damit will Nishida sich primär von der Vorstellung eines
„irrationalistischen“, „unwissenschaftlichen“ Geistes der japanischen Kultur absetzen.
Wie die Integration des politischen Kulturdiskurses in die bisherige Nishida-Philosophie
geleistet wird und so zu einer metaphysisch angereicherten Legitimation der Realpolitik
führt, will das vorliegende Kapitel zeigen.
Ich möchte eine „technische Vorgabe“ für die Lektüre des vorliegenden Kapitels
machen. Der Gegenstand „Nishida und die Politik“ scheint durch rein textliche
Begriffsanalyse nicht erschöpfend behandelt werden zu können. Hier wird daher
einleitend, sowie in V.1. und in V.2.4. auch auf die apologetische Rezeption Nishidas zu
sprechen sein, die ich versuche einer kritischen Lektüre zu unterziehen. Problematisiert
werden sollen hier die Kriterien, die für eine Bewertung des „politischen“ Nishida
herangezogen werden: die Aussagen Nishidas in seinen Privatschriften (Tagebücher und
Korrespondenzen), Stationen seiner Biographie, sowie Teile aus ZnK, seiner frühen
Bewusstseinsphilosophie. Begründet werden diese Auswahlkriterien durch den Hinweis
auf die repressive Stimmung während der Militärherrschaft, die kein „objektives
Bild“ Nishidas lieferten.800 Dagegen halte ich, dass die philosophische Verstrickung
Nishidas in den ultranationalistischen Kulturdiskurs nur auf dem Wege der Textanalyse
und der Kontextualisierung in das Gesamte seines Denkens dargelegt werden kann.
Allerdings berücksichtige ich die Bedenken der Rezeption in einem wichtigen Punkt:
um den Verdacht von „Zensur“ oder des „äußeren Drucks durch den Staat“801 gar nicht
erst aufkommen zu lassen, behandele ich hier drei seiner seiner nicht „zensierten“ bzw.
im Auftrag der Militärregierung geschriebenen Texte. Dabei weise ich darauf hin, dass
der warnende Hinweis auf „Zensur“, „Kontrolle“ oder „Beobachtung“ im Kontext der
Entstehung der politischen Philosophie Nishidas verfälschend ist. Zensur ist ein
politisches Verfahren zur Kontrolle von Informationen, die den Intentionen der
799
Kokutai no Hongi, Monbushô (1937), S. 34, Tsunoda et al (Hg.) (1958) , S. 280.
So Goto-Jones: „[...] Zen no kenkyû provides a special opportunity to discover the political thought of
Nishida before the dark clouds of ultra-nationalism cast their shadow over the social discourse.“ GotoJones (2005), S. 48
801
So Maraldo in seinem Artikel „The Problem of World Culture“. Maraldo (1995), S. 186. Maraldo geht
im folgenden nicht darauf ein, worin der „äußere Druck“ bestanden haben solle. Dass Nishida nur
„ungern“ der Aufforderung der Regierung nachgekommen sein soll, den Text „Das Prinzip einer neuen
Weltordnung“ zu verfassen, relativiert die Behauptung des „äußeren Drucks“ bis zur
Unnnachvollziehbarkeit.
800
219
politischen Machthaber abträglich sein können. Sie geht fast automatisch mit der
Unterdrückung der freien Meinungsäußerung einher. Während es im
ultranationalistischen Japan wie in jedem autoritären Staat eine Zensur gab – so bei dem
marxistischen Nishida-Schüler und -Kritiker Tosaka Jun – war Nishida nicht diesen
Restriktionen unterworfen. Nishida wurde im Gegenteil zur Ausformulierung
bestimmter Ziele der politischen Machthaber beauftragt. Man setzte ein gewisses
Vertrauen in ihn, das politische Ziel Japans der „Neuen Weltordnung“ philosophisch zu
begründen. Gewiss kam den Machthabern dabei auch das Prestige Nishidas zugute,
allerdings eines Prestiges, das sich durch die Abwesenheit staatskritischer Reflektionen
in seinen philosophischen Arbeiten erst begründen konnte. Schließlich kam Nishida der
Aufforderung nach, ein wichtiges staatsideologisches Propagandathema wie die Neue
Weltordnung mithilfe seines eigenen philosophischen Werkzeugs auszuformulieren.
1943 entstand die kurze Abhandlung „Das Prinzip einer Neuen Weltordnung“ (Sekai
shinchitsujo no genri 世界新秩序の原理) (im folgenden SSG). Dass Nishida sich mit
Vertretern der Regierung auseinandersetzen musste, um bestimmte Formulierungen zu
modifizieren, gehört zu jedem Redaktionsprozess. 802 Noch mehr ist vielleicht die
Tatsache, dass Nishida sich freiwillig zum Sprachrohr der Regierung machte und mit
der Regierung kooperierte, ein weiterer Hinweis auf den schieren Zynismus der
Behauptung, Nishidas Texte müssten vor dem Hintergrund der „Zensur“ gelesen
werden. Kurz, die Rede von Zensur im Zusammenhang mit Nishida Kitarô ist abwegig.
Aber auch die Behauptung, Nishida habe sich „innenpolitischem Druck“ beugen
müssen, ist verfälschend. Zwar wurde Nishida offenbar von Minoda Muneki 箕田胸善
(1894-1946), dem Anführer der rechtsradikalen, bereits 1925 gegründeten Genri
Nipponsha 原理日本社 und der „Säuberungsaktionen“ an der Universität Kyoto, u.a.
gegen Minobe Tatsukichi 美濃部達吉 (1873-1948)803, angegriffen, wie Nishida in
einem Brief an Mutai Risaku sagt. 804 Allerdings ist das kein Hinweis auf ein
distanziertes Verhältnis Nishidas zum Ultranationalismus: wie Curtis Miles feststellt,
wurden bereits andere Anführer ultranationalistischer Gruppierungen, so Ôkawa
Shûmei 大川周明 (1886-1957), Gondô Seikyô 権藤成卿 (1868-1937) und Kita Ikki
北一輝 (1883-1937), zu Zielscheiben von Minodas Angriffen.
802
Die Entstehung und die einzelnen Schritte der Redaktion von SSG ist gut erforscht. Zum „Nachdenken
über den ‚Prinzipien einer neuen Weltordnung’-Vorfall“, siehe Furuta Hikaru 古田光, Sekai shinchitsujo
no genri jikenkô (世界新秩序の原理事件考), Supplement zu NKZ XIV (1966), S. 1-5 ; Yusa Michiko,
„Fashion and A-letheia“, in Hikaku Shisô Kenkyû no. 16 (1991), S. 281-294 und Yoko Arisaka, „The
Nishida Enigma“, in Monumenta Nipponica 51:1 (1996), S. 85-87.
803
Minobe war Professor für Verfassungsrecht an der Kaiserlichen Universität Tokio von 1900-1934.
Bereits 1911 stellte er die ihm später zum Verhängnis werdende Theorie auf, der Tennô sei lediglich ein
„Organ“ des Staates. Sie wurde später als „Tennô-Organtheorie“ (tennôkikansetsu 天皇機関説) bekannt.
Im Zuge des aufkommenden Ultranationalismus ab den 1930er Jahren wurde Minobe zunehmend von den
rechtsgerichteten Fraktionen attackiert. Im Februar 1934 wurde durch einen Antrag des Generals Baron
Kikuchi Takeo 菊池武夫 (1875-1955) im Oberhaus eine Verfügung gegen die Organtheorie diskutiert.
Sie hatte Erfolg: im April 1935 wurden alle Schriften Minobes, die einen Verweis auf die Organtheorie
aufwiesen, offiziell verboten. Minobe, der selbst einen Sitz im Oberhaus hatte, gab daraufhin diesen ab.
Forderungen nach einer „Klärung“ des Kokutai von Mitgliedern des Regierungskabinetts wurde daraufhin
durch die Ausformulierung der Propagandaschrift Kokutai no hongi nachgekommen. Quelle: Tsunoda et
al (1958), S. 240.
804
„Die Minoda-Fraktion hat mich, Tanabe, Amano, Watsuji und andere aufs schärfste attackiert. Zuerst
bin ich angegriffen worden.“ NKZ XIX (1966), S. 30.
220
Auch die Shôwa Juku, eine Interessengruppe der Regierung unter der Leitung von
Premier Konoe Fumimaro 近衛文麿 (1891-1945), blieb von Minodas Angriffen nicht
verschont.805
Dennoch sehe ich keinen Grund, die im Auftrag der Regierung geschriebenen Texte
Nishidas als Untersuchungsgegenstand zu bemühen. Andere Texte aus der Zeit ergeben
ein nicht minder repräsentatives Bild der philosophischen Entwicklung Nishidas in
Fragen von Kultur, Staat und Geschichte. Zum Aufbau dieses Kapitels und zu den
einzelnen Texten gleich mehr. Bevor ich zur Textanalyse komme, möchte ich einen
knappen Überblick über Nishidas politische Haltung während des Ultrananationalismus
schaffen, um zu erhellen, weshalb sich die Gemüter an der Frage „Nishida und die
Politik“ so erhitzen und warum es indessen zu einer Kontroverse um die Kyoto-Schule
– von Maraldo sogar als „Krieg um die Kyoto Schule“806 bezeichnet – kommen konnte.
Ich habe in meiner Besprechung von Goto-Jones’ Repoliticizing the Kyoto School as
Philosophy (2008) bereits versucht, ein Buchprojekt über die Analyse des Diskurses
über die Kyoto-Schule anzuregen 807 – so ergiebig scheint die Diskussion um die
Einschätzung des späten Nishida und der Kyoto-Schule (insbesondere Tanabe, Nishitani,
Kosaka, Koyama und Kuki) zu sein, die sich an der Frage entzündet, ob diese eine
latente Zustimmung oder sogar aktive philosophische Propagierung der japanischen
Expansionspolitik darstellt. Seit den 90er Jahren haben sich die Kritiker und die
Apologeten der Kyoto-Schule in zwei ungleich große Lager gespalten, inzwischen
scheint durch das Verstummen der wenigen kritischen Stimmen der „Sieg“ des
apologetischen Lagers besiegelt worden zu sein. Leider kann ich eine Analyse des
Diskurses hier nicht leisten; sie gehört auch nicht in den thematischen Rahmen einer
begriffskritischen Studie über Nishida Kitarô.808 Speziell zum Fall Nishida haben indes
Pierre Lavelle (1994), Bernard Faure (1995), Yoko Arisaka (1996), Toshiaki Kobayashi
(1996), Klaus Kracht (1984/2001) und weniger explizit Christian Uhl (2003/2009) und
Richard Calichman (2005) Untersuchungen veröffentlicht, die von ganz
unterschiedlichen Ansätzen ausgehend eine kritische Position entwickelt haben. Die
meisten dieser Untersuchungen beschränkten sich dabei aber auf Nishidas persönliches
Engagement im Umfeld der japanischen Militärregierung. So bemängelt Kobayashi:
805
„To be criticized by Minoda was no guarantee of non-membership of ultra-nationalism, for he had
attacked some of the trend’s major figures [...]“ Miles (1989), S. 19.
806
In seinem Artikel The War Over The Kyoto School, Monumenta Nipponica 61:3 (2006), S. 375.
807
Siehe Asiatische Studien / Etudes Asiatiques, LXIII, 3, 2009, S. 747.
808
Die beste Übersicht über die Kontroverse hat Yoko Arisaka angefertigt. Siehe Arisaka (1996), S. 8799. Ergänzend dazu Maraldo (2006b), S. 375-377. Paradigmatisch für den Streit dürfte die
Auseinandersetzung zwischen Pierre Lavelle und Yusa Michiko in der Monumenta Nipponica vom
Winter 1994 sein. Nachdem Lavelle seinen einschlägigen Aufsatz „The Political Thought of Nishida
Kitarô“ im Sommer desselben Jahres in der MN veröffentlicht hatte, fühlte sich Yusa zu einer kritischen
Stellungnahme verpflichtet. Sie weist die Kritik Lavelles an Nishidas „intrinsic nationalism“ zurück,
indem sie auf einige angeblich staatskritische Bemerkungen in den Tagebüchern und Briefen hinweist.
Lavelle antwortet mit folgendem Hinweis: „In my article, I chose to study the texts that Nishida
addressed to society as a whole and not to particular individuals. There are two reasons for this
choice.The principal reason is that the point of view adopted in my article is that of the history of political
ideas rather than that of intellectual biography [...] The other reason for this choice is that Nishida's texts
are of the nature of an offering, of an ethical and spiritual nature, from the private to the public domain,
from the biographical to the historical. We are thus well founded in supposing that Nishida accorded a
notably lesser value to his private communications than to those destined for publication. “ Monumenta
Nipponica 49:4 (1994), S. 527.
221
Alle Texte, die das politische Engagement Nishidas problematisieren, stützen sich immer auf
dieselben Tatsachen: auf seine späten politischen Schriften, in denen sich einige damals
bekannte militaristische Wendungen finden, wie zum Beispiel Nihon bunka no mondai [...],
„Kokka riyû no mondai“ [Das Problem der Daseinsbereichtigung des Staats] und „Sekai shin
chitsujo no genri“ [Das Prinzip der neuen Weltordnung]; auf seine persönliche Beziehung zu
dem Ministerpräsidenten während der Kriegszeit, Fumimaro Konoe; auf seinen während der
Kriegszeit (1941) eigens erarbeiteten Vortrag für den Kaiser Hirohito (goshinkô); auf seine
Teilnehme am Beratungsausschuß des Kultusministeriums für die Erziehungsreform (kyôgakusasshin-hyôgikai), die eigentlich dem Zweck der totalen Mobilmachung diente, sowie auf seine
Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe der Bürokraten für die Staatspolitik (kokusakukenkyûkai). Darüber hinaus wird Nishida angelastet, daß sich seine Schüler Iwao Koyama,
Masaaki Kôsaka, Shigetaka Suzuki und Keiji Nishitani mit ihrem sogenannten „Standpunkt der
Weltgeschichte“ als Kriegsideologen hervortaten und daß ein anderer bekannter Schüler,
Kiyoshi Miki, aktiv an der Beratungsgruppe des Ministerpräsidenten Konoe (Shôwa-kenkyûkai)
teilnehm und zuletzt die Volksbewegung für die totale Mobilmachung (taisei-yokusan-undô)
unterstützte. 809
Allerdings müssen diese Hinweise zur Bewertung der politischen Position Nishidas
ernst genommen und dürfen nicht einfach als unerheblich in Abrede gestellt werden.
Das persönliche Umfeld Nishidas ist für die Bewertung seiner intellektuellen Rolle
während der Kriegszeit keine bedeutungslose Nebenerscheinung, wie Kobayashi es
darstellt. Relevanter und interessanter für die vorliegende Untersuchung als die
lakonische Behauptung, in NBM haben sich „militaristische Wendungen“ gefunden, ist
die Frage nach der Kohärenz seines Denkens mit diesen „militaristischen Wendungen“,
wie ich sie in V.2. zu unternehmen versuche. Aber allein die Tatsache, dass der
politische Jargon Eingang in Nishidas Denken gefunden hat, sollte dem Exegeten zum
Problem werden. Ferner muss auch der Hinweis auf die im Auftrag der Regierung
geschriebene philosophische Abhandlung SSG über die „neue Weltordnung“ Beachtung
in der politischen Bewertung Nishidas finden. Nishida geht dabei sogar explizit über die
Vorgaben der offiziellen Ideologie hinaus, wenn er während des Pazifischen Krieges
1943 eine geschichtsmetaphysische Analogie zur Antike zieht:
Damit eine partikulare Welt (tokushuteki sekai 特殊的世界) entstehen kann, muss jemand die
zentrale Position besetzen und diese Aufgabe auf sich nehmen. In Ostasien kann das heute kein
anderes Land als Japan (waga nippon 我日本) leisten. So wie der Sieg der Griechen im
Perserkrieg bis heute die Richtung der Kulturentwicklung Europas bestimmt hat, wird der
heutige ostasiatische Krieg die Richtung der Weltgeschichte bestimmen.810
Diese Sätze wie auch die gesamte Abhandlung über die neue Weltordnung, sowie seine
berüchtigten Theorien über den japanischen „Volkskörper“ im Kokutairon 国体論
(1944) dürfen nicht als vermeintlich erschöpfend kritisierter Ansatz in einem
geistesgeschichtlichten Kontext abgetan werden. 811 Wer das tut, leistet den
809
Kobayashi (2002), S. 106-107. Die Schreibweisen japanischer Ausdrücke befinden sich so im
Originaltext Kobayashis.
810
NKZ XI, S. 446.
811
Der unter dem Stichwort Kokutairon verfasste Aufsatz Nishidas zum „Wesen der japanischen
Nation“ befindet sich in der alten Ausgabe der NKZ (1966) in Band XII, S. 397-416 und trägt den
offiziellen Titel „Zusatz zu den philosophischen Aufsätzen, Bd. 4“ (Tetsugaku ronbunshû daiyon hoi
哲学論文集第四補遺). Dazu gehört Anhang I (S. 416-419) ohne Titel, Anhang II (S. 420-426) mit dem
222
kulturalistischen bzw. „interkulturellen“ Lesarten des späten Nishida Vorschub.
Ungeachtet ihrer stark verzerrenden Interpretationen analysieren diese nicht, welche
Rolle Nishidas – übrigens oft bemühte812 – Analogiebildung zum antiken Griechenland
spielt oder lassen unbegründet lässt, warum Nishida einzig im Kokutai Japans die volle
Entfaltung der Staatsmoral erblickt:
Nur in unserem Japan ist die Kokutai-Anschauung als Staat-qua-Moral entwickelt. Im strengen
Sinne ist der Kokutai unseres Landes der einzige [auf der Welt]. Aber unser Kokutai ist nicht
einfach nur eine Besonderheit (tokushusei 特殊性). Wir sollten heute nicht nur auf die
Besonderheit unseres Kokutai Stolz sein, sondern das Augenmerk auf seine weltgeschichtliche
Tiefe und Grösse richten und diese zur Erhellung bringen.813
Ich sehe hier eine enge Verknüpfung mit der offiziellen Selbstbehauptungsrhetorik,
sowie der Vorstellung, Japan trete als kulturelle Synthese der Weltgeschichte auf und
legitimiere so seine Führungsrolle – nicht nur in Ostasien oder in der angloamerikanischen Welt:
Der strahlenden Quintessenz unseres Kokutai (waga kuni no kokutai no seika 我国の国体の
精華) zufolge besteht der weltliche Konstruktivismus der Welt (sekaiteki sekai keisei shugi 世
界的世界形成主義) nicht darin, dass er die Subjektivität unserer Nation verliert. Im Gegenteil
besteht das Prinzip der Subjektivität, das für unsere Nation spezifisch ist, darin, sich selbst zu
entleeren und andere zu umfassen. Auf diesem Grundsatz zu beharren, heißt, der Welt die
strahlende Quintessenz unseres Kokutai zu beweisen. Man muss sagen, dass die Lösung unserer
weltgeschichtlichen Probleme im Prinzip unseres Kokutai besteht. Nicht nur sollen England und
Amerika sich ihm unterordnen, sondern auch die Achsenmächte.814
Will man zu einer ausgewogenen Einschätzung der politischen Haltung Nishidas
kommen, dürfen diese Sätze nicht unter die Räder einer revisionistischen Lesart geraten,
die solche problematischen Stellen aufgrund vager Hinweise auf den politischen
Zeitgeist unthematisiert lässt. Darüber hinaus findet die Integration zentraler politischer
und sozialphilosophischer Terminologie in Nishidas Werke nicht erst ganz zum Ende
seiner Schaffenszeit statt. Bereits in einem Text vor Ausbruch des Pazifischen Krieges
und des Krieges mit China, Selbstidentität und Kontinuität der Welt (Sekai no jiko
dôitsu to renzoku 世界の自己同一と連続) (1935), finden sich an zentraler Stelle die
Titel Die Etablierung eines Staates (Aru hitotsu no seiritsu 或一つの国家の成立), sowie Das Prinzip
einer neuen Weltordnung (SSG) als Anhang III (S. 426-434). Der Gesamttext des Kokutairon inklusive
Anhänge befindet sich also auf den Seiten 397-434. Für die neue Ausgabe der NKZ haben die Redakteure
einige wesentliche editorische Veränderungen vorgenommen. Der Kerntext befindet sich hier in NKZ XI,
S. 192-207. Anhang I findet sich direkt im Anschluss auf S. 207-209. Der Anhang II befindet sich erst auf
S. 451. Dazwischen finden sich auf S. 213-444 kleinere Schriften, Vorworte, Übersetzungen. Der aus
dem Zusammenhang des Kokutairon gerissene Anhang III erhält den neuen Titel Nation und Volkskörper
(Kokka to Kokutai 国家と国体) (S. 452-457). Merkwürdig ist der Ort von SSG vor den Anhängen auf S.
444-450, als gehöre auch er nicht in den thematischen Zusammenhang des Kokutairon.
812
Nishida setzt in den Die östlichen und die westlichen Kulturformen in alter Zeit vom metaphysischen
Standpunkte aus gesehen (1934) die japanische Kultur in ein Verhältnis mit der chinesischen und der
griechischen. Obwohl er sie von beiden unterscheidet, behauptet er in ihr eine größere Nähe zur
griechischen Kultur. „Das Gefühl ist nicht etikettenmäßig, sondern naturmäßig. Wenn das Gefühl
ausgedrückt ist, wird es künstlerisch. In diesem Sinne ist die japanische Kultur anders als die chinesische,
konfuzianische Kultur, sie steht vielmehr der griechischen Kultur nahe.“ NKZ VII (1966), S. 446.
813
NKZ XI, S. 202.
814
NKZ XI, S. 450.
223
Begriffe „Volk“, „Gruppe“, „Gemeinschaft“ – ein Begriff, der mit dem der Gesellschaft
kontrastiert wird – und „Urgeschichte“.815 Der von mir verhandelte Text „Die östlichen
und die westlichen Kulturformen in alter Zeit vom metaphysischen Standpunkte aus
gesehen“ (Keijijôgakuteki tachiba kara mita tôzai kodai no bunka keitai 形而上学的立
場から見た東西古代の文化形態), hiernach Kulturformen, stellt allerdings schon
1934 den thematischen Rahmen her, durch den die Politisierung Nishidas stattfindet: die
Kultur.
Ziel dieses letzten Kapitels ist es, Nishidas „Ankommen“ in der Ideologie darzulegen.
Ich verstehe sie als idealistische Operation der hypostasierten Identität von Geist und
Wirklichkeit
in
seiner
Geschichtsund
Kulturhermeneutik,
die
als
Legitimationsstrategie des Tennôismus und zentraler propagandistischer Begriffe wie
des Kokutai, sowie der Kulturauffassung des autoritären japanischen Staates konzipiert
ist. Mit ihr beschließt Nishida seinen Denkweg in seinen letzten zehn Lebensjahren (ca.
1934-1945). In Abschnitt V.1. wird daher zunächst die Verdinglichung der Kultur durch
die Hypostase metaphysischer Erklärungstermini zum Zwecke der Abgrenzung von
„östlicher“ und „westlicher“ Kultur in den Kulturformen (1934) problematisiert. Die
1938 gehaltene Vorlesung Das Problem der japanischen Kultur, die 1940 in einer
überarbeiteten Version als Monographie erschien, wird anschließend in Abschnitt V.2.
eingehend analysiert. Zunächst soll der diskursive Ort von Das Problem der
japanischen Kultur, ein auf „Japan“ zugeschnittener Kulturalismus, und die Rolle, die
Nishida auch biologistischen Betrachtungen dabei zuweist, nachvollzogen werden
(V.2.1. und V.2.2.). Im Anschluss wird gesondert über das Verfahren zu sprechen sein,
mit dem Nishida seine Legitimationsstrategie in Das Problem der japanischen Kultur
durchführt; ich bezeichne sie hier als realpolitische Dimension der Philosophie, die auf
die philosophische Dimension der Realpolitik abgebildet wird – und umgekehrt (V.2.3.).
Im Anschluss wäre auf den apologetischen Diskurs um den „politischen
Denker“ Nishida in der Rezeption ab den 1990er Jahren aufzuschließen, dem ich durch
eine kritische Lektüre der Nishida-Verteidiger Ueda Shizuteru, Yusa Michiko und
Christopher Goto-Jones begegnen möchte (V.2.4.).
Ich möchte den letzten Abschnitt dieser Untersuchung mit einem der letzten zu
Lebzeiten Nishidas publizierten Texte, Hin zu einer Religionsphilosophie mit der Idee
der prästabilierten Harmonie als Leitfaden (Yotei Chôwa wo tebiki to shite
shûkyôtetsugaku e 予定調和を手引として宗教哲学へ) (1944) beschließen (V.3.). Der
Begriff der prästabilierten Harmonie, den Nishida in kruder Lesart von Leibniz
übernimmt, steht hier paradigmatisch für den Fokus des Nishidaschen Denkens in der
letzten Phase und korreliert durchaus mit für Nishida so zentralen Begriffen wie der
widersprüchlichen Selbstidentität, wie ich in V.3.1. auszuführen versuche. Schließlich
möchte ich zeigen, wie das Identitätsdenken Nishidas, das kategorial auch seiner Idee
der prästabilierten Harmonie bzw. der widersprüchlichen Selbstidentität unterliegt, in
Ansätzen auch als ethisches Problem zu Tage tritt (V.3.2.). Ich meine hier,
815
„Die Geschichte ist keine bloße Entwicklung, sondern muss Metamorphose sein. Die verschiedenen
Zeiten lassen sich alle als Metamorphosen der Urgeschichte betrachten. Und man kann sagen, dass jede
Zeit als eine Selbstbestimmung des ewigen Jetzt den Schatten der [platonischen] Idee widerspiegelt. Die
verschiedenen Nationen und Völker nehmen ihre eigene Tendenz in der Geschichte auf sich. Um ihre
Rolle zu spielen, ergeben sie sich in ihr Schicksal, treten auf die Bühne der Geschichte und treten wieder
ab.“ NKZ VIII (1966), S. 94. Übersetzung in Kobayashi (2002), S. 124. Mir scheint „Nation“ in diesem
Kontext geeigneter als „Staat“ für kokka 国家. Eine Übersetzung des gesamten Textes durch Elmar
Weinmayr findet sich in Ohashi (1988), S. 54-119.
224
symptomatisch das Phänomen einer Nishidas historisch-politischen Denken zu Grunde
liegenden Gleichgültigkeit an sozialen und politischen Problemen zur Darstellung
bringen zu können. Hierbei wird auf ein Letztes darauf verwiesen, wie auch das
Problem ethischer Gleichgültigkeit sich aus der unmittelbaren Identifikation von Geist
und Wirklichkeit, Denken und Sein, schliesslich Subjekt und Objekt erklärt.
1.
Die Verdinglichung der Kultur – Identitäts- und Hypostasierungszwang in
„Die östlichen und die westlichen Kulturformen in alter Zeit vom
metaphysischen Standpunkte aus gesehen“ (Keijijôgakuteki tachiba kara
mita tôzai kodai no bunka keitai 形而上学的立場から見た東西古代の文
化形態) (1934)816
Der Kulturformen-Text ist Nishidas erstes deutliches Zeugnis der Hypostasierung von
dualistischen Kategorien zur Einordnung des Kulturphänomens. An erster Stelle steht
die Aufteilung der Kultur in „Ost“ und „West“, bzw. „Orient“ und „Okzident“. Ohne
eine vorherige Begriffsbestimmung vorzunehmen, was der Begriff der Kultur überhaupt
bedeute, wird die Dichotomie zur Essenz „der“ Kultur stilisiert. Gleich zu Anfang
vermisst man eine Begründung für die willkürliche Unterteilung der Kultur nach
„Osten“ und „Westen“. Ich zitiere die ersten Sätze:
Über Kulturformen kann man wohl von verschiedenen Standpunkten aus auf verschiedene
Weise nachdenken. Ich möchte jetzt vom metaphysischen Standpunkte aus untersuchen, wie
sich die östlichen und die westlichen Kulturformen in ihrer metaphysischen Basis
unterscheiden.817
Problematisiert werden von Nishida verschiedene Zugänge zum Kulturproblem
(„metaphysisch“), die Ost-West-Unterteilung bleibt davon unberührt. Dieser Ansatz
entspricht dem kulturalistischen Diskurs seit der späten Meiji-Zeit, in der sich
zunehmend eine starke Tendenz zum Absatz gegen den die eigene Kultur verfremdend
empfundenen „Westen“ durchsetzte. 818 Dieser Diskurs wurde bestimmend für jede
Auseinandersetzung über den Kulturbegriff. Nishidas Reflektionen schließen sich ihm
nahtlos an. Dazu gehört auch die implizite Vorstellung von monolithischen, klar
abgegrenzten „Kultur-Einheiten“, die lückenlos an die völkische Tradition
angeschlossen werden. Die Konfundierung und Identifikation von „Tradition“ und
„Kultur“, ebenso wie von „Religion“ und „Kultur“, werden in den Kulturformen auch
von Nishida geleistet. Dabei legt er einen organischen Kulturbegriff zugrunde, die sich
in Begriffen wie der „arischen Rasse“ (arian jinrui アリアン人類) (bei den Indern und
den Griechen) und auch „Volkstum“ (minzokusei 民 族 性 ) ausdrückt. Nishidas
Kulturverständnis ist dabei weitgehend gleichbedeutend mit dem schwierig zu
816
Ich orientiere mich an der gelungenen Übersetzung von Nishidas Nichte Takahashi Fumi 高橋文
(1901-45), die unter dem Titel Die morgenländischen und abendländischen Kulturformen in alter Zeit
vom metaphysischen Standpunkte aus gesehen in den Abhandlungen der Preußischen Akademie der
Wissenschaften, Nr. 19, Berlin (1940), S. 1-19, publiziert wurden. Ich modifiziere sie aber für den
heutigen Sprachgebrauch an einigen Stellen, so im Titel („östlich“ statt „morgenländisch“). Der
Originaltext befindet sich in NKZ VII (1966), S. 429-453.
817
Nishida (1940), S. 2, NKZ VII (1966), S. 429.
818
Einschlägig dazu: Harootunian/Najita, Japan’s Revolt against the West (1988), S. 207-272.
225
übersetzenden minzokusei 民 族 性 („Volkstum“). Er geht hier
selbstverständlichen Identität jeweiliger klar abzugenzender Kulturen aus:
von
einer
Die Kultur des japanischen Volkes [...] ist selbstverständlich östlich [...] Es ist auch
selbstverständlich, dass wir von der chinesischen und indischen Kultur sehr stark beeinflußt
worden sind. Aber vorher schon hatten wir uns als japanisches Volk geformt und als japanisches
Volk unser eigenes Volkstum gehabt; darum kann man sagen, daß wir ihre Kultur assimilierten
und eine eigenständige (tokuji 独自) Kultur erzeugten.819
Der Aufsatz besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil werden die „Kulturformen des
Westens“, d.h. des antiken Griechenland, der „christlichen“ sowie der jüdischen Kultur,
aber auch die Kultur Chinas und Indiens als negativer Gegenpol zur in Teil 2
verhandelten Kultur Japans behandelt. Auch hier entspricht Nishidas Gestus ganz den
offiziellen Bemühung, sich zum Einen gegen den „Westen“, zum Anderen gegen die
inzwischen zum Antipoden des japanischen „Volkstums“ stilisierten chinesischen
Einfluss abzusetzen. Diese von Nishida übernommene ideologische Konstellation wird
meiner Analyse in NBM von grösserem Interesse sein, hier sei mir jedoch bereits der
Hinweis erlaubt.
Nishida konstruiert seinen Entwurf der Gegenpole „östliche“ und „westliche“ Kultur in
„metaphysischer Absicht“ um die Gegenpole „Nichts“ und „Sein“. Seiner dem ganzen
Aufsatz als Hypothese zu Grunde liegender Auffassung zufolge sei die östliche Kultur
eine Kultur des Nichts, die westliche eine Kultur des Seins. Er behauptet, dass man
beide Kulturen unter diesem Gesichtspunkt trennen könne:
Ich möchte denken, daß man sie [die östliche und die westliche Kultur] trennen kann, indem
man für diese das Sein, für jene das Nichts als Grundlage der Wirklichkeit annimmt; vielleicht
darf man auch diese als gestaltbehaftet (yûkei 有形), jene als gestaltlos (mukei 無形) bezeichnen.
Man kann sagen, dass die griechische Kultur, die der Ursprung der westlichen Kultur überhaupt
ist, sich auf den Gedanken des Seins gründete und somit die Kultur des Seins war.820
Der Problematik dieser Zuschreibung ungeachtet, treten hier Kulturen quasi als
verdinglichte, manifestierte Form der metaphysische Kategorien von Sein und Nichts
zutage.
Hier ist wiederum der Verweis auf den Warenfetischismus angebracht, in dem die Ware
den Produzenten als dingliche Manifestation eines „metaphysischen“ Werts erscheint.
Bei Nishida wird der Verdinglichungsmechanismus in seinen methodischen Ansatz
sogar ausdrücklich übernommen, da er die metaphysischen Kategorien Sein und Nichts
zu den „Grundlage(n) der Wirklichkeit“ der jeweiligen Kulturen erklärt. Nicht sind also
die realen sozialpolitischen und –geschichtlichen Verhältnisse ausschlaggebend für die
Entstehung und den Charakter einer Kultur, sondern kulturspezifische Ideen, die
vergeistigten Formen der materiellen Verhältnisse. Diese speisen ihre
Überzeugungskraft allerdings auch aus nichts anderem als der axiomatischen Verve, mit
der sie vorgetragen werden; ein Argument sucht man auch hier vergeblich. Nishida
erklärt Osten und Westen prinzipiell zu seins- bzw. nichts-gebundenen Kulturen, ohne
819
Nishida (1940), NKZ VII (1966), S. 441.
Nishida (1940), S. 2, NKZ VII (1966), S. 429-430. Zu fragen wäre: was ist mit der arabischen und der
persischen Kultur? Nishida ist für die philosophische Tradition des Islam blind, weil sie im offiziellen
Diskurs keine Rolle gespielt hat.
820
226
jedoch den metaphysischen Standpunkt, den er dabei einzunehmen vorgibt, durch eine
Begriffsbestimung von Sein und Nichts unter Beweis zu stellen. Die suggerierende Rede
von „Sein“ und „Nichts“ allein soll die Erklärung des metaphysischen Standpunkts
ersetzen.
Der Kulturformen-Aufsatz beruht in erster Linie auf dem Prinzip, metaphysische bzw.
logische Kategorien zu Hilfsbegriffen einer essentialistischen Kulturbetrachtung zu
stilisieren. Wie diese auf die griechische, christliche, jüdische, indische, chinesische und
schließlich japanische Kultur bezogen werden, will ich im Folgenden kurz darstellen.
1.1.
Die „Kultur des Nichts“ gegen die „Kultur des Seins“
Die konstante Erstnennung des „Nichts“ und des „Ostens“ vor dem „Sein“ und den
„Westen“ spiegelt symptomatisch auch Nishidas latente Ablehnung der etablierten
Sprechweise, einen anti-westlichen Reflex, wieder. Mit eindeutigen Bewertungen hält
Nishida sich unerwartet zurück, dennoch finden sich zahlreiche Anhaltspunkte, die auf
eine Hierachisierung der verschiedenen Kulturen hinweisen.
Nishida, der Nietzsche gelesen hatte, behauptet zunächst, das „Wesen“ der griechischen
Kultur
sei
„apollinisch“,
was
von
Nishida
mit
„Heiterkeit“
und
„Intellektualismus“ assoziiert wird. 821 Desweiteren werden Platons Idee als
„Gestaltungsprinzip der wirklichen Welt“, Parmenides’ „einziges Sein“, der
„logosartige“ (rogosuteki ロゴス的) Heraklit, die Dramen Aischylos’ und Plotins
Philosophie zu Erscheinungen griechischer Kultur erklärt, die Nishida „in einem
Wort“ zusammenfasst: „Man darf mit einem Wort (yô suru ni 要するに) sagen, dass
das Wesen der griechischen Kultur auf der künstlerischen Anschauung beruhte.“822 Wie
Nishida zu dem Schluss kommt, erfährt man nicht. Charakteristisch für Nishida werden
hier vollkommen unterschiedliche Disziplinen und Thematiken unter ein einziges
Phänomen subsumiert. Eine Begründung für die angebliche Fundierung der
griechischen Kultur auf dem Seinsgedanken jedenfalls unternimmt Nishida nicht.
Sodann kommt Nishida zur „Phänomenologie“ der christlichen und der jüdischen
Kultur. Hier sei die Beziehung von Gott zu den Menschen maßgebend, wobei es
„keinen Weg von den Menschen zu Gott“, wohl aber einen von Gott zu den Menschen
gebe. 823 Die „semitische Religion“,
bei der die sozialen Beziehungen auf
Blutsverwandtschaft beruhten, habe die Idee eines Gottes als Beschützers oder
Hausherrn gegenüber dem beschützten Volk bzw. der Untertaten-Familie. Die Sünde sei
hier die Widersetzung Gottes durch menschliche Willensfreiheit und ließe sich nur
durch Buße wieder gutmachen. Nishidas Charakterisierung des „israelitischen
Volks“ ist stark an klimakulturelle Reflexionen angelehnt: „Die Israeliten waren in der
grenzenlosen öden Heide, die jeder lebendigen Farbe entbehrte, geboren und hatten über
sich nur den weiten Himmel, Sonne, Mond und Sterne; man kann leicht verstehen, wie
das israelitische Volk mit seinem unbeugsamen und unbeirrbaren Geiste eine solche
Religion schuf.“ 824 Abgesehen vom naheliegenden Einwand, warum im antiken
Griechenland, wo die Menschen auch von karger Landschaft umgeben und über ihnen
wohl auch nur Himmel, Sonne, Mond und Sterne zu sehen waren, kein so
821
Nishida (1940), NKZ VII (1966), S. 430.
Nishida (1940), S. 4, NKZ VII (1966), S. 431.
823
Ebd.
824
Ebd., S. 5; ebd. S. 432.
822
227
„unbeugsamer Geist“ entstanden sein soll, vermischt Nishida hier erstmalig
„Religion“ und „Kultur“, bzw. erklärt sie zu einem und demselben Phänomen. Das
Christentum, eine „Vertiefung dieser israelitischen Religion“ (isuraeru shûkyô no
shinka serareta kurisuto kyô イスラエル宗教の深化せられたキリスト教) habe den
Gedanken der „Persönlichkeit“ (jinkaku 人格) in die westliche Kultur eingeführt, womit
Nishida eine kurze Ausführung zu Augustinus anschließt. Seine Ausführung zur
mittelalterlichen Philosphie sind allerdings auch hier nicht konsequent, was seine
Beweisführung von der Seinsgrundlegung in der westlichen Kultur bzw. christlichen
Religion angeht:
Wenn man annimmt, daß die griechische Philosophie den Gedanken des Seins hat, so könnte
man auch sagen, daß die mittelalterliche Philosophie schon den Begriff des Nichts-Gedankens
hat. Die negative Theologie des Dionysius Areopagita bemühte sich, Gott nur durch Negation
auszudrücken. Persönlichkeit ist aber nicht Nichts. Sie muß das Meistbegrenzte sein. Ja, sie muß
etwas sein, was bewußt die eigene Persönlichkeit selbst begrenzt. Wie Thomas sagt, muß sie das
vollkommene Sein darstellen.825
Es bleibt bei einer Behauptung statt eines Beweises für die angebliche Seinsfundiertheit
der westlichen Kultur und Religion. Auf die nicht-argumentative Struktur seiner
Behauptungen bin ich an anderer Stelle bereits eingegangen und möchte die Diskussion
hier nicht vertiefen, wenn sie im Kontext von NBM auch wieder zu Sprache kommen
soll.
Anschließend unterwirft Nishida die „indische Religion“ einer hypostasierenden
Betrachtung. Diese beruhe „auf dem tiefsten Gedanken des Nichts als ihrer
Grundlage.“ 826 In einem abrissartigen Kulturvergleich von „Griechen“ und
„Indern“ gegenüber den Juden behauptet Nishida im Jargon seiner Zeit:
Inder und Griechen, die zu derselben arischen Rasse gehören, könnten dem semitischen Volke
gegenüber intellektuell gewesen sein, standen aber in bezug auf das Problem der Wirklichen
(jitsuzai no mondai 実在の問題) im Gegensatz zueinander. Das eine Volk sah das Sein, das
andere das Nichts als Grundlage der Welt. Das einzige wahre Sein des Parmenides ist die
äußerste Grenze des Seins, und das einzige Sein der Brahmalehre ist die äußerste Grenze des
Nichts. [...] Der Gipfelpunkt dieser brahmanischen Religion wird innerlich die tiefste
Meditation und äußerlich die grenzenlose Barmherzigkeit. Die Griechen wurden philosophisch
und die Inder religiös.827
Weder erfährt man hier etwas über das „Problem des Wirklichen“, noch über die
angebliche Nichts-fundiertheit der indischen Religion. Nishida bleibt die Erklärung
schuldig, warum die Religion überhaupt der Seite des Nichts, Philosophie der Seite des
Seins zugeschlagen wird. Schließlich haben sich philosophische wie religiöse
Traditionen stets mit beidem befasst. Seine essentialisierende Rhetorik wird zum Ersatz
für Argumente, Beweise und Erklärungen.
Mit diesem Impetus bleiben auch seine Beobachtungen zur chinesischen Kultur
verhaftet. Die Kultur Chinas sei eine Kultur der „Sitte“ (jitte ジッテ, verdeutscht) und
825
Ebd.
Ebd.
827
Ebd., S. 5-6; ebd. S. 433.
826
228
der Gebräuche (fûzoku 風俗).828 Sie sei weder wirklich philosophisch noch wirklich
eine Religion, sondern machte „die menschliche Gesellschaft zum Mittelpunkt“. Im
Taoismus werde darüber hinaus die „Rückkehr zur Natur“ gelehrt.829 Nishida zitiert hier
lange Passagen aus Konfuzius und Laotse, um die chinesische Philosophie anschließend
wie die indische Religion unter den Nichts-Gedanken zu subsumieren:
Im Konfuzianismus ist der Himmel (die Natur) als Grundlage der Lehre etwas Moralisches,
aber im Taoismus, der neben dem Konfuzianismus der Ursprung der chinesischen Kultur war,
ist, wie ich glaube, der „Weg“ offenbar etwas, was man „Gedanken des Nichts“ nennen muß. 830
Dass, wie von Nishida eingangs behauptet, das Nichts die „Grundlage der
Wirklichkeit“ in der östlichen Kultur sei, bleibt indes eine willkürliche, weil
unbegründete Behauptung. Auch die Austauschbarkeit der jeweils als
„Kulturprinzip“ in Anschlag gebrachter Begriffe legt dies offen.
Allerdings wäre symptomatisch festzustellen, dass bereits in der Intention Nishidas, real
existierende Kulturen auf Ideen und nicht auf materielle Verhältnisse zurückzuführen,
ein nicht-argumentatives Vorgehen eingeschrieben ist, das sich mehr auf sprachliche
Suggestivität als auf das Verhältnis von Subjekt und Objekt stützt. An diesen Stellen
muss der Interpret die schwierige Aufgabe übernehmen, dieses Verhältnis
wiederzubeleben, dem Wort Adornos zufolge die „Dynamik“ sichtbar zu machen, die
zwischen Subjekt und Objekt besteht. Das ist hier umso schwieriger, als das Objekt der
Betrachtung (die Kultur) im Subjekt (der Begriff Sein, der Begriff Nichts)
untergegangen ist. Dialektisch lässt sich hier nachvollziehen, wie auch die Rede in
Begriffen (Sein, Nichts) keinen Sinn mehr macht und das Subjekt sich gemeinsam mit
dem in es implementierten Objekt suspendiert. Dieses zentrale Dilemma der NishidaPhilosophie kommt in den Kulturformen so deutlich zum Vorschein, weil Nishida sich
hier mehr als in den andere Schriften an einem konkreten Gegenstand abzuarbeiten
scheint. Weil er sich von den Vorgaben seiner Philosophie der Immanenz nicht lösen
kann und die Realität zu einer dinghaften Manifestation einer Idee erklärt, die er selbst
nicht näher bestimmen kann, weil ihm wiederum die Einsicht in ihre sachlichen
Bedingungen fehlt, bleibt er mit ihr auf das Innigste verhaftet. Hier mag mir ein
weiterer Hinweis auf Adornos Kritik an Spenglers Untergangsphantasma erlaubt sein,
die auf Nishida anzuwenden sich geradezu aufdrängt:
Das Phantasma der Kultur aus bloßer Innerlichkeit aber setzt er [Spengler, EL] gleich mit den
realen historischen Kräften – ja mit den naturwüchsigen Kräften, weil die anderen ausgelassen
sind, samt der Realität, an der sie erst sich erproben könnten. Damit aber tritt gerade der
Spenglersche Idealismus in den Dienst der Machtphilosophie.831
Nicht anders ist es um Nishidas Innerlichkeits-Kulturdiskurs bestellt. Ebenso muss
dieser symptomatisch als Existenzmodus der Machtphilosophie verstanden werden: sie
kann sich nur an den Phänomenen einer abstrakten „Innerlichkeit“ behaupten, welche
sich in der Sphäre des Realen als „Kultur(en)“ ausweisen. Wie eng Nishida seine
828
Ebd., S. 6; ebd., S. 434.
Ebd., S. 8; ebd., S. 436.
830
Ebd., S. 7; ebd., S. 435.
831
Adorno (2003b), S. 67.
829
229
bewusstseinsphilosophische Rhetorik an seine Kulturvorstellungen knüpft, will der
folgende Abschnitt zeigen.
1.2.
Die Eingliederung der Nishida-Philosophie in den Kulturdiskurs
In seinen Schlussbetrachtungen nimmt Nishida sich der in der Hierarchie der Kulturen
höchsten, der japanischen Kultur, an. Seine Beobachtungen zum Kulturphänomen
werden in Teil 2 der Kulturformen differenzierter. Das sprachliche Werkzeug für die
Erörterung
der
Kultur
entnimmt
Nishida
konsequent
aus
seiner
Bewusstseinsphilosophie. Dazu gehört u.a. die Einheit von Subjekt und Objekt, Seinqua-Nichts und Nichts-qua-Sein, die handelnde Anschauung, die Selbstbestimmung der
Gegenwart und das absolute Nichts. Damit vollbringt Nishida zum Einen die
Anwendung seiner abstrakt-metapyhsischen Termini auf ein reales Phänomen, die
Kultur, zum Anderen aber die nahtlose Angliederung der Nishida-Philosophie an den
Kulturdiskurs.
Unbestritten ist für Nishida die Kultur Japans, ebenso wie die indische und die
chinesische Kultur, eine „Kultur des Nichts“. Eine Kultur des Nichts sei aber nicht nur
die Negation des Seins, sie umfasse vielmehr Sein und Nichts in sich, sei subjektiv und
objektiv zugleich, die – einen Schlüsselbegriff vorwegnehmend – „Selbstidentität
absoluter Gegensätze“.832 Sie sei das Reale. Hier deutet sich bereits eine Verschiebung
der Gewichtung von Sein und Nichts an, nicht einfach werden sie als ausgleichendharmonische Gegensätze im Kulturvergleich „Osten“ und „Westen“ ins Spiel gebracht,
sondern dem Nichts wird als nochmalige Vereinigung beider im Sinne der Hegelschen
„gegensätzlichen Bestimmung“ das Synthesepotential zugesprochen. Nishida führt, die
Terminologie seiner Philosophie des Selbstbewusstseins mit Kulturbetrachtungen
konfundierend, aus:
Wir denken unsere Welt von dem zentralen Standpunkt der Welt des sich selbst bestimmenden
Realen, der handelnden Anschauung aus, und von einem solchen Standpunkt aus können wir
verschiedene Kulturformen denken. Wenn die Gemeinschaft (gemainshafuto ゲマインシャフ
ト, verdeutscht) entsteht, muß sie bereits die Bedeutung der Welt der handelnden Anschauung
haben. Wie kann man von einem solchen Standpunkt aus unsere Kulturformen denken? Da das
Reale das sich selbst Widersprechende, das sich selbst Bestimmende ist, kann man in beiden
Richtungen, Bejahung und Verneinung, die das Reale überragende, transzendente Welt
unendlich denken, und das Reale wird als bestimmt vom absolut Unendlichen in einer von
beiden Richtungen gedacht. So kann man, denke ich, die Kulturformen in zwei Gruppen teilen,
von denen die eine ihre Grundlage in der immanenten Welt, d.h. in der realen Welt hat, die
andere in der transzendenten Welt, d.h. in der irrealen Welt.833
Hier werden zwei disparate Phänomene, die bewusstseinsphilosophisch fundierte
„handelnde Anschauung“ und die Kulturformen miteinander identifiziert. Die
Identifikation von „Prinzipien“ bewusstseinsphilosophischer Ausprägung mit
soziologischen oder realhistorischen Begriffe – so wird die (völkische)
„Gemeinschaft“ begrifflich der „Welt der handelnden Anschauung“ einverleibt – zeigt
sich erstmalig nach der Wende zur „Geschichte“, wie oben (Kap. III) gezeigt. In den
832
833
NKZ VII (1966), S. 441.
Nishida (1940), S. 12, NKZ VII (1966), S. 442.
230
Kulturformen wird als Existenzmodus des Selbstbewusstseins deutlicher der
Kulturbegriff dem Geschichtsbegriff vorgezogen; die Konsequenzen sind dieselben. Die
irrationale Philosophie eines nach Innen verlagerten „Außen“ bei Nishida ist allerdings
mehr als nur ein regelloser Intuitonismus ohne Prinzipien. Nishida geht insofern über
den Intuitionismus Bergsons hinaus, als er die Sichselbstgleichheit von Innerem,
Bewusstseinsmässigem und Äusserem, Dinglichem behauptet und diese als Prinzip
versteht. Kultur und Geschichte sind entsprechend die „Chiffren des Großen“, vor allem
aber die Chiffren einer großen Innerlichkeit. So identifiziert Nishida die „transzendente
Welt“ mit der christlich-jüdischen Tradition und stellt sie als „irreal“ in Abrede. Die
immanente und mythische Kultur Japans, die Kultur der Innerlichkeit, des „Gefühls“,
des „Gestalt“- bzw. „Formlosen“, sei die „reale Welt“. In diesem Zusammenhang ist für
Nishida auch von „Gesinnung“ (jôi 情意) und vom japanischen Volkskörper, dem
Kokutai, zu sprechen:
In unserem Lande wurde [die Mythologie] als Ursprung unseres Kokutai zum Quell unserer
wahren Gesinnung. Die gefühlsmäßige Kultur ist Gestalt ohne Gestalt, Stimme ohne Stimme.
Sie ist formlose Einheit ebenso wie die Zeit, sie ist symbolisch. Die gestaltlose Kultur des
Gefühls ist produktiv wie die Zeit und entwickelt sich wie das Leben.834
Diese Vorstellung einer „leeren Mitte“, eines „leeren Selbst“ der japanischen Kultur
wird von Nishida in Das Problem der japanischen Kultur dann auch zur Begründung
entwickelt, weshalb andere Kulturen sich in Japan – bei Beibehaltung des „Eigenen“ –
sublimierten und weshalb Japan konsequenterweise zum „Erbauer der geschichtlichen
Welt“ werden müsse. Darauf anschließen lassen sich auch Nishidas in Das Problem
der japanischen Kultur wieder aufgenommene simplizistische Geschichtsbetrachtungen
von Japan als einer „kleinen Insel“, dessen Volk „niemals im Inneren eine größere
Spaltung“ erfahren habe: „es ernährte sich in der schönen Natur und bildete selbst rein
gefühlsmäßig seinen Charakter, der unsere Kultur mit ihrem [...] kulturellen Sinne zur
Entwicklung gebracht hat.“835
Dieser „kulturelle Sinn“ zeigt sich für Nishida auch in der Entwicklung des Buddhismus
in Japan. Nichida zufolge haben allein die Jôdo-Schule und die Schule des das LotusSutra verehrenden Nichiren 日蓮 (1222-1282) es in der Kamakura-Zeit zu einer
„wahrhaft japanischen“ Religion bringen können. Diese Ehre war den etablierten
Schulen der Nara-Zeit nicht vergönnt, da sie zu philosophisch waren.836 Nishida, der
hier die These von Japan als „gefühlsmäßiger Kultur des Nichts“ aufstellt, setzt sich
hier bewußt gegen die Tendai-, Shingon-, Risshû- und Kegon-Schulen mit ihren
esoterischen und „intellektualistischen“ Lehren ab. Verherrlicht wird dagegen die
Kamakura-Shogunats-Kultur, die als „urjapanisch“ hypostasiert wird, sowie das von
den Samurai zunehmend praktizierte Zen. Das hindert Nishida jedoch hier wie in Das
Problem der japanischen Kultur nicht daran, ein stereotypisches Bild der
shintôistischen Tradition in seine Kulturbetrachtung über Japan zu integrieren, das
Gedicht Motoori Norinagas über die in der „Morgensonne duftende Kirschblüte“. Dazu
gleich mehr.
834
Ebd., S. 14; ebd. S. 445.
Nishida (1940), S. 18, NKZ VII (1966), S. 451.
836
Ebd.
835
231
Deutlich bettet Nishida seine Begriffe in den Kulturdiskurs ein. Er überantwortet so die
Philosophie politischen Zwecken. Im folgenden Kapitel soll dargelegt werden, wie
diese Selbstinstrumentalisierung sich in Nishidas Denken implementiert.
2.
Das Problem der japanischen Kultur (Nihon bunka no mondai 日本文化の
問 題 ) (1940) – Die Problematisierung von „Ost“ und „West“ als
Scheingefecht
Der Aufsatz Das Problem der japanischen Kultur (Nihon bunka no mondai 日本文化の
問題) – im Folgenden der Kürze halber NBM837 – ist der wichtigste Text Nishidas in
seiner späteren Phase ab 1931, wenn nicht sogar der repräsentativste Text seines
Denkens und somit das Hauptwerk Nishidas überhaupt. In NBM findet das Denken der
Identität von Sein und Nichts als „absolutes Nichts“, der (absolut) widersprüchlicher
Selbstidentität (zettai mujunteki jikodôitsu 絶対矛盾的自己同一), der „Poeisis“, der
Idee des „vom Geschaffenen zum Schaffenden“, der absoluten Gegenwart und des
„ewigen Jetzt“ seine Übertragung auf terminologische Formeln für die
„geschichtliche“ und die „kulturelle“ Welt, das „Kaiserhaus“ (kôshitsu 皇室) und den
„japanischen Geist“ (nihon seishin 日本精神). Die in NBM entwickelten Thesen dienen
so der philosophischen Legitimierung der realpolitischen Dimension. Nishidas
jahrzehntelange Anstrengung, ein philosophisches System zu entwickeln, welches das
„subjektzentrierte“ rationalistische Denken des Westens „überwinde“, hat hier – in
seinem „politischen“ Denken – nach wiederholtem Scheitern auf dem Gebiet der
Bewusstseinsphilosophie, wie aus Nishidas Selbstaussagen u.a. klar wird, seine
Realisierung gefunden. NBM stellt meiner These in diesem Kapitel zufolge als das
Hauptwerk Nishidas in seiner letzten Schaffenszeit die konsequente Vollendung seines
Denkens dar.838 Dafür spricht auch, dass Nishida hier die Zentralbegriffe seiner Texte
ab 1932 – dialektisches Allgemeines, ewiges Jetzt, „Poeisis“ bzw. Tat-Anschauung,
Ausdrucksakt, „Art“ (shu 種), sowie „geschichtlicher Körper“, „Volk“ (minzoku 民族),
und prävalent der (absolut) widersprüchlichen Selbstidentität in einem einzigen
zusammenhängenden Text in einen theoretischen Zusammenhang stellt. Mehr noch, er
übernimmt über weite Strecken zentrale Thesen aus Texten zwischen 1933-39 fast im
Wortlaut wieder in NBM auf.839 Mit der These, bei NBM handelt es sich um ein, wenn
837
In NKZ IX, S. 3-85.
Ein Hinweis dafür, wie zentral Nishida NBM für sein Denken einschätzt, findet sich im Text, wenn er
hier auch bescheiden für „detaillierte Referenzen“ auf seine Gesammelten philosophischen Aufsätze
(Tetsugaku ronbunshû 哲学論文集) verweist: „[Hier, in NBM] kann ich nur über die Hauptpunkte
meines fundamentalen Denkens sprechen.“ NKZ IX, S. 22. Nishida selbst schätzt NBM als
Gesamtdarstellung seines denkerischen Standpunktes ein, wofür auch die Länge des Textes spricht, die
mit je nach Ausgabe 80-119 Seiten deutlich länger ist als seine philosophischen Aufsätze von sonst
durchschnittlich 20-30 Seiten Länge. Desweiteren hätte Nishida, der sonst nur für ein japanisches
Publikum schrieb, NBM „gern über Japan hinaus verbreitet gesehen“. Siehe Kracht, Japonica
Humboldtiana 6 (2001), S. 183. Kracht bezieht sich auf einen Brief an Tanigawa vom August 1940, in
dem Nishida sagt, er könne sich vorstellen, dass es „passen“ würde, NBM in eine Fremdsprache zu
übersetzen. Siehe NKZ XIX, S. 126. Außerdem war Nishida recht besorgt darum, sich auch bei einem
Laienpublikum verständlich zu machen’. Siehe Kracht, Japonica Humboldtiana 6, S. 184, Fußnote 3.
839
So zum Beispiel in Das Problem der Entstehung und Entwicklung der Art (Shu no seisei hatten no
mondai 種の生成発展の問題1937): „Früher hat Rom durch Eroberungen Europa zu einer Welt (hitotsu
no sekai 一つの世界) gemacht. Heute macht der englische Kapitalismus die Welt zu einer.“ NKZ VIII
(1966), S. 520. In NBM heißt es: „Früher hat Rom Europa durch Waffengewalt zu einer Welt gemacht.
Heute macht der freie Handel Englands die Welt zu einer.“ NKZ IX, S. 10 Interessant und symptomatisch
838
232
nicht das Hauptwerk der Nishida-Philosophie, stelle ich mich ausdrücklich gegen die
unpolitischen Rezeptionsansätze, die in den Texten um 1926-1930 (Ort, Die
Selbstbestimmung des Allgemeinen, etc.) den „Kern“ seines Denkens, die
„eigentliche“ Nishidaphilosophie in seiner Jikaku-Philosophie erblicken wollen und
somit den Versuch der Entpolitisierung seines Denkens unternehmen. Folgender
Interpretationsansatz ist dafür symptomatisch: bewertet man wie J. Heisig den
„politischen Nishida“ als Aberration seines Denkens und nicht als Vollendung, ist es nur
konsequent, seine problematischen Aussagen zu „Ost“ und „West“, zum Krieg, zur
Großostasiatischen Wohlstandssphäre, zum Kokutai, zum geschichtlichen Körper und
zum Kaiserhaus als irrelevant, als „den Gesetzen ihrer Zeit gehorchend“ in Abrede zu
stellen. Entsprechend behauptet Heisig in diesem Rezeptionsansatz, es könne nur einer
gewissen „Ignoranz“ geschuldet sein, die Nähe der Kyoto-Schule Philosophen (auf die
er sich allgemein bezieht) zur offiziellen Ideologie auf ihre grundlegenden
philosophischen Ideen zurückzuführen.840 Obwohl ich diesen Ansatz J. Heisigs ablehne,
scheint er mir vernunftgeleitet: was für ein „border crossing“-Denken in Frage kommt,
wird akzeptiert, die autoritären Ausfälle dagegen als fehlgeleitet interpretiert. Dieser
Ansatz spiegelt auch den größten Teil der Heidegger-Rezeption nach 1945 wieder. Im
Falle Nishidas sieht es anders aus. Im Gegenteil scheinen zunehmend die Versuche,
gerade sein politisches Denken zu rehabilieren, die unpolitischen Interpretationsansätze
aufzuwiegen. Diese Welle wird vor allem von Michiko Yusa (1991a/1991b), Ueda
Shizuteru 上田閑照 (1994), John C. Maraldo (1995), Rolf Elberfeld (1999b), Bret
Davis (2002) und Christopher Goto-Jones (2005) getragen. Die Hauptmotivation für die
Rehabilitierung von Nishidas politischem Denken fasst J.C. Maraldo, selbst ein
Vertreter dieses Rezeptionszweigs, folgendermaßen zusammen:
[Nishida’s] philosophy offers a conceptualization with which we can reexamine current
problems of multiculturalism, multinational relations, the eurocentrism of philosophy, and the
construction of Asia as an Other.841
Ich halte diese Bewertung aus zwei Gründen für prekär: zum Einen, weil Nishidas
politische Philosophie für die Bewertung heutiger „Probleme von Multikulturalität“ und
„multinationaler Beziehungen“ völlig aussagelos ist, wie ich in V.2. zeigen werde.
Durch diese Interpretation scheint symptomatisch vielmehr ein unreflektiert antieurozentristisches Weltbild, für das man in Nishida das geeigenete Sprachrohr gefunden
zu haben glaubt. In der Tat greift Nishida den „Eurozentrismus“ als „westliche
Kultur“ an und propagiert einen kulturessentialistischen japanischen Ethnozentrismus,
wie ich in diesem Kapitel darlegen werde. Die Propagierung des Ethnozentrismus als
Gegenentwurf zum „Eurozentrismus der Philosophie“ halte ich allerdings für ein mehr
als problematisches Unterfangen. In Maraldos Ansatz wird indes auch an keiner Stelle
begriffsanalytisch dargelegt, wie die „Konzeptualisierung zur Neuunterschung
gegenwärtiger Probleme des Multikulturalismus, der multinationalen Beziehungen und
des Eurozentrismus der Philosophie“ bei Nishida durchgeführt wird. Die Behauptungen
dieser Rehabilitierungsversuche des „politischen“ Nishida bleiben durchweg vage und
weisen sich nicht am Nishidaschen Text aus.
zu verstehen wäre, dass der Begriff „Kapitalismus“ in einem Text von 1937 im Jahre 1940 durch den
„freien Handel“ ersetzt wird.
840
Heisig (2001), S. 6. Siehe auch meine Einleitung.
841
Maraldo (1995), S. 184.
233
Zum Anderen halte ich die Interpretation des politischen Denkens Nishidas, die
„konkrete Prozesse von Interkulturalität“ 842 zeige und stellenweise sogar als
„Philosophie des Widerstands“ (vgl. v.a. Goto-Jones, Yusa) bezeichnet wird, auch aus
einem anderen Grunde für gefährlich. Durch die Aussparung auch nur der Erwähnung
der realen politischen Situation und den euphemistischen Sprachgebrauch in diesen
Rezeptionsansätzen wird eine zynische Einstellung gegenüber den nicht-japanischen
Opfern der japanischen Aggressionskriege gefördert. Eben diese Haltung ist
symptomatisch jedoch nicht erst in der Rezeption, sondern in der politischen Philosphie
Nishidas selbst, dessen Sorge zu keinem Zeitpunkt den unter der japanischen Herrschaft
leidenden chinesischen und koreanischen Zivilisten, sondern ausschließlich dem
„japanischen Volk“ galt, das „schlechte Führer“ habe.843 Diese Haltung wird in den
neuen Rehabilitationsansätzen reproduziert. Die euphemistische Interpretation als
„Pluralismus“ und „Polyzentrismus“ zentraler Begriffe der Nishidaschen Philosophie,
beispielhaft der „welthaften Welten“ (sekaiteki sekai 世界的世界), Elberfeld zufolge
„ein entwicklungsfähiges Konzept für die Ausarbeitung einer Philosophie der
Interkulturalität unter modernen Bedingungen“844, täuschen ob bewusst oder unbewusst
darüber hinweg, dass im Zeichen der japanischen Kokutai-Ideologie, für die Nishida die
„begriffliche Grundlage“845 schaffen wollte, Menschen getötet, gefoltert, hingerichtet
und vergewaltigt worden sind. In diesem Sinne halte ich diese Rezeptionsansätze auch
für Geschichtsklitterung.
Ich denke, dass NBM als ein beispielhaftes Dokument philosophischen Scheiterns
verstanden werden muss, und zwar im Sinne einer Philosophie, die sich ihrem
Grundverständnis nach als kritisches Gegengewicht zur offiziellen Politik und der ihr
inhärenten Ideologie versteht. Dabei sehe ich bereits in Nishidas Intention, der
Stereotype der japanischen Kriegsideologie („Osten“ gegen „Westen“ /“japanischer
Geist“ gegen „westliche Logik“etc.), wie sie etwa in Kokutai no hongi ausformuliert
sind, und ihrer in knappen Schlagworten verbalisierten Propaganda („Die Welt unter
einem – japanischen – Dach“, der „ununterbrochenenen Thronfolge des
Kaisergeschlechts“, des Kokutai, d.h. japanischen Volkskörpers, des „Aufbaus
Ostasiens“ (tôa kensetsu 東亜建設), des „Familienstaats“ (kazoku kokka 家族国家),
des Mythos um das Kaiserhaus und des „öffentlichen, d.h. dem Kaiser (Tennô)
zugehörigen Ortes“ (ôyake no basho 公の場所)) eine philosophische, d.h. durch einen
„begrifflichen Inhalt“ (gainenteki naiyô 概念的内容)846 ausgewiesene Grundlage geben
zu wollen, einen Ausdruck seines philosophischen Versagens. Die Diskussion von
NBM als ein für Nishidas spätes Denken paradigmatisches, nicht in Zusammenarbeit
mit der Regierung entstandenes Dokument, möchte dabei allein Nishidas Denken
reflektieren und verzichtet bewusst auf eine allgemeine Darstellung der bekannteren,
den kulturellen Diskurs der Kriegszeit reflektierender Texte. Nicht thematisiert werden
hier zum Einen das Symposium zum „weltgeschichtlichen Standpunkt und
Japan“ (Sekai shiteki tachiba to nihon 世界史的立場と日本) (1941 und 1942), ein
Harootunian/Najita zufolge „thinly disguised justification, written in the language of
842
Elberfeld (1999), S. 237.
Siehe den Brief vom 24.03.1945 an Suzuki: „Ich glaube, das japanische Volk (nihon kokumin 日本
国民) ist ein hervorragendes Volk (yûi na kokumin 優秀な国民). Nur seine Führer sind schlecht.“ NKZ
XIX (1966), S. 402.
844
Elberfeld (1999), S. 234.
845
Siehe den Brief vom 15.03.1944 an Watsuji, NKZ XIX (1966), S. 296. Ich komme darauf in V.3.
zurück.
846
NKZ IX, S. 48.
843
234
Hegelian metaphysics, for Japanese aggression and continuiting imperialism“847, an
deren Ausformulierung sich die Nishida-Schüler Kôyama Iwao 高山岩男 (1905-1993),
Kôsaka Masaaki, sowie Nishitani Keiji 西谷啓治 (1900-1990) beteiligten. Zum
Anderen verzichtet die Darstellung hier auch auf das Symposium „Die Überwindung
der Moderne“ (Kindai no chôkoku 近 代 の 超 克 ), wenngleich der Titel dieses
Symposiums programmatisch für die von allen Vertretern der Kyoto Schule entwickelte
philosophische Position und ihr Umfeld stehen dürfte. Im Jahr 1942 hat die
Literaturzeitschrift Bungakkai 文学界 („Literarische Welt“) unter anderem Kobayashi
Hideo 小林秀雄 (1902-1983), den bekannten Literaten und Literaturkritiker der Nihon
(oder Nippon) Roman-ha 日 本 浪 漫 派
(„Romantische Schule Japans“), die
Schriftsteller und Literaturkritiker Kamei Katsuichirô 亀井勝一郎 (1907-1966) und
Hayashi Fusao 林房雄 (1903-1975) und wieder den Nishida-Schüler Nishitani Keiji zur
Diskussion zur Bestimmung von Japans Rolle im herrschenden Geschichtsdiskurs
geladen. Nicht allein, weil die einschlägigen Arbeiten etwa Hiromatsu Watarus 広松渉
(1979), H.D. Harootunians (1989) oder Christian Uhls (2003) 848 diese Symposien
bereits eingehend analysiert haben, sondern auch, weil Nishida an diesen nicht
persönlich teilnahm, übergehe ich diese berühmt-berüchtigte Debatte. Gleichzeitig wage
ich zu behaupten, dass die wichtigsten der in der Überwindung der Moderne-Debatte
und des „Weltgeschichtlichkeits-Diskurses“ vorgestellten Thesen wie etwa die Idee der
„moralischen Energie“, die Nishida in Rückgriff auf Ranke erstmalig in den
Kulturdiskurs einführt, ohne seine Vorarbeit in NBM nicht denkbar gewesen wären.
Toshiaki Kobayashi sieht das ähnlich. In der Diskussion des Terminus „Kampf“ (tôsô
闘争), den Nishida zur Hälfte von NBM recht unvermittelt einführt, bemerkt Kobayashi:
Für Nishida bestand der „Kampf“ nicht nur im Kampf mit der Waffe. Der Kampf war ein
notwendiges Ergebnis der Bewegung der absolut widersprüchlichen Selbstidentität, welche die
ganze Kultur und den gesamten Geist erfordert. Etwas provokativer formuliert, war er ein
„Krieg der totalen Mobilmachung“ im wortwörtlichen Sinne. Dies wird bei den Schülern
Nishidas noch deutlicher, aber der Keim ist bereits in Nishidas Philosophie angelegt.849
Diesen „Keim“ möchte das vorliegende Kapitel darlegen.850
847
Harootunian/Najita (1988), S. 238-239.
Zu Harootunian siehe „Visible Discourses/Invisible Ideologies“, in Miyoshi/Harootunian (Hg.) (1989),
S. 63-92.
849
Kobayashi 2002, S. 116.
850
Eine längere editorische Randbemerkung: Die am 30. März 1940 von Iwanami veröffentlichte
Monographie NBM beruht auf drei an der Kaiserlichen Universität Kyoto jeweils am 25. April, 02. Mai
und 09. Mai 1938 gehaltenen je einstündigen Vorträgen, die unter dem Titel Getsuyôkôgi 月曜講義
(„Montagsvorlesungen“) in einer Art „Ringvorlesung“ organisiert wurde. Die drei Vorlesungen wurden
sukzessive im Mai 1938 bereits in der Zeitung der Kaiserlichen Universität Kyoto (Kyoto teikoku daigaku
shinbun 京都帝国大学新聞) abgedruckt. Unter dem Titel Das Problem der japanischen Kultur (Nihon
bunka no mondai 日本文化の問題) wurden die Vorlesungen erstmalig am 30. November 1938 in der 4.
Ausgabe der Buchreihe der Studentenabteilung der Kaiserlichen Universität Kyoto (Kyôdai seika sôsho
京大学生課叢書) und nach dem Krieg, am 15. Januar 1949, nahezu identisch in der Schriftenreihe der
Studentenabteilung der (nun nicht mehr Kaiserlichen) Universität Kyoto (Kyoto daigaku gakuseibu sôsho
京 都 大 学 学 生 部 叢 書 ) veröffentlicht. Der von Iwanami veröffentlichten Ausgabe der
Montagsvorlesungen von NBM 1938 ist noch der am 9. Oktober 1937 im Hibiya-Park in Tôkyô im
Rahmen des Öffentlichen Philosophischen Vorlesungskreises des „Kommitees zur Förderung der
Wissenschaften Japans“ (Nihon shôgaku iinkai日本諸学委員会) des Monbushô gehaltene Vortrag Die
Wissenschaftliche Methode (Gakumonteki hôhô 学問的方法) hinzugefügt, da er sich thematisch an NBM
anschließen lässt. Auch er wurde bereits am 31. Mai 1938 in den Schriftenreihe Pädagogik (Kyôgaku
848
235
2.1.
Der diskursive Ort von Das Problem der japanischen Kultur
Schon nach wenigen einleitenden Zeilen, in denen Nishida erklärt, bei NBM handele es
sich um die Thematisierung der Frage östlicher und westlicher Kultur (tôyô bunka/seiyô
bunka 東洋文化/西洋文化) sowie des „wissenschaftlichen Geistes“ (gakumonteki
seishin 学問的精神), wird deutlich, dass mit NBM ein Selbstbehauptungsdiskurs
initiiert wird: die Frage nach der eigenen Einschätzung der Rolle Japans in der Welt und
der Weltgeschichte und danach, welchen „Beitrag“ (kôken 貢献) Japan leisten kann.
Nishida bezieht sich dabei an keiner Stelle des gesamten Textes auf eine konkrete,
realpolitische oder gar tagespolitische Situation des bereits mit China geführten Krieges
oder auf innenpolitische Tatsachen. Gleichwohl kann NBM nicht ohne den konkreten
historischen Hintergrund verstanden werden, wozu auch die Vorbereitung der
Proklamation der „Großostasiatischen Wohlstandssphäre“ (daitôa kyôeiken 大東亜共
栄圏) im August 1940 gehört, die bereits als „Aufbau Ostasiens“ (tôa kensetsu 東亜建
設) von Nishida ab 1938 in seine philosophische Terminologie integriert wird. Ebenso
deutet die Proklamation des Hakkô Ichiu, der „Welt unter einem Dach“ auf den
programmatisch imperialistischen Gestus der japanischen Regierung unter Konoe
Fumimaro – ein ehemaliger Student und Freund Nishidas – hin. Konoe führte diesen
aus dem shintôistischen Gründungsmythos stammenden Begriff erstmalig in einer Rede
vom 08. Januar 1940 in den offiziellen Diskurs ein.851 Auch dieses Schlagwort wird von
Nishida in NBM verwendet. Doch um die Entwicklung der einzelnen von Nishida
aufgenommenen
Begriffe
der
Kriegspropaganda
bzw.
der
„geistigen
Mobilmachung“ (seishin yokusan 精神翼賛) zu verstehen, ist es hier wie bei anderen
Texten ratsam, Nishidas Intention von seiner Explikation zu trennen, um sie in ihrer
jeweiligen Symptomatik zu untersuchen und schließlich wieder in Relation zu bringen.
Diese Unterscheidung wird im Laufe des folgenden Kapitels zur Sprache kommen.
Zunächst möchte ich von NBM Teil 1-4, danach den berühmt-berüchtigten Teil 5 und
sôsho 教 学 叢 書 ) des Monbushô publiziert. Nishida, den eine langjährige Freundschaft mit dem
Moralphilosophen Yamamoto Ryôkichi 山本良吉 (1871-1942) verband, schrieb an diesen im Dezember
1937 über das Programm des Monbushô: „Das Monbushô will die Einheit des Denkens unter der
Vorgabe einer Geisteskultur-Forschung als kategorischer Imperativ ausloten [...] Ich wollte nicht darüber
sprechen, wie man den Kokutai interpretieren kann, sondern nur sagen, dass der japanische Geist logisch
verstanden werden muss.“ NKZ XVIII (1966), S. 630. Bei Erscheinen Ende März 1940 verkaufte NBM
auf Anhieb 40 000 Exemplare. Siehe Yusa (1991), S. 293. Kurz vor der Veröffentlichung der
Monographie NBM wurde die Universität Kyoto im Februar 1940 durch den Vorfall um Tsuda Sokichi
津田左右吉 (1873-1961) erschüttert. Tsuda hatte in seinen Untersuchungen über das Kojiki und das
Nihon Shoki (Kojiki oyobi nihon shoki no kenkyû 古事記及び日本書紀の研究), den shintôistischen
Gründungsmythen des japanischen Staates, eine zu liberale, d.h. rationalistische Interpretation des
Kaiserhauses gewagt. Die Untersuchungen wurden daraufhin verboten. Iwanami Shigeo, Tsudas und
Nishidas Verleger, wurde zudem angeklagt. Auch Nishida war darüber nicht erfreut: „Ich bedaure die
Sache mit Tsuda sehr [...] Dieses Mal hätte selbst niemand von der versammelten Juristerei gedacht, dass
durch das Presserecht gerichtlich [gegen jemanden] vorgegangen werden kann [...]“ NKZ XIX (1966), S.
107. Inzwischen gibt es Bemühungen, NBM ins Deutsche zu übersetzen (vgl. Fujita Masakatsu,
Nachwort zu NBM, NKZ IX, S. 602). Bislang (2010) gibt es weder eine vollständige deutsche noch eine
englische Übersetzung. Selbst die Übersetzung von einigen Abschnitten aus NBM als The Problem of
Japanese Culture von Masao Abe in Tsunoda et al (Hg.) (1958), S. 350-364, ist in der Neuauflage von
2006 weggelassen worden. Einzig Pierre Lavelle hat eine vollständige Übersetzung in französischer
Sprache angefertigt: P. Lavelle, La Culture Japonaise En Question. Publications Orientalistes de France,
Paris (1991).
851
Siehe dazu wie zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den ideologischen Hintergründen des
Begriffs Walter Edwards, „Forging Tradition for a Holy War – The Hakkô Ichiu Tower in Miyazaki and
Japanese Wartime Ideology“, in Journal of Japanese Studies, Vol. 29, No. 2, University of Washington,
Seattle (2003), S. 289-324.
236
abschließend Teil 6-8 am Text entlang interpretieren, was ohne den einen oder anderen
Eingriff nicht möglich ist. Entlang dieses Weges dürfte sich auch das Verhältnis von
Intention und Explikation verdeutlichen, das ich in V.2.3. gesondert analysiere.
Am Anfang von NBM verkündet Nishida: „Wie das Gedicht [von Motoori Norinaga]
von der duftenden Kirschblüte in der Morgensonne sagt, hat der japanische Geist, der
uns ursprünglich (yûrai 由来) nährt, diese klare und offene Unvoreingenommenheit
(kômei seidai 公明正大). Der wissenschaftliche Geist soll auf dem Fundament dieser
Unvereingenommenheit erbaut werden.“ 852 Was bedeutet diese Einbettung des
„japanischen Geistes“ in einem klar nationalistisch konnotierten Bild in den Rahmen
der „Wissenschaft“? Zunächst klingt es befremdend, dass eine angeblich
„unwissenschaftliche“ Tradition nun ausgerechnet zur Grundlage der Wissenschaft
werden solle, aber genau darum geht es Nishida. Er ist bereits auf den ersten Seiten von
NBM sehr deutlich in dieser Programmatik: in der Wissenschaft ginge es Nishida
zufolge darum, auf die „Dinge, wie sie von sich aus sind“ (mono sono mono 物その
もの) zu gehen. Dies gelinge allerdings nur Japan, da Japan allein – aufgrund seiner
historischen Erfahrung – das Privileg besitze, sowohl den Osten als auch den Westen
„absorbiert“ (shôka shi 消化し) zu haben und so das Vorrecht geniesse, als Gestalter
der östlichen Kultur aufzutreten. Nishida schreibt allein dem japanischen Geist die
Fähigkeit zu, einen „wahrhaft“ wissenschaftlichen Chrakter zu haben, da es ihm „um
die Dinge selbst“ gehe:
Auf dem Grunde der chinesischen und der indischen Kultur gab es Hervorragendes. Jedoch, da
es ihnen an einem Geist, der auf die Wahrheit der Dinge geht, mangelte (shinjitsu ni iku to iu
seishin ni toboshikatta 真実に行くという精神に乏しかった), erstarrten und verhärteten sie
sich. Allein unser Volk hat, während es im Osten die Einflüsse von vielerlei Kulturen aufnahm,
die westliche Kultur absorbiert und wird so für den Neugestalter der östlichen Kultur gehalten.
Das liegt hauptsächlich daran, dass der japanische Geist [sich] an nichts festhält und zu den
Dingen, wie sie von sich aus sind, geht.853
Bereits in der Hervorhebung der „Unvoreingenommenheit“ des japanischen Geistes
zeigt sich ein essentialisierendes und die Idee „Japan“ verherrlichendes Element.
Lavelle sieht an dieser Stelle in der Verwendung der grammatischen
Vergangenheitsform des Japanischen, der nur für die Beschreibung der chinesischen
und der indischen Kultur reserviert ist, bereits eine Symptomatik am Werk, die auf das
„Vergangene“ der Größe chinesischer und indischer Kultur hinweist und Japan als
„neue“ Größe markiert.854 Ich möchte später noch genauer auf Nishidas Vorstellungen
von „China“ und „Indien“ eingehen, wichtig ist aber, sie als negativen Kontrast zu
Japan zu begreifen, was allerdings zu dieser Zeit kein Nishida-spezifisches Phänomen
ist. Mit dem obigen Zitat behauptet Nishida die angeblich „synthetisierende“ Fähigkeit
Japans, Japans Besonderheit der gelungenen Vereinigung von „Osten“ und „Westen“, ja,
852
NKZ IX, S.5. Lavelle weist darauf hin, dass dieses shintôistische Bild unvereinbar ist mit den später
geäußerten buddhistischen Überzeugungen Nishidas. Siehe Lavelle (1994), S. 151.
853
NKZ IX, S. 6.
854
Lavelle (1994), S. 157.
237
als eigentliche Welt oder Welt in einem ausgezeichneten Sinn. Dieses Motiv wird von
ihm immer wieder aufgegriffen.855
Daraufhin findet in NBM eine plötzliche thematische Wende statt: anstatt sich mit der
Kultur Japans genauer auseinanderzusetzen, unternimmt Nishdia eine „biologistische
Wende“ in seiner Wissenschaftsbetrachtung. Die „Lehre“ müsse eine Lehre des
Kreislaufs von Tod und Wiedergeburt, eine Lehre des „Lebens“ sein. Der Begriff des
„Lebens“ (seimei 生命) wird hier nicht mehr in seiner Bergsonitischen Variante als das
eng mit dem Bewusstsein zusammenhängender élan vital gedacht, sondern im
Darwinschen Sinne „nackten Lebens“ als Modus menschlichen Seins, als „Über-leben“.
Trotz seiner vorangeschickten Behauptung „die menschliche Realität ist
sozialgeschichtlich“ 856 , kann in seinen nun folgenden, Anleihen bei biologischer
Terminologie machenden Ausführungen keine Rede mehr von der sozialgeschichtlichen
Dimension der menschlichen Realität sein. Um sich dem Thema der Wissenschaft, um
die es ihm qua Selbstaussage letztlich geht, quasi-systematisch zu nähern, wählt er die
„vergleichende
Methode“
der
Biologie
als
methodischen
Zugang.
„Gemeinsamkeiten“ und „Unterschiede“ aus den biologischen Homologien, der
Strukturähnlichkeit bei äußerlicher Verschiedenheit, kämen dabei auch dem
Kulturvergleich Japans mit anderen Kulturen zugute. Die korrekte Einordung eines
bestimmten Phänomens sei dabei aussschlaggebend. Dabei genügten Spezifikationen
nicht, die letztlich auf einer „äußerlichen Methode“ (gaimentekina hôhô 外面的な方
法) beruhten, und so den Fehler machten, den Wal für einen Fisch zu halten – während
trotz unterschiedlicher Halslänge Wal und Giraffe beide der Gruppe der Säugetiere
angehörten.857 Dabei könne man die Struktur des Körperbaus von Säugetieren nicht von
ihrer Funktion, von den formalen Kriterien trennen – Physiologie und Morphologie
müssten miteinander verbunden werden. Nishida versucht hier, sich über den Umweg
biologischer Betrachtungen seinem Thema der Kulturformen – d.h. ihrer Ähnlichkeit
und Unterschiede zu nähern. Hier suggeriert die biologische Terminologie rhetorisch,
aber auch inhaltlich, dass es sich auch bei Kulturen um „natürliche“ Gebilde handelt,
zumal Nishida Kultur und Natur an keiner Stelle kontrastiert oder begrifflich bestimmt.
Zweck ist die Naturalisierung von Kultur mittels Analogiebildung: so wie in der Natur
Homologien herrschten, gäbe es auch in der Kultur Homologien. Nishida versucht hier,
mit Hilfe von Goethes Begriff der Urpflanze, eine „Urkultur“ zu hypostasieren. Dabei
käme es darauf an, trotz aller Gemeinsamkeiten – der offensichtlichsten: dass wir der
Gattung „Homo Sapiens“ angehörten – die Unterschiede nicht aus den Augen zu
verlieren. Als sei der Übergang hier völlig problemlos, stellt er den trotz oberflächlicher
Gemeinsamkeiten deutlichen Unterschied des Kegon-buddhistischen jiji muge 時事
無礙 – des ontologischen Prinzips gegenseitiger, ungehinderter Durchdringung, bei der
alle Erscheinungen, durch die höchste Dharmawelt repräsentiert, nicht nur identisch mit
der Leere, sondern auch identisch mit allen anderen Erscheinungen seien – und Hegels
Dialektik als Beispiel vor.858 Hier scheint sich für Nishida kein Problem zu ergeben;
855
Siehe NKZ IX, S. 50: „Die japanische Geschichte ist der Mikrokosmos der Weltgeschichte (ein Zitat
Hara Katsurôs)“, auch NKZ IX S. 59 „[...] ich denke, dass in Japan in den Japanern selbst eine
eigentümliche Seh- und Denkweise herrscht, die trotz der Aufnahme chinesischer und indischer Kultur,
‚den Japaner selbst’ konstituiert hat.“
856
NKZ IX, S. 6.
857
NKZ IX, S. 7.
858
NKZ IX, S. 8. Zur Erklärung siehe Ishida (1997), S. 427. Es taucht Ishida zufolge erstmalig im Werk
Hasshûkôyô 八宗綱要 des Tôdaiji-Mönches Gyônen 凝然 (1240-1321) in der Kamakura-Zeit im Jahr
238
naiv werden biologische Homologien von Wal und Giraffe mit buddhistischen Lehren
und Hegelscher Logik zusammengebracht.
Um wieder zu seinen Kulturreflexionen aufzuschließen, stellt Nishida die Frage, ob es –
wie Goethe angenommen habe – eine ursprüngliche Lebensform und so auch (!) eine
ursprüngliche Kulturform, einen kulturellen „Archetyp“, eine „Urform“ (bunka genkei
文化原形) gebe.859 Die direkte Identifiaktion von Natur und Kultur nimmt Nishida
expressis verbis vor: „Wie beim Beispiel mit den Säugetieren gezeigt, gibt es, soweit es
eine menschliche Kultur (ningen no bunka 人間の文化) gibt, eine Urform. Die
einzelnen Kulturen können innerhalb dieser Urform verstanden und verglichen
werden.“860
Soweit zu Nishidas Preliminarien in NBM. Hiernach beginnt seine polemische
Absetzbewegung gegen die „einseitige“, Behauptung, dass die intellektuell-logische,
„westliche Kultur“ mit ihrem Anfang in der hellenischen Antike dieses kulturelle
„Urbild“ sei: „Aber sie (karera 彼等) (sic) denken, dass es nur eine kulturelle Urform
gibt.“861 Diese sei durch Jahrtausende währende Konflikte und Reibungen entstanden:
die westliche Kultur. Seine Problemstellung besteht in der Auffassung, dass die östliche
oder orientalische Kultur von „ihnen“ (den „westlichen“ Menschen) nur als
„unterentwickelte Stufe ihrer eigenen Kulturform“862 wahrgenommen werde. Sogar ein
herausragender Denker wie Hegel habe geglaubt, dass die Kultur des Ostens niemals die
Kultur des Westens erreichen könne. Anzunehmen ist, dass Nishidas Polemik sich in
erster
Linie
gegen
die
angeblichen
Vertreter
eines
solchen,
„eurozentristischen“ Weltbildes richtet. Nishida bringt sich nun politisch in Stellung,
indem er sich gegen die westliche Kultur stellt und sich selbst ausdrücklich mit der
östlichen Kultur identifizert. Das war in seinen bisherigen Werken kein Thema: selbst
im Werk Vom Wirkenden zum Sehenden (1927), in dessen Vorwort die „östliche
Kultur“ begrifflich in Differenzierungsabsicht zum negativ empfundenen
„Westen“ aufgegriffen wird, bezieht er sich noch emphatisch positiv auf
„westliche“ Denker wie Husserl und Hegel. Ungeachtet der Polemik gegen das
eurozentristiche Weltbild, will Nishida nicht etwa der Vorstellung entgegenwirken, es
gäbe überhaupt eine Urform und somit einen „wesenhaften“ Gehalt in der Kultur:
vielmehr geht es ihm darum, dieses Urbild in der östlichen Kultur ausfindig zu machen:
„Unnötig zu sagen, dass es die Besonderheit der östlichen Kultur ist, konsistent/aus
einem Guss (ikkan shita 一貫した) zu sein.“863 Damit habe die östliche Kultur der
westlichen bereits eine Sache voraus: Homogenität und Identität. Die europäische
Kultur habe sich erst aus „Konflikten“ und „Reibungen“ ergeben, sei keine „reine“,
ursprünglich identische Kultur. Konsequenterweise fordert Nishida im „Hintergrund der
östlichen Kultur“ eine spezifisch östliche Theorie (tôyôteki riron 東洋的理論), „die auf
die Wahrheit der Dinge gehe“864.
Hier findet ein zweites thematisches Umschwenken statt: verlagert wird die Diskussion
auf die angebliche Tatsache, dass in dieser geschichtlichen Situation (1940) die Welt
1268 auf, einer 2-bändigen Einführung in die Geschichte und Theorien der „acht Schulen“ (die sechs
Nara-Schulen sowie Jôdo- und Jôdo shin shû). Ebd.
859
Ebd.
860
Ebd.
861
NKZ IX, S. 9.
862
Ebd.
863
NKZ IX, S. 9.
864
NKZ IX, S. 9.
239
„konkret“ werde. Ausgehend von stark verkürzenden Geschichtsreflektionen, 865
behauptet Nishida in Anlehnung an Ranke, der ihm in Fragen der Geschichte seit dem
gleichnamigen Aufsatz von 1931 Stichwortgeber ist, früher habe das antike Rom die
Welt mit Waffengewalt vereinigt, heute vereinige England die Welt durch den freien
Handel – und es gäbe kein Land, das isoliert außerhalb des Weltgeschehens stehe. Ohne
Frage spielt Nishida auf den Krieg an, der zwar noch nicht das Ausmaß eines
Weltkrieges erreicht hat, aber mit seinen europäischen und asiatischen Schauplätzen die
Involviertheit verschiedenster Nationen in dieser einen „Weltbildung“ (sekai keisei
世 界 形 成 ) antizipiere. Vor diesem theoretischen Rahmen wendet Nishida seine
Philosophie der Dichotomien auf sein Konstrukt von „Welt“ und „Weltlichkeit“ an.
„Früher“, so Nishida, sei die Welt „horizontal“ (yoko ni narande iru 横に並んでいる)
und „räumlich“ gewesen, „heute“ werde sie „vertikal“ (tate no sekai 縦の世界) und
„zeitlich“. Und weiter: „Die bisherige Welt war abstrakt, aber heute ist die Welt
konkret.“866 Daraus spricht deutlich Nishidas Einschätzung der auf der Kippe zum
Weltkrieg stehenden Situation als positiv. Darüber hinaus seien auch die
(ultra)nationalistischen Agenden der einzelnen Völker schließlich eine positiv zu
wertende, weil gegen den Kosmopolitismus gerichtete Angelegenheit:
Die Rückkehr zu einem völkischen Nationalismus (minzokushugi 民族主義), der gegen den
kosmopolitischen Globalismus (sekaishugi 世界主義) einzelner Länder der heutigen Welt
gerichtet ist, ist der Grund, weshalb die Welt konkret wird, [...] ist der Grund, weshalb aus der
horizontalen eine vertikale Welt wird.867
Nishida ist dem Kosmopolitismus gegenüber zutiefst skeptisch, es sei denn in einer
„nationalistischen Wendung“, wie auch die folgende Formulierung aus Das Problem
der Entwicklung der Art (Shu no seisei hatten no mondai 種の生成発展の問題) (1937)
zeigt: „Deshalb erachte ich das Heute, das man am nationalistischsten findet, als die
kosmopolitischste (sekaishugiteki 世界主義的) Zeit. Nie war die Welt so wirklich wie
heute. Weil die Welt heute wirklich ist, muss jedes Land nationalistisch werden.“868
Bemerkenswert ist diese Aussage, weil sie nicht nur eine Koexistenz von Nationalismus
und Kosmopolitismus, sondern einen spezifisch japanischen (nationalistischen)
Kosmopolitismus hypostasiert. Im Japan der 1920er Jahre war die Wahrnehmung
Japans als im besonderen Sinne „kosmopolitisch“ vorherrschend, wie
Harootunian/Najita zeigen.869 Der offizielle Diskurs, der sich den kulturellen Einfluss
des „Westens“ und des „Ostens“ gleichermassen stolz auf die Fahnen schrieb, wurde im
Laufe der 30er Jahre zunehmend zur Frage, welchen eigenen Beitrag, welche „nationale
Essenz“ Japan damit aufweise. Die Antwort lautete: durch „alle“ Weltkulturen geprägt
und somit in besonderer Weise befähigt zu sein, den „Mikrokosmos“ der Welt zu
repräsentieren. In Richtung eines solchen Verständnisses des Kosmopolitismus spitzte
sich der Diskurs zu und wurde nationalistisch umgewertet. Nishida übernimmt dieses
Verständnis des Kosmopolitismus distanzlos. Ein nicht unwichtiger Nebeneffekt dieser
Umwertung war die Aufweichung des ursprünglich anti-nationalistischen Impetus des
865
„In der sich aus Meeren und Gebirgen herausdifferenzierenden östlichen Kultur gab es keine
gegenseitigen Negierungen wie in der westlichen Kultur.“ Ebd.
866
NKZ IX, S. 10.
867
Ebd.
868
NKZ VIII, S. 198.
869
Harootunian/Najita (1988), S. 208 ff.
240
Kosmopolitismus-Begriffs im bürgerlichen Sinne eines „Weltbürgertums“. Im Grunde
legte die japanische Debatte die „weltbürgerliche“ Konnotation des Begriffs ab und ließ
lediglich das Residuum des „Bürgerlichen“ zurück, allerdings in der Form eines
durchweg konservativen Elitarismus. Der Kosmopolitismus wurde zum Kulturalismus.
Harootunian und Najita bemerken zur Evolution des Kosmopolitismus-Begriffs in der
japanischen Intellektuellendebatte in den 20er und 30er Jahren:
Whereas an earlier [1920s, EL] cosmopolitanism promoted the ideal of cultural diversity and
equivalence based on the principle of a common humanity, which served also to restrain
excessive claims to exceptionalism, the new culturalism of the 1930s proposed that Japan was
appointed to lead the world to a higher level of cultural synthesis that surpassed Western
modernism itself.870
Wenn Nishida positiv vom Kosmopolitismus spricht, ist entsprechend ein solches Bild
gemeint, wie ich später noch in meiner Auseinandersetzung mit dem Argument, Nishida
vertrete einen „weltoffenen“ Kosmopolitismus, darlegen werde.
In der Hauptsache geht es Nishida hier zunächst um die Behauptung, dass japanische
Kultur, die er unter der Hand mit der „östlichen Kultur“ konfundiert, wie das folgende
Zitat zeigt, eine eigene „Seh- und Denkweise“ (mikata kangaekata 見方考え方) habe,
der klassische Topos des Kulturessentialismus und des späteren Nihonjinron 日本人論
(„Theorien über die Einzigartigkeit der Japaner“)871: „Gibt es auf dem Boden der
östlichen Kultur keine Logik? [...] Gibt es, wie viele Leute behaupten, nur das ‚Gefühl’
(jô 情)? Ich glaube auch, man kann nicht leugnen, dass die japanische Kultur eine
Kultur des Gefühls ist.“872. Die „eigene Seh- und Denkweise“ ist das Leitmotiv seiner
Begründung auch einer spezifisch östlichen Logik, die er von der „westlichen Logik“ zu
unterscheiden können glaubt: gleichzeitig gehört es zu Nishidas großer
Absetzbewegung gegen die angeblichen Tendenzen, der japanischen Logik ein
„irrationales“, rein auf das „Gefühl“ ausgerichtetes Spezifikum angedeihen zu lassen,
sie auf ein wissenschaftlich-objektives Fundament zu stellen zu wollen. Die zweierlei
Abgrenzungsversuche – zum Einen gegen das Vorurteil der „östlichen Logik“ als
„gefühlsmäßig“, zum Anderen gegen die „dinghafte Logik“ des Westens – werden nicht
durchgehalten. Nishida lässt sich letztlich auf die Zuschreibung intuitivirrationalistischer Spezifika ausschließlich auf die „östliche Logik“ ein.
Zur Begründung, dass nicht „alle“ Logik aus der klassischen europäischen Antike bei
den Griechen stammt, greift Nishida auch auf die kunstgeschichtlichen Betrachtungen
Alois Riegls zurück, die er allerdings, wie bereits eine oberflächliche Kenntnis Riegls
zeigt, stark verzerrt. Nishida versucht mit Riegl zu beweisen, dass die Kunst der
spätrömischen Antike sich kunstgeschichtlich nicht aus der klassischen Antike
entwickelt habe, um damit gemäß des Selbstbehauptungsdiskurses den Beweis
anzutreten, auch die Logik entstamme nicht oder zumindest nicht nur aus der
griechischen Antike. Unglücklicherweise behauptet Riegl in Die spätrömische
Kunstindustrie gerade das Gegenteil: wie in der Einleitung dargelegt, will er gerade
zeigen, dass bestimmte Ornamente aus der spätrömischen Kunst aus der antiken
hellenischen Kunst stammen, sowie dass sich insgesamt von einer Entwicklung der
870
Harootunian/Najita (1988), S. 208.
Siehe für eine kritische Behandlung dieser in den 1960er Jahren in Japan stark an Popularität
gewinnenden Theorien Peter Dale, The Myth of Japanese Uniqueness. Dale (1986).
872
NKZ IX, S. 10.
871
241
spätrömischen Kunst aus der „classisch-antiken“ Kunst Griechenlands sprechen lasse.873
Die Aufrufung Riegls als Kronzeugen in der Sache „östliche Logik“ gegen „griechische
Logik als Ursprung aller Logik“ funktioniert nicht – abgesehen von der Problematik des
Konfundierungsversuchs der Geschichte der Kunst mit der Geschichte der Logik.
Das „Gegen den Strom der westlichen Kultur-Schwimmen“ Nishidas hinkt, weil er sich
dabei auf die Diskussion kultureller Spezifika einlässt. Diese Methodik verunmöglicht
den an sich nicht tadelnswerten Vorstoß, die „Hegemonie“ eines bestimmten
Kultureinflusses zu brechen. Die Ebene der Behauptung, die östliche Kultur sei eine des
Gefühls, die westliche eine des Gegenstands oder der „Dinge“ (mono 物), die bereits im
ersten Teil von NBM kolportiert wird, verlässt Nishida nicht874, obwohl er seiner
Selbstaussage
zufolge
gerade
den
Beweis
der
objektiven
„Wissenschaftlichkeit“ östlicher Kultur anzutreten versucht. Die rhetorische und
theoretische Verquickung von Kultur, Wissenschaft, Logik und Biologie in ein
einheitliches, identifizierbare Essenz des „Ostens“ ist eine ideologische Fehlbildung.
Komplementär dazu muss die Zitation eines berühmten Textes des Mitô SchuleDichters und Politikers Fujita Tôko 藤 田 東 湖 (1806-1855), Der Geist der
Rechtschaffenheit (Seidaiki 正大気), am Schluss des ersten Teils von NBM gelesen
werden. Im Folgenden die Passage, aus der Nishida einen Teil zitiert (hier kursiv):
Der Geist der Rechtschaffenheit ist wie im Himmel, so auf der Erde (im Universum) vorhanden,
er ist aber nirgendwo so rein wie im Reich der Götter (Japan) (tenchi seidai ki, suizen to shite
shinshû ni atsumaru 天地正大気、粋然として神洲に鍾る). Seine Vortrefflichkeit ist am
hohen Berg Fuji zu sehen (hite ha fuji no take to nari 秀ては不二の岳となり). Und wie das
Wasser des Ozeans jeden Teil des Reiches umflutet, durchdringt auch der Geist der
Rechtschaffenheit seinen jeden Teil, so groß ist er. Seine Schönheit strahlt in der Kirschblüte
mit den zehntausend Blüten (hasshite ha banda no sakura to nari 発しては万朶の桜となる),
derer es keine andere auf der Welt gibt; seine Kraft ist das des hundert Mal geschlagenen
Schwertes, das den Helm des Feindes durchstoßen kann.875
Nishidas Impetus lässt sich schon im ersten Abschnitt von NBM (S. 3-12) als
Legitimationsversuch des militärischen Vorstoßes Japans in Asien verstehen. Vor
diesem Hintergrund – der Selbstverständigung und Legitimation der Rolle Japans auf
der Welt im Allgemeinen und in Asien im Besonderen– kann man Nishidas
Ausführungen, die durch den Begriff der „(absolut) widersprüchlichen
Selbstidentität“ einen logisch-objektiven Chrakter erhalten sollen, auch im Weiteren
verstehen.
Im zweiten Abschnitt (S. 13-24) gesellt sich seinen Referenzen aus der Welt der
Biologie die Physik hinzu. Der geschichtlichen Wirklichkeit (rekishiteki genjitsu 歴史
的 現 実 ) wird allerdings die Vorrangstellung zugesprochen: „Die Welt der
873
A. Riegl, Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn im
Zusammenhange mit der Gesammtentwicklung der Bildenden Künste bei den Mittelmeervölkern,
Österreichisches Archäologisches Institut (Hg.), Wien (1901), S. 4. Faksimile-Abdruck unter
http://diglit.ub.uni-heidelberg.de/diglit/riegl1901/0009 (Zugriff am 02.02.2010).
874
„Ist es so, wie die Leute sagen, dass [die östliche Kultur] nur auf dem Gefühl aufgebaut ist? Auch ich
kann nicht leugnen, dass die japanische Kultur eine Kultur des Gefühls ist. Ich habe die japanische Kultur
‚rhythmisch’ genannt. Aber weil wir auf die Wahrheit der Dinge gehen, sind wir wahrlich kreativ, und
leben im wahrsten Sinne.“ NKZ IX, S. 10.
875
Fujita Tôko Zenshû, Bd. III, S. 4-5. Fujita Tôko (1933).
242
physikalischen Realität ist in die Welt der geschichtlichen Realität eingefasst.“ 876
Nishida behauptet dabei eine objektive geschichtliche Realität, die in ihrem Anspruch
auf Objektivität den „exakten Wissenschaften“ in nichts nachsteht. Das logische Prinzip
der geschichtlichen Wirklichkeit sei dabei die „widersprüchliche Selbstidentität“.877
Dieses „Weltprinzip“ sei auch der Modus, in dem Zeit und Raum als feste physikalische
Größen existierten. Erstmalig führt Nishida die „Grunddialektik“ von Einem (ichi 一)
und Vielem (ta 多) ein, an der sich das Prinzip der widersprüchlichen Selbstidentität
orientiert. Nishida ordnet dem „Einen“ wie dem „Vielen“ dabei eine genau bestimmte
dichotomische Begriffssammlung zu: unter das „Eine“ fallen der Raum, das Subjekt,
der Körper, das Totale, die Welt, und unter das Viele fallen die Zeit, die Umwelt (im
Gegensatz zum Subjekt nicht das Objekt!), die (tierische bzw. pflanzliche) Zelle, das
Einzelne/Individuelle (kobutsu 個物) und die „Art“ (shu 種) (dazu später). Diese
dichotomischen Zuschreibungen (Subjekt-Umwelt/Totales und Einzelnes etc.) bilden
als widersprüchlich-selbstidentische Einheit Nishida zufolge die Selbstgestaltung der
geschichtlichen Welt oder ihren „Ausdrucksakt“ (hyôgen sayô 表現作用). So sagt auch
Lavelle: „For Nishida, the metaphysical foundation of politics is ‚the self-identity of
absolute contradictions’ [...]: one and multiple, whole and individual, future and past,
etc. This unity constitutes the ‚historical world’.“878 Wie Nishida allerdings zu diesen
Zuschreibungen kommt, ist alles andere als ersichtlich und muss unbegründet
hingenommen werden. Warum ausgerechnet die Zeit als „Vieles“ und der Raum als
„Eines“ hypostasiert werden, ist alles andere als „logisch“. Abgesehen von den
willkürlichen dichotomischen Zuschreibungen ist die logische Grundlage der
geschichtlichen Welt, die „(absolut) widersprüchliche Selbstidentität“ ebenfalls ein sehr
unklarer,weil vollkommen leerer und unbestimmter Begriff. Will Nishida damit mehr
als eine Harmonie von Gegensätzen konstatieren, mehr als eine Art „ausgleichendes
Prinzip“ behaupten, das die Geschichte strukturiere, muss er zeigen, inwiefern der
Widerspruch sich durchhält und zum „treibenden Motor“ einer Bewegung wird. Da
Nishida aber die sachliche Ebene begrifflich und ihrem Gehalt nach durchgehend
ausklammert, bleibt unbestimmt, wie Geschichte real in Erscheinung tritt. Es gibt in
Nishidas Welt nur Begriffe wie den der (absolut) widersprüchlichen Selbstidentität, der
durch die repetitiven Abfolgen zu Floskeln verkommen, die man ebensogut weglassen
kann, ohne die Bedeutung zu verändern. Hier sollen einige Belegstellen genügen:
Die Welt der widersprüchlichen Selbstidentität von Zeit und Raum ist die Welt der
widersprüchlichen Selbstidentität von Einem und Vielen [...] die gegenseitige Ergänzung von
Zeit und Raum hat die Bedeutung der widersprüchlichen Selbstidentität der Welt [...], dass diese
Welt sich widersprüchlich-selbstidentisch bewegt, ist ein physikalisches Gesetz [...]879
Als das einzelne Viele der absolut widersprüchlich selbstidentischen Welt sind wir freiheitlichwillentlich [...]880
Die Welt der geschichtlichen Wirklichkeit ist als Welt, die sich stets selbstwidersprüchlich
fortbewegt, die Welt, in der als widersprüchliche Selbstidentität von totalem Einen und
876
NKZ IX, S. 14.
„Die geschichtliche Wirklichkeit ist stets widersprüchlich-selbstidentisch.“ NKZ IX, S. 20.
878
Lavelle (1994) , S. 146.
879
NKZ IX, S. 16.
880
NKZ IX, S. 18.
877
243
einzelnem Vielen das Subjekt die Umwelt bildet und die Umwelt das Subjekt und vom
Geschaffenen zum Schaffenden geht.881
Wenn die Welt als widersprüchliche Selbstidentität von einzelnem Vielen und totalem Einen
sich auf das Leben ausrichtet (seimeiteki de aru 生命的である), dann wird das Individuum
körperlich.882
Rolf Elberfelds Interpretation des Begriffs der widersprüchlichen Selbstidentität,
derzufolge Nishida diesen Begriff „ab den 30er Jahren“ benutzt habe, „um das
dialektische Verhältnis von Identität und Differenz, Allgemeinem und Einzelnem zum
Ausdruck zu bringen“, wobei „weder die Identität bzw. das Allgemeine einen Vorrang
über die Differenz bzw. das Einzelne“ habe, noch das „umgekehrte Verhältnis einen
Vorrang besitze“ 883 , ist im besten Falle tautologisch oder selbstaufhebend, im
schlimmsten Falle vollkommen aussage- und bedeutungslos. Allerdings muss das als
der springende Punkt der gesamten Identitätslogik Nishidas gewertet werden: wo keine
Differenz denkbar ist, ist auch keine Bedeutung. Das zeigt sich umso drastischer dort,
wo Nishida sein Mantra von der widersprüchlichen Selbstidentität abspielt, ohne eine
Begriffsbestimmung vorzunehmen. Darin ist er jedoch paradoxerweise konsequent: eine
Begriffsbestimmung würde das Denken von Differenz voraussetzen. Ich möchte den
Begriff der Indifferenz dennoch innerhalb einer anderen Fragestellung, der von Religion
und Moral, im Rahmen der Diskussion von Hin zu einer Religionsphilosophie mit der
Idee der prästabilierten Harmonie als Leitfaden noch einmal problematisieren, weil
meines Erachtens hier das Selbstgleichheits-Denken zu seiner Vollendung kommt.
Der Subsumtionszwang, der die Nishidasche Phänomenologie des Selbstbewusstseins
begleitet, überträgt seinen Mechanismus konsequent auf das tentativ Geschichtliche und
die kulturelle Welt. Das Heterogene kann auch hier letztlich nur unter der Kategorie
eines Selbstidentischen verstanden werden; Nishidas Beteuerungen des Widerspruchs
sind lediglich Konstrukte, sich noch einmal der Vereinnahmungsleistung des
Selbstbewusstseins, das in genialer Abstraktionsleistung und bewusstloser Hypostase
mit der „ostasiatischen Kultur“ bzw. Japan identifiziert wird, zu versichern.
Ein weiterer neuer Begriff tritt hier auf: der der Determination, der von Nishida
emphatisch positiv gewertet wird: „Als absolut widersprüchliche Selbstidentität von
Einem und Vielen ist das Seiende (aru mono 有るもの) als Selbstbestimmung des
absoluten Einen total-einheitlich determiniert (zentaiteki ichitekini ketteiteki
denakerebanaranai 全体的一的に決定的でなければならない).“884 Die Verwendung
von „absolut“ ist zudem ein Hinweis auf die besondere Dignität des
Determinationsbegriffs. Gleichzeitig versucht Nishida, diese Vorstellung von
historischer Determination gegen die „einseitige“ mechanistische bzw. teleologische
Weltsicht in Stellung zu bringen. Dazu führt er den Begriff der Poiesis (poeshisu ポイ
エシス) ein885, den er im weiten Sinne als „geschichtliche Handlung“ (rekishiteki kôi
歴史的行為) versteht. Die Fähigkeit einer bestimmten Entität – eines Individuums oder
881
NKZ IX, S. 32.
NKZ IX, S. 33.
883
Elberfeld (1999a), S. 308.
884
NKZ IX, S. 17.
885
NKZ IX, S. 23. Der Poeisis-Begriff wird zwar bereits auf S. 18 verwendet, hier führt er ihn aber
erstmalig systematisch ein und versucht Bedenken gegen die griechische Herkunft des Wortes zu
zerstreuen: „Ich verwende zwar einen griechischen Begriff, meine aber damit [nur] das Herstellen von
Dingen (mono wo tsukuru koto 物を作ること).“
882
244
eines Staates – bei historischer Determination (als widersprüchliche Selbstidentität von
Einem und Vielen) dennoch ein schöpferisches, kreatives, „poiesis“-haftes Moment zu
entwickeln, ist nur oberflächlich gesehen ein Gegensatz, wenn Nishida selbst auch nicht
auf diesen eingeht, ihn vielleicht nicht bemerkt. Hegelianisch gesprochen: die
bestimmte Entität ist dazu bestimmt, „schöpferisch-gestaltend“ zu sein. Nishidas
Hauptthema – die Frage nach der Selbstgestaltung der geschichtlichen Welt und der
Rolle Japans dabei – lässt sich darauf zurückblenden. Es komme Japan gerade aufgrund
seiner bestimmten historischen Bestimmung (gentei 限定) und Bestimmtheit (kettei
決定) (Determination) als „Gestaltetes/Geschaffenes (tsukurareta mono 作られたもの)
das Privileg zu, zum „Gestalter“ (tsukuru mono 作るもの) zu werden. Nichts anderes
will seine Rede von Poiesis sowie die feststehende Formel „vom Geschaffenen zum
Schaffenden“ sagen, die Elberfeld auch diesmal identitätslogisch entschärft: „Mit dieser
stehenden Formel bringt Nishida den Gedanken zum Ausdruck, daß jedes Moment in
einem Gestaltungszusammenhang immer zugleich Geschaffenes und Schaffendes ist.
Alles wird gestaltet und zugleich gestaltet jedes Einzelne durch seinen Ausdruck auch
das Ganze.“886 Er vergisst zu erwähnen, dass dieses mysteriöse Einzelne nichts anderes
als Japan bzw. das Kaiserhaus ist, das er direkt auf die Formel „vom Geschaffenen zum
Schaffenden“ anwendet:
Wenn wir die Spuren unserer Landeskultur zurückverfolgen, in der sich das verschiedenen
Entwicklungen unterworfene Kaiserhaus seit tausenden von Jahren als Zentrum durchgehalten
hat, sehen wir dann nicht stets das Schaffende, das als widersprüchliche Selbstidentität von
totalem Einen und einzelnen Vielen „vom Geschaffenen zum Schaffenden“ existierte?887
Zusätzlich kommt die Formel „vom Geschaffenen zum Schaffenden“ auch erst im
Rahmen seiner im präzisen Sinne politischen Philosphie im Kontext des Osten-WestenGegensatzes auf. Nishidas ideologische Operation besteht auch hier darin, das Prinzip
für real und alle Erscheinungen der Wirklichkeit zu seinem Ausdruck zu erklären. In der
Formel vom Geschaffenen zum Schaffenden sieht er eine ontologische Konstante, ein
„Faktum“ (jijitsu 事 実 ), nach dem die Wirklichkeit sich stets „richte“. Seine
methodische Anstrengung, biologische und physikalische Begrifflichkeiten in seine
Geschichtsreflexion einzubinden, weist zudem auf eine naturalistische Verkürzung hin,
was im Folgenden zu thematisieren ist.
2.2.
Die Naturalisierung der symbolischen Ordnung – Der biologische Begriff
der „Art/Spezies“ (shu 種) als Geschichtsparadigma
In diesem Abschnitt soll es um den Begriff der „Art“ gehen, den Nishida hier, wie
bereits in seinem Aufsatz von 1937, Das Problem der Entfaltung der Art888, wiederholt
stark in den Vordergrund rückt. Nishida hat diesen Begriff offensichtlich von Tanabe
übernommen, der seit 1934 über das Problem der Vermittlung von Einzelnem und
886
Elberfeld (1999a), S. 307.
NKZ IX, S. 48. Dazu noch einmal in V.2.2.
888
In NKZ VIII, S. 183-215.
887
245
Allgemeinem nachdachte und ihn im Art-Begriff ausfindig gemacht zu haben
glaubte.889
Das Interesse Tanabes bestand zunächst in der Klärung der Spannung zwischen
Individuum und Totalität (der Gesellschaft), ohne das Prinzip einer ausgleichenden
Harmonie zu bemühen. Die einfache dualistische Gegenüberstellung von Besonderem
und Allgemeinem könne, so Tanabe, „die [...] Beziehungen zwischen den Gruppen der
Individuen, die sich streiten und zugleich der totalen Ordnung widerstehen können, und
der spezifischen Gesellschaft, die sich durch das solchen Individuen gemeinsame
spezifische Prinzip der Verbindung bildet, nicht erfassen.“ 890 Abgesehen vom
problematischen Reflex, dieses spezifische Prinzip mit der dieses Verhältnis
biologisierenden bzw. naturalisierenden „Art“ gleichzusetzen, ist das Programm
Tanabes weitaus besser durchdacht als Nishidas Versuch, die „Art“ als
harmonisierendes Bindeglied zwischen Individuum und Gesellschaft zu bestimmen,
zumal die Möglichkeit, als Individuum „der totalen Ordnung widerstehen [zu] können“,
an keiner Stelle von Nishida auch nur angedacht wird. Im Gegenteil erweist sich
Nishidas Harmoniedenken als theoretisches Gerüst unmittelbarer Unterwerfung unter
die „naturgesetzliche“ Sozialität der Art. In der Schrift über die „Entfaltung der
Art“ findet sich bereits der Kern seiner in NBM wieder aufgegriffenen Vorstellung
einer determinierten Wirklichkeit:
Während die Wirklichkeit bis ins Letzte determiniert ist, enthält sie in sich die Selbstverneinung,
die Selbstüberwindung, und geht von Wirklichkeit zu Wirklichkeit - hier ist sie geschichtlich.
Das heißt, die Art behauptet sich auf ihrem eigenen Standpunkt, und verschiedene Arten stehen
891
sich in derselben Umwelt gegenüber und kämpfen miteinander.
Die sozialdarwinistische Komponente des „Kampfes“ wird von Nishida in NBM wieder
bemüht – dazu gleich mehr. Insgesamt lässt sich festhalten, dass der Begriff der Art
ursprünglich aus Tanabes Jargon stammt, wobei Nishida jedoch die logische Dimension,
für die Tanabe ihn zunächst verwendet hatte, außer acht lässt und ihn mit seinem
historischen „schöpferischen Determinismus“ direkt auf die menschliche-biologische
Dimension, das nackte „Leben“ anwendet: „Die widersprüchlich-selbstidentische Welt
ist die Welt des Lebens unzähliger Arten. Die Art“, so Nishida in NBM, „ist das
Paradigma unseres Verhaltens.“892
889
Siehe Kobayashi (2002), S. 120. Für Tanabe blieb der Vermittlungsgedanke jedoch kein rein logischdialektisches oder mathematisches Problem. Er konkretisierte ihn in Bezug auf Staat und Gesellschaft und
allgemeiner auf das Soziale in seiner Schrift Die Logik der gesellschaftlichen Existenz (Shakai sonzai no
ronri 社会存在の論理). THZ VI, S. 51-168. Hier heißt es: „Die Logik der gesellschaftlichen Existenz,
über die man heute so oft diskutiert, muss noch konkreter zur Logik der Art werden. Sowohl der Staat als
auch das Volk und die Klasse befinden sich gegenüber der Totalität der Menschheit und der Individualität
des Individuums alle auf der Ebene der Art, bzw. sie tragen diese Art als ihr Vermittlungselement in
sich.“ THZ VI, S. 60. In seinem Hauptwerk, Die Dialektik der Art-Logik (Shu no ronri no benshôhô 種の
論 理 の 弁 証 法 ) (1947), vervollständigt Tanabe diese Naturalisierungstheorie des Sozialen. Die
Anwendung biologischer Termini auf das Historisch-Soziale wurde unter den Philosophen der MeijiAufklärung bis weit ins 20. Jahrhundert diskutiert und blieb nicht nur Thema unter nur konservativen
Denkern, sondern synthetisierte sich mit einer bestimmten Form der „nationalen Revolution“ bei
rechtsradikalen Intellektuellen wie Kita Ikki 北一輝 (1883-1937) zu einem „spezifisch japanischen
Sozialdarwinismus“, wie Kobayashi meint. Kobayashi (2002), S. 121.
890
THZ VI, S. 58. Tanabe kritisiert ein solches Verhältnis als „abstrakt“.
891
NKZ VIII, S. 198.
892
NKZ IX, S. 28.
246
Im dritten Abschnitt von NBM (S. 24-36) nimmt die Naturalisierung bestimmter
sozialhistorischer Gebilde – des Staates Japan – eine neue Qualität an. Das
„widersprüchlich-selbstidentische“ Verhältnis von Einem und Vielen dient nun der
bewussten Vermischung bzw. Identifikation von (zell-)biologischen Überlegungen und
Überlegungen zur geschichtlichen Welt. So wie Nishida zufolge die Zellen als
individuelles „Vieles“ im gegenseitigen Wirken und Negieren das „Eine“, den Körper,
bilden, so bilde auch die „Art“ bzw. der „(Volks-)Körper“ die geschichtliche Welt:
„Wenn wir das Problem von Körper und Zelle durchdringen, stoßen wir auf das
Problem von Subjekt und Umwelt.“893 Oder: „Wenn sich der geschichtliche Raum auf
die geschichtliche Zeit verkleinert, d.h. die Welt zur auf die Art ausgerichteten Form
wird, sind die Dinge nicht mehr einfach physikalisch-chemisch, sondern zellen-aktiv
(saibô sayô teki 細胞作用的).“894 Den Zusammenhang von totalem Einen, einzelnen
Vielen, Zeit, Raum, Geschichte und Art versucht Nishida folgendermaßen zu
verdeutlichen:
Als widersprüchliche Selbstidentität von totalem Einen und einzelnem Vielen ist das auf die Art
ausgerichtete Leben (shuteki seimei 種的生命) der geschichtlichen Welt stets zeitlich und stets
räumlich [...]895
Das „auf die Art ausgerichtete Leben der geschichtlichen Welt“ ist Nishidas Paradigma
des Modus des Geschichtlichen. Konsequenterweise spricht er fortwährend von der
„geschichtlichen Art“ (rekishiteki shu 歴史的種)896 und auch vom „geschichtlichen
Körper“ (rekishiteki shintai 歴史的身体). Das Motiv des Körpers wird innerhalb des
sozialdarwinistischen Motivs des Kampfes kontextualisiert: „So wie die geschichtliche
Welt körperlich ist, ist die geschichtliche Welt die des Kampfes. Das Einzelne (kobutsu
個物) subjektiviert die Umwelt subjektivistisch, und dieses Faktum ist ein unendlicher
Kampf (mugen no tôsô 無限の闘争), der Selbstwiderspruch. Das Leben ist im Grunde
dieser Entstehung selbstwidersprüchlich. Darum enthält es den Tod in sich.“897 Wenn
einzelne Individuen sich gegenüberstehen, um in den Kampf miteinander einzutreten –
schließlich die Realisierung des Prinzips widersprüchlicher Identität – dürften sie sich
jedoch nicht von der Art absondern, die Art negieren, denn das sei „der Tod des
Einzelnen.“898 Im Gegenteil: aus der Besinnung auf die Art werde ein neuer Mensch
geboren. Folgende Textstelle dürfte das Verhältnis von geschichtlicher Spezies und
„Kampf“ auf den Punkt bringen:
Art und Art gehen keine direkte Verbindung ein. Zwischen ihnen gibt es stets (izuko mademo
何処までも) nur den Kampf. Als Art der geschichtlichen Welt gehen Art und Art produktivaktiv vom Geschaffenen zum Schaffenden, ja, sie werden im Kulturakt (bunkasayôteki ni 文化
作用的に) zu einer [Art] [...] Die geschichtliche Welt als widersprüchliche Selbstidentität ist
stets eine Welt, in der Art und Art sich konfrontieren und miteinander in Konflikt geraten, eine
Welt des Kampfes. Dort ist ein [...] geschichtlicher Produktionsstil gleichzeitig als eine
Kulturform determiniert. Der Kampf in der Geschichte ist ein Leiden für die Entwicklung zur
893
NKZ IX, S. 26.
NKZ IX, S. 31.
895
NKZ IX, S. 29.
896
NKZ IX, S. 39.
897
NKZ IX, S. 33.
898
NKZ IX, S. 29.
894
247
neuen Welt. Der Fortschritt der Geschichte ist tragisch. Dort muss ein neuer Mensch geboren
werden. Aus dem Altertum wurde der Mensch des Altertums geformt, aus dem Mittelalter der
Mensch des Mittelalters, aus der Renaissance des Mensch der Renaissance. Im Osten muss die
Form des östlichen Menschen entstehen. Aus dem Kampf der heutigen Welt entsteht der neue
Mensch.899
Es ist bezeichnend, dass diese Stelle in der deutschsprachigen Nishida-Rezeption –
Kobayashi bildet eine Ausnahme – nicht berücksichtigt wird. Die Möglichkeit, ein nicht
in sich gegenseitg subsumierenden Gegensätzen – wie Leben und Tod, Subjekt und
Umwelt, Individuum und Totalität – gedachtes Einzelnes zu konstituieren, ist hier nicht
gegeben. Sogar der „Kampf“ wird als synthetisierend harmonischer Ausgleich der
Gegensätze verstanden und als biologisch-historische Konstante ontologisiert. Die
Bestimmungen lösen sich in identitätslogischer „Dialektik“ auf.
In Abschnitt 4 (S. 36-42) lässt sich eine Konkretisierung der Problemstellung erkennen:
thematisch rücken „Praxis“ und „Poiesis“, die „geschichtliche Art“ und die
„Selbstgestaltung“ der geschichtlichen Welt stärker in den Vordergrund – letztere ist
auch ein Hinweis darauf, dass keine andere, „fremde“ Kultur zu ihrer Vermittlung
benötigt wird: die „Welt“ bestimme sich selbst. Des Weiteren werden stärker die
Substantive „Staat“/“Nation“ und in dem Zusammenhang „moralisches Subjekt“,
„Volk“ (minzoku 民族), „Boden“ (tochi 土地), „Politik“, „Technik“, „Wirtschaft“ und
eine erste Definition der „Kultur“ bemüht. Mit der Einführung des Begriffs der
Vernunft wird es für Nishida zunehmend schwieriger, alle terminologischen
Festlegungen in eine sinnvolle Beziehung zu bringen: „Die Vernunft ist stets
geschichtliche Vernunft. Unser Leben geht nicht einfach vom Geschaffenen zum
Geschaffenen, sondern weil es als die Bewegung vom Geschaffenen zum Schaffenden
absolut widersprüchlich-selbstidentische Welt individuell ist, sind auch wir vernünftig
(riseiteki 理性的) (wir sind tätig [kôiteki 行為的]).“900 Die einführende Verwendung
des Begriffs des „Volkes“ allerdings konkretisiert seine geschichtsphilosphischen
Reflexionen: so bewohne ein bestimmtes Volk ein bestimmtes Land/einen bestimmten
Boden, besitze eine Technik, die als Synthese zwischen Mensch und Natur, Subjekt und
Objekt fungiere, und sei gleichzeitig ein geschichtliches Subjekt. Ein Volk müsse
allerdings nicht „aus einem Blute“901 sein, so Nishida. Dieser Hinweis ist konsequent,
da Nishida keine Blut-und-Boden oder „Schollen“-Ideologie vertritt, da sie seinem
seinem elitaristischen Gestus nicht entspricht. Schließlich stelle sich die Identität eines
Volkes vielmehr über die Kultur und die Geschichte anstatt über das „Blut“ her.
Andererseits schließt diese Haltung die Tendenz zum Sendungsbewusstsein nicht aus.
Hier sagt Nishida auch , der Staat sei ein „moralisches Subjekt.“902 Dafür spreche, dass
die „Politik“ – die „Technik“, durch die die Gesellschaft zusammengehalten werde903 –,
auch die umliegenden Völker des geschichtlichen Subjekts in sich umfassen sollte. Die
Politik des geschichtlichen Subjekts sei also wesentlich Außenpolitik: „Dass das
geschichtliche Subjekt umwelthaft wird, bedeutet, dass es die Beziehungen der
umliegenden/angrenzenden Völker (shûi no minzoku 周囲の民族) unter sich fasst. Alle
politisch-geographischen Dinge müssen darin [im geschichtlichen Subjekt] enthalten
899
NKZ IX, S. 47.
NKZ IX, S. 40.
901
NKZ IX, S. 41.
902
NKZ IX, S. 42.
903
NKZ IX, S. 43.
900
248
sein.“904 Daraus entstehe dann die „neue Form“, der „neue Mensch“, die „neue Art“, die
„neue Welt“. Hieraus spricht ein überzeugter Optimismus Nishidas in Bezug auf die
weltpolitische Situation.
Der Kulturbegriff in NBM wird nun näher bestimmt. „Kultur“, so Nishida, „ist als Art
der absolut widersprüchlich selbstidentischen Welt die auf die Art ausgerichtete Form
der Selbstgestaltung, d.h. die Gestaltung des Menschen.“905 Als Selbstgestaltung (jiko
keisei 自己形成) bedürfe sie keines Anreizes von außen. Die Kultur Griechenlands
wird von Nishida wieder als beispielhaft angeführt. Der Begriff der Zivilisation wird
hier jedoch im Kontext des Angriffs auf die „naturwissenschaftliche Moderne“ in
Anschlag gebracht und mit „Kultur“ und „Gesellschaft“ kontrastiert. Schließlich solle
die Eins-Werdung aller Kulturen angestrebt werden: dieses ginge allerdings nicht
kampflos.
Insgesamt schließe ich mich dem Urteil Kobayashis an, demzufolge in NBM „mit einer
eigentümlichen Kombination von Marx und Platon ein unglaublich vereinfachtes
Schema der Gleichsetzung von ‚Art=Körper=Gesellschaft=Staat“ geschaffen“ werde,
„das dann mit einer äußerst fragwürdigen sozialdarwinistischen Idee verknüpft wird.“906
2.3.
Die realpolitische Dimension der Philosophie als philosophische Dimension
der Realpolitik – und umgekehrt: Nishidas Legitimation des Tennôismus
Wie das Verhältnis von Intention und Explikation in Nishidas früheren Schriften zu
beurteilen ist, habe ich in den Ausführungen zum Ideologiebegriff in Kapitel IV zu
zeigen versucht. Es erscheint mir wichtig, das Verdinglichungs- oder
Substantialisierungsphänomen als strukturelles Symptom des hyperidealistischen
Ansatzes Nishidas zu begreifen. In der Diskussion des Kulturformen-Aufsatzes konnte
bereits gezeigt werden, wie die begriffliche Verkürzung von der Kultur auf
„Kulturen“ (des Ostens und des Westens) zu einer Verdinglichung von Kultur führt:
nicht etwa führt die Kategorisierung von „Kulturen“ unter Begriffe wie Sein und Nichts
zu ihrer metaphysischen Absolution, wie Nishida erhofft hatte, sondern sie werden zu
substantiellen Einheiten erklärt, die als verdinglichte Entitäten leichter gegeneinander
abzugenzen und auszuspielen sind.
Nishidas politisches Bekenntnis ist, wie Lavelle dargelegt hat, das zum
kulturnationalistischen (shintôistischen) Tennôismus. Das Kaiserhaus ist der Dreh- und
Angelpunkt seines Legitimationsversuchs, wie bereits Kobayashi 1996 feststellt.907 Wie
oben bereits erwähnt, ging es Nishida in NBM in erster Linie darum, dem Begriff des
Kaiserhauses eine inhaltlich-begriffliche und „wissenschaftliche“ Grundlage zu geben.
Nishida
will
dabei
nicht
nur
seiner
eigenen
Philosophie
eine
„realgeschichtliche“ Entsprechung angedeihen lassen, sondern auch der Tennôideologie
eine philosophische, auf begrifflicher Logik begründete Entsprechung geben. Was er
dabei tut, lässt sich in einem Wort als Rationalisierung der imperialistischen
904
NKZ XI, S. 44.
NKZ IX, S. 45.
906
Kobayashi (2002), S. 155.
907
Siehe Kobayashi (1996), S. 975 ff. Kobayashi problematisiert die philosophische Legitimierung
speziell des Tennôismus, den er als zentral für Nishidas reifes Werk sieht.
905
249
Tennôdoktrin bezeichnen. Sie verlangt entsprechend eine Erklärung, die über die
bisherigen Erklärungsversuche der Legitimierung des Tennôismus hinausgeht.
Dem Gefühl muss als Gefühl Respekt gezollt werden. Aber wenn die Überzeugung (shin’nen
信念) zum Standpunkt unserer Handlung wird, muss der begriffliche Inhalt hinzukommen [...]
Sie [die Überzeugung] muss Objektivität besitzen. Wenn wir die Spuren unserer Landeskultur
zurückverfolgen, in der sich das verschiedenen Entwicklungen unterworfene Kaiserhaus seit
tausenden von Jahren als Zentrum durchgehalten hat, sehen wir dann nicht stets das Schaffende,
das als widersprüchliche Selbstidentität von totalem Einen und einzelnen Vielen „vom
Geschaffenen zum Schaffenden“ existierte?908
Die begrifflich-objektive Entsprechung des Kaiserhauses reduziert sich auf die
stehenden Formeln vom Geschaffenen zum Schaffenden und der widersprüchlichen
Selbstidentität. Die Entität „Kaiserhaus“ erhält so eine besondere philosophische
Legitimation innerhalb der Nishida-Philosophie. Die Philosophie der widersprüchlichen
Identitäten Nishidas ist bei der Realpolitik und der Geschichte angekommen. Die
sachliche Leere seiner Formeln eignet sich gleichzeitig als ideales Gefäß, um darin alle
feststehenden propagandistischen Schlagworte des japanischen Tennôismus zu
umfassen und den Eindruck einer konkreten „begrifflichen Bestimmung“ zu suggerieren.
Dazu gehören in Abschnitt 5 (S. 47-60): 1. das Bansei Ikkei (das Schlagwort von der
ununterbrochenen Thronfolge seit Generationen) 2. das Hakkô Ichiu (das Schlagwort
von „aller Welt unter einem – japanischen – Dach“, bzw. „acht Ecken, ein Dach“) 3.
Der „Aufbau Ostasiens“, ein Vorläuferbegriff der „Wohlstandssphäre“, 3. der Kokutai
(der „japanische Volkskörper“ und in der Übersetzung Krachts die „Gestalt der
Nation“) 4. der „Familienstaat“, der „öffentlich-kaiserliche Ort“, sowie die
Identifikation von Japan mit der „Welt“, Japan als Vorbild für den „Westen“, der direkt
in den Selbstbehauptungsdiskurs eingebettete Kulturvergleich mit China, der
antimodernistische Reflex gegen „westliche Wissenschaft“ und ein exzessiver
Selbstorientalismus durch Selbstzuschreibung bestimmter kultureller Essentialismen (so
z.B. der Haiku-Gedichte als „typisch ‚japanerhafte’ (nihonjinteki 日本人的)“ Sicht auf
das Leben). Dabei ist es entscheidend, Nishidas Impetus, bzw. seine Intention als ein
Vorhaben zu verstehen, das seiner Ausformulierung konträr zuwiderläuft: er will den
„gefühlsmäßigen“, „bloßen Vorstellungen“ von Japan, d.h. der Idealisierung und
Romantisierung der Vorstellung von Japan, zwar seinem Vorhaben nach eine „objektive
Geschichtsphilosphie“ entgegenstellen, verlässt sich in seiner Explikation dabei aber
genau auf diejenigen Begriffe, die bereits durch die offizielle Propaganda kolportiert
werden, und überschreitet den Bannkreis des „Ost-West“-Denkens nicht. Mit
drastischen Konsequenzen: die Propaganda wird in seine Philosophie eingebettet und
zeitigt so das Unglück, das die Nishida-Philosphie verfolgt – ihre Verkümmerung als
blasses philosophisches Werkzeug in einem Krieg, der auch um Begriffe geführt wird.
Um diese These zu plausibilisieren, möchte ich zunächst auf die Ausformulierung
seiner geschichtsphilosophisch rationalisierten Tennôverehrung in NBM, Abschnitt 5,
eingehen.
Wohl eine der berühmtesten Textstellen aus NBM dürfte seine Vorstellung des
Kaiserhauses als „Sein des Nichts“ sein, die in einer stark simplifizierenden, auf die
Tennôherrschaft zugeschnittenen Geschichtsbetrachtung eingebettet ist:
908
NKZ IX, S. 48.
250
In der Geschichte unseres Landes war in allen Epochen stets (izuko mademo 何処までも) das
Kaiserhaus im Hintergrund der Gesellschaft. Der Genpei 源平-Krieg war vielleicht nur ein
subjektiver Kampf unter Clans/Familien. Aber auch Yoritomo stand unter dem Befehl des
Mochihito-ô 以仁王 (1151-1180) [des Tennô, der Minamoto no Yoritomo 源頼朝 (1147-1199)
zum Shôgun ernannte, EL]. Die ausgeprägteste Form des Kaiserhauses war die Zeit der
Ashikaga 足利. Aber Môri Motonari [毛利元就,Feldherr zur Zeit der Sengoku (1497-1571)
EL] hat auch den Tennô um Erlaubnis ersucht, Sue Harukata 陶晴賢 (1521-1555) anzugreifen.
In der Geschichte unseres Landes war das Kaiserhaus durch und durch das Sein des Nichts, die
widersprüchliche Selbstidentität. Sie ist die übertragene, vom Kaiser gewährte Verfassung des
Meiji 明治. In unserem Land bedeutete Restauration (fukko 復古) immer Erneuerung (ishin
維新). Die Rückkehr in die Vergangenheit ist keine bloße Rückkehr in die Vergangenheit,
sondern ein Schritt vorwärts als Selbstbestimmung des ewigen Jetzt. Das Subjekt bestimmt die
Umwelt, die Umwelt bestimmt das Subjekt. In der Bildung einer Welt muss es Subjekte geben,
die sich ihrer je eigenen Umwelt anpassen [...] Unser Land stets zum Kaiserhaus zurück, ist eine
ständige Restauration.909
Aus diesen Zeilen spricht neben einer typisch meiji-zeitlichen Tennôverehrung auch der
naive „naturalistische“ Glaube, die japanische Geschichte habe zu jedem Zeitpunkt oder
im „ewigen Jetzt“ das Kaiserhaus als identitätsstiftende Substanz zum Telos. Nishidas
Vorstellung, dass was ist auch sein solle, ist das Symptom seines Legitimationsdenkens,
in dessen Zentrum die shintôistische Tennôideologie steht, deren Mythos er einfach
reproduziert. Die intendierte Verhinderung exklusiver binärer Zuschreibungen auf den
„Osten“ und den „Westen“, die Nishida mit Hilfe der „Konzeptualisierung“ des
Kaiserwegs (kôdô 皇道) zu unternehmen versucht, scheitert, weil er sich nicht von den
konzeptuellen, und das heißt auch immer: sachlichen, Vorgaben der offiziellen Ideologie
lösen kann. Im Gegenteil wirkt die Aufwertung des Kaiserhauses als metaphyische
Größe, eingefasst in die Nishida-typischen Begrifflichkeiten, als nicht nur rhetorischer
Trick, derselben eine „konkrete“ Bedeutung zu geben.
Was für eine Funktion haben die konträren Begriffspaare des Nishida-Jargons nun
innerhalb seiner Tennô- und Geschichtsmetaphysik? Die binären Dichotomien von
Nichts und Sein, Subjekt und Umwelt, Zeit und Raum, Osten und Westen, sowie des
„ewigen Jetzt“ als Zusammenfallen von Vergangenheit und Zukunft, koexistieren nur
scheinbar in ausgleichender Harmonie nebeneinander und deuten im Gegenteil auf die
latente Bevorzugung jeweils einer der beiden Bestimmungen hin. In einigen Passagen
verrät Nishida dann auch seine Tendenz zu jeweils einer der beiden Bestimmungen,
wenn er diese Tendenz auch an keiner Stelle thematisiert – so seine Tendenz zu von
ihm als kulturspezifisch „östlich“ bestimmten Zeit gegenüber dem „westlichen“ Raum,
die Tendenz zum von ihm als ebenfalls „östlich“ bestimmten Nichts gegenüber dem
„Sein“ des Westens, wie man sie bereits aus dem Kulturformen-Text kennt. Masao
Abes Behauptung, „[w]hat Nishida sees as best in the Japanese tradition is something
which unites it to the West, rather than setting it apart“910 lässt sich nicht mit seinen das
japanische Kokutai als „einziges wahres“ Kokutai 911 behauptenden Bemerkungen
vereinbaren und ist schlicht verzerrend.
909
NKZ IX, S. 48-49.
In Tsunoda et al (Hg.) (1958), S. 351.
911
NKZ XII (1966), S. 410 und S. 415.
910
251
Ueno Chizuko 上野千鶴子 hat in ihrer feministischen Kritik der Naturalisierung
kultureller und sozialer Kodeci, in erster Linie des Maskulinen, darauf hingewiesen,
dass die binären Oppositionen stets von der stillschweigenden Tendenz der
Bevorzugung einer der beiden Pole begleitet werden, z.B. des Maskulinen über das
Feminine. Sie stellt dabei fest, dass der benachteiligte Terminus zur „residuellen
Kategorie“ verkümmert.912 Ebenso verhält es sich bei Nishida: nach außen hin deuten
seine als Gegensatzpaar stilisierten Begriffe („Raum und Zeit“, „Sein und
Nichts“ „Subjekt und Umwelt“) auf friedliche Koexistenz, nach innen wird deutlich,
dass das Zusammenfallen der zwei Begriffe nicht in einem dritten, sondern einem der
beiden Pole stattfindet: Zeit und Raum werden in der Zeit zusammengeführt, Sein und
Nichts im Nichts. Hier behauptet Nishida ein weiteres Mal auch die vereinheitlichende
Kraft des Kaiserhauses: „Das Kaiserhaus ist zeitlich (!) die Welt.“913
Auch das Schlagwort vom Bansei Ikkei, der naturalisierenden Legitimationsrhetorik der
Regierung für das Bestehen des Kaiserhauses, wird hier von Nishida aufgegriffen und
seinem eigenen Jargon angeglichen: „Das in der Geschichte unseres Landes beinhaltete
Weltliche geht vom Zeitlichen zum Räumlichen. In der Geschichte unseres Landes
beinhaltet das Subjektive als zeitlich-räumlicher Ort (!) das Bansei Ikkei unseres
Kaiserhauses.“ 914 Dass die japanische Geschichte letztlich die „Weltgeschichte“ in
einem ausgezeichneten Sinne verkörpere, dient zur Begründung für Japans
Vorbildstellung in der Welt: „Die japanische Geschichte ist der Mikrokosmos der
Weltgeschichte [Hara Katsurô].“915 „Unsere Gesellschaft, die als geschichtliche Art
konstitutiv ist (keisei suru 形成する), muss auf diesem Fundament das Prinzip der
Weltorganisation sein, d.h. vernünftig. In diesem Maße leben wir.“916
Die Vorstellung von Japan als kulturelles Vorbild für die Welt wird eng mit der
Diskussion der chinesischen Kultur verknüpft; konsequenterweise stellt Nishdia dabei
die Ungeeignetheit Chinas für diese Rolle heraus. Die Minderwertigkeit der
chinesischen Kultur zeige sich daran, dass der Konfuzianismus keine Wissenschaft,
sondern „nur pädagogisch“ (yui kyôgakuteki 唯教学的) sei. Nishida zögert nicht
hinzuzufügen, dass Japan zwar unter dem Einfluss Chinas stand, der Konfuzianismus
hier aber keinen Boden unter den Füßen gewinnen, den japanischen Charakter nicht
bestimmen konnte: „Aber ich bin nicht der Ansicht, dass man vom konfuzianischen
Denken der chinesischen Kultur ausgehend auch unsere Kultur als [Kultur der] bloßen
Pädagogik betrachten muss [...] auf dem Grunde der Kultur unseres Landes Japan gibt
es Unterschiede zum Grunde der chinesischen Kultur.“917 Nishida spielt konsequent den
Einfluss der chinesischen auf die japanische Kultur herunter – auch ein
„offizielles“ Diskurssegment. Die Tatsache, dass Japan zum Zeitpunkt der Abfassung
von NBM in China eine aggressive Politik gegen die Zivilbevölkerung durchführtee –
das Massaker von Nanjing 1937, bei dem bis zu 200 000 Zivilisten von der japanischen
Armee getötet wurden, ist nur einer der bekannteren „Zwischenfälle“ – musste Nishida
wenn auch nicht beunruhigt, so doch beschäftigt haben. Die „begründete“ Abwertung
der chinesischen Kultur dürfte aber auch als Überlegenheitsrhetorik aus einem
912
Ueno (1996), S. 11. Ich bin dem Hinweis R. Calichmans in Contemporary Japanese Thought,
Calichman (2005), S. 23, nachgegangen.
913
NKZ IX, S. 50.
914
NKZ IX, S. 50.
915
Ebd. Hara Katsurô 原勝郎 (1871-1924) war Historiker an der Kaiserlichen Universität Kyoto, wo er
Vorlesungen über japanische Geschichte hielt.
916
NKZ IX, S. 50.
917
NKZ IX, S. 51-52.
252
Unterlegenheitsgefühl verstanden werden. Nishida war versiert in alter chinesischer
Literatur und wusste um den zivilisatorischen Einfluss der chinesischen Kultur auf
Japan. Das hält ihn jedoch nicht davon ab, die „strahlenden Quintessenz unserer [der
japanischen] Volksmoral“ (kokumin dôtoku no seika 国 民 道 徳 の 精 華 ) zu
hypostasieren:
Auf dem Grund unseres Volksdenkens (kokumin shisô 国 民 思 想 ) ist die Tatsache der
Landesgründung ein bloß geschichtliches Faktum. Aber wir gestalten als Achse die eine
geschichtliche Welt. Als widersprüchlich selbstidentische Welt ist das Kaiserhaus als ewiges
Jetzt von Vergangenheit und Zukunft unser Streben von hier nach da, und das gesamte Volk
steht ihm zu Diensten (banmin hôyoku 万民輔翼). Als das Fortschreiten vom Geschaffenen
zum Schaffenden ist die strahlende Quintessenz unserer Volksmoral der Erbauer der
geschichtlichen Welt.918
Angesichts des japanischen Vorgehens im Krieg gegen China sind diese
Zuschreibungen schlicht zynisch. Dennoch verraten sie den Legitimationszwang, der
durch die Identifikation Japans mit der Welt, oder besser: die prospektive Identifikation
Japans mit der Welt, hergestellt wird: „Ich denke, dass die Grundlage des Denkens
(shisô no kontei 思想の根底) unseres japanischen Volkes das Prinzip der Selbstbildung
der geschichtlichen Welt ist.“919 Oder: „Das Prinzip der Gestaltung Japans ist gleichsam
das Prinzip der Weltgestaltung.“ 920 „Japan“, so „warnt“ (imashimu 戒む) Nishida
daraufhin, dürfe aber nicht „subjektiviert werden: das wäre nichts anderes als die
Hegemonisierung des Kaiserwegs, nichts anderes als die Imperialisierung
(kokutaishugika 帝国主義化) des Kaiserwegs.“921 Das scheint angesichts der Tatsache,
dass die Volksmoral der Japaner die Erbauerin der geschichtlichen Welt sei,
merkwürdig. Diese Textstelle wird von den Verteidigern Nishidas – Ueda etc. – gern ins
Feld geführt, um die These vom „Tauziehen der Bedeutung“ zu bekräftigen: hier zeige
sich die Nichteinverständnis Nishidas mit der imperialistischen Agenda Japans, seine
Distanz zur öffentlichen Politik und seine liberale Relativierung. Dazu im nächsten
Abschnitt mehr.
Nishidas Begriff des „vom Geschaffenen zum Schaffenden“, seine Formulierung „Wir
müssen der Welt unseren Beitrag leisten“922 und der Bezeichnung Japans als „Gestalter
der geschichtlichen Welt“ sind meines Erachtens mehr als deutliche Hinweise seiner
Legitimationsstragerie, die philosophisch versucht, die Realpolitik abzubilden. Im
Umkehrschluss ist auch Nishidas philosophische Thematik durch den Bezug auf die
Kultur und Geschichte Japans „konkretisiert“.
Schließlich legt Nishida in Abschnitt 5 eine gewisse Unverdrossenheit gegenüber der
Selbstzuschreibung essentialistischer Stereotype an den Tag. Diese Einschätzung Japans
kleidet sich ebenfalls in das Gewand des Nishidaschen Jargons:
918
NBM, S. 52. Das Schlagwort vom Dienst des ganzen Volks für das Kaiserhaus, Banmin Hôyoku 万民
輔翼 gehörte auch zur offiziellen Propaganda. Siehe Lavelle (1994), S. 140.
919
NKZ IX, S. 52.
920
Ebd.
921
Ebd.
922
NKZ IX, S. 53.
253
Ich denke, dass die Besonderheit der japanischen Kultur vielleicht darin besteht, vom Subjekt
zur Umwelt zu gehen, wobei sie selbstnegierend zu einem Ding, und als solches sehend und
ausführend (okonau 行う) wird. Sich selbst entleerend die Dinge sehend, versenkt sich das
Selbst in die Dinge; die Gelassenheit bzw. das jinen hôni 自然法爾 ist das, wonach wir Japaner
uns heftig sehnen (shôkei no kyôchi de aru to omou 憧憬の境地で有ると思ふ).923
Kobayashi dazu: „Hier zeigt sich der Stolz darüber, dass die Rezeption und
Entwicklung westlicher Kultur im Orient deswegen nur Japan allein gelang, weil sich
die historische Bewegung vom Erzeugenden zum Erzeugenden [in meiner Übersetzung:
vom Geschaffenen zum Schaffenden] durch die ständige Selbstverneinung gerade in
dem Japan eigenen Geist, der ‚sich selbst entleert und der Wahrheit des Dings folgt’ [...],
verwirklichte.“924 Die einfache Gleichsetzung „japanischer Geist = widersprüchliche
Selbstidentität = Kaiserhaus-Zentralität“ wird auf diesen Seiten verhement
vorangetrieben. Schließlich sei es ein weiteres Faktum, dass „die Dinge und
Sachen“ alle dem „Öffentlichen“ (ôyake no mono/ôyake no koto 公の物/公の事)
zugehörig seien.925 Nicht nur argumentiert Nishida systematisch für die Gleichsetzung
von japanischem Geist und Kaiserhaus, sondern mit einem totalitaristischen Gestus für
die „Kaiserzugehörigkeit“ der „Dinge“. Der Zusammenhang wird von Nishida selbst
hergestellt: „Als Welt sind [diese Dinge und Sachen] die Sache des Kaiserhauses.“926
Die Anleihen bei shintôistischen Bildern ungeachtet, werden auch tendai- und
kegonbuddhistische Lehren mit der Lehre Shinrans versetzt und als Essenz des
japanischen Geistes ausgegeben: „Der Schwerpunkt der japanischen Kultur liegt
weniger in der Übereinstimmung von Prinzip und Sache oder in der Übereinstimmung
von Sache und Prinzip, sondern im jiji muge 時事無礙 [...] Die tendai-buddhistische
Lehre des isshin sangan 一心三観 hat Shinran zu einer ureigenen (dokusôteki 独創的)
japanischen Religion weiterentwickelt [...] alle Dinge zu verbinden und zu vereinigen,
einfach und deutlich durch einfache Erlösung zu erfassen, das ist der japanische
Geist.“ 927 Nishida entstellt sein eigenes Vorhaben in diesen hypostasierenden
Zuschreibungen zum „japanischen Geist“: „Ich glaube, den japanischen Geist einzig
gefühlsmäßig und irrational und mythologisch zu sehen, ist vom japanischen Geist weit
entfernt.“928 Allein liefert er keine bessere Erklärung.
Um seinem Ausführungen aber eine pragmatische Wendung zu geben, geht er zu Ende
des 5. Abschitts noch einmal auf die missionarische, gestaltende und „erbauende“ Rolle
Japans in der Weltgeschichte ein:
Heute besteht die Frage des Kultur unseres Landes darin: wie die seit tausenden von Jahren
kultivierte Besonderheit der vertikalen Weltlichkeit zu einer horizontalen Weltlichkeit erweitert
werden kann [...] Dies ist keine Konfrontation eines Subjekts mit anderen Subjekten, sondern
das Umfassen anderer Subjekte als Welt. Das ist die Strukturierung der einen Welt, die in den
Dingen diese widersprüchlich selbstidentisch verbindet. Ich bin der Meinung, dass die Mission
Japans (nihon no shimei 日本の使命) als Erbauer Ostasiens (tôa no kensetsusha 東亜の
建設者) genau darin besteht. Als Subjekt anderen Subjekten gegenüberzustehen, diese zu
923
NKZ IX, S. 56.
Kobayshi (2002), S. 118.
925
NKZ IX, S. 56.
926
Ebd.
927
NKZ IX, S. 57.
928
NKZ IX, S. 60.
924
254
negieren und andere sich gleich zu machen, ist nicht anderes als Imperialismus. Das ist kein
japanischer Geist.929
Hier befindet sich Nishida in Übereinstimmung mit der in Kokutai no hongi
formulierten offiziellen Propaganda, weil er die japanische politische Agenda nicht als
Imperialismus identifiziert. Man vergleiche seine Kontrastierung von Imperialismus
europäischer und britisch-amerikanischer Provenienz auf der einen und der
weltgeschichtlichen Mission Japans bzw. dem Kaiserweg und der Moral auf der
anderen Seite:
Bislang wurden die Völker Ostasiens unter dem Imperialismus europäischer Völker unterdrückt,
als Kolonien betrachtet und jedes seiner weltgeschichtlichen Mission beraubt [...] Wir, die
Völker Ostasiens, müssen gemeinsam das Prinzip der ostasiatischen Kultur tragen und uns
weltgeschichtlich aufrütteln (funki senakereba naranai 奮起せなければならない). Aber um
eine partikulare Welt zu errichten, muss es ein Zentrum geben, das diese Aufgabe schultert. In
Ostasien kann das heute nur Japan sein.930
Ein völkischer Nationalismus, der die ganze Welt von seinem eigenen selbstzentrierten
Standpunkt sieht und ohne „Weltlichkeit“ (sekaisei 世界性) ist, ist ein völkischer Egoismus.
Von hier kann es nichts anderes als das Abfallen in Expansionismus oder Imperialismus geben.
Heute begründet sich der anglo-amerikanische Imperialismus auf deren völkischem Egoismus.
Dagegen wird ein Volk erst dann zur wahren Nation, wenn es in sich selbst das Prinzip der
globalen Weltbildung (sekaiteki sekaikeisei 世界的世界形成) begreift. Dieses wird zum
Urspung der Moral [...] Die Japaner haben als Japaner in dieser Wirklichkeit japanischer
Geschichte, das heißt in der heutigen Situation, darin ihre einzigartige eigene moralische
Mission und Pflicht.931
Zum Ende des Abschnitts liefert Nishida mit dem Begriff des Kokutai ein weiteres
Stichwort der offiziellen Staatspropaganda und bringt ihn mit Kants „Reich der
Zwecke“ zusammen: „Das widersprüchlich selbstidentische Kokutai unseres Landes
enthält bereits in sich den Gesetzesbegriff [...] Hier ist als einzelne selbständige
Selbstidentität überall das Reich der Zwecke installiert und die praktische Vernunft
(jissen risei 実践理性) enthalten.“932 Der Tennô ist demzufolge selbst das Gesetz: „Wir
blicken dem Tennô als objektiven Ausdruck der geschichtlichen Welt entgegen. Hier ist
das Gesetz als moralisch bindender Staat anwesend.“933
Insgesamt finden sich in Abschnitt 5 von NBM alle zentralen Termini der bereits im
offiziellen Propagandatext Kokutai no hongi der Sache nach für „offziell“ erklärten
Staatsideologie. Dazu gehört die Vorstellung des „Familienstaats“, der „Harmonie“ der
japanischen Gesellschaft, des „Kampfgeistes“ im Auftrag nicht der „Unterwerfung“ und
der Unterdrückung, sondern der „Grossen Harmonie“, der Fähigkeit der
„Assimilation“ „essentiell fremder Kulturen bei gleichzeitiger Beibehaltung der eigenen
„Selbstentleerungs-Kultur“ und schließlich der „Synthesefähigkeit“ Japans, „östliches
und westliches Gedankengut“ zu verbinden.
929
NKZ IX, S. 56.
NKZ XI, S. 446.
931
NKZ XI, S. 449.
932
NKZ IX, S. 60.
933
Ebd.
930
255
In den Abschnitten 6 und 7 (S. 60-76) – also erst zum Schluss der Abhandlung – geht
Nishida erstmalig auf das als „Programm“ von NBM vorgestellten Vorhaben ein, die
östliche Logik begrifflich zugänglich zu machen und sie wissenschaftlich zu fundieren.
Allerdings bleibt auch dieses Vorhaben nicht mehr als eine rhetorische Proklamation: in
der Hauptsache geht es ihm weniger um eine Analyse der hier zur Sprache kommenden
„buddhistischen Logik“ Shinrans 親鸞 (1173-1262) und Dôgens 道元 (1200-1253),
sondern um die Diskreditierung der „westlichen“ Logik, die nur „gegenständlich“934 sei,
sowie der chinesischen und indischen Logik. Beispielhaft sind ihm Aristoteles und Kant,
während Hegel wenigstens eine dialektische „Logik der geschichtlichen Welt“ 935
entwickelt habe. Aber auch Hegel könne sich Nishida zufolge nicht von seinem
Ausgang vom Subjekt befreien. Das sei auch der Grund, weshalb Hegels Philosophie
„idealistisch“ (kannenronteki 観念論的) genannt werden müsse, eine Bezeichnung, die
offensichtlich nicht üblich war.936 Mit der chinesischen Logik stehe es nicht besser. Sie
sei „unausgebildet“.937 Der indische Buddhismus hingegen sei als Religion über alle
Maßen intellektuell und logisch strukturiert. In der buddhistischen Philosophie –
Nishida verwendet „Logik“ und „Philosophie“ homonym – sei jedoch nicht das
„Ding“ (mono 物 ), sondern die „Empfindung“ oder das „Gefühl“ (jô 情 ) der
Gegenstand. Die zentrale Behauptung der buddhistischen Philosophie sei das muga
無我, das Nicht-Ich. Auch hier grenzt er sich noch einmal bewusst gegen Kant ab: die
Logik des muga sei weder eine Subjekt- noch eine Gegenstandserkenntnis. Im
Anschluss thematisiert er das Verhältnis der buddhistischen Logik des „absoluten
Nichts“ mit der westlichen „subjektzentrierten“ Logik, die doch nicht imstande sei, das
„Subjekt“ vollständig zu umfassen.938 Die buddhistische Philosphie sei dabei die „Logik
des widersprüchlich-selbstidentischen Ortes, bzw. die Logik des Gefühls/der
Empfindung (kokoro 心).“939 Nishida setzt sich hier von seinem programmatischen
Vorhaben ab, die Identifikation der Logik des Ostens als „Gefühlslogik“ zu hinterfragen,
ganz entgegen seiner Ankündigung am Anfang des Textes. In der Folge reproduziert
Nishida klassische buddhistische Termini der Jôdo-Shin- und der Zen-Schule –
insbesondere Dôgens – um sie als „typisch japanische“ Logik zu behaupten. Dabei
scheint es für ihn unproblematisch zu sein, die Lehre des Jôdo shin-buddhistischen jinen
hôni 自 然 法 爾 mit dem hier unvermittelt wieder verwendeten Begriff des
shintôistischen „Kaiserwegs“ zu interpretieren und anschließend eine Passage aus dem
dem Zen-Buddhismus zugeordneten Shôbôgenzô 正法眼蔵 Dôgens einfach wieder
durch dasselbe jinen hôni zu erklären.940 Auch das ichinen sanzen 一念三千941 der
934
NKZ IX, S. 68.
Ebd.
936
Ebd. So sagt Nishida in einer Anmerkung: „Ich weiss, dass viele Leute Hegels Philosophie nicht in
dieser Bedeutung denken.“
937
NKZ IX, S. 69.
938
NKZ IX, S. 71.
939
Ebd.
940
NKZ IX, S. 74. Jinen hôni ist ein zentrales Konzept der amidabuddhistischen Jôdo-shin Schule
Shinrans. Shinran zufolge kommt hier zum Ausdruck, dass auf die Hilfe durch das Selbst verzichtet und
stattdessen in der völligen Hingabe zu Amida-Buddha das Heil gesucht werden soll. Originalquelle:
Shôzômatsuwasan 正像末和讃, ein 1257 entstandenes, aus 116 Faszikeln bestehendes Kapitel aus dem
umfassenderen Sanjôwasan 三帖和讃 Shinrans. Referenz: Zengaku Daijiten. Suzuki (1985), S. 459.
Siehe für eine recht detaillierte Erörterung Yagi Seiichi, „Automate bei Jesus und im Buddhismus“ (2006)
unter www.doam.org/archiv/textea/symp2006/yagi.pdf (Zugriff am 08.02.10).
941
Der Term steht Hajime Nakamuras Bukkyôgo Daijiten zufolge für die Behauptung, dass in der ganzen
Seele des Menschen dreitausend Erscheinungsformen zusammengefasst seien. Nakamura (1981), S. 52.
Ein grundlegendes Konzept der in der Nara-Zeit von Saichô 最澄(767-822) gegründeten Tendai-Schule.
935
256
Tendai- und das jiji muge der Kegon-Schule werden miteinander kurzgeschlossen und
zu Schlagworten der Markierung typisch japanischer Logik umgewertet: „Der Zen ist
mit der wissenschaftlichen Erfahrung nicht unvereinbar [...] Dennoch kann die
buddhistische Logik nicht unter eine Kategorie der westlichen Logik gefasst werden.“942
Abschließend stellt Nishida auch der indischen Kultur ein mangelhaftes Zeugnis aus:
„Was der indischen Kultur fehlt, ist der aktive Wille, die Tathandlung.“ 943 Seine
Rhetorik passt sich längst den ideologischen Vorgaben des japanischen Staates an.
Schließlich versucht Nishida in einem sprachlichen und argumentativen Gewaltakt,
„östliche Intuition“ und Wissenschaftlichkeit doch noch zusammenzubringen:
Man kann die östliche Kultur als intuitionistisch denken [...] Aber die wahre Intuition bildet als
Individuum der widersprüchlich-selbstidentischen Welt stets die Welt durch den Ausdrucks-Akt
(hyôgen sayôteki 表現作用的) [...] das ist die widersprüchliche Selbstidentität vom Sehenden,
welches das Wirkende ist und dem Wirkenden, welches das Sehende ist, die widersprüchliche
Selbstidentität von Sehendem und Wirkendem.944
Die emphatische Verwendung seiner Zentralbegriffe aus der Hochzeit der Ortlogik und
ihre Zuschreibung zum Denken im Ost-West-Gegensatz weist deutlich auf die
Einschätzung Nishidas hin, seine seinerzeit für gescheitert erklärte Ortlogik post factum
doch noch einem, wenn auch nur heuristischen Zweck zukommen zu lassen, indem er
sie zur „logischen“ Erklärung seiner Ausführungen zum Kulturdiskurs macht. Er geht
sogar noch weiter: die Tat-Anschauung oder die Intuition werden zu der zu
verwirklichenden „Grundlage der Wissenschaft“ (yue ni kôiteki chokkan to iu mono de
aru. Kakaru chokkan ha kagaku no kiso to mo narumonodenakerebanaranai 故に行為
的直観と云うものである。か々る直観は科学の基礎ともあるものでなければな
らない) erklärt.945 Klar ist, dass der Begriff der Intuition bzw. der Tat-Anschauung hier
eine deutliche Wiederbelebung im Rahmen des Ost-West-Diskurses erhält. Nishidas
essentialisierenden Theoreme gipfeln in der Behauptung, das Haiku sei eine
„japanertypische“ (nihonjinteki 日本人的) Gedichtform – die Idealisierung bestimmter
Kunstformen zu „typisch“ japanischen ist klassisches Thema des späteren Nihonjinron,
wie es bei Okakura Kakuzo (Tenshin) 岡倉覚三(天心)(1863-1913) und anderen
bereits Anfang des 20. Jahrhunderts als The Ideals of the East (1903) und The Book of
Tea (1906) zur Sprache kommt.946
Originalquelle: Dritter Band des vermutlich von Dôgen-Schülern im 13. Jahrhundert zusammengestellten
Shôbôgenzô Zuimonki 正法眼蔵随聞記. Ishida zufolge steht hier der Begriff hier, dass der Mensch in
seinem
Gemüt
beständig
über
Erscheinungen
des
Universums
verfügt,
die
„dreitausend“ Ausdrucksformen haben. Ishida (1997), S. 39. Zur Geschichte des Begriffs siehe auch G.
Paul (1993), S. 266-269.
942
NKZ IX, S. 72.
943
NKZ IX, S. 73.
944
NKZ IX, S. 75.
945
NKZ IX, S. 76.
946
Der Kunsthistoriker Okakura, der teilweise in Boston lebte und seine Bücher auf Englisch schrieb, hat
in seinem Book of Tea (Putnam’s, New York 1906) ein Stichwort der sich bis heute durchhaltenden
Romantisierung des „östlichen Ideals“ Japan geliefert. So auch in The Ideals of The East, das ein Jahr
zuvor in London bei J. Murry erschien. Sein Denken wird als „panasiatisch“ und nicht spezifisch
„nipponistisch“ eingeordnet, weil seine Hauptanstrengung im ideologischen Kampf gegen die westliche
Kolonisation ganz Asiens bestand. Exemplarisch dafür sein The Awakening of Japan (Century, New York
1904). Siehe dazu auch Kobayashi (2002), S. 128, Anm.109.
257
Der letzte Abschnitt 8 (S. 76-83) fokussiert deutlicher als zuvor auf die Kritik an
europäischer Kultur und Geschichte. Die von mir bereits im China-Diskurs
diagnostizierte Überlegenheitsrhetorik aus einem Unterlegenheitsgefühl ist im
Vergleich mit dem Herrensignifikanten „Westen“ bzw. „Europa“ noch deutlicher.
Symptomatisch dafür ist die Tendenz zur Subsumtion fremder Positionen unter sein
eigenes Denken, hier vornehmlich Rankes und T.S. Eliots.
In der Einschätzung der Gegenwartssituation ist Nishida, wie oben gezeigt, sehr
optimistisch: nun werde „die Welt zu einer Welt“947, die horizontale zu einer vertikalen
Welt. Die bisherige, von Europa ausgehende Geschichte, habe durch Imperialismus und
Kolonisation andere Völker unterworfen und könne so nicht zur geschichtlichen
Schöpfung durchdringen, die das Subjekt stets „negiere“ (hitei serare iku 否定せられ
行く). Nishida:
Aus so einer Haltung [eine Nation beherrscht die Welt, EL] entsteht Imperialismus. In diesem
Fall hat eine einzelne Nation eine mächtige Autorität und kann für eine Weile den Frieden
bewahren. Das geht aber nur, wenn sie andere Völker versklavt, was nicht nur eine
Degeneration des Menschen (ningen daraku 人 間 堕 落 ) darstellt, sondern für die
Aufrechterhaltung seiner Macht eine Unmöglichkeit. Wie der Aufstieg anderer Völker
(taminzoku no bokkô 他民族の勃興) ist das auch nichts anderes als das Abfallen in einen
elenden Krieg. Das Ergebnis davon ist der Untergang der menschlichen Kultur. In der
Gegenwart ist es die Geschichte des heutigen Europa, die diese Krise unter Beweis stellt.948
Hier zeigt sich deutlich, dass „Imperialismus“ ein exklusiv der europäischen Kultur und
Geschichte zugeordneter Begriff ist. Die Kultur Japans stehe der europäischen Tradition
diametral gegenüber und trete doch als „Vermittlerin“ der Welt in dieser Krisenzeit auf.
Der Vergleich beider Kulturformen – der östlichen und der westlichen – habe das
gezeigt. Gerade jetzt, wo die horizontale zur einer vertikalen Welt werde, werde dieses
Phänomen deutlich: „Als Selbstbildung der vertikalen Welt ist unsere (japanische)
Landeskultur, die im Osten für schöpferisch gehalten wird, die Vermittlerin beider
Kulturen.“949 Nishida reproduziert die Staatspropaganda auch in dem Punkt, dass Japan
von den anderen asiatischen Nationen als Schöpfer und Gestalter des Ostens anerkannt
wird.
Das Thema der Krise nimmt in den abschließenden Ausführungen einen breiten Raum
ein. Für Nishida ist diese „Krise“ – er spricht euphemistisch von Krise (kiki 危機) statt
vom Krieg – auch eine Chance, den „neuen“ Menschen, die „neue“ Kultur zu erschaffen.
Der Frieden sei ausdrücklich nicht das Ziel der Weltgeschichte. In Nishidas, Marx’ und
Engels’ berühmtes Wort völkisch uminterpretierenden Formulierung: „Die Geschichte
ist die Geschichte von Volkskämpfen.“950 Zur Einschätzung der Rolle des Krieges sagt
auch Lavelle: „He [Nishida] supported military expansion, but saw the army only as a
technical instrument, not allowing it any intervention in political life. This was also
[Premierminister] Konoe’s position, and so it is not sufficient reason to place Nishida
outside ultra-nationalism.“951 Ich teile Lavelles Einschätzung, wenn diese auch erst aus
der Analyse seiner persönlichen Korrespondenz zustande kommt – das Verhältnis von
947
NKZ IX, S. 77.
Ebd.
949
NKZ IX, S. 79.
950
NKZ IX, S. 78.
951
Lavelle (1994), S. 156.
948
258
politischem Leben und der Rolle des Militärs im Staat wird in Nishidas philosophischen
Werken nicht thematisiert. Insgesamt ginge die neue geschichtliche Schöpfung, das
„geschichtliche Leben“, vom Osten aus, so Nishida. Dafür spreche neben seiner
„moralischen Energie“ (dôtokuteki enerugii 道徳的エネルギー)952 auch die Tradition,
wobei sich Nishida emphatisch auf einen Traditionsbegriff bezieht, dem zufolge das,
was den Menschen „traditionell“ mache, das geschichtliche Bewusstsein des Einen sei,
das Zeit und Zeit jeweils „überschreite“. 953 In diesen Zusammenhang bringt Nishida
wiederholt seine Auffassung des „neuen“ Menschen, der doch mit der Tradition
verknüpft sei. Diese Vorstellung kommt ohne die Idee einer geschichtlichen Mission
nicht aus: „Wir erreichen eine Zeit, in der es ein Bewusstsein für die Mission der
geschichtlich-weltlichen Schöpfung geben muss, die als wahres moralisches Subjekt die
Nation (kokka 国家) ist.“954 Lavelle dazu: „This world mission had thus several spects,
including the creation of a new culture by the fusion of world cultures (a fundamental
nationalist theme), and the expansion and formation of a new man (an ultra-nationalist
notion).“955
Nishidas Diagnose über die gegenwärtige Krise verlange ihm zufolge nun aber auch
eine Analyse, mit der ich meine Darstellung der wichtigsten Argumentatonsschritte
Nishidas in diesem Selbstbehauptungsdiskurs abschließen möchte. Nishida zufolge
besteht die Ursache der „Krise“ der heutigen Welt in der europäischen Geschichte und
Philosphie des 18. und 19. Jahrhunderts, die stets das „Subjekt“ (shutai 主体) zum
Zentrum erklärt habe. Nishida plädiert daher für die „Überwindung“ des Subjekts
expressis verbis: „Hier [in der sich selbstgestaltenden Welt als absolut widersprüchliche
Selbstidentität] muss der Standpunkt sein, der stets und überall das Subjekt überwindet
(shutaiteki narumono wo koeru 主体的なるものを超える).“956 Statt eines Subjekt gibt
es bei Nishida nur noch ein abstraktes Kondomonium von leeren Begriffen, die sich als
Metaphysik verstehen, aber jeglichen realen Bezug hinter sich gelassen haben. Nishidas
Versuch, das materialistische Gegengewicht jedes Denkeninhalts in seine
Begriffskonstruktionen aufzulösen, wird zum Ausdruck seines philosphischen Scheitens.
Was sich über Nishidas Kultur- und Geschichtsbegriff sagen lässt, hat Adorno bereits
bei Oswald Spengler festgestellt:
952
NKZ IX, S. 82. Nishida übernimmt den Term um ein weiteres von Ranke. Ranke verwendet ihn 1836
in dem „Politischen Gespräch“ zwischen den fiktiven Figuren „Friedrich“ und „Carl“, in dem das Thema
der staatlichen Souveränität und des Sinns von Kriegen diskutiert wird. Die volle Wiedergabe der
relevanten Stelle lohnt sich: „Fr. [Friedrich] Aber in der That, du wirst mir wenig wichtige Kriege nennen
können, von denen sich nicht nachweisen ließe, daß die wahre moralische Energie den Sieg behauptete. C
[Carl] Und von dem Kampfe, dem Siege willst du nun auch die Formen der inneren Organisation
herleiten. Fr. Nicht durchaus, nicht ursprünglich, aber wohl die Modification derselben. Das Maaß der
Unabhängigkeit giebt einem Staate seine Stellung in der Welt: es legt ihm zugleich die Nothwendigkeit
auf, alle inneren Verhältnisse zu dem Zwecke einzurichten sich zu behaupten. Dies ist sein oberstes
Gesetz. [...] Wie wäre es möglich, daß jemals eine großartige Stellung erworben würde ohne freiwilliges
und vollkommenes Zusammenschließen aller Glieder. Durch die geheime Wirksamkeit
zusammengehaltener Ideen bilden sich allmählich die großen Gemeinschaften. Glücklich wenn Einer den
Genius hat sie zu leiten.“ Ranke (1833-1836), S. 792-793. Die Adaptation der Rankeschen Ideen für die
Großostasiatische Wohlstandssphäre, in der Japan den „Genius“ hat, die Ideen „zu leiten“, liegt nahe. Der
„freiwillige Zusammenschluss“ Asiens mit Japan als gesitiger Führungsmacht scheint direkt den
Rankeschen Ideen entlehnt.
953
NKZ IX, S. 81.
954
NKZ IX, S. 84.
955
Lavelle (1994), S. 159.
956
NKZ IX, S. 80.
259
Dem Taktiker Spengler ist die Rede von Seele und Leben ein willkommenes Hilfsmittel, einen
Materialismus flach zu schelten, dem er doch in Wahrheit nur darum grollt, weil er ihm nicht
positivistisch genug ist und die Welt anders haben möchte, als sie ist. Aber die Metaphysik des
Seelentums hat weiterreichende Konsequenzen als die taktische. Man möchte von einer latenten
Identitätsphilosophie reden. Weltgeschichte, so ließe übertreibend sich sagen, wird zur
Stilgeschichte: die historischen Schicksale der Menschheit sind so sehr das Produkt ihrer
Innerlichkeit wie die Kunstwerke.957
Die Darstellung des Geschichts- und Kulturverständnisses bei Nishida dürfte gezeigt
haben, wieweit Nishida sich dem offiziellen Gestus beugte. Dennoch fühlten sich
Forscher im Zuge der Re-examinierung der „heiklen“ politischen Thesen Nishidas und
der Kyoto-Schule, die durch Harootunian/Najita 1988 in ihrem Artikel „Japan’s Revolt
Against the West“ in der Cambridge History of Japan ihren Anfang nahm, dazu
verpflichtet, Nishidas Bild in der modernen Geistesgeschichte Japans zu rehabilitieren:
die These vom „Tauziehen um die Bedeutung“ („tug-of-war over meaning“/ imi no
sôdatsusen 意味の争奪戦) und das so genannte „Tagebuchargument“ wurden Ende der
1980er Jahre in der japanischen wie auch in der amerikanischen Rezeption geboren. Im
Zuge der darauf folgenden Entwicklung eines fast ausnahmslos positiven NishidaBildes auch in der deutschsprachigen Rezeption moderner japanischer Philosophie
(Brüll958, Heise/Pörtner959, Elberfeld960), setzte sich Ende der 1990er Jahre zunehmend
das Schlagwort der „Interkulturalität“ durch, als deren früher philosophischer
Theoretiker in Japan Nishida vorgestellt wurde und die noch heute für die Bewertung
Nishidas einschlägig ist.961 Ich möchte im Folgenden Abstand von einer Analyse des
Diskurses um das Stichwort „Interkulturalität“ nehmen – sie würde ohne Frage den
Rahmen meines begriffsanalytischen Ansatzes sprengen – und stattdessen kritisch auf
die textbezogenen Argumente entgegnen, die Ueda und Yusa zur Verteidigung der
politischen Haltung Nishidas bemühen. Abschließend möchte ich diese Überlegungen
durch eine kritische Bewertung der sich an sie anschließenden Argumente von GotoJones ergänzen und somit einen Blick auf die neueste amerikanisch-europäische
Rezeption werfen.
2. 4.
Die Argumente der Apologeten: Ueda Shizuteru, Michiko Yusa und
Christopher Goto-Jones
In seinem Artikel „Nishida Kitarô – ‚jener Krieg’ und ‚Das Problem der japanischen
Kultur’“ (Nishida Kitarô – ‚ano sensô’ to ‚Nihon bunka no mondai’ 西田幾多郎‒「あ
の戦争」と日本文化の問題), der anlässlich des 50. Todestags Nishidas 1995 in einer
Sonderausgabe der Shisô erscheint 962 , verteidigt Ueda Shizuteru Nishidas Position
während der Kriegszeit gegen die angebliche Anschuldigung, Nishida sei ein
957
Adorno (2003b), S. 65.
Siehe ihre einführende Darstellung in Die japanische Philosophie – eine Einführung. Brüll (1993)
959
Siehe die Darstellung Nishidas in Die Philosophie Japans. Von den Anfängen bis zur Gegenwart.
Pörtner/Heise (1995).
960
Siehe sein Kitarô Nishida (1870-1945). Das Verstehen der Kulturen – Moderne japanische
Philosophie und die Frage nach der Interkulturalität. Elberfeld (1999b).
961
Als Ausnahme dürfte die Arbeit Gregor Pauls, Philosophie in Japan – Von den Anfängen bis zur
Heian-Zeit Paul (1993) gelten, die sich allerdings gemäß ihres Untersuchungsgegenstands nur am Rande
kritisch über Nishida äußert.
962
Siehe Ueda (1995b).
958
260
Tennôzentrist, Nipponist, Befürworter des Imperialismus und des japanischen Geistes
im Sinne der japanischen Militärführung gewesen. Wer diese Anschuldigungen erhebt,
verrät Ueda nicht. Ueda bezieht sich zur Verteidigung Nishidas zum Einen auf
Belegstellen aus seinen Tagebüchern, zum anderen auf Behauptungen aus NBM, die
von Nishidas Kritikern „falsch“ interpretiert worden seien. Dabei vertritt Ueda die
These vom „Wettkampf/Tauziehen um die Bedeutung“ (imi no sôdatsusen 意味の
争奪戦) oder vom „semantic struggle“, dem zufolge Nishida mitnichten die offizielle
Terminologie einfach reproduziere, sondern vielmehr versucht habe, den zentralen
Propagandabegriffen eine neue, weltoffene, kosmopolitische Bedeutung zu geben.
Allerdings sei Nishida an dieser selbst gestellten Aufgabe gescheitert, da sich die
Militärführung durch die philosophischen Argumente nicht von ihrem
ultranationalistischen Kurs abbringen ließ. Ueda zufolge hat Nishida „vom Standpunkt
einer Geschichte, die der gesamten Menschheit (zen jinrui 全人類) und einem wahren
konkreten Frieden zugewandt ist, mit Hilfe der Struktur der ‚partikularen Welten’
(tokushuteki sekai 特殊的世界) und der ‚welthaften Welten’ der Großostasiatischen
Wohlstandssphäre eine (andere) Bedeutung gegeben.“963 Was indes der „Standpunkt der
gesamten Menschheit“ politisch für die Großostasiatische Wohlstandssphäre bedeutet,
erfährt man weder hier noch im weiteren Text. Der Begriff der „partikularen
Welten“ bzw. der „welthaften Welt“ wird von Nishida auch nicht genauer bestimmt.
Die Verteidigungsstategie Uedas besteht in der Hauptsache im Versuch, die Bedeutung
des Nishidaschen Vorgehens umzuwerten. Ein „Tauziehen“ oder „Wettkampf“ speziell
um die Bedeutung der Großostasiatischen Wohlstandssphäre weist sich nicht am Text
aus; Ueda gibt indes auch keinen Verweis auf eine Textstelle, die seine These
plausibilisieren würde.
Um seine Auffassung von Nishidas kosmopolitischer Haltung zu untermauern, stellt
Ueda Nishidas Kritik am Erziehungsministerium (Monbushô) in den Vordergrund, wie
sie aus seinen Tagebüchern und Korrespondenzen ersichtich sei. So z.B. im Brief no.
1592, NKZ XIX, S. 145 (1941): „Die geistige Kultur des Monbushô ist vollkommen
übel.“964 Auch über das Lehrprogramm beschwert Nishida sich: „Anstatt japanische
Geschichte zu lernen, sollte man lieber zuerst westliche Geschichte lernen.“ 965
Tatsächlich drückt Nishida dort seine Besorgnis über den politischen Zustand Japans
aus. Diese Bemerkungen aber als Widerstand oder „Kritik“ am Nipponismus zu
verstehen, stößt auf Schwierigkeiten: nicht eine Äußerung Nishidas – auch, wenn man
weitere Belegstellen heranzieht966, sei es in seinen offiziellen Schriften oder in seinen
Tagebüchern und Korrespondenzen, lässt auf eine kritische Position Nishidas dem
nationalen Diskurs gegenüber schließen. Sein persönlicher Missmut gegenüber der
Militärführung oder dem Kulturministerium ist vollkommen vereinbar mit der Sorge um
„Japan“ bzw. seiner Idee davon. Seine Sorge gilt vor allem der „richtigen
Interpretation“ des japanischen Geistes und des Tennôismus, an deren Prinzipien es für
Nishida keine Zweifel gibt. Man kann sagen, der Herrensignifikant in Nishidas Rhetorik
auch in seinen „privaten“ Schriften ist der der nationalen Einheit unter dem Stichwort
des Tennôismus. Die kritischen Bemerkungen Nishidas weisen eher auf die
963
Ueda (1995b), S. 113.
Die von Ueda angegebene Belegstelle konnte nicht ermittelt werden.
965
Brief an Kôsaka Masaaki vom 03.05.1942, NKZ XIX (1966), S. 195, zit. in Ueda (1995b), S. 108.
966
So in einem Brief an Watsuji vom 17. Juni 1943: „Ich möchte gegen die engstirnigen Nipponisten den
weltlichen Charakter unseres japanischen Geistes behaupten.“ NKZ XIX (1966), S. 243. Siehe auch Yusa,
(1991b), S. 206.
964
261
Unzufriedenheit mit der Ausführung der „Idee Japan“ als auf deren Abschaffung hin.
Die Frage ist in diesem Zusammenhang, ob sich ein „friedlicher“,
„kosmopolitischer“ Tennôismus denken lasse, oder ob der japanische Tennôismus die
Unterwerfung anderer Staaten als Kolonien inhärent notwendig mache. Da der Tennô
nicht nur – technisch gesehen – der Oberbefehlshaber über das japanische Militär ist
und somit direkt verantwortlich für die Kriegsoperationen war, sondern die Expansion
Japans über den Tennôdiskurs geführt wurde, ist es unungänglich, den Tennôismus als
die ideologische Form des ultranationalistischen Japan zu sehen, wie Lavelle es in
seinem Artikel herausstellt. Die Idee des Kokutai war fester Bestandteil des Tennôismus.
Ueda geht auf die ideologischen Paradigmen des Tennôismus und des Nipponismus
nicht ein. Ihm zufolge ist Nishidas „Unwohlsein“ Beweis genug für seine dissidente
Haltung gegenüber der japanischen Regierung, die das Problem der „politischen
Haltung“ Nishidas verschiebt. Es findet sich allerdings keine dem Kaiserhaus gegenüber
kritisch zu interpretierende Bemerkung Nishidas, weder in seinen offiziellen, noch in
seinen privaten Schriften.967
Ein weiteres Argument Uedas betrifft die Kritik an Nishida während und nach dem
Krieg: während des Krieges sei Nishida „von rechts“ angegriffen worden, nach dem
Krieg „von links“968. Diese Inkonsistenz soll suggerieren, dass es in der Beurteilung der
politischen Haltung Nishidas keine „Eindeutigkeit“ geben könne, weshalb eine Kritik an
Nishida prinzipiell verfehlt sei – denn wie wolle man vernünftigerweise etwas
kritisieren, wenn gar kein eindeutiger Tatbestand vorliege und konträre politische
Positionen zu konträren politischen Anschuldigungen kommen? Das Argument dient
der Delegitimierung der Kritik an Nishida überhaupt. So hat Ueda zufolge der
„stärkste“ Kritiker Nishidas, Takeuchi Yoshirô 竹内芳郎 (1924-)969, Nishida falsch
interpretiert, anders aber Oketani Hideaki 桶谷秀昭 (1932-), der Nishida richtig sehe.
Takeuchi sehe die „Imperialismus-Kritik“ Nishidas falsch, weil er den „größeren
Kontext“ vernachlässigt habe. Nishidas Kritik, so Uedas zentrales Arguement, sei keine
Kritik am europäisch-amerikanischen „Imperialismus“, sondern am japanischen. Ich
habe oben bereits darauf hingewiesen, dass Nishida an keiner Stelle das Tennôsystem in
die begriffliche oder sachliche Nähe des „Imperialismus“ rückt, den Signifikanten
„Europa“ aber direkt mit seinem angeblich imperialistischen Geschichtsparadigma
identifiziert. Die „Warnung“, die Nishida in Abschnitt 5 vor der
„Imperialisierung“ ausspricht, ist als Warnung gegen die europäischen Kolonisatoren
Asiens gemeint: dagegen abgesetzt wird der japanische Geist, der nicht wie der
europäische Imperialismus sei. Insbesondere zeigt sich das an Nishidas Einschätzung
der europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts in SSG, die er als Phase des
„Imperialismus“ versteht. Soweit SSG zum größeren Kontext gehört, möchte ich daraus
zitieren:
967
Das Gegenteil ist der Fall, insbesondere auch in Das Prinzip einer neuen Weltordnung (SSG): „In
dieser weltlichen Welt lebt jedes einzelne Staatsvolk seine eigene geschichtliche Mission und verbindet
sich mit der vereinten weltlichen Welt, indem es seine eigene weltgeschichtliche Mission erfüllt. Das ist
die ultimative Idee der menschlichen geschichtlichen Entwicklung und das Prinzip der neuen
Weltordnung, dass durch den heutigen „Großen Krieg“ (Weltkrieg) verlangt wird. Die Idee des Hakkô
Ichiu unseres Landes ist eben diese.“ NKZ XI, S. 445.
968
Ueda (1995b), S. 107.
969
In seinem Artikel „Der Zustand der japanischen Philosophie nach dem Krieg“ (Sengo nihon tetsugaku
no jôken 戦後日本哲学の条件) in Shisô (März 1987), S. 146-155. Siehe Ueda (1995b), S. 110.
262
Im 19. Jahrhundert kamen in der geschichtlichen Welt namens Europa Deutschland und
Frankreich in einen Konflikt. Schließlich kamen auch die Großmächte Deutschland und
England in einen Konflikt im weltlichen Raum. Das war die Ursache des Ersten Weltkriegs.
Das 19. Jahrhundert war die Epoche nationalen Selbstbewusstseins (kokkateki jikaku 国家的
自覚), das Zeitalter des sogenannten Imperialismus. Jede Nation dachte, ihre historische
Mission bestehe darin, durch die Unterwerfung anderer zur Stärke zu gelangen. Aber [dieses
Denken] steht noch nicht auf dem Standpunkt des Selbstbewusstseins der welthistorischen
Mission einzelner Nationen [...] Der Kommunismus ist totalitär, aber sein Prinzip ist stets noch
auf das Denken einer abstrakten Weltidee gegründet, das sich dem individualistischen
Bewusstsein des 18. Jahrhunderts verdankt [...] Ebenfalls wie der Imperialismus gehört er der
Vergangenheit an. Die heutige Welt denke ich als Zeitalter des globalen Selbstbewusstseins
(sekaiteki jikaku 世界的自覚). Indem sich jede Nation ihrer jeweiligen globalen Mission
bewusst wird, muss sie die eine weltgeschichtliche Welt, d.h. die eine weltliche/kosmopolitische
Welt (sekaiteki sekai 世界的世界) erschaffen.970
Der Imperialismus ist in Nishidas Verständnis ein europäisches Phänomen und gehört
der Vergangenheit an. Da für Nishida der „Weg des Tennô“ gerade nicht mit dem
europäischen Imperialismus assoziiert wird und verspricht, ein neues Zeitalter
anzuführen, ist die „Warnung“ vor der „Subjektivierung“ Japans eine Warnung vor
möglichen Aberrationen, den „Weg des Tennô“ zu verlassen. Nishidas Blick auf den
impliziten imperialistischen Impetus dieses „Wegs“ ist durch sein tennôideologisches
Denkregister verstellt.
Uedas Einschätzung zufolge habe Oketani eine „richtige“ Interpretation von NBM
vorgelegt. Er stelle fest, dass Nishida in NBM „die politische Lage eines in Bedrängnis
geratenen Japan“ zu thematisieren versuche.971 Das mag zutreffen, allein ist das kein
Beweis für Uedas These, Nishida habe sich bewusst von der offiziellen Politik Japans
distanziert. Im Gegenteil kann diese Interpretation für Nishidas Bereitschaft sprechen,
die japanische Politik mit einer philosophischen Programmatik gerade unterstützen zu
wollen.
Neben seiner Behauptung, Nishida habe eine Warnung gegen die mögliche
„Imperialisierung“ Japans ausgesprochen, behauptet Ueda gemäß seiner These vom
Tauziehen um die Bedeutung auch, das Schlagwort von der Großostasiatischen
Wohlstandssphäre bzw. „Ostasien“ sei von Nishida lediglich zur Bezeichnung eines
„geographischen“ Raumes gemeint gewesen: „Bei Nishida ist ‚Ostasien’ einfach eine
geographische Bestimmung und die ‚gemeinsame Wohlstandssphäre’ wird als normales
Substantiv verwendet. Dem zufolge verwendet er auch den Plural. Die gemeinsame
Wohlstandssphäre dient als Grundlage seines geschichtsphilosophischen Begriffs der
‚partikularen Welten.’“972 Wie in der Textanalyse von NBM gezeigt, verwendet Nishida
den Begriff „Ostasien“ stets im Kontext mit der Gestaltung der geschichtlichen Welt,
deren Erbauer Japan sei und meint keineswegs einen nur „geographischen“ Raum, auf
den er sich übrigens kein einziges Mal bezieht. Uedas Argument ist verfälschend. Auch
das Abzählen der Verwendung problematischer Begriffe, wie Ueda es unternimmt, ist
aussagelos. Nishida verwendet den Begriff „Japan“ zwar, wie Ueda richtig sieht, nur in
etwa der Hältfte der Abschnitte, die Begriffe „wir“, sowie „mein/unser Land
(Japan)“ (wagakuni 我 国 ) kommen durchgehend vor. Umgekehrt ist die häufige
970
NKZ XI, S. 444-445.
Ueda (1995b), S. 110.
972
Ueda (1995b), S. 113.
971
263
Verwendung des „Keyword“ (kiiwaado キー・ワード) „Welt“ kein Hinweis auf die
„kosmopolitische“ – und das heißt in Uedas Verständnis auch immer: „weltoffene“ –
Ausrichtung Nishidas.973 Dieses Argument ist absurd.
Ueda beendet seine Verteidigung Nishidas mit einer philosophischen Betrachtung über
Ost und West, die für den kritischen Leser unschwer als Uedas Bekenntnis zum
Kulturalismus zu erkennen ist. Dort heisst es, Nishidas Philosophie sei als ganze eine
„Sinn-Bereicherung“ für die Welt (sekai ni totte igi wo mochieru 世界にとって意義を
持ち得る ) und eine Ergänzung zu den westlichen ontologischen (das Sein), logischen
(die Identität), erkenntnistheoretischen (den Subjekt-Objekt-Gegensatz) und
lebensphilosophischen (den Gegensatz von Vernunft und Gefühl behauptenden)
Paradigmen. 974 Diese Behauptungen über Nishidas Beitrag zur Weltphilosphie, die
versöhnlich klingen wollen, sind verdinglichend, simplifizierend und in diesem Impetus
gefährlich. Die Identifikation mit den banalisierenden Behauptungen Nishidas über
„westliche“ und „östliche“ Kultur, Geschichte, Philosophie und Logik ist die
Voraussetzung einer solchen Haltung und erklärt auch den Versuch, Nishida als
Repräsentant eines zentralen Selbstbehauptungsdiskurses, dem Ueda sich offenbar
anschließt, zu rehabilitieren.
Meines Erachtens findet bei Ueda eine semantische Verschiebung in der Interpretation
der ideologischen Prekarität Nishidas statt. Das „Tauziehen um die Bedeutung“ erhält
hier seine präzise Bedeutung und muss dialektisch gegen Ueda gelesen werden: die
ideologische Operation besteht genau in der zu Nishidas Verteidigung angeführten
Interpretation, den propagandistischen Begriffen eine „liberale“ Bedeutung zu geben,
die Militärführung von einem „kosmopolitischen“, „liberalen Kern“ der Tennôideologie
zu überzeugen. Bereits die „Objektivierung“ des Kaiserwegs ist die klassischste
ideologische Operation von allen – die Naturalisierung der symbolischen Ordnung als
begriffliche Legitimation und schließlich Rationalisierung. Den Schlagworten des
kriegführenden, imperialistischen Japan eine „liberale Entschärfung“ angedeihen zu
lassen zeugt meines Erachtens von einer stärkeren Verblendung gegenüber dem
Charakter des Tennôsystems als das „Nachplappern“ ihrer zentralen Termini.975
Michiko Yusa verlässt sich bei der Bewertung Nishidas politischer Rolle in ihren
Artikeln „Nishida and the Question of Nationalism“ (1991) und „Nishida and
Totalitarianism: A Philosophers’s Resistance“ (1995) stärker auf private Schriften,
973
Ueda (1995b), S. 125.
Ueda (1995b), S. 132-133.
975
Dagegen steht die Behauptung, der Sprecher des Widerstands, des „speaking truth to power“, wie
Goto-Jones in einer Anlehnung an Edward Said Nishida treffend zu charakterisieren meint, sei unter den
Bedingungen der Sprache schon von vornherein in seinen Möglichkeiten eingeschränkt, was ganz
besonders dann gelte, wenn man, wie Nishida, ein „utopisches philosophisches Modell“ vertrete. „In the
language of Said, the philosopher’s quest for consistency engages him/her in ‚speaking truth’, and, as an
intellecutal, the philosopher is morally obliged to speak that ‚truth to power’ [...] We will see that, in
Nishida’s case, a utopian philosophical model designed as a moral critique of the empirical state in Japan
during the war period was relatively easily perverted into a glorification of the status quo. Nishida’s
attempts to perform speech-acts as a genuine philosopher-intellectual, speaking truth to power, were
finally frustrated by the ineffectualness of the strategies he chose or was forced to choose.“ Goto-Jones
(2005), S. 23-24. Mit anderen Worten: selbst wenn Nishida seinen „Utopismus“ als „Dissenz“ mit der
politischen Elite in klareren Worten hätte ausdrücken wollen – die Natur der Sprache erlaube dies nicht.
Dahinter steckt die Auffassung von der Relativität der Sprache und des quasi-ontologisch schon immer
inhärenten Missverständnisses, das sie generiere. Auch hier möchte ich widersprechen. Die Resignation
gegenüber „niemals die Wahrheit des Diskurses unverfälscht“ darzustellender Rhetorik ist irreführend:
meines Erachtens gehört die defätistische Behauptung, „es gibt keine unschuldigen Begriffe“ zu derselben
prekären Argumentationsstrategie, die dort Beliebigkeit hergestellt, wo sie zu Differenzierungen kommen
sollte. Anders gesagt: es gibt einen guten Grund, weshalb wir Städte nicht „Konzentrationslager“ nennen.
974
264
insbesondere Belege aus seinen Tagebüchern und Korrespondenzen. Ihre
Argumentation delegitimiert sich vielerorts allerdings selbst, so dass es schwer fällt,
ihrer Begründung für den politischen „Widerstand“ Nishidas zu folgen. So führt sie an,
Nishida habe sich gern mit „progressiv-minded“ Studenten umgeben, unter denen
Konoe Fumimaro, der spätere Premierminister (1937-1941, mit Unterbrechungen) war.
Konoe, so Yusa, „regarded Nishida as one of his mentors.“ Daraufhin muss sie
zugeben: „As it turned out, it was during Konoe’s administration that the military
campaign began, with the invasion of China in August 1937.“ 976 Sie setzt die
Darstellung der Umstände in einen für die Verteidigung Nishidas unvorteilhaften
Zusammenhang: die Mentorschaft Nishidas für seinen Studenten Konoe und Konoes
Verantwortung für die Invasion Chinas. Auch ihre implizite Unterscheidung zwischen
den „ultranationalists“ auf der einen Seite, die Nishida bekämpften und dem Militär
inklusive Premier Tôjô Hideki 東条英機 (1884-1948) auf der anderen Seite, die
Nishida hofierten, ist eine recht ungeschickte Darstellung der „dissidenten“ Position
Nishidas. Aus ihr lässt sich eher das Gegenteil ablesen: Nishidas Position schien den
einen Ultrarechten zwar nicht genehm, den anderen Ultrarechten – der
ultranationalistischen Militärführung – aber so entgegenzukommen, dass sie ihn um die
Ausarbeitung eines wichtigen propagandistischen Dokuments baten:
If the ultranationalists threatened Nishida, others needed him as the leading philosopher and
foremost thinker of his time. He was even asked by military officials in 1943 to draft a
proclamation of the Greater East Asia Co-Prosperity Sphere for the Tôjô cabinet in connection
with the Greater East Asia Meeting scheduled later that year.977
Yusa scheint die Prekarität nicht aufzufallen, dass Nishida von der Militärführung
überhaupt beauftragt wurde, eine (philosophische) Begründung der Großostasiatischen
Wohlstandssphäre anzufertigen. Unbekümmert behauptet sie, dass Nishida sich „in
opposition to the domestic policies of the nationalistic and militaristic government“978
befunden habe – offensichtlich eine Einschätzung, die die Militärführung selbst nicht
teilte. Um ihre These vom „Widerstand“ zu unterstützen, stellt sie die schwache
Behauptung auf, dass Nishida, der der Anfrage von seiten des Militärs nachkam und den
Entwurf für die Proklamation der Großostasiatischen Wohlstandssphäre als SSG schrieb,
nicht zufrieden war. 979 Nichtsdestoweniger stimmte Nishida schließlich der
Veröffentlichung zu, was Yusa augenscheinlich unbedenklich findet.
In
ihrem
Artikel
„Nishida
and
Totalitarianism:
A
Philosophers’s
Resistance“ thematisiert Yusa die persönliche Haltung Nishidas während des Krieges.
Dabei erfährt man in diesem Artikel mehr über Yusas politische Einschätzung des
japanischen Kaiserstaats und der Expansionspolitik als über Nishidas Haltung, was sich
in erster Linie in der suggestiv-euphemistischen Rhetorik enthüllt, mit der sie ihre
Argumente vorbringt. Hierbei möchte ich auch auf einige von Yusas argumentativen
Verkürzungen hinweisen.
Wenn man Nishidas Tätigkeiten und philosophischen Schriften sorgfältig untersuche,
stelle man fest, so Yusa, dass er ein Denker gewesen sei, „who resisted fanatic
976
Yusa (1995), S. 118.
Yusa (1991b), S. 206.
978
Ebd., S. 204.
979
Siehe für eine detaillierte Schilderung der editorischen Hintergründe von SSG, Yusa (1991a),
S. 281-94.
977
265
nationalism and struggled against the attempts of the pre-1945 military government to
impose its program of ‚thought control’ on Japan’s intellectual community.“980 Yusas
Argument dafür ist die „Universalität“ der „Reichweite“ der systematischen Philosophie
Nishidas. Sie widerstrebe ihrer Einverleibung in den „kulturellen Chauvinismus“ der
Militärführung:
Nishida’s systematic philosophy was far too universal in scope to submit to the petty racial
egoism, cultural chauvinism, and pseudo-religious belief in the superiority of the Japanese
people that was the hallmark of the nationalism – or rather ultranationalism – prevalent at the
time.981
Hier verkürzt Yusa hier ein inhaltliches Problem auf seine sprachliche Suggestivität.
Die angebliche „universelle philosophische Reichweite“ Nishidas ist kein Argument
gegen die mögliche Zustimmung zu einem „kulturellen Chauvinismus“. Schließlich ist
es durchaus denkbar, dass jemand ein hervorragender Sprachphilosoph,
Erkenntnistheoretiker und Logiker ist und dennoch die Staatsvorstellung etwa Carl
Schmitts befürwortet. Diese Konstellation ist methodisch unwidersprüchlich und
unproblematisch. Aber Yusa verlässt sich, ob absichtlich oder unabsichtlich, auf die
sprachliche Kraft eines Begriffs wie „universal“, den sie mit „petty racial egoism“,
„cultural chauvinism“ und einem „pseudo-religious belief in the superiority of the
Japanese people“ zu kontrastieren versucht. Allein die sprachliche Suggestivität von
„universell“ ändert nichts daran, dass inhaltlich engstirnige nationalistische Positionen
anschlussfähig sind – zumal die angebliche Vielfalt der Nishidaschen Themen die
Annahme einer „egoistischen, rassistischen“ Position nicht ausschließt. Das Argument
Yusas ist vielmehr ein Verlassen auf die positive Suggestivkraft ihres eigenen
sprachlichen Ausdrucks.
Ähnlich aufschlussreich für Yusas Argumentationsstil ist auch ihre Bewertung des
politischen Umfelds des jungen Nishida: „In an important sense, the basic ingredients of
Nishida’s political stance were already present from his youth. Born in 1870, he grew
up breathing the liberal democratic air of the early Meiji period.“ 982 Allein die
Bezeichnung der frühen Meiji-Zeit als liberal-demokratisch ist symptomatisch für
Yusas euphemistischen Sprachgestus. So war die Verfassung der Meiji-Zeit, die den
Kaiser wieder als Zentralgewalt einsetzte, alles andere als „liberal-demokratisch“, es sei
denn, dass man auch die Verfassung Preußens, die ihr Vorbild war, als „liberaldemokratisch“ versteht. Die Meiji-Verfassung war eine strikt hierarchische, auf
shintôistischen Gründungsmythen beruhende Alleinherrschaft in der Person eines
„göttlichen“ Kaisers. Yusa lässt unbestimmt, was an der frühen Meiji-Zeit liberal oder
demokratisch war. Meint sie z.B. die Bewegung für Volksrechte, die Jiyû Minken Undô
自由民権運動, ließe sich ein solcher Zusammenhang herstellen, allerdings thematisiert
sie diese nicht, war Nishida auch weder ein Teil der Bewegung noch stand er ihr nahe.
Ein weiteres Argument dient Yusa zum Beweis der „freiheitlichen
Gesinnung“ Nishidas: am Tag der Proklamation der neuen Meiji-Verfassung am 11. 02.
1889 ließ sich Nishida mit seinen Freunden „stolz“ vor dem Banner mit der Aufschrift
„Wir freien Männer stehen an der Himmelsspitze“ (chôten ricchi jiyûjin 頂天立地
980
Yusa (1995), S. 107.
Ebd.
982
Ebd., S. 108. Hervorh. EL.
981
266
自由人) fotografieren.983 Yusa interpretiert, dass der junge Nishida und seine Freunde –
beunruhigt über die Abwendung von der japanischen Tradition und über die
„Verwestlichung“ Japans – mit dem Posieren für ein Foto ein Zeichen des Widerstands
im Sinne der „Emanzipation“ Japans, der Hoffnung auf die Abschaffung der ungleichen
Verträge, gesetzt haben.984 Diese Anekdote mag anschaulich machen, dass Nishida ein
gewisses politisches Bewusstsein gehabt haben mochte, allein sagt dieser Sachverhalt
über die angeblich liberale Ausrichtung Nishidas nichts aus. Yusa bringt Nishida hier
mit Argumenten im Interesse des nationalen Selbstbehauptungsdiskurses in Verbindung,
die dem heutigen Verständnis zumindest des amerikanischen Wortes „liberal“ eher
entgegenstehen.985 Bekannterweise gab es bereits in der frühen Meiji-Zeit eine erste
Welle anti-westlicher und anti-moderner Selbstbehauptungsrhetoriken, die sich auch im
Regierungsjargon, „keine zweitrangige Stellung“ unter den Nationen der Welt
einzunehmen, deutlich zeigte.986 In der frühen Meiji-Zeit gelebt zu haben bedeutet
keinesfalls, die „Luft“ liberaler Demokratie zu atmen, wie auch das wieder nicht
bedeutet, Nishida sei schon durch das Atmen dieser Luft ein Denker des Widerstands
gewesen. Yusas Argument ist historisch ungenau, verkürzend und suggestiv.
Abgesehen von der grundsätzlichen Tatsache, dass eine nicht vorhandene Zustimmung
zu diesem oder jenem System kein Argument für den Widerstand ist, sollte die Analyse
von NBM gezeigt haben, dass Yusas Behauptung bereits auf der Ebene seiner
offiziellen philosophischen Schriften falsch ist. Auch auf der Ebene seiner privaten
Schriften kann sie nicht belegt werden. 987 Obwohl Yusa zugibt, dass Nishida die
offizielle kulturelle Rolle des Tennô gutheißt, behauptet sie, Nishidas Auffassung des
Kokutai erhalte eine neue, völlig andere Gewichtung. Nicht sei das Kokutai im
Tennôismus verwurzelt, sondern in der „Vornehmheit“ der „menschlichen
Realität“ selbst. Das werde aus einem Brief an Yamamoto Ryôkichi 山本良吉 von
1918 klar.988 Nishida sagt darin, der japanische Kokutai sei auf der „Menschheit“, der
„humanity“ [e. i. O.] begründet. Man muss die problematische politische Haltung
Nishidas ab den 1930er Jahren nicht auf die Zeit um 1918 zurückdatieren, um zu sehen,
dass Nishida schon hier zentrale Begriffe der Tennôideologie positiv konnotiert. Der
Kokutai wird von Nishida durch seine angebliche Fundiertheit in der „humanity“, die
Bansei Ikkei durch die „Nächstenliebe“/„Barmherzigkeit“ (jihi 慈 悲 ),
„Selbstlosigkeit“ (bogga 没 我 ) und das „Gemeinsame“ (kyôdô 共 同 ), das sie
symbolisiere, charakterisiert.989
Weiter ist in Yusas Verständnis Nishidas Geschichts- und Staatsphilosphie eine
Philosophie des „Pluralismus“. Jede Nation könne in Nishidas Vision ihre eigene
„Identität“ bewahren. Auch hier verlässt sich Yusa wieder auf die suggestive Kraft
983
Ebd., S. 108.
So formuliert Yusa: „On 11 February 1889, the day the Meiji Constitution was promulgated, they
posed in front of a camera with a banner that read ‚We Stand Free at the Top of Heaven’, a sign of their
defiant hope for a new nation emancipated from the unfair trade treaties [...]“ Yusa (1995), S. 108.
985
Ich verstehe Yusas Verwendung des englischen Wortes „liberal“ dann auch im angloamerikanischen
Sinne als „nicht konservativ“.
986
Siehe J.W. Hall (1968), S. 293.
987
Den Erinnerungen des Enkelsohns Nishidas zufolge – die Yusa hier zum Beweis ihrer These vom
„Widerstand im Privaten“ anführt – sind als politisches Dokument fragwürdig. So habe Nishida seinem
Enkel erzählt, der Kaiser sei ein „ordinary human being“, den man bemitleiden sollte. Ueda Hisashi 上田
久, Sofu Nishida Kitarô 祖父西田幾多郎. Nansôsha, Tôkyô (1983), S. 48-49, zit. in: Yusa (1995), S.
109. Über Nishidas politische Haltung zum Kaiserhaus sagt das indes nichts aus.
988
In NKZ XVIII (1966), S. 207., zit. in Yusa (1995), S. 109.
989
NKZ XVIII (1966), S. 207.
984
267
positiv belegter Begriffe ungeachtet ihres semantischen Gehalts: „The vision [Nishida]
proposes is of a pluralistic community of nations within which each nation is able to
maintain its own identity, the leadership falling to those countries with the most highly
developed global orientation to history.“990 Offensichtlich findet Yusa es angemessen,
dass die Führerschaft an diejenigen Länder verteilt wird, die in den Genuss der am
höchsten entwickelten „Geschichtsorientierung“ kommen. Sie reproduziert distanzlos
Nishidas eigenes Argument über die Führerschaft Japans in Asien. Yusa gleicht sich in
ihrer Interpretation so eng an Nishidas Formulierungen an, dass sie sich selbst die
Überschreitung des „Bannkreises“ der Nishida-Terminologie verunmöglicht: ihre
Aussagen lassen sich vom Nishidaschen Jargon blenden und verbleiben inhaltslos. Die
Konsequenz ist ein absolut abstraktes und vages Bild von „Geschichte“, bei dem, ob
bewusst oder unbewusst, unbestimmt bleibt, was genau man unter „Pluralismus“ oder
„Identität“ zu verstehen habe. Auch die Rechtfertigung von Nishidas Engagement im
Regierungs-Think-Tank, der Shôwa Juku 昭 和 塾 – einer wissenschaftlichen
Unterabteilung von Konoes Erziehungsinstitut, der Shôwa Kenkyûkai 昭和研究会, zur
„Erweiterung des japanischen Geistes“ und zur sprituellen „Errichtung einer neuen
ostasiatischen Ordnung“991 – bleibt vage: „[Nishida] felt the need to train a younger
generation that could think on its own, make its own decisions, and steer Japan
prudently into the coming age of global interaction.“992 Was genau hier „the coming
age of global interaction“ heißen mag, bleibt im Dunkeln. Yusa behauptet, der Begriff
„global interaction“ stelle einen Wert an sich dar. Ihre allgemeine Bewertung der frühen
Meiji-Zeit als „liberal democratic“ ohne Verweis auf die Bürgerrechtsbewegung und
ihre Hypostasierung einer im Abstrakten verbleibenden „pluralistischen
Gemeinschaft“ sowie einer nicht weniger abstrakten „global interaction“ als Werte an
sich sind die sprachlichen Symptome ihres politischen Desinteresses an einem
emanzipatorischen Politik- und Menschenbild, das sie mit Nishida teilt. Die Sprache
ihrer Nishida-Interpretation verbleibt in seinem Jargon und lässt sich schließlich
weniger als Interpretation, eine über die verhandelte Terminologie hinausgehende
Deutung bestimmter Aussagen, denn als Reproduktion verstehen. Sie erinnert zudem
stark an die Rhetorik der Militärführung: Yusas Lesart Nishidas als Aufforderung an
Japan, zur „Menschlichkeit und Moralität zurückzukehren“, die „Waffen
niederzulegen“ und erst dann seine asiatischen Nachbarn in die „neue Ära zu
führen“ unterscheidet sich nicht wesentlich von der Behauptung des Offiziers und
Heeresministes Araki Sadao 荒木貞夫 (1877-1966), Japan sei kein militaristisches oder
imperialistisches Land und würde zu den Waffen nur um des Friedens Willen greifen.993
Leider verlässt sich Yusa in ihrer Nishida-Apologie bzw. in ihrer Präsentation eigener
politisch-philosophischer Positionen mehr auf die Suggestivität „liberal“ konnotierter,
aber unbestimmter Begriffe („universal“, „pluralistic“, „global orientation“, „world
culture“994, „global interaction“) als den semantischen Gehalt dieser Begriffe sinnvoll
zu analysieren. Nichts in ihrer Argumentation deutet indes inhaltlich darauf hin, dass
Nishida ein „Philosoph des Widerstands“ war. Nishidas vage Gedanken zur Sphäre des
Politischen enthüllen sich in Yusas Interpretation vielmehr als Symptom eines
990
Yusa (1995), S. 111.
Siehe Lavelle (1994), S. 144.
992
Yusa (1995), S. 119.
993
Siehe dazu die Selbstauskunft Arakis in „The Spirit and Destiny of Japan“, in: Ivan Morris (Hg.)
(1993), S. 73. Ich bin dem Hinweis Lavelles nachgegangen. Lavelle (1994), S. 161, Fußnote.
994
„Genuine intellectual growth into a world culture that will serve humanity at large does not think in
such clichés [East and West] but seeks to understand ideas from all quarters.“ Yusa (1995), S. 117.
991
268
Widerwillens an einer emanzipatorischen Politik. In der distanzlosen Reproduktion
seiner unscharfen Thesen zur Weltpolitik scheint durch, dass Yusa diesen mit Nishida
teilt.
Christopher Goto-Jones hat gleich ein ganzes Buch zum Zweck der Nishida-Apologie
verfasst: Political Philosophy in Japan. Nishida, The Kyoto-School and Co-Prosperity
(2005). Seine These: „I will argue that Nishida fought in the ‚civil war’ against ultranationalist and imperialist interpretations of the state-sanctioned terminology using the
tools of his wider philosophical system.“ 995 Ich möchte meine kurze und
zusammenfassende Kritik an Goto-Jones’ auf drei Punkte konzentrieren, wobei ich in
erster Linie sein methodisches Vorgehen problematisiere. Der letzte Punkt betrifft GotoJones Argumentationsstil und will nicht noch einmal auf die inhaltlichen, sondern auf
die formalen Absurditäten hinweisen, zu denen die Apologie von Nishidas politischem
Denken führen kann.
Erstens: mit seiner These will Goto-Jones sich vom Ueda Shizuterus Methode
abgrenzen, das „Tauziehen um die Bedeutung“, das heißt das angebliche
Nichteinverständnis Nishidas mit der ultranationalistischen Politik, allein durch seine
Privatschriften zu belegen. Goto-Jones hält diese Methode für „nicht überzeugend“,
denn – wie er meines Erachtens richtig sieht –Nishida interessiert uns nicht als
Tagebuchschriftsteller, sondern als Philosoph. Goto-Jones Gegenthese ist dagegen alles
andere als überzeugend: „Nishida was engaged in what Ueda has called a ‚tug-of-war
over meaning’, and he hoped that his audience would deduce dissent from their
knowledge of his wider (though often not explicitly political) work.“996 Wie Goto-Jones
zu dieser Behauptung kommt, erfährt der Leser nicht und muss sich im Laufe der
weiteren Argumentation erschließen. Allerdings scheint es doch nicht weniger
willkürlich, Nishidas „Dissenz“ zur offiziellen Propaganda in seinen nicht explizit
politischen Schriften zu entdecken als in seinen Tagebüchern. Dennoch, Goto-Jones
erklärt Zen no kenkyû zum Beweisdokument der politischen Haltung Nishidas, eine
nicht weniger problematische Entscheidung. Er begründet sie, indem er das Kapitel über
die „Ethischen Lehren“ aus ZnK von 1911 zum Beweis von Nishidas politischer
Haltung in den 30er Jahren heranzieht. So unterliegt seinem methodischen Vorgehen
zum Einen eine implizite Konfundierung von Ethik- und Politikbegriff, die ihm in ihrer
Problematik nicht bewusst zu sein scheint. Zum Anderen ist hier auch methodisch
prekär, dass ein einzelner Text von 1911 das „wahre“ politische Bild Nishidas zeichnen
soll, welches durch die ultranationalistische Atmosphäre ab den 1930er Jahren
verfälscht worden sei: „[...] Zen no kenkyû provides a special opportunity to discover
the political thought of Nishida before the dark clouds of ultra-nationalism cast their
shadow over the social discourse.“997 Goto-Jones gemahnt hier an den „guten“ Kern des
politischen Bewusstseins Nishidas, der nur freigelegt werden müsse, um seine
„wahre“ Haltung zur Militärführung begreifbar zu machen. Mit der Rückführung auf
einen „humanistischen Kern“ kann man in der Tat noch alle politischen Akte der
Willkür rationalisieren – offensichtlich eine Problematik, die Goto-Jones nicht
aufzufallen scheint.
Trotzdem ist diese selektive Beweisführung symptomatisch für die unbelegte Hypothese,
es gäbe einen „guten“, moralisch „unverfänglichen“ Nishida von 1911, der in der
995
Goto-Jones (2005), S. 1.
Goto-Jones (2005), S. 2. Hervorh. EL.
997
Goto-Jones (2005), S. 48.
996
269
Rezeption Interpretationsgrundlage seiner explizit nationalistischen Schriften ab den
1930ern zu werden habe. Die Erklärung über die Entscheidung, warum eine frühere
Phase bei Nishida wirkungsgeschichtlich relevanter ist als eine andere, bleibt GotoJones schuldig – und ist insofern problematisch, als von einer angeblich antiautoritären
Tendenz in seinen Frühschriften auszugehen zur Bewertung von Nishidas späteren
Schriften maßgeblich wird. Dabei werden Nishidas politische Schriften ab der
Kulturformen-Schrift von Goto-Jones nicht zum Beleg seiner politischen Haltung
herangezogen. Das Naheliegendste wäre, die politische Haltung Nishidas aus seinen
politischen Schriften zu destillieren. Es ist merkwürdig, dass der Nishida-Rezipient
Goto-Jones nicht in die Verlegenheit kommt, genau das zu tun.
Zweitens gibt es in Goto-Jones’ Ansatz ein weiteres Plausibilitätsproblem: die
unzulässige Übertragung bestimmter Begriffskomplexe und Argumente auf einen völlig
anderen Begriffskomplex. So wird die These des „von Anfang an politischen
Nishida“ durch eine gewisse selektive Hypostasierung zwar noch vorangetrieben,
allerdings um den Preis ihrer Nachvollziehbarkeit. Dazu im Einzelnen: Goto-Jones
grenzt sich explizit von angeblichen Versuchen ab, ex post facto eine „rechte
Agenda“ in Nishidas Werke „hineinzulesen“. Bereits sprachlich suggeriert Goto-Jones
die Unterlegenheit dieser Interpretatonsansätze: Kritiker wie Lavelle interpretieren
nicht, sondern „lesen hinein“: „[...] scholars such as Lavelle have adopted this approach,
effectively arguing that we can read an imperialist and ultra-nationalist agenda back into
the philosophy of Nishida Kitarô.“ 998 Das Problem bestehe für Goto-Jones in
Folgendem: „Rather than answering questions about the meaning of particular texts in
specific historical and social circumstances, they are mining classical sources in order to
use them to support their own positions in the present.“999 Daraufhin unternimmt GotoJones die größte mir in der wissenschaftlichen Literatur zu Nishida bekannte
methodische Projektion: das, was er Lavelle zum Vorwurf macht, führt er selbst en
detail und unter grossem argumentativen Aufwand auf den nächsten 40 Seiten aus. So
parallelisiert Goto-Jones zum Beweis ihrer buddhistischen Herkunft die 17-ArtikelVerfassung von Prinzregent Shôtoku aus dem Jahre 604 mit den „Ethischen
Lehren“ aus Zen no kenkyû1000, behauptet die Nähe des honji suijaku 本地垂迹1001 des
Tendai-Buddhismus und seiner Interpretation bei Kûkai 空海 (774-835) mit den
wesentlichen Thesen aus dem Kulturformen-Text Nishidas 1002 und stellt die ichinen
sanzen-Doktrin als „richtige“ Interpretation von Nishidas Auffassung des Hakkô Ichiu998
Goto-Jones (2005), S. 16.
Ebd.
1000
„[....] it is hard to deny that Articles 3 and 10 [aus der 17-Artikel Verfassung Shôtokus, EL] establish
a political spectrum ranging from a simple, monarchical authoritarianism on the one hand (what Nishida
would later call „divine heteronomous-„ or „authority-theory“) to a more permissive pluralism on the
other (where Nishida would later locate the „good“). Goto-Jones (2005), S. 30.
1001
Nakamura zufolge die „Manifestation“ Buddhas in Gestalt einer Gottheit (kami 神). Originalquelle:
Der erste Band des Shasekishû 沙石集, eine Art buddhistisches Wörterbuch um 1279, herausgegeben von
Mujû 無住(1226-1312), einem Rinzai-Mönch. Nakamura (1981), S. 1261.
1002
So wird das Honji Suijaku nicht nur formal, sondern auch inhaltlich mit Nishidas Kulturdiskussion in
den Kulturformen konfundiert: „In his seminal work, jûjû shinron, Kûkai went so far as to suggest that
mankind’s collective advance towards enlightenmentcould be served [...] also by the observance of nonBuddhist doctrines, since even these were likely to be honji-suijaku. This permissive location in the
political discourse is later occupied by Nishida in the 1930s, when he talks about the nature of progress in
the context of differing civilizations: in keijijjôgakuteki tachiba kara mita tôzai kodai no bunka keitai
(1934), for example, Nishida describes how every civilization manifests something of the absolute in its
‚unique features’, and he suggests that progress towards the universal is found in the synthesis of these
particular features.“ Goto-Jones (2005), S. 31-32
999
270
Prinzips vor, ohne auf den shintôistischen Ursprung des Hakkô Ichiu hinzuweisen.1003
Fast kein Schulgründer der buddhistischen Tradition wird von Goto-Jones ausgelassen,
um Nishida als direkten Erben ihrer angeblich politischen Doktrinen zu behaupten. So
werden Hônen 法 然 (1133-1212), Shinran, Nichiren und Dôgen durch stark
simplifizierende Darstellungen ihrer zentralen Doktrinen zu den Vätern der politischen
Ausrichtung Nishidas und gleichzeitig politischen Philosophie Japans überhaupt
erklärt.1004 Zweck ist die politische Schadloshaltung Nishidas über die Suggestivität des
Harmoniebegriffs (wa 和), der im Buddhismus angeblich tonangebend sei, sowie über
die vielfachen Auslegungsmöglichkeiten der Haltung des „Buddhismus“ zum Krieg –
wobei Nishida Goto-Jones zufolge eine besonders liberale, ja geradezu
völkerverständigende Auslegung des Krieges im Geiste des Buddhismus vertritt: „[...]
the justification of war [in Buddhist political thought] is importantly conditional: war
must not be the result of personal ambition, and it must not be directed against those
unwilling to embrace the rules of the victors.“1005 Goto-Jones überdehnt nicht nur die
Bedeutung buddhistischer Diskurse für Nishidas Denken, sondern erklärt
„rückwirkend“ die Lehren Hônens, Dôgens etc. zu politischen Theorien, um so eine
japanische Kontinuität antibellizistischer Diskurse, der sich angeblich auch Nishida
anschließe, zu hypostasieren. Zum Einen ist diese romantisierende Sicht auf die Haltung
weiter Teile der buddhistischen Ideologie, so insbesondere im Zen, und der sie
vertretenden Elite ist längst widerlegt.1006 Methodisch prekärer aber ist zum Anderen
Goto-Jones’ Projektion auf Lavelle: so wird bei Goto-Jones, anstatt die Bedeutung
bestimmter Texte in der „bestimmten sozialen und geschichtlichen Gegenwart zu
analysieren, die Ausgrabung klassischer Quellen zur Unterstützung bestimmter Ziele in
der Gegenwart“1007 – ein Vorgehen, welches er Pierre Lavelle als nicht objektiv vorwirft.
Drittens belässt Goto-Jones es nicht bei einer Rehabilitierung des politischen Nishida
bzw. des ultranationalistischen Jargons durch die buddhistische Tradition: auch Kants
politische Assoziation freier Staaten aus Zum ewigen Frieden (1795) darf in Nishidas
Interpretation als Stichwortgeber der japanischen Idee von der Großostasiatischen
Wohlstandssphäre herhalten. Goto-Jones sieht das Zusammenfallen von Kants und
Nishidas politischer Philosophie in der Frage nach der Bedingung für den gerechten
Zusammenschluss verschiedener Staaten in einem (so wie es beispielsweise bei der
1003
Goto-Jones’ Konfundierungsleistung ist beträchtlich. So meint er, im Ichinen Sanzen werde dieselbe
Problematik von Allgemeinem und Besonderen behandelt wie im Propagandawort des Hakkô Ichiu. In
diesem Sinne verwende Nishida das Schlagwort Hakkô Ichiu, eine These, die er zu beweisen für ebenso
unnötig hält: „[Ichinen Sanzen means that] [e]very particular thought was simultaneously universal: one
thought, three thousand worlds. In a very different intellectual context, an associated expression, hakkô
ichiu (the world under one roof), would become a cathphrase for the Co-Prosperity Sphere in the 1940s.
Insofar as ichinen sanzen described the universality of the particular and hakkô ichiu described the
universal that united myriad particularities, the two expressions were the flip sides of the same coin [sic].
Nishida Kitarô himself uses the phrase hakkô ichiu [...], but rather than buying into the ideological
content of the phrase in wartime Japan, we will see that Nishida is very careful to tie it back to this early
formulation via his own concept of sekaiteki sekai (world of worlds).“ Goto-Jones (2005), S. 32.
Allerdings bleibt es bei Goto-Jones im Laufe der Untersuchung bei diesen Behauptungen. Eine Analyse
des Begriffs der sekaiteki sekai bleibt er schuldig.
1004
Siehe insbesondere Goto-Jones (2005), S. 25-40.
1005
Goto-Jones (2005), S. 36.
1006
Exemplarisch dazu Brian Victoria, Zen at War (1997), aber bereits auch die Arbeiten Ichikawas,
insbesondere Die Kriegsverantwortung der Buddhisten (Bukkyôsha no sensô sekinin 仏教者の戦争責任)
(1970) und in der Folge Ch. Ives, Imperial Way Zen (2009).
1007
Goto-Jones (2005), S. 16.
271
Großostasiatischen Wohlstandssphäre mit Japan als Führungsmacht faktisch vorliege).
Diese Bedingung ist Goto-Jones zufolge bei Kant wie bei Nishida dann erfüllt, wenn
dieser Staat einen „Zustand der Aufklärung/Erleuchtung“ („state of enlightenment“)1008
erreicht habe. Wenn diese Bedingung vorliege, werden die anderen Staaten sich
freiwillig unterwerfen. Ungeachtet der radikalen Differenzen in Konzeptualisierung,
Ausführung sowie Ausmaß ihrer jeweiligen politischen Ideen und ungeachtet der stark
zu bezweifelnden Annahme, dass Kant sich diesem Gedanken anschliessen würde,
schließt Goto-Jones Kants und Nishidas „politisches Denken“ in einem Beispiel
zusammen: „I formulate a sentence that both Kant and Nishida would approve of: only
enlightened states can form genuine transnational groupings.“1009 Weil dieser Satz aber
dazu verführen könne, das Kaiserliche Japan oder das British Empire für aufgeklärt zu
halten, weil sie einen Kaiser- bzw. ein Königshaus haben, sieht Goto-Jones bei Nishida
– ebenso wie bei Kant! – eine wesentliche sprachliche Nuance am Werk, die die ganze
Bedeutung eines solchen Satzes angeblich in Frage stelle und sie einer grundlegenden
neuen Bedingung unterwerfe. Ich möchte Goto-Jones’ Argument in seiner vollen Länge
präsentieren – nicht so sehr, um ihn vor- und somit schlechter philosophischer
Argumentation zu überführen, sondern vielmehr, um die absurden Folgen eines
unreflektierten Umgangs mit Quellentexten zu belegen:
I formulate a sentence that both Kant and Nishida would approve of: only enlightened states can
form genuine transnational groupings. It is easy to see how such sentences could be used by
political figures to imply that, say, Imperial Japan or Great Britain was enlightened because it
had an empire. However, such an interpretation fudges the conditional by deliberating
misreading the moral content of „can“. In the context of the wider thought of either Kant or
Nishida, such sentences have a rather different meaning: only if/when (...tara) states are
enlightened will they become able to form legitimate transnational groupings. That is, the
Japanese Empire is immoral if Japan (or Korea, or China...) is not an enlightened state. From
Nishida’s concerns about the problems of heteronomous political ethics [aus ZnK], we can
judge that Imperial Japan [...] was not an enlightened state. Hence, the Japanese Empire was not
a genuine or moral particular world.1010
Der Rehabilitationszwang von Nishidas politischem Denken macht auch vor solchen
unsinnigen Argumenten nicht halt. Zunächst ist es problematisch, dass Goto-Jones die
angeblich von Nishida wie Kant gleichermaßen vorgebrachte Behauptung nicht belegt.
Er möchte vielmehr einen gewissen „Argumentationshabitus“ darstellen, den Nishida
wie Kant – die Parallelisierung an sich ist bereits schwierig – angeblich pflegen. Das
Skandalon dieses Arguments ist aber Goto-Jones Behauptung, die (von ihm
hypostasierte) Einführung des Konditionals „wenn“ bzw. „nur dann, wenn“ verändere
die Bedeutung eines bereits als Konditional formulierten Satzes. Dabei liegt faktisch
Bedeutungsgleichheit vor. So ist die Bedeutung von „Nur freitags gibt es
Fisch“ bedeutungsgleich mit „Nur wenn Freitag ist, gibt es Fisch.“ Dass das
Konditional „if“/“when“ eine stärkere Bedingtheit für den Zustand der Aufklärung
suggeriere als die Einschränkung „only“, scheint das Produkt der Goto-Jonesschen
1008
Goto-Jones (2005), S. 65.
Ebd.
1010
Ebd.
1009
272
Phantasie. 1011 „Only enlightened states“ und „Only if states are enlightened“ verschiebt
nur die Syntax, nicht die Bedeutung. Für den Leser stellt sich Nishidas Distanz zum
japanischen Staat allerdings nicht über ein fehlerhaftes Argument her.
Auch ist Goto-Jones’ Behauptung absurd, Nishida habe Japan in den 1930er Jahren
nicht als aufgeklärten (erleuchteten?) Staat gesehen, weil er sich in Zen no Kenkyû 1911
von der „heteronomen Ethik“ distanziert habe. Nahegelegt wird hier, der japanische
Tennôstaat repräsentiere eine „heteronome Ethik“, die Nishida auch als solche
identifiziert. Allerdings ist das nicht der Fall und wird von Goto-Jones entsprechend
nicht belegt. Die Übertragung eines bestimmten Themas (Nishidas Diskussion über das
„Gute“ in ZnK) auf ein anderes (Nishidas Einschätzung des japanischen Staates
während der Kriegszeit) zeitigt solche abseitigen Argumentationen, die sich eher auf
Intuition zu verlassen scheinen als auf kohärente Argumentation und auf eine
immanente
Auseinandersetzung
mit
zutiefst
problematischen
politischen
„Ideen“ verzichten. Goto-Jones belässt es indes nicht bei einer Verteidigungsstrategie,
sondern versucht in seinem Buch, Nishida als „politischen Utopisten“ darzustellen.
Einen Hinweis darauf, wie mager und grossteils schlicht ärgerlich die Argumentation
auch für dieses Projekt ist, dürften die vorangegangene kritische Analyse seiner
zunächst nur methodischen Strategie gezeigt haben. Die inhaltliche Auseinandersetzung
muss ich hier ebenfalls leider aussparen. Sie dürfte allerdings ebenfalls auf die Analyse
der methodischen Fehlleistungen rückführbar sein, zumindest aber hier ihren Anfang
nehmen.
Eine vollständige kritische Lektüre der Verteidigungsstrategien Nishidas bei Ueda,
Yusa und Goto-Jones verlangt auch eine vollständige Untersuchung über Sinn und
Zweck der Nishida (und im weiteren: Kyoto-Schule) – Apologie überhaupt. Meine
Arbeit kann das hier nicht leisten; sie würde eine Diskursanalyse fordern, die nicht zur
methodischen Architektonik der vorliegenden Untersuchung gehört. Sie würde auch in
den größeren Kontext der Modernismus-Debatte und auch zur Kritik der sich
inzwischen in verschiedene Subgruppen dividierende Disziplin der Post-Colonial
Studies gehören, bei der das Thema „Japan im 20.Jahrhundert“ noch immer zu den
großen dunklen Flecken gehört.
3.
Hin zu einer Religionsphilosophie mit der Idee der prästabilierten Harmonie
als Leitfaden (Yotei Chôwa wo tebiki to shite shûkyôtetsugaku e 予定調和を
手引として宗教哲学へ) (1944) – Die Vollendung des Identitätsdenkens
Während der schriftlichen Niederlegung des Aufsatzes Hin zu einer
Religionsphilosophie mit der Idee der prästabilierten Harmonie als Leitfaden (Yotei
Chôwa wo tebiki to shite shûkyôtetsugaku e 予定調和を手引として宗教哲学へ), im
Folgenden Yotei Chôwa, vom 03.03. bis 23.03. 1944 schrieb Nishida an Watsuji
Tetsutarô, man müsse sich „begrifflich“ (gainentekini 概念的に) Klarheit über den
Begriff des Kokutai, der japanischen Nationalsubstanz, verschaffen.1012 Nishida hatte
bereits in seinen Vorlesungen und dem Aufsatz über den „geschichtlichen
1011
Der bloße Hinweis auf die hongaku shisô 本学思想-Antinomie von der „spontanen Erleuchtung“, der
ein ebensolches Dilemma unterliege, ändert nichts an der unsinnigen Argumentationsfigur, die GotoJones hier zur Auflösung der Antinomie anbringen zu können meint.
1012
Brief vom 15.03. 1944, NKZ XVIIII (1966), S. 296.
273
Körper“ (rekishiteki shintai 歴史的身体) (1937)1013 eine Selbstverständigung über den
jahrelang unterbestimmten Begriff des Körpers versucht, die als Bestandteil seiner
Wende zum Homo exterior gewertet werden muss. Auch in Yotei Chôwa zeigt sich
Nishidas Versuch der begrifflichen Grundlagengebung, hier in Bezug auf den Kokutai.
Dabei gehört Yotei Chôwa, ebenso wie der Kulturformen-Text und NBM nicht zum
Korpus seiner im Auftrag des Propagandaministeriums geschriebenen Texte. Nishidas
Geschichtsmetaphysik findet hier eine zusammenfassende Darstellung ohne die
terminologischen Zwänge der offiziellen Propaganda. Besonders Yotei Chôwa ist hier
aufschlussreich, bietet der Text eine umfassende, metaphysisch und
religionsphilosophisch motivierte Legitimation des Kokutai ohne die äußeren
Beschränkungen. Für eine kritische Lektüre ist Yotei Chôwa zudem überaus dankbar, da
sich keine expliziten, sondern nur durch entsprechende Interpretation herauslösbaren
Momente ergeben, in denen Nishida Japan als Vorbild und Muster für die Welt
bestimmt, wie er es bereits in NBM und SSG, hier allerdings in weniger verschlüsselter
Form, getan hat. Für eine Darstellung dieses Textes, der in zwei Teile, einen, grob
gesagt, metaphysisch-logischen und einen religionsphilosophischen zerfällt, möchte ich
allerdings etwas weiter ausholen.
Auf die theoretische Vorbildstellung der Leibnizschen Metaphysik für Nishidas Denken,
prävalent im Begriff der „prästablilierten Harmonie“, ist bereits mehrfach hingewiesen
worden. Yotei Chôwa stellt hier nun den expliziten Versuch Nishidas dar, den
Zentralbegriff des späteren Leibniz aus der Monadologie (1714)1014 seinem – Nishidas –
Denken zu subsumieren. Die explizite Inanspruchnahme der späten Leibnizmetaphysik
dient Nishida in erster Linie zur Vermittlung seines Verständnisses von „Kultur“ und
„Geschichte“, wieweit die Abgleichungsversuche mit Leibniz im ersten Teil auch der
angeblichen „Nähe“ der Leibnizschen Metaphysik mit Nishidas Ortlogik verdeutlichen
sollen. Dabei bleibt Nishida seiner Vorgehensweise treu, das Denken so heterogener
Ansätze wie die Leibnizens, Spinozas, Descartes’ und Nikolaus Cusanus’ seinem
Denken anzugleichen und zu behaupten, nichts anderes als was diese Denker gesagt
haben, habe er mit „Ort“ eben auch sagen wollen. So z.B. in der Adaptation der Idee der
Kompossibilität (compossibilité) und den zwei logischen Prinzipien Leibnizens, dem
Satz des Widerspruchs und den Satz des zureichenden Grundes1015: „Als eine Welt, in
der die ewige Zukunft in der ewigen Vergangenheit gespiegelt ist, begründet sich diese
Welt auf die logische Form des Kompossibilen, das heißt (sunawachi 即ち) der
Ortlogik.“ 1016 Die Subsumierung Leibnizscher Logik, der Substanzlehre Spinozas,
sowie der negativen Theologie Cusanus’ in sein Denken ungeachtet, kommen auch hier
wieder die von Nishida ritualisierend verwendeten Ausdrücke von der (absolut)
widersprüchlichen Selbstidentität, der Tat-Anschauung, der absoluten Gegenwart als
Selbstbestimmung der Gegenwart, in der Vergangenheit und Zukunft „gespiegelt“ seien,
1013
NKZ XII, S. 343-367.
Allen Zitaten aus der Monadologie liegt die französisch-deutsche Ausgabe bei Reclam, übersetzt und
herausgegeben von Hartmut Hecht, zugrunde. Leibniz (1998).
1015
Monadologie §§ 31-32. Leibniz (1998), S. 27: „Unsere Vernunftschlüsse stützen sich auf zwei große
P r i n z i p i e n , das des W i d e r s p r u c h s , kraft dessen wir als f a l s c h beurteilen, was ihn einschließt und
als w a h r , was dem Falschen entgegengesetzt ist oder zu ihm im Widerspruch steht. § 32 Und das d e s
z u r e i c h e n d e n G r u n d e s , kraft dessen wir erwägen, daß keine Tatsache als wahr oder existierend
gelten kann und keine Aussage als richtig, ohne daß es einen zureichenden Grund dafür gibt, daß es so
und nicht anders ist, obwohl uns diese Gründe meistens nicht bekannt sein mögen.“
1016
NKZ X, S. 101. Hervorh. EL. Siehe auch: „Faktische Wahrheit muss sich auf dem Standpunkt des
Selbstbewusstseins des praktischen Selbst unserer Tat-Anschauung befinden. Das ist der Standpunkt der
Ortlogik, die sich den Satz vom zureichenden Grund zum Prinzip macht.“ NKZ X, S. 100.
1014
274
des Begriffs vom „Geschaffenen zum Schaffenden“, des „GeschichtlichKörperlichen“ sowie seine Dichotomien von zeitlich-räumlich und intellektuellvolitional (ich sage im Folgenden unspezifischer: willentlich) vor. Dabei halte ich es für
unwichtig, welcher Begriff quasi-taxonomisch hier die „oberste“ Stelle beziehen darf
oder zentral ist, da meiner Diagnose zufolge in Yotei Chôwa die Konfundierung seiner
metaphysischen mit seiner geschichtsphilosophischen, religiösen und seiner politischen
Begrifflichkeit das Hauptsymptom seiner Kokutai-Legitimationsstrategie bildet und
somit eine Hierarchisierung seiner Begriffe sinnlos macht.
3. 1.
Widersprüchliche Selbstidentität und prästabilierte Harmonie als Prinzip
der geschichtlichen Struktur der Welt
Um dem Problem der Begriffs- und Themen“vermischung“ zu begegnen, lohnt es sich,
Nishidas Text als Sammlung von Axiomen zu begreifen und dabei zu versuchen, die
axiomatischen Bestimmungen bestimmten „Themen“ zuzuordnen, um schließlich zu
analysieren, welche Begriffe symptomatisch äquivok, identifizierend und konfundierend
gebraucht werden. In diesem Abschnitt möchte ich drei Axiome vorstellen, um die
herum ich die argumentative Struktur von Yotei Chôwa zu rekonstruieren versuche: 1.
„Die prästabilierte Harmonie ist nicht wie bei Leibniz eine (bloße) Hypothese, sondern
das logische Prinzip der geschichtlichen Struktur der Welt.“1017 2. Die Welt, in der „die
Form die Form selbst bestimmt“ 1018 geht grundlos (mukiteiteki 無 基 底 的 ) vom
Geschaffenen zum Schaffenden. 1019 3. Gott hat die beste aller möglichen Welten
erschaffen, weil in ihr das Prinzip der widersprüchlichen Selbstidentität zwischen dem
Einen und dem Vielen herrscht.1020
Zum ersten Axiom lässt sich fragen, wie Nishida die Anwendung des Begriffs der
prästablilierten Harmonie aus der rein aus folgerichtigen Sätzen bestehenden
Monadologie auf die „geschichtliche Struktur der Welt“ gelingt. Leider findet sich auch
hier keine Herleitung des „Geschichtlichen“ bei Nishida. Es tritt unvermittelt auf.
Nishida beginnt seine Geschichtsthese von der prästabilierten Harmonie mit
Überlegungen zum „Individuum“ oder zum „Individuellen“, wobei die Begriffe kotai
個体, kobutsu 個物 und ko 個 äquivok gebracht werden, und folgt daraus, dass sie sich
in „relationaler“ Weise zueinander verhalten – darin ist Nishidas Bestimmung des
„Individuums“ Leibniz’ Bestimmung der Monaden als letzte individuelle Substanz nicht
unähnlich. Nun behauptet Nishida weiter, dass im Begriff des Individuums wegen
seiner
Gegenüberstellung
zu
einem
anderen
Individuum
ein
„Selbstwiderspruch“ bestehe. Die Zweifelhaftigkeit dieser Behauptung beiseite –
logisch gesehen besteht in der Aussage „Ein Individuum steht einem anderem
Individuum gegenüber und ist so Individuum“1021 kein Widerspruch – will Nishida hier
eine vollständige ontologische Bestimmung des Individuums, die Leibniz ausser Acht
gelassen habe, präsentieren und sich so gegen ihn absetzen. Nicht weniger als vier
1017
NKZ X, S. 92.
NKZ X, S. 95.
1019
Siehe auch die folgende Formulierung: „Alles wirklich Existierende ist durch die ewige
Vergangenheit determiniert (kettei serareta 決定せられた) und geht über in die ewige Zukunft. Was in
der ewigen Zukuft entsteht, ist alles im absoluten Raum gespiegelt und in der ewigen Gegenwart
enthalten.“ (NKZ X, S. 96)
1020
Siehe NKZ X, S. 100. Zur Stellenbelegung siehe Diskussion.
1021
NKZ X, S. 92.
1018
275
verschiedene Bestimmungen machten das Individuum aus. Die „widersprüchliche
Selbstidentität“ des Individuums bestehe zum Einen in seiner Vermittlung durch
absolute Negation, zum Anderen im Grundwiderspruch von Einem und Vielen, zum
Dritten in der doppelten Bestimmung als „zeitlich-räumlich“ wie auch als „räumlichzeitlich“ und viertens in seiner Funktion als Selbstbestimmung absoluter Gegenwart.
Die letzteren seien somit Konzepte der Zeitlichkeit, die Leibniz entgangen seien.
Die herausragende Rolle des Begriffs der „absoluten Gegenwart“ weist auf Nishidas
starke Tendenz zum Zeitbegriff gegen den Begriff des Raumes hin. Nishida will hier
zeigen, dass Gott als „absolut“ widersprüchliche Selbstidentität allein alle diese
Attribute nicht nur vereinigt, sondern in einem ausgezeichneten Sinne als „absolute
Gegenwart“ (zettai genzai 絶 対 現 在 ) zu verstehen ist. Die Aktivität oder das
Handelnde (hatarakumono 働くもの) , ein weiterer, mit dem Begriff des Ausdrucks
und des Spiegelns von Leibniz inspirierter prävalenter Begriff, wird also streng zeitlich,
als Selbstbestimmung absoluter Gegenwart, gedacht. Gleichzeitig bemüht Nishida
Leibniz’ These von den verschieden starken Perzeptionen1022, und subsumiert sie unter
seinen Begriff von Aktivität, um dann zu behaupten: „Was am deutlichsten die Welt
ausdrückt, ist am aktivsten.“1023 In diesem Kontext von absoluter Zeitlichkeit, absoluter
Negation und Aktivität behauptet Nishida: „Die prästabilierte Harmonie ist nicht wie
bei Leibniz eine (bloße) Hypothese, sondern das logische Prinzip der geschichtlichen
Struktur der Welt.“1024 Hier ist die erste Verwendung von „Geschichte“ in diesem Text,
die – so unvermittelt sie auch erscheinen mag – die besondere Bedeutung dieser
„selbstbestimmten“ Gegenwart, die in der „ewigen Vergangenheit“ bereits
vorausgeplant und in die „ewige Zukunft“ wirkt, nicht zufällig ist. Dabei ist das meines
Erachtens kein berechnendes Kalkül Nishidas, sondern vielmehr eine sich zwingend
ergebende Konsequenz aus seinen Überlegungen zum Individuellen, d.h. der Substanz
bei Leibniz. Hier faszinierte Nishida primär die Vorstellung, dass jede Monade
gleichzeitig das Ganze der Welt widerzuspiegeln vermag. Sie kommt Nishidas
Vorstellung von Unendlichkeit entgegen, die er noch immer versucht, in adäquater
Begrifflichkeit auszudrücken. Kurz, die geschichtliche Struktur der Welt mit dem
Prinzip prästabilierter Harmonie bei Leibniz kurzzuschließen erfolgt über die
Einführung der unendlich zeitlichen Dimension, die Nishida bei Leibniz vermisst.
2. Der zweite axiomatische Aspekt in Yotei Chôwa ist, in Anknüpfung an den Begriff
des Geschichtlichen wie der prästabilierten Harmonie gleichermaßen, die Behauptung
der „Grundlosigkeit“ bestimmter Aggregate oder Attribute, die explizite Abweisung des
Hypokeimenons: „Glaubt man, dass sich dort [auf dem Grunde der Selbstidentität]
etwas Substrathaftes (kitaiteki naru mono 基体的なるもの) befindet, ist das nichts als
metaphysischer Dogmatismus.“ 1025 Selbst Gott könne nicht das „Subjekt der
Geschichte“ sein, sondern sei vielmehr ein „großer, spiegelnder Kreis des Wissens“1026
– hier behauptet Nishida, Spinozas Gottesvorstellung komme dem nahe, wenn dieser
auch nur die Cartesische Substanzvorstellung weiterententwickelt habe und so in einen
statischen Substanzbegriff abgefallen sei. Nishida geht so weit zu behaupten, dass
Spinoza nichts weiter als die Substantialisierung des Begriffs, d.h. einen Fehler mache.
So muss Nishida die Gefahr des „substantialistischen Fehlschlusses“ erkannt haben,
1022
Monadologie §§ 19 ff. Leibniz (1998), S. 21 ff.
NKZ X, S. 93.
1024
NKZ X, S. 92.
1025
NKZ X, S. 99.
1026
NKZ X, S. 95.
1023
276
wenn er es auch versäumt hat, sie in Bezug auf seine eigene Philosophie zu bannen:
„Das subjektiv-totale Eine sowie das einzelne Viele substantialistisch zu denken [wie
Spinoza], ist nichts als die Substantialisierung (jittaika 実体化) von Begriffen.“1027 Es
muss eingewendet werden, dass den Begriff als Substanz zu bestimmen etwas anderes
ist als die Substantialisierung von Begriffen, die sich erst aus der Konfundierung ihrer
logischen Dimension mit ihrem „substanzhaften Ansichsein“ ergibt. Spinozas
Bestimmung des Begriffs als Substanz ist jedoch streng logisch, ein „substantialistischer
Fehlschluss“ liegt nicht vor.
Die Grund- oder Substanz- oder Hypokeimenon-losigkeit des Selbst und der Welt hat
aber weitreichende Folgen für den Weltlauf. In einer für die für die
Kategorienübertretung von Ontologischem zum Historischen repräsentativen Passage
erklärt Nishida:
Wenn jedes einzelne Individuum, Vergangenheit und Zukunft negierend, kreativ tätig ist und
vom Geschaffenen zum Schaffenden geht, wird es als ständig kreatives System geschichtlichkörperlich (rekishiteki shintaiteki 歴史的身体的).1028
Ontologie – die Wissenschaft dessen, was dem Seiendem als Seiendes zukommt – wird
mit dem Geschichtsbegriff kurzgeschaltet. Das kreative Individuum, das kein „ihm
Zugrundeliegendes“ hat, weil es als Selbstbestimmung absoluter Gegenwart schon
immer bestimmt ist – hegelianisch gesprochen „an sich“ – schafft sich erst als
historisch-körperliches Wesen seinen eigenen Grund „für sich“. In der vollkommenen
Unbestimmtheit des Geschichtlichen ist nicht etwa ein pragmatischer Vorteil zu sehen,
der die Universalisierbarkeit dieses Gedankens verdeutlichen soll, wie wir sie aus der
Herleitung des kategorischen Imperativs kennen (wiewohl Nishida dieses auch
angestrebt haben mag). Nishida meint seine eigene Zeit als Erfüllung eben dieser
Grundvoraussetzungen zu sehen und das An-sich-sein der Selbstbestimmung absoluter
Gegenwart – garantiert durch die Vorhersehung Gottes – erst den Modus schaffend,
durch die sein Wirken in dieser Welt zum Für-sich-sein gelangt. Mit anderen Worten:
das, was „schon immer“ determiniert war (an sich), gelangt im Geschichtlichen zum
Bewsstsein seiner selbst als prästabliert harmonische Entität (für sich). Somit realisiert
die Philosophie des Jikaku sich auf der Bühne des Geschichtlich-Körperlichen: „Die
Welt, die von der grundlosen Selbstreflexion anfängt, ist die Welt, die ihre eigene
Funktion wird [...] ihr Grund ist das tätig-anschauende Selbstbewusstsein unseres Selbst
als körperliches Selbst (shintaiteki jiko 身体的自己).“1029 So wundert es nicht, wenn
die Überbetonung der Zeitlichkeit ihre pragmatische Erfüllung in der Idee einer auf die
„Selbstbestimmung der absoluten Gegenwart“ zugeschnittenen Eschatologie hat:
Das, was als individuelle Realität existiert, ist in der Welt der absoluten Gegenwart, der
historischen Welt, alles in Gott ausgedrückt, und vor Gott (kami no mae ni 神の前に) mit
einem Namen versehen. Das, was geschichtlich als Selbstbestimmung der absoluten Gegenwart
entsteht (seiki suru mono 生起するもの) , ist in Gott vorausgesehen (subete kami ni oite
yochiserareta すべて神に於いて予知せられた).1030
1027
NKZ X, S. 98.
Ebd.
1029
NKZ X, S. 99.
1030
NKZ X, S. 97.
1028
277
Nishidas Determinismus deutet an, dass die historische Realität gottgewollt und somit
absolut notwendig sei. Auch die konkrete historische Situation könne nicht anders als so
bestimmt sein. Ein weiteres Beispiel dürfte folgende Passage sein, in der Nishida sein
Verständnis der prästabilierten Harmonie darlegt, die nun nur durch einen
interpretatorischen Gewaltakt Ähnlichkeit mit Leibnizens Idee hat: „[...] das
Ausdrückende ist das Ausgedrückte; die Welt, die sich absolut nichtend selbst bestimmt,
und in der das Reflektierende das Reflektierte ist, ist die Welt, die vom Reflektierten
zum Reflektierenden geht, die Welt, in der die ewige Zukunft die ewige Vergangenheit
reflektiert.“ 1031 Wenn das Passive mit dem Aktiven identisch ist, gibt es keine
Unregelmäßigkeit, keine Verschiebung, keinen Riss, und „die Welt“ – das „Selbst“ – ist
mit sich in ewiger „selbstwidersprüchlicher“ Identität harmonisch. Daher ist die Idee
eines zu Grunde Liegenden, eines „Subjekts“ im emphatischen Sinne so unpässlich für
Nishida: sie bringt ein störendes Element hinein, das Urteile zu fällen imstande ist,
Unterscheidungen trifft, wo „in Wahrheit“ alles in prästabilierter Determination für
ewig mit sich eins ist.
3. Den Höhepunkt des subsumierenden Denkens Nishidas findet seinen Ausdruck darin,
dass Leibniz’ Behauptung, Gott habe die beste aller möglichen Welten geschaffen, ihre
Wahrheit darin habe, dass sie nichts anderes als Nishidas widersprüchliche
Selbstidentität von Einem und Vielem sei:
[...] wie Leibniz sagte, hat Gott im Sinne der prästabilierten Harmonie die beste aller möglichen
Welten geschaffen. Als widersprüchliche Selbstidentität von Einem und Vielem ist diese Welt
eine Welt, in der das Selbst sich in sich selbst spiegelt, und die sich selbst ausdrückende Welt
spiegelt sich von der ewigen Vergangenheit in die ewige Zukunft [...]1032
Nishida schließt seine zentrale Annahme von der widersprüchlichen Selbstidentität an
Leibniz’ Annahme der besten aller möglichen Welten an. Entsprechend rückt Nishida
sein Denken in die Nähe der Leibnizschen Idee, gleichwohl ohne ihre logische
Deduktion. Die Ungültigkeit der Inanspruchnahme Leibnizens besteht aber noch
schwerwiegender in der Aussparung nicht der logischen, sondern der theologischen
Voraussetzungen des Leibnizschen Systems. Leibniz’ primäres Kriterium für die
Existenz einer möglichen Welt ist nicht nur ihre Widerspruchsfreiheit, sondern die
theologische Erklärung, der zufolge Gott sämtliche Möglichkeiten, eine Welt zu
erschaffen, als Ideen in seinem Verstand verglichen und sich kraft seines moralischen
Willens frei dazu entschieden hat, die bestmögliche zu verwirklichen. 1033 Nishida
unterschlägt die theologische Erklärung mit der Folge, dass seine Konzeption ohne die
metaphysische Deduktion erfolgt, welche Leibniz’ System erst ihren Sinn verleiht.
Eine Welt ist für Leibniz der Interpretation Michael-Thomas Liskes zufolge zunächst
die Ansammlung (collection) jeweils aller miteinander Kompossibler [...], oder eine maximal
konsistente Menge von Individuen, die jeweils alle möglichen Individuen umfaßt, die
widerspruchsfrei im selben System zusammenexistieren können [...] Eine jede dieser
verschiedenen Kombinationen von Möglichen ist insofern maximal, als sie nicht mehr ohne
1031
NKZ X, S. 96.
NKZ X, S. 100.
1033
Vgl. Leibniz, Essais de Théodicée II, § 225, in: C. I. Gerhardt (Hg.) Die philosophischen Schriften
von G.W. Leibniz, Band I-VII, Weidmannsche Buchhandlung, Berlin (1875-90), Nachdruck Hildesheim
(1978), Band VI.
1032
278
Widerspruch um ein neues Mögliches erweitert werden kann. [...] Untereinander verglichen sind
sie aber verschieden inhaltsreich; die beste oder inhaltsreichste ist von Gott zur Verwirklichung
erwählt worden [...].1034
So mag Leibniz sehen, dass die begriffsanalytische Erklärung, die Welt sei die beste
aller möglichen, weil sie – wenn man im Jargon Nishidas bleiben möchte – die
„widersprüchliche Selbstidentität von Einem und Vielem“ ist, nicht ausreicht: die
logische Erklärung ist systemimmanent unbefriedigend. Denn auch die „möglichen“,
nicht „wirklichen“, d.h. nicht von Gott zur realen Existenz gebrachten Welten sind in
sich widerspruchsfrei und gehorchen dem Satz des zureichenden Grundes, sind also
logisch möglich. So verwirft Leibniz die Idee einer nur logischen oder (in Leibniz Sinne)
metaphysischen Notwendigkeit der Welt und bringt die Idee einer moralischen
Notwendigkeit ein. Gerade dadurch aber genügt Leibniz den „logischen“ Kriterien
seines Systems, das wesentlich auf Ableitungsdenken fundiert ist: wie willkürlich seine
theologische Erklärung auch sein mag, ist sie jedenfalls eine Erklärung. Nishidas
„begriffliche“ Bildung einer Entsprechungsbeziehung von widersprüchlicher
Selbstidentität und der besten aller möglichen Welten bleibt paradoxerweise
unterbestimmt, während gerade Leibniz’ „moralischer Sprung“ die Kriterien logischen
Ableitungsdenkens erfüllt. Indem Nishida einfach verschiedene Begriffe ineinandersetzt,
erklärt er nichts.
Doch die Abgrenzung von Leibniz sowie der gesamten christlichen Tradition durch
Nishida folgt auf dem Fuße: Leibniz’ Unvollkommenheit bestehe darin, den Begriff der
widersprüchlichen Selbstidentität unberücksichtigt gelassen und Gott nur von der
„subjektiven Logik“ aus beurteilt zu haben. 1035 Empfindlich reagiert Nishida
insbesondere auf die „Relativität“ des Leibnizschen Gottes, der immer das „Eine“ zur
Grundlage erkläre, ohne das „Viele“ einzuschließen. 1036 Hier setzt dann auch die
schärfste Kritik an Leibniz an: die an seiner Gottesvorstellung. Von hier aus entwickelt
Nishida dann auch seinen Gedanken des Religiösen. Dabei ist Nishidas Kritik nicht
unnachvollziehbar: die Tatsache, dass Leibniz in der Theodizee das Böse als Aberration
des Guten beschrieben hat, ist die Folge seiner Konzeption Gottes als des Wesens, das
keine negativen Prädikate enthalten kann. Nishida wendet sich gegen eine solche
Auffassung Gottes, denn gerade er müsse alle Prädikate und so auch die negativen
enthalten. Nishida folgt daraus, dass auf dem Standpunkt der Leibnizschen
Gotteskonzeption kein wahrer freier Wille und keine wahre „individuelle
Persönlichkeit“ (shin no kojinteki jinkaku 真の個人的人格) enthalten sein kann.
Nishida behauptet sogleich jedoch die Vorzüge seiner Logik gegenüber dem
„westlichen“ oder „christlichen“ Gottesbegriff, indem er die Leibnizsche Konzeption
diesem als „subjektive Logik“ gleichsetzt, ohne Spinozas Substanzbegriff in diesem
Zusammenhang zu erwähnen.1037 Schließlich wirft Nishida der gesamten „westlichen
subjektiven Logik“ Pantheismus vor, von dem er sein Denken abzugrenzen weiß: „Der
1034
Liske (2000), S. 119. Gleichzeitig muss Leibniz’ Bestimmung der besten aller möglichen Welten, um
konsistent zu sein, einen metaphysischen Sprung unternehmen: „Bei seiner Allwissenheit habe Gott sich
nicht darüber täuschen können, welches die bestmögliche Welt sei; da ihn seine vollkommene Güte auf
die Entscheidung für das beste festgelegt habe, sei es moralisch notwendig, dass Gott diejenige Welt
erwählt und in seiner Allmacht unausweichlich verwirklicht habe, die tatsächlich die wirkliche Welt
ist.“ ebd. S. 120. Hervorh. EL.
1035
NKZ X, S. 103.
1036
„[In Leibniz’ subjektiver Logik] ist stets das Eine die Grundlage.“ Ebd.
1037
NKZ X, S. 104-105.
279
wahre absolute Gott transzendiert uns, wie er uns auch in sich einschließt. Aber vom
Standpunkt westlicher subjektiver Logik (seiyô no shugoteki ronri no tachiba kara 西洋
の主語的論理の立場から) ist so etwas undenkbar. Was ich mit der Selbstbestimmung
absoluter Gegenwart meine, ist nicht pantheistisch zu denken.“1038 Auch sprachlich
findet zum Ende des ersten Abschnitts eine Verschiebung statt: Nishida verwendet nicht
mehr das starke Personalpronomen „ich“ (watakushi 私), sondern das versöhnliche,
gemeinschaftliche „wir“ (wareware 我 々 ) und meint in seiner Absetzung vom
„westlichen Standpunkt“ die „Kultur des Ostens“. Im gleichen Zug nimmt Nishida die
Perspektive der Geschichtlichkeit wieder in abgrenzender Absicht zur christlichen
Vorstellung von Geschichtlichkeit auf. Während das Christentum eschatologisch auf
einen Endpunkt in der Geschichte ausgerichtet sei, der niemals realisiert werde, sei
„unser Selbst (wareware no jiko 我々の自己) als augenblickshafte Selbstbestimmung
(zettai genzai no shunkanteki jiko gentei 絶対現在の瞬間的自己限定) absoluter
Gegenwart in jedem einzelnen Augenblick eschatologisch.“ 1039 Wie stark der
Nationalbegriff in diesen religionsphilosophischen Ausführungen wird, führt Nishida in
den letzten Sätzen des ersten Abschnitts eindrücklich vor. Es lohnt sich, die gesamte
Passage zu zitieren:
Auf dem Standpunkt, dass die Gegenwart die Gegenwart selbst bestimmt, ist jeder Augenblick
Anfang und Ende der Welt. Sogar die Historiker sagen, dass in der geschichtlichen Welt jeder
Punkt ein Anfang ist (siehe Ranke). Die heutigen buddhistischen Mönche haben die wahre
Bedeutung des Mahāyāna völlig vergessen. Die Kultur des Ostens muss auf diesem Standpunkt
erneut zum Leben erwachen. Aber dazu muss sie ein neues Licht auf die Weltkultur werfen
(sekaibunka ni taishite aratanaru hikari wo nagekakenebanaranai 世界文化に対して新たな
る光を投げかけねばならない). In dieser Hinsicht ist das Kokutai unseres Landes als
Selbstbestimmung der absoluten Gegenwart die Richtschnur/das Muster (kihan 規範) der
geschichtlichen Tat. Der wahre Geist des Mahāyāna ist im Osten heute nur in unserem Japan
erhalten (kyô, waganihon ni oite nomi iji serareteiru no dearu 今日、我日本に於いてのみ維
持せられているのである).1040
Die Idee der besten aller Welten als widersprüchliche Selbstidentität wird von Nishida
zum nationalen Chiffre umgewertet. Die Aneignung von wie die Abgrenzung gegen
Leibniz – stellvertretend für die ganze „westliche“ Metaphysik – dient Nishida zur
Ausformulierung seiner eigenen Position einer Überzeugung von den deterministischen
Gewalten der Geschichte. In den folgenden letzten Überlegungen soll der drastische
Höhepunkt des Nishidaschen Idealismus in seinen deterministischen und der
menschlichen Realität gegenüber indifferenten Konsequenzen nachgezeichnet werden.
3. 2.
Von der Identität von Selbst und Welt zur Identifikation von Selbst und
Staat: Identitätsdenken als ethische Gleichgültigkeit
Teil 2 von Yotei Chôwa ist deutlicher an staatstragenden Ideen ausgerichtet. Nishida
setzt den Leser axiomatisch von folgenden drei Grundüberzeugungen in Kenntnis: 1.
„In der Welt der absoluten Gegenwart [...] ist alles prästabilierte Harmonie, alles
1038
NKZ X, S. 105.
Ebd.
1040
Ebd.
1039
280
schicksalhaft (unmeiteki 運命的)“1041 , 2. „Die Logik des Selbstbewusstseins ist die
Logik der Weltentstehung (sekaiseiritsu世界成立), und die Logik der Weltentstehung
ist die Logik des Selbstbewusstseins.“1042 3. „Die Logik des Selbstbewusstseins ist das
Axiom unseres geschichtlichen Lebens“1043 Als hegelianische Abfolge eines an sich/für
sich und an-sich-für-sich ist hier interpretierbar, dass in 1. das gesetzte An-sich eines
noch nicht zu sich selbst gekommenen Kokutai gesetzt wird, welches seine religiöse
Dimension noch nicht kennt. In 2. beginnt die hyperidealistische Einsicht in den
Charakter des Weltganzen als Identität von Selbst und Welt im Für-sich des Kokutai.
Diese Einsicht oder Erkenntnis ist gleichzeitig fundamental für die Erkenntnis der
prästabilierten Harmonie. Ausdrücklich wird der axiomatische Charakter der Identität
von Selbst und Weltgeschichte dann in ihrer Vollendung als An-und für-sich-sein in 3.
Nishida schließt seine Betrachtungen in Teil 2 mit der Behauptung ab, dass sowohl das
Selbstbewusstsein in seiner „wahren“ Dimension als auch Moral und Kultur auf der
Religion begründet sei1044, womit Religion zum Modus des an-sich-für-sich-seienden
Selbst- und Weltganzen bestimmt wird.
Anders gesagt, die Feststellung der
prästabilierten Determination (an sich) ist das Resultat der Erkenntnis der Identität von
Selbst und Welt (für sich), welche in der Identität von Selbst und Staat ihr an-sich-fürsich in der Religion und somit auch ihren Ursprung habe. Schließlich ist die
prästabilierte Harmonie bei Nishida ein theologisches Konzept. Inwiefern die
Bestimmung der prästabilierten Harmonie als religiöser Begriff ideologische Züge trägt
ist, möchte ich am Ende zeigen.
Von der paradigmatischen Identifikation von Selbst und Welt rückt Nishida auch in
diesem Abschnitt nicht ab. So ist die Identifikationsleistung von Selbst und Welt in
wenigen Passagen in diesem Abschnitt wieder beträchtlich. So sei der „Ort“ oder die
„Stelle“ (tokoro 所), an dem die Welt „formativ“ (keisei suru 形成する) ist, ebenso der
Ort, an dem das Selbst „formierend“ sei, und ebenso umgekehrt.1045 Der Selbstausdruck
der Welt ist „gleichsam“ (sunawachi 即 ち ) „unser“ Selbstausdruck, wie auch
umgekehrt.1046 Und „wo wir unseres Selbst gewahr sind, dort bestimmt die Welt sich
selbst.“ 1047 Selbst und Welt werden hier ausdrücklich identifiziert. Ein heterogenes
Element kann nicht gedacht werden. Das oder den „Anderen“ gibt es nicht, es sei denn
als Erscheinung des Selbst. So kommt es bzw. er begrifflich auch gar nicht vor.
Tatsächlich ist dieses „Selbst“ Nishidas so weltlich fixiert, dass es die konkrete Existenz
Anderer zu seiner Vermittlung auch nicht mehr braucht, ist es ja schon selbst wesentlich
äußerlich: „Ich denke, dass das Selbstbewusstsein unseres Selbst nicht von innen,
sondern vielmehr von außen (soto kara 外から) kommt.“1048 Wer hier die Anlehnung
an einen materialistischen Gedanken erkennen will, wird gleich im nächsten Satz eines
Besseren belehrt: „Unser Selbstbewusstsein ist immanent-transzendent und
transzendent-immanent.“1049 Das Selbst ist geschichtlich und körperlich. Und auch das
Sein verdankt sich nicht mehr der creatio ex nihilo, sondern dem tätigen Prinzip „vollen
1041
NKZ X, S. 106.
NKZ X, S. 110.
1043
NKZ X, S. 111.
1044
NKZ X, S. 115.
1045
NKZ X, S. 106.
1046
Ebd.
1047
NKZ X, S. 110.
1048
NKZ X, S. 107.
1049
Ebd.
1042
281
Seins“. 1050 So ist auch der emphatische Gebrauch des Nichts-Begriffes auffällig
abwesend. Falsch wäre es aber, die angebliche „Äußerlichkeit“ des Selbst einer
konkreten Gegenstandswelt zuzurechnen. Wie in allen und insbesondere allen
Spätschriften Nishidas kann in der identitätslogischen Konzeption von Selbst und Welt
keine Rede von „innen“ und „aussen“ sein. Die Sichselbstgleichheit Alles mit Allem
erinnert an die „tote Ruhe“ der Unendlichkeitskonzeption, die Nishida mit allen Mitteln
zu verteidigen sucht. In seinem Begriff der absoluten Gegenwart, in der die „Ewigkeit
die Ewigkeit berührt“ wird dies deutlich. Nishida sieht hier die Konstellation
„konkreten“ Seins, das sich der Identität seiner mit der Welt nur noch gewiss zu sein hat.
Mit Žižek muss man hier jedoch die „what if?“- Frage stellen:
What if eternity is a sterile, impotent, lifeless domain of pure potentialities, which, in order to
fully actualize itself, has to pass through temporal existence? [...] What [...] if, as Schelling
implies, eternity is the ultimate prison, a suffocating closure, and it is only the fall into time that
introduces Opening into human experience?1051
Unreflektiert gilt Nishida Unendlichkeit als Begriff ontologischer Dignität. Die
rhetorischen Fragen Žižeks zielen dagegen daraufhin, den toten, in der Tat impotenten
Charakter der leeren Unendlichkeit, die sich an nichts Realem aufhalten mag,
herauszustellen. Dabei gehört die Betonung „unendlicher“ Gegenwart zur begrifflichen
Konstellation mit der Identität und dem Religiösen: letztlich ist hier kein Handeln
möglich, denn alles Handeln erfordert Endlichkeit, Vergänglichkeit, Relativität (zu
Anderen) und die Existenz anderer Personen – Personen, die ausdrücklich nicht ich sind
und deren Fähigkeit, ebenso zu handeln wie ich, mein Handeln erst ermöglicht. Die
Bedingung desjenigen also, was Nishida in seiner Tat-Anschauungs-Metaphysik, seiner
Hyposthasis des Willens und der Handlung, als ontologisch prävalent anvisiert, wird
durch seine identitätslogische Voraussetzung ante factum verunmöglicht.
Das Selbst ist bei Nishida aber, wie inzwischen zur Genüge zur Sprache gekommen sein
dürfte, kein Selbstzweck. Als ahnte er von der Auflösung des Ich durch die „Subreption
hypostasierten Bewusstseins“, zitiert er Dôgens Worte aus dem Genjôkôan 原状公案
des Shôbôgenzô, dem zufolge erst das Ablassen von Körper und Herz, die Loslösung
von diesem einen Selbst das höchste aller Ziele sei (shinjin datsuraku, datsuraku shinjin
心身脱落脱落心身).1052 Nishida lehnt sich hier auch ausdrücklich an das Theorem von
der Unterscheidung des Ununterschiedenen (mubunbetsu no bunbetsu 無分別の分別)
an, das erst „wahres Selbstbewusstsein“ sei.1053 Auf den letzten Seiten von Yotei Chôwa
entdeckt Nishida nämlich nun einmal mehr den Buddhismus, insbesondere seine Jôdo
shin-Variante. Seine Referenzen zu christlichen Autoren wie Augustinus und Cusanus,
dessen docta ignorantia er – abgesehen von Cusanus’ angeblicher Unfähigkeit, dem
Denken innerhalb der Grenzen „subjektiver Logik“ zu „entkommen“1054 – insgesamt
positiv wertet, sind zwar noch immer vorhanden. Eine deutliche Privilegierung erfahren
nun jedoch seine buddhistischen Referenzen wie Shinran und Dôgen, aber auch Suzuki
1050
NKZ X, S. 108: „[...] das Sein kommt nicht aus dem Nichts.“
Žižek (2002), S. 13-14. Interessant ist, dass hier der Romantiker Schelling als Kronzeuge gegen
Nishida auftritt, ist er ihm als Idealist doch sehr nahe!
1052
Dôgen, Genjôkôan 原状公案 in: Shôbôgenzô 正法眼蔵, Kapitel 1, S. 54-55. Iwanami Shoten (1965).
1053
NKZ X, S. 109. In Anlehnung an den bekannten Popularisierer des Buddhismus und engen Freund
Nishidas Suzuki Daisetsu 鈴木大拙 (1870-1966), wie Nishida ohne Quellenangabe behauptet. Ebd.
1054
Siehe NKZ X, S. 11.
1051
282
Daisetsu (Teitarô) 鈴木大拙 (貞太郎) (1870-1966). Schließlich kontrastiert er das
Christentum mit dem Buddhismus ausdrücklich und zählt eine Reihe von zum Zwecke
der Dichotomie stilisierten Kriterien heran: so sei das Christentum „historisch“, der
Buddhismus dagegen „ahistorisch“, im Christentum gebe es die „(Erb-)Sünde“, im
Buddhismus nicht, das Christentum sei „eschatologisch“, der Buddhismus sei dagegen
ein „ständiger Prozess vom Geschaffenen zum Schaffenden“, usw. 1055 Auch hier ist
Nishida nicht konsequent, wenn nicht sogar widersprüchlich. Kritisiert er vorher die
„zeitlich-räumliche“ Dimension als subjektivistisch, während das bei ihm positiv
besetzte „Wirkende“ eindeutig „räumlich-zeitlich“ bestimmt ist, wird nun der
Buddhismus der Seite der subjektivistischen zeitlich-räumlichen Dimension
zugeschlagen. Zweck dieser unvermittelten Gegenüberstellung ist nicht etwa die
Bevorzugung des buddhistischen Glaubens der Sache nach, im Gegenteil weist die
Bewertung des Buddhismus als „ahistorisch“ auf eine implizite Kritik am Buddhismus
hin. Doch geht es Nishida hier nicht in erster Linie um den religionskomparativen
Ansatz, sondern, wenn man so will, um das „Wesen“ der Religion selbst, die alle
Menschen betreffe, oder wie es am Anfang von Ortlogik und religiöse Weltanschauung
(1945) heißt: „Religion ist ein seelisch-innerliches Faktum.“1056 In Yotei Chôwa sagt
Nishida seiner Logik gemäß, dass die „verschiedenen Religionen“ aus der
widersprüchlichen Selbstidentität von Gott und Mensch entstehen. Nishida wirbt für die
Versatilität der Religion, die die Partikularitäten einzelner Religionen in sich umfasse.
Denn „die Welt ist in ihrem Grunde religiös.“1057 Und nur in der religiösen Anschauung
sei das „wahre Bewusstsein“1058, was sich daran zeige, dass Religion die Basis von
Moral und Kultur sei.1059
Was Nishidas Hypostasierung der Religion als Ursprung des Staates, der Moral, der
Geschichte und seine Konfundierung mit dem Begriff der prästabilierten Harmonie
betrifft, muss man hier jedoch die Frage stellen, was eigentlich prekärer ist: seine
voreingenommene Einstellung gegenüber dem Kokutai-Staat oder seine Erklärung, es
handele sich hierbei um prästabilierte Harmonie? Im Grunde ist die Erklärung, der Staat
baue auf fundamental religiösen Grundsätzen auf, nicht per se „verkehrt“, sondern erst
die Erklärung, es handele sich dabei um eine streng determinierte Form der Voraussicht
Gottes.
Können Reflexionen über die partikulare Ausformung der Religion in diesem Kontext,
hier als Buddhismus, aber auch noch in anderer Hinsicht für die Kompatibilität von
Nishidas Religions- und seinem Staatsbegriff aufschlussreich sein?
Aus seinen starken Angriffen gegen das Christentum und seiner an einigen Stellen
explizit auf den Jôdo shin shû-Glauben rekurrierenden Überzeugung wird deutlich, dass
Nishida seinen eigenen Standpunkt mit dem Mahāyāna-Buddhismus identifiziert, wie er
„einzig in Japan erhalten“ sei. Seine im ersten Teil des Textes ausformulierte
Metaphysik, die Logik widersprüchlicher Selbstidentität, tritt im zweiten Teil wieder als
Logik des Buddhismus auf, wenn er ihr auch die Einseitigkeit, bloss „zeitlich“ und
„subjektivistisch“ zu sein, vorrechnet. Dennoch kann kein Zweifel daran bestehen, dass
Nishida sich in seinen wesentlichen Annahmen vornehmlich buddhistischen und zen1055
Siehe NKZ X, S. 112-113.
NKZ X, S. 295. Elberfeld (1999a), S. 204.
1057
NKZ X, S. 112.
1058
NKZ X, S. 114.
1059
NKZ X, S. 115.
1056
283
buddhistischen Denkern nahe wähnt (man mag hier einen weiteren subsumierenden Zug
erkennen, wieweit Dôgen aber von der Kritik, die Leibniz trifft, verschont bleibt.) Das
zeigt sich unter anderem auch an der Prominenz zentraler buddhistischer und zenbuddhistischer Grundsätze in Yotei Chôwa. So werden zentrale Ideen des DiamantenSutra: „Ein nichtverhafteter Geist muss entstehen, ein Geist, der nirgends verhaftet
ist“ (ômushojû nishôgoshin 応無所住而生其心) 1060 , des Prajñāpāramitā-Sutra und
Begriffe wie der Idee der „Unterscheidung von Nicht-Unterschiedenem“ (mufunbetsu
no funbetsu 無分別の分別), die Nishida allesamt seiner Selbstauskunft zufolge direkt
von Suzuki übernimmt 1061 sowie der Idee der Koinzidenz von Freiheit und
Notwendigkeit (hitsuzen soku jiyû 必然即自由)1062 prominent zitiert bzw. paraphrasiert,
was eindeutig auf einen buddhistischen und zen-buddhistischen Impetus in Nishidas
Denken zur Zeit von Yotei Chôwa hinweist. Allerdings wäre diese Nähe auch kritisch
zu beleuchten. Ich möchte hier den zen-buddhistischen Impetus Nishidas als
Legitimierung der Unterordnung unter das militärische System durch den Verlust der
„reflexiven Distanz“ problematisieren, welche als ontologische und ethische Indifferenz,
d.h. Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leid, auftritt, deren begrifflicher
Niederschlag sich als „widersprüchliche Selbstidentität“ äußert.
A propos Suzuki Daisetsu, den Nishida mehrfach erwähnt, spielt in Yotei Chôwa
vornehmlich die Idee der Selbstlosigkeit oder Selbstauflösung, wie er bei Dôgen und
seiner späteren populistischen Version bei Suzuki vorkommt und von Nishida
übernommen wird, eine wesentliche Rolle. Obwohl der Zusammenhang von Zen und
nationalistischer Ideologie in der aktuelleren Forschung bereits stark thematisiert und
rezipiert wurde1063, möchte ich auf nur einen, nichtsdestoweniger wichtigen Aspekt des
theoretischen Zusammenhangs eingehen, und zwar auf das Problem ethischer
Gleichgültigkeit. Da Nishida etwa das Zen-Paradigma des „inneren Friedens“ seiner
Selbstauskunft zufolge ablehnt, weil es nicht im Dienste der Nation stehe1064, halte ich
den „Umweg“, sein Denken mit allen Grundsätzen des Zen-Buddhismus zu vergleichen
und dann die autoritär-nationalistischen Züge des Zen herauszustellen, für nicht
sinnvoll: Nishidas in Yotei Chôwa formulierter Nationalismus kommt ganz ohne den
religionspathologischen Überbau aus. So übernimmt er die buddhistische Idee des
Nicht-Ich (muga 無 我 ) in seine Kokutai-Ideologie mit einer bemerkenswerten
Modifikation: nicht sei die Idee des Ich falsch, weil sie den „inneren Frieden“, Sinn und
Zweck der buddhistischen Übung, verhindere, sondern die Idee des „inneren
Friedens“ sei „selbstsüchtig“ (shiyoku 私 欲 ), weil aus ihr kein „wahrer
Staatsgehorsam“ (shin no kokka zuijun 真の国家随順) entstehe1065. Nishida stellt hier
die muga-Idee eindeutig in den nationalen Dienst. Daher ist für Nishida erst das „wahre
religiöse Selbstbewusstsein“ auch „wahrer Staatsgehorsam“ 1066 . Hier wird um ein
Weiteres deutlich, dass der Charakter des Religiösen bei Nishida zutiefst national ist –
1060
Übersetzung von: A. Niehaus, in: Das Geijutsu futaba no hajime des Kokenken Kyokusui, Hamburg,
NOAG 179-180 (2006), S. 12.
1061
NKZ X, S. 109.
1062
NKZ X, S. 102. Hier heisst es: „Dies ist eine Welt der Notwendigkeit der Freiheit und der Freiheit der
Notwendigkeit.“
1063
Klassischerweise bei Ichikawa Hakugen (1970) und bei B. Victoria (1997), sowie bei Robert Sharf
(1993) und Bernard Faure (1991).
1064
Siehe NKZ X, S. 115.
1065
Ebd.
1066
NKZ X, S. 115.
284
und nicht umgekehrt.1067 Dennoch lässt sich nicht bestreiten, dass auch in Nishidas
unbefangenem Parteigang für den japanischen Staat 1944 ein sich an zentralen
Theoremen des Zen-Buddhismus orientierendes Denken bemerkbar macht. Der
„theoretische Überbau“ orientiert sich auch hier an der Idee der All-Einheit, der
„widersprüchlichen Identität“ und am Quietismus und der Indifferenz gegenüber der
sozialen Wirklichkeit, ein Merkmal zen-buddhistischen Denkens, das zuerst Ichikawa
Hakugen 市 川 白 弦 (1970) und dann Christopher Ives (2005/2009) stark
problematisieren. Die Ideale der Harmonie, Widerstandlosigkeit und Toleranz im ZenBuddhismus fungieren so als hervorragende Ideologie der Staatsautorität, ihre
Kriegsziele durchzusetzen. Ichikawa kritisiert und polemisiert, dass die „Harmonie“ des
Zen-Buddhismus eine mit dem Militarismus, seine Widerstandslosigkeit eine gegen die
Staatsgewalt und seine Toleranz eine gegenüber ihrer eigenen Kriegsverantwortung
sei.1068 Hier sei Ives/Ichikawa zufolge auch eine wesentliche Differenz zum klassischen
Topos des Buddhismus, der Befreiung aller empfindsamen Wesen, zu sehen. Ives:
Living like the water that takes the shape of whatever vessel into which it is poured, Zen
Buddhists run the risk of succumbing to a kind of flexible, shifting submission that lacks the
consistency of principles, convictions, and actions necessary for a critical social ethic. More
specifically, ideals of harmony, nonresistance, and tolerance found an expression in the
twentieth century that at the very least stood in stark tension with Buddhist rhetoric of
compassion, of applying „skillful means“ to liberate all sentient beings [...] Representatives of
the Zen tradition have also applauded how the spiritual state of an awakened Zen Buddhist is
like a mirror, reflecting what comes before it without discrimination, beyond duality, in an
absolute objectivity that does not ask „why?“ or wrestle with issues of good and evil. 1069
Falsch wäre es aber, den Quietismus des Staats-Zen gegenüber der aggressiven
Staatsmacht als Fügung unglücklicher historischer Umstände in dieser partikularen
Situation zu werten, ohne die aktive Propagierung der Selbstgleichheit von Leben und
Tod, Sein und Nichtsein, Opfer und Täter, Brutalität und Gnade, Leiden und Genuss
usw. als ideologische Fundierung dieses Desinteresses zu problematisieren. Pragmatisch
gewendet käme bei der ethischen Bewertung von Verbrechen an der Menschheit der
„wahre Charakter“ dieser Indifferenz zum Vorschein: „[...] if external reality is
ultimately just an ephemeral appearance, then even the most horrifying crimes
eventually do not matter.“1070
Falsch wäre es daher zu sagen, der Zen-Buddhismus sei während der japanischen
Aggressionskriege „instrumentalisiert“ worden. Die Idee des Muga, des Nicht-Ich, ist
nicht nur völlig kompatibel mit der (freiwilligen) Unterwerfung unter die Staatsmacht,
sondern auch mit der Absprechung von Verantwortung, mit der Reduktion des
Handelnden auf einen passiven Beobachter der eigenen Handlungen. Ebenso falsch ist
es aber auch zu behaupten, Krieg und das Töten sei die (Hegelsche) „Wahrheit“ des Zen.
Ich schließe mich Žižeks Verdikt an, dem zufolge die Wirklichkeit noch erschreckender
ist – fundamentales Charakteristikum des Zen ist seine „ontologische“ Indifferenz:
1067
Zu einer genaueren Diskussion verweise ich auf Ives (1994).
Zit. in Ives (1994), S. 22. Siehe auch Zen ni okeru jiyû 禅における自由(„Die Freiheit im Zen“), in
Ichikawa (1970), S. 65-76.
1069
Ives (1994), S. 21-22.
1070
Žižek (2002), S. 32.
1068
285
[...] what if, in its very kernel, Zen is ambivalent, or, rather, utterly indifferent to this
alternative? What if – a horrible thought – the Zen meditation technique is ultimately just that: a
spiritual technique, an ethically neutral instrument which can be put to different sociopolitical
uses, from the most peaceful to the most destructive? (In this sense, Suzuki was right to
emphasize that Zen Buddhism can be combined with any philosophy or politics, from
anarchism to Fascism). So the answer to the tortuous question ‚Which aspects of the Buddhist
tradition lend themselves to such a monstrous distortion?’ is: exactly the same ones that
emphasize passionate compassion and inner peace.1071
Die starke Betonung des „inneren Friedens“, der Seelenruhe und Stabilisierung des
eigenen Lebens (anshin ritsumei/ryûmyô 安 心 立 命 ) ist symptomatisch für die
„aufdringliche Abwesenheit“ des Gerechtigkeitsbegriffs. Die Tatsache, dass es im zenbuddhistischen Glauben keine Vorstellung von „Gerechtigkeit“ gibt, macht ihn
ideologisch anschlussfähig für Kriegspolitik und systematische Unterdrückung. Diese
Anschluss- und Anpassungsfähigkeit des Zen-Buddhismus an jede Form politischer
Autorität muss dennoch als Resultat seines inhärenten Desinteresses gegenüber der
sozialen Wirklichkeit gewertet werden, nicht als „boshafte Ethik“. Die Frage ist, ob
nicht gerade diese Gleichgültigkeit die große ethische Gefahr ist. Auch bei Nishida, der
die Idee inneren Friedens ablehnt, kommt der Begriff „Gerechtigkeit“ nicht nur in Yotei
Chôwa
nicht
vor,
er
wird
wegen
seiner
Konnotationen
mit
„westlichen“ Moralvorstellungen aus der Aufklärung überhaupt nicht thematisiert, was
freilich auch die meisten der Nishida-Apologeten nicht stört.
Die Sichselbstgleichheit von Ich und Nicht-Ich im Staat und die widersprüchliche
Identität von Zeit und Raum, Form und Materie, Einem und Vielem ist Ausdruck einer
nicht-reflexiven Distanzlosigkeit, die mit dem Verlust der metaphysischen und
erkenntnistheoretischen Basis von Differenz auch die ethische Basis der
Unterscheidungsfähigkeit verliert. Anders gesagt, die begrifflich-logische Elimination
von Differenz und Nicht-Identität führt bei Nishida zu ihrer ethischen Elimination, so
dass es dieser Logik zufolge keinen Sinn macht, Gutes von Bösem und Gerechtigkeit
von Ungerechtigkeit zu unterscheiden. Ich argumentiere hier gegen Ichikawa, der in
Nishidas Begriff der widersprüchlichen Selbstidentität nichts Problematisches erkennen
kann, solange er nicht auf die sozialpolitische Realität angewendet wird.1072 Die Krux
dieses Begriffs besteht meiner Ansicht zufolge doch gerade darin, dass sie
symptomatisch für die Wahrnehmung der sozialpolitischen Realität Nishidas ist. Sie ist
nicht nur eines unter anderen heuristischen Mitteln zur Interpretation der Realität,
sondern die inhaltlose, leere und impotente, im Hegelschen Sinne gegen ihre
Bestimmung gleichgültige und daher einzige Bestimmung eines von Grund auf an der
sozialen Struktur der Welt desinteressierten Denkens. Nishidas „widersprüchliche
Selbstidentität“ sollte daher nicht, wie von Ives, Lavelle, Paul Mafli1073 und anderen
getan, als „Legitimationsstrategie“ für den totalitären Tennôstaat kritisiert werden,
sondern als sinnentleerter und bedeutungsloses begriffliches Äquivalent zu