Dr. Stein - Skizze Büdinger Geschichte
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Dr. Stein - Skizze Büdinger Geschichte
Büdinger Stadtgeschichte – eine Skizze Büdingen ist eine Stadt mit Geschichte, die nicht „entsorgt“ wurde, nicht dem „Fortschritt“ weichen musste, sondern in ihren Gebäuden „stehen geblieben“ ist. Mehr als anderswo jedenfalls: für den Verein die Karlspforte zwischen „Altstadt“ und „Neustadt“ und das „Lebendiges Mühltor wurde im 19. Jahrhundert als Verkehrshindernis Mittelalter in Büdingen“ e.V. abgerissen. Die Büdinger Geschichte wird nun in einer Skizze dargestellt. Mit Liebe, aber ohne Weihrauch. Vorab sei gesagt: bis ins hohe Mittelalter liegt vieles im Dunkeln – es mangelt an zuverlässigen Quellen. Sicher ist: Menschen leben und arbeiten an diesem Platz schon sehr lange. Mindestens seit viertausend Jahren. Denn 1983 wurde auf dem Eichelberg das Fragment eines jungsteinzeitlichen Pfluges gefunden. Das ist genau die Zeit, in der die Menschen anfingen, nicht nur zu jagen und zu sammeln, sondern Ackerbau und Viehzucht zu treiben. Beitrag von Dr. Volkmar Stein Aus dem 5. Jahrhundert vor Christus stammt die lebensgroße Statue eines „Keltenfürsten“, die vor wenigen Jahren am Glauberg ausgegraben wurde und 2002 im Mittelpunkt einer großen Frankfurter Ausstellung stand. Nicht nur die Statue, sondern auch mehrere Gräber mit hervorragend gearbeitetem Schmuck kamen ans Tageslicht. Wer solche Künstler beschäftigen konnte, musste einen hohen sozialen Rang haben. Für die Fachleute steht fest: der Glauberg war ein großes frühkeltisches Heiligtum, eine Stätte der Ahnenverehrung, vielleicht auch der Platz von Wettkämpfen und Festspielen. Büdingen – genauer: die Gegend, in der heute die Stadt Büdingen steht – ist in der Luftlinie nur sieben Kilometer entfernt und gehört sicher zum Einzugsbereich. Die Kelten, die das Land auf dem Eichelberg oder am Seemenbach bebauten, haben auf dem Glauberg ihre Feste gefeiert. Mineralogen sagen uns, dass die Fürstenstatue aus Büdinger Sandstein herausgehauen wurde – das ist ein Grund, weshalb Büdingen an der neu eingerichteten hessischen „Keltenstraße“ liegt. Als die Römer kamen, grenzten sie ihr Reich durch den Limes ab, der die fruchtbare Wetterau mit einem Schlenker einbezieht. Büdingen lag ein paar Kilometer außerhalb im „freien Germanien“. 260 nach Christus wurden die Römer von den Alemannen, einem germanischen Stamm, aus der Wetterau vertrieben Diese unterlagen 496 den Franken, die ein dauerhaftes Reich gründeten. Und seit der Frankenzeit muß es eine Siedlung bei der Remigiuskirche gegeben haben – die Stelle heißt heute „Großendorf“, wie man sie damals nannte, wissen wir nicht. Die Remigiuskirche ist 1047 zu ihrer heutigen Gestalt umgebaut worden – das kann man an den Jahresringen der verwendeten Hölzer genau ablesen! Archäologen und Kunsthistoriker nehmen aber einen Vorgängerbau aus dem 8. Jahrhundert an – das wäre die Zeit Karls des Großen. Für dieses Alter spricht auch ihr Name. Der heilige Remigius war Bischof von Reims und taufte dort um 498 Chlodwig, den Gründer des Frankenreiches. Es gibt wenige Kirchen, die nach ihm benannt sind, und die gehen auf die Frankenzeit zurück. Wahrscheinlich wurde die Remigiuskirche von einem fränkischen Grundherrn als „Eigenkirche“ errichtet, und zur benachbarten Siedlung gehörte ein kleines königliches Verwaltungszentrum. Bis 1495 war die Remigiuskirche Pfarrkirche, dann wurde sie in dieser Eigenschaft abgelöst durch die Marienkirche, die viel später in der Nähe des neuen Siedlungsschwerpunkts und der Herrenburg errichtet wurde. Das Gelände um die Remigiuskirche war sumpfig und deshalb als Bauland wenig geeignet, die Standortwahl also mißglückt. Darum errichteten die Herren ihre Burg nicht dort, sondern ein Stück weiter östlich, und Burgmannen, Handwerker und Bauern folgten. Der Ort „zog um“. Die Remigiuskirche lag nur ein paar hundert Meter entfernt, aber „extra muros“, außerhalb der Stadtmauern. Das war den Menschen des 15. Jahrhunderts der Straßenverhältnisse und der Wegelagerei wegen zu gefährlich! Büdingen war keine freie Reichsstadt wie Gelnhausen, das nur den Kaiser über sich hatte, sondern eine kleine Residenzstadt. Herren der Stadt und eines kleinen Landes ringsherum waren zuerst die edelfreien Herren von Büdingen, denen seit der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts der hier eingerichtete Reichswald anvertraut war. Der Ortsname „Büdingen“ taucht 847 zum erstenmal in der Wormser Bischofschronik auf, aber damit muss nicht unser Büdingen gemeint sein. Der Geschlechtsname „von Büdingen“ ist seit 1131 belegt. Vor 1245 starben die Herren von Büdingen, die meist Hartmann oder Gerlach hießen, aus – in männlicher Linie. Vier Schwiegersöhne traten das Erbe an. So etwas geht selten gut. Zum Glück konnten die Isenburger, deren Stammsitz im Sayntal am Mittelrhein lag, das Erbe bald in ihrer Hand vereinen. Dieses Geschlecht „blüht“ noch heute, wie sich die Genealogen ausdrücken, und lebt im Büdinger Schloss. Die Isenburger spalteten sich in mehrere Linien, und die Residenzstadt war zeitweise im gemeinsamen Besitz mehrerer Linien, was ihr nicht unbedingt gut tat. Heute existiert außer der evangelischen Büdinger noch eine katholische Birsteiner Linie. Damit man sie leichter unterscheiden kann, schreiben sich die Büdinger seit längerem „Ysenburg“. Historiker nehmen an, daß die ältesten Teile der ursprünglichen Wasserburg von denselben Baumeistern und Handwerkern errichtet wurden, die im benachbarten Gelnhausen für den Reichstag von 1180 Barbarossas Kaiserpfalz errichtet hatten. An dieser Herrenburg ist über Jahrhunderte weiter gebaut worden, und das macht gerade ihren Reiz aus. Seit langem nennen ihre adligen Besitzer sie „Schloss“. An die Burg schloss sich zwischen den Armen des Seemenbachs die neue Siedlung an. Wann sie „Stadt“ wurde, weiß man nicht. 1287 und 1321 wird sie so genannt. Wahrscheinlich hat es nie eine „ordentliche“ Stadtrechtsverleihung gegeben. Man hat einfach registriert, dass der Ort Stadtfunktionen für das Umland gewonnen hatte. Mit einer schönen Urkunde verleiht dagegen Kaiser Ludwig der Bayer Büdingen 1330 das Marktrecht, eine wichtige zentrale Funktion. Aus dem Jahr 1353 stammt der erste „Freiheitsbrief“ Heinrichs II. von Ysenburg für seine Stadt. Er befreit damit die Bürger von den Abgaben und Lasten, die das umliegende Land zu tragen hat, insbesondere von Bede und Frondiensten. Gegen eine jährliche Pauschale von 80 Pfund Hellern erhält die Kommune Steuerfreiheit. Vom eigenen Wein will der Stadtherr jährlich vier Fuder, das sind knapp 40 Hektoliter, in den städtischen Gaststuben an den Mann bringen. Die Urkunde regelt auch den Wachdienst, die Aufnahme neuer Bürger und anderes. Der Büdinger Historiker Dr. Klaus Peter Decker vermutet einen Zusammenhang mit der furchtbaren Pestepidemie, die um 1350 einen großen Teil Europas heimsuchte und fast menschenleer machte: vielleicht wollte Heinrich seine Stadt für Zuzügler attraktiv machen. Solche Freiheitsbriefe, die den ersten im wesentlichen bestätigten, stellte jeder neue Stadtherr bis 1805 aus. Zur Zeit des ersten Freiheitsbriefs bestand Büdingen nur aus dem Teil, der im engeren Sinn „Altstadt“ genannt wird und von der Straße gleichen Namens durchzogen wird. Wenige Jahrzehnte später aber kommt der Teil hinzu, der „Neustadt“ genannt wird. Länger als vierhundert Jahre hat Büdingen zwei Bürgermeister, je einen für die Altstadt und für die Neustadt! Eine mittelalterliche Stadt ist nicht immer, aber meist befestigt. Sie bietet ihren Bewohnern und dem Umland auch in Kriegszeiten einen gewissen Schutz. Die ältere Büdinger Stadtmauer stammt von 1353/1390. Davor aber legte Graf Ludwig II. zwischen 1480 und 1510 einen mächtigen Mauergürtel mit 22 Türmen und „Halbschalen“, der vollständig erhalten ist und den besonderen Reiz der Stadt ausmacht. Das „Jerusalemer Tor“, der „Rote“ und der „Grüne Turm“, das „Große Bollwerk“, der „Hexenturm“ und der „Folterturm“ gehören dazu. Eine eigene Büdinger Bauhütte unter der Leitung von Hans Kuhn hat dieses großartige Werk geschaffen. Der Bau des schönen spätgotischen Rathauses von 1458 war eine Sache der Bürger. Der Bau der Festung aber hätte sie völlig überfordert, er war ein herrschaftlicher Akt. Auch die Mittel des Grafen hätten dafür eigentlich nicht ausgereicht. Dr. Klaus Peter Decker nimmt deshalb an, daß dem Grafen nach Beilegung der „Mainzer Stiftsfehde“ zusätzliche Mittel als Entschädigung zuflossen, die er hierfür verwenden konnte. Im Oktober 1505 sah Kaiser Maximilian sich das Werk auf der Durchreise an. Der Bruder des Büdinger Grafen war Erzbischof von Mainz. Wenige Jahrzehnte später aber war Büdingen protestantisch. Die Stadt erlebte zwei Reformationen: 1543 setzten die Stadtherren lutherische Pfarrer ein, um 1600 erzwang der überzeugte Calvinist Graf Wolfgang Ernst den Übergang zum reformierten Bekenntnis. „Cuius regio, eius religio“ – wem das Land gehörte, der bestimmte auch die Religion! Zumindest in seinen Anfängen war der Dreißigjährige Krieg ein Religionskrieg. Für die Bevölkerung, die ihrer Arbeit in Frieden nachgehen wollte, bedeutete er Einquartierungen, Kontributionen, Behinderungen, Ausplünderungen, Quälereien durch die Truppen aller Kriegsparteien. Sie hielten sich an das Motto „der Krieg ernährt den Krieg“ und „besorgten“ sich mit Gewalt oder durch Androhung von Gewalt von der Bevölkerung alles, was sie brauchten: Nahrung für Mensch und Vieh, Wein und Schnaps, auch Geld. Der barocke Dichter Grimmelshausen, im benachbarten Gelnhausen geboren, hat in seinem „Simplicissimus“ ein Lied davon gesungen. Zu dem Unglück, das der Krieg über die Menschen brachte, kamen neue Pestwellen. 1632 fielen der Seuche in Büdingen 23 Menschen, 1635 gar 336 zum Opfer. Im benachbarten Gelnhausen notierte ein Schreiber, die Stadt werde durch die Pest „so wüste“. Eine weitere Plage schufen die Menschen, wie wir sagen würden, sich selbst: die Hexenverfolgungen. In Büdingen hatten sie 1562 begonnen und erreichten 1633/34 ihren Höhepunkt: 114 Frauen wurden hingerichtet, nachdem sie im „Hexenturm“ gefangengehalten worden waren. Hexenprozesse hat es in großen Teilen Europas gegeben. Wenn es den Menschen schlecht ging, suchten sie nach Gründen. Bei der großen Pest von 1350 warfen sie den Juden „Brunnenvergiftung“ im wörtlichen Sinn vor – obwohl die Pest keinen Unterschied zwischen Juden und Christen machte! Jetzt warf man vor allem Frauen vor, im Bunde mit dem Teufel Unheil über Mensch und Vieh zu bringen. Auch Frauen aus sehr angesehenen Familien, die Witwe eines Pfarrer, die Frau eines Gymnasialrektors zum Beispiel, waren unter den Opfern. Gefoltert oder von der Folter bedroht legten die Frauen die sinnlosesten Geständnisse ab; nur wenige widerstanden. Heute können wir es uns kaum vorstellen, aber es ist erwiesen: die Hexenprozesse wurden in Büdingen wie anderswo nicht in erster Linie von der Obrigkeit angeordnet, sondern von der Bevölkerung gefordert! Mit einem Machtwort stellte sie der Graf ein paar Jahrzehnte später kurzerhand ab. Die Bilanz des Dreißigjährigen Kriegs in zwei Zahlen: vorher lebten in Büdingen 300 Familien, nachher noch 75! So überzeugte Demokraten wir auch sind, wir müssen gestehen: eher durch zähen Kampf um ein mühsames Dasein, Kampf um einmal gewonnene Rechte als durch Weitsicht und Großzügigkeit taten sich die Büdinger Bürger hervor. Die adligen Stadtherren waren ihnen da meist ein gutes Stück voraus. 1656 wandten sich die Ortsbürger gegen die Ansiedlung einer jüdischen Familie, weil man die eigenen Privilegien verletzt sah, 1688 gegen die Ansiedlung von Waldensern in den verödeten „Vorstädten“ Hinterburg und Großendorf, weil man um Holz- und Weiderechte fürchtete, 1712 gegen die Anlage einer neuen „Vorstadt“ vor dem Jerusalemer Tor und ihre Besiedlung mit Hugenotten, Waldensern, Inspirierten, Pietisten und Wiedertäufern. Freie Bauplätze solle man an junge Leute aus der Bürgerschaft vergeben. 1656 und 1712 tat der Graf trotzdem, was er für richtig hielt. 1712 erließ er ein Toleranzedikt – gewiss auch in der Absicht, das Land mit wirtschaftlich aktiven Angehörigen religiöser Minderheiten, die anderswo fliehen mußten, zu „peuplieren“, zu bevölkern. Aber mit der Humanität war es ihm durchaus ernst; Büdingen war im frühen 18. Jahrhundert eine Freistatt des Glaubens. Graf Ernst Casimir gestattete 1738 auch den Herrnhutern, sich wenige Kilometer vor der Stadt auf dem Berg, der seitdem Herrnhaag heißt, niederzulassen. Ein Nachfolger fand die Herrnhuter gar zu selbstherrlich, als „Staat im Staate“, und stellte sie kurzerhand vor die Wahl, sich der Obrigkeit zu beugen oder das Land zu verlassen. Sie verließen das Land, schneller, als sie gemusst hätten, nach Neuwied oder Pennsylvania. Napoleon fasste 1806 alle Isenburger Linien in der Hand des Birsteiner Fürsten zusammen, denn der hatte ihm eine Armee aufgestellt. Nach Napoleons endgültiger Niederlage bei Waterloo (1815) wurde die Stadt Büdingen wie das ganze „Fürstentum Isenburg“ hessisch. Büdingen wurde Kreisstadt, Sitz eines Amtsgerichts und eines sich allmählich ins Berufliche erweiternden Schulwesens. Das Wolfgang-Ernst-Gymnasium, 1601 aus einer Lateinschule entwickelt, ist eines der ältesten Gymnasien in Hessen. Quelle: Auszug aus einem Artikel von Dr. Volkmar Stein, 2003