anne-julia zwierlein (bamberg)

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anne-julia zwierlein (bamberg)
ZAA 56.1 (2008): 31-48 ©
ANNE-JULIA ZWIERLEIN
‘The Gift of Seeing’ – ‘The Eyes of Faith’:
Visuelle Evidenz und Übersinnliches in Julian Barnes’
Arthur & George und anderen neo-viktorianischen
Detektivromanen
Abstract: This article is concerned with the interlaced themes of visual and supernatural
‘evidence’ in Julian Barnes’s novel Arthur & George (2005), which rewrites an episode
from the life of Arthur Conan Doyle, creator of Sherlock Holmes, concerned with a reallife criminal case. Briefly analysing how epistemological questions and modes of detection
were represented in Victorian precursors of the genre (Doyle, Poe, Dickens, Collins),
the article proceeds to establish the generic conventions of the ‘postmodern’ neoVictorian detective novel, differentiating it from High Postmodernism’s ‘metaphysical
detective story’ and looking, apart from Barnes’s novel, at Peter Ackroyd’s Dan Leno
and the Limehouse Golem (1994), Peter Carey’s Jack Maggs (1997), and Louis Bayard’s
Mr Timothy (2003). In order to make visible the invisible, not only former ophthalmologist Doyle’s Sherlock Holmes but also other Victorian and neo-Victorian detectives – including the Doyle figure in Arthur & George – are relying on the latest visual aids
such as photography, X-rays, microscopes and binoculars as well as on ‘pseudo’scientific investigative techniques such as mesmerism or séances. Especially in Arthur &
George the two seemingly antagonistic discourses of rationalism and spiritualism are
closely intertwined.
1. Einleitung
Julian Barnes’ Roman Arthur & George (2005) verarbeitet eine Episode aus dem
Leben Arthur Conan Doyles, welche dieser selbst in seiner umfangreichen Autobiographie auf lediglich sechs Seiten schildert: Doyles Parteinahme im Jahre 1907
für den inhaftierten farbigen Rechtsanwalt George Edalji, das Opfer eines Justizirrtums. Der Autor trat hier in die Fußstapfen seiner literarischen Erfindung, des
Detektivs Sherlock Holmes, und rollte den betreffenden Kriminalfall von neuem
auf (s. Doyle 1924, 215-21). Edalji, Sohn eines indischen Vaters und einer schottischen Mutter, wurde zur Last gelegt, jahrelang seine eigene Familie mit obszönen
Briefen belästigt sowie in der Umgebung des väterlichen Pfarrhauses nachts Weidevieh abgestochen zu haben. Gestützt auf die Tatsache der eingeschränkten Sehkraft Edaljis argumentierte Doyle, der ehemalige Augenarzt, dass der Rechtsanwalt
die Verbrechen nicht begangen haben konnte: “Myopia, possibly of quite a high
degree. And who knows, perhaps a touch of astigmatism too. [… I]n Arthur’s
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judgement, it all boiled down to that singular optical defect” (Barnes 2005, 211; 234).
Barnes gibt die Identitäten seiner beiden historischen Figuren, “Arthur” und
“George”, erst spät preis, und auch bei seinen Verlegern kämpfte er darum, dass
diese auf dem Buchcover noch nicht aufgedeckt würden (s. Kleffel 2006). Erst ab
Seite 206, mit dem Hilfegesuch Edaljis, beginnen sich zudem die beiden bis dahin
getrennt erzählten Lebenswege zu kreuzen. Ab hier wird der Text mehr und
mehr zu einer Detektivgeschichte, in der Doyle und sein Sekretär Wood in die
Rollen von Holmes und Watson schlüpfen.
Barnes nimmt hier eine für den postmodernen Roman charakteristische ‘Umschreibung der Geschichte’ vor, indem er eine kurze Episode aus Doyles Leben zur
Grundlage eines ganzen Romans macht und die Randfigur George Edalji mit einer
eigenen Lebensgeschichte und Stimme ausstattet. Auch durch die Wahl des Detektivromans als generisches Muster fügt sich Arthur & George in die lange Reihe
zeitgenössischer Romane ein, die aus einem postmodernen Geschichtsverständnis
heraus Erzählkonventionen und Thematik des viktorianischen Detektivromans aufnehmen und verändern; Barnes’ Roman ist somit als ‘neo-viktorianischer Detektivroman’ einzuordnen. Was diese Romane mit ihren Vorgängern, den Detektiverzählungen von Arthur Conan Doyle, Edgar Allan Poe, Charles Dickens oder Wilkie
Collins gemeinsam haben, ist die Betonung epistemologischer Fragestellungen, von
Fragen nach den Möglichkeiten und Wegen der Erkenntnis (s. Maunder and Moore
2004; Wood 2004; Worthington 2005). In viktorianischen Vorlagen wie neoviktorianischen Fortschreibungen liegt hier einerseits ein starker Schwerpunkt auf
dem Thema der ‘visuellen Evidenz’: Nicht nur im Falle des ehemaligen Augenarztes
Doyle werden zeitgenössische ‘Sehhilfen’ wie Photographie, Röntgenstrahlung,
hochauflösendes Mikroskop oder Fernglas durchgehend als Metaphern – und konkrete Hilfsmittel – für den Wahrheitsfindungsprozess des Detektivs eingesetzt.
Andererseits aber vermischt sich dies, der viktorianischen Verflechtung von Wissenschaft und (retrospektiv betitelter) ‘Pseudo’-Wissenschaft folgend, in viktorianischen Vorlagen und postmodernen Fortschreibungen mit Hinweisen auf Übersinnliches oder auf Techniken der Evidenzfindung (oder -herstellung) wie Mesmerismus
und Spiritismus.1
Im Folgenden sollen diese Merkmale viktorianischer und neo-viktorianischer
Detektivromane näher untersucht sowie auch eine Abgrenzung gegenüber einer
weiteren postmodernen Spielart, der ‘metaphysical detective story’, vorgenommen
werden. Nach einer kontextualisierenden Untersuchung der Thematik und Motivik
von visueller Evidenz und Übersinnlichem in Detektivromanen des Viktorianismus
werde ich dann exemplarisch auf die folgenden neo-viktorianischen Detektivromane
eingehen: Peter Ackroyds Dan Leno and the Limehouse Golem (1994), Peter Careys
Jack Maggs (1997) und Louis Bayards Mr Timothy (2003) – um schließlich vor
diesem Hintergrund Julian Barnes’ Arthur & George (2005) eingehender zu analysieren. Die Zusammenschau aller vier neo-viktorianischen Detektivromane
demonstriert auch die transnationale Gültigkeit generischer Muster, vor allem die
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1
S. zur Verflechtung von Wissenschaften und sogenannten ‘Pseudo’-Wissenschaften im Viktorianismus Clifford 2006.
Visuelle Evidenz und Übersinnliches in neo-viktorianischen Detektivromanen
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Transportierbarkeit einer gattungstypisch verselbstständigten klischeehaften Konzeption des englischen Viktorianismus, nicht zuletzt anhand der ähnlichen – wenn
auch beispielsweise bei Carey in postkoloniale Dimensionen erweiterten – Behandlung der Thematik und Motivik von visueller Evidenz und Übersinnlichem in
Romanen englischer, australischer und US-amerikanischer Provenienz.
2. Visuelle Evidenz und Übersinnliches in viktorianischen Detektivromanen
Eine viktorianische Sehnsucht nach sozialer und epistemologischer Sicherheit wird
häufig als einer der Faktoren angeführt, die bei der Entstehung der Detektivgeschichte zu dieser Zeit eine Rolle spielten. “The invention of […] the literary detective,” so heißt es bei Ronald R. Thomas, “is arguably the most significant and
enduring contribution to the history of English literature made during the Victorian era” (Thomas 2001, 170). Der Wunsch nach einer systematischen Bekämpfung
von Kriminalität äußerte sich in der Einrichtung der Londoner Metropolitan Police
im Jahre 1828, und das Bestreben nach Aufdeckung von Verbrechen sowohl in
kriminologischen und sozialreformerischen als auch in literarischen Texten in
einer Metaphorik des ‘Sichtbarmachens des Unsichtbaren’. Der erste ausdrücklich
so benannte Detektiv der englischsprachigen Literatur, Inspector Bucket aus
Dickens’ Bleak House (1852), ist bekanntlich nach dem Vorbild des Inspector
Charles Field von der London Detective Force gestaltet, mit dem Dickens selbst
mehrere ‘Ausflüge’ in die Slums der Großstadt unternahm (s. z.B. Dickens 1851).
Durch seine Aufdeckung der “Zusammenhänge zwischen den Figuren und Ereignissen in der Welt des Romans” erweitert Inspector Bucket auch das Bewusstsein
des Lesers, der somit das dargestellte London “als [eine] total verknüpfte und verzahnte Welt” wahrnehmen kann (Gabler 1999, 151; s. auch Levine 1988, 131; Frank
2003, 85-90). Das Thema der visuellen Evidenz spielt hier eine große Rolle: Buckets
Laterne leuchtet wie “angry bull’s-eyes” in die hintersten Winkel der Londoner
Slums; er mustert die von ihm interviewten Zeugen, “as if he were going to take
[their] portrait,” und er scheint mit seinem ubiquitären Blick allwissend: “[he
seemed] to possess an unlimited number of eyes” (Dickens 1996, 286; 328; 335).
Lawrence Frank und andere haben die viktorianische Detektivfigur daher auch
mit der sozialdisziplinatorischen Überwachung durch den modernen Polizeistaat
in Verbindung gebracht, wie Michel Foucault sie in La naissance de la prison
(1975) beschrieben hat; besonders relevant erscheint Foucaults Geschichte des von
Jeremy Bentham entworfenen Gefängnisgebäudes, des ‘Panopticon’, in dem die
Gefangenen vom Wärter observiert werden konnten, ohne dass sie diesen ihrerseits zu Gesicht bekamen (s. Frank 2003, 46-53).
Edgar Allan Poe, der die Detektivgeschichte bereits in den 1840er Jahren perfektionierte, konzentriert sich noch stärker auf epistemologische Implikationen der
Detektiverzählung: Er zeigt, ähnlich wie Paul de Man es sehr viel später mit seiner
Gegenüberstellung von “Blindness and Insight” tun würde, wie die Konzentration
auf bestimmte Dinge zur gänzlichen Ausblendung anderer führt. Tatsächlich ist
ja, so bemerkt auch Brian McHale, “[the] detective story the epistemological genre
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par excellence” (McHale 1987, 9).2 Der berühmteste Fall ist Poes Geschichte vom
“Purloined Letter”, in der nur der Detektiv – der hier allerdings noch nicht so
heißt – den verschwundenen Brief entdeckt, obwohl er gut sichtbar im Zimmer
aufbewahrt wird. Diese neue literarische Figur lässt sich von Sehkonventionen –
also von der Vorannahme, der Brief müsse versteckt sein – nicht beirren. Hier
liegt auch die Verbindung zu Doyle: Der Blick von Poes Auguste Dupin, einem
der Vorbilder für Doyles Sherlock Holmes, wird mit einer unbestechlichen Kamera
verglichen (s. Thomas 1999, 112 n. 3), so wie ja auch Holmes traditionell beim Blick
durch ein Mikroskop oder Vergrößerungsglas dargestellt wird. Doyle seinerseits
praktizierte, wie bereits erwähnt, einige Jahre als Augenarzt, und Holmes vereint
die diagnostischen Fähigkeiten des Arztes und des Kriminologen; das Vorbild war
Doyles Edinburgher Medizinprofessor Joseph Bell, der eine neue Methode der
exakten Beobachtung und Schlussfolgerung propagierte. Im Jahre 1892 schrieb
der Autor an seinen ehemaligen Lehrer:
It is most certainly to you that I owe Sherlock Holmes […]. Round the center of deduction and inference and observation which I have heard you inculcate, I have tried to build
up a man who pushed the thing as far as it would go. (zit. in Liebow 1982, 172; s. auch
Otis 1999, 93)
Holmes erklärt seine scharfe Auffassungsgabe als erlernbare Technik – so belehrt er
Watson in “A Case of Identity”: “[These things are] not invisible but unnoticed
[…]. You did not know where to look, and so you missed all that was important.”
In “The Silver Blaze” bemerkt er ähnlich über sein wichtigstes Beweisstück: “[I]t
was invisible […]. I only saw it because I was looking for it” (Doyle 1986, I, 196; I,
466).
Doyle bildet mit der technischen Versiertheit der Holmes-Figur reale Entwicklungen seiner Zeit ab. Thomas hat in Detective Fiction and the Rise of Forensic
Science (1999) die Verwissenschaftlichung der Kriminologie im 19. Jahrhundert
beschrieben: “[P]ractical forensic devices […] extended the power of the human
senses to render visible and measurable what had previously been undetectable”
(Thomas 1999, 6). Anhand der Serologie, Toxikologie und Anatomie versuchte
man, kriminelle Identität nachzuweisen und Verbrechern auf die Spur zu kommen.
So wurde auch die Photographie, von Louis Jacques Daguerre und Henry Fox
Talbot im Jahre 1839 vorgestellt, zum Werkzeug der Kriminologen. Hier verband
sich der Glaube an die vermeintliche Objektivität von Photographien und wissenschaftlichen Statistiken mit der Vorannahme einer visuell dokumentierbaren,
gleichsam auratischen ‘Essenz’ des Verbrechers. Die Dokumentationen des Anthropologen Cesare Lombroso über vermeintliche kriminelle Phänotypen, 1879 als
Criminal Man ins Englische übersetzt, wurden bald Vorbild für photographische
Karteien mit den Gesichtern Inhaftierter in der polizeilichen Routine (s. Thomas
1999, 114 und Rothfield 1992). Im selben Jahr, 1887, in dem Doyle die HolmesFigur erfand, führte der Pariser Polizeibeamte Alphonse Bertillon die sogenannte
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2
McHales problematische Unterscheidung zwischen ontologischen und epistemologischen
Fragestellungen als Kennzeichen postmodernen bzw. modernistischen Schreibens (McHale
1987, 10-1) ist allerdings vielfach kritisiert und von ihm selbst revidiert worden (McHale 1992).
Visuelle Evidenz und Übersinnliches in neo-viktorianischen Detektivromanen
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Anthropometrie ein, die Kriminelle anhand bestimmter körperlicher Merkmale
photographisch ‘katalogisierte’ (s. Thomas 1991, 235). Sowohl Poe als auch Dickens
veröffentlichten bewundernde Aufsätze über die neuen photographischen Techniken und assoziierten diese mit Methoden der Verbrechensbekämpfung (s. Thomas
1999, 147).
Nicht nur der vermeintliche Rationalismus und die Technikgläubigkeit der Zeit,
auch sozialreformerische Bewegungen sind mit den epistemologischen Fragestellungen des zeitgenössischen Detektivromans eng verknüpft. Viktorianische Sozialreformer sahen einen Zusammenhang zwischen den unwürdigen Lebensbedingungen
der expandierenden Londoner Slums und der ansteigenden Kriminalitätsrate; auch
hier wurde die Metaphorik des ‘Sichtbarmachens des Unsichtbaren’ bemüht.3 Eine
am 29. September 1888 in Punch veröffentlichte Karikatur von John Tenniel, dem
Illustrator der ersten Alice in Wonderland-Ausgabe (1865), zeigt eine Personifikation
des Verbrechens in Form eines Gespenstes: Die allegorisierte ‘Strafe der Vernachlässigung’, “The Nemesis of Neglect”, schwebt durch die verdreckten Slums, einen
Dolch in der Hand. Die Karikatur, die das schwer (er)fassbare Phänomen der
Kriminalität mithilfe einer übersinnlichen Figur darstellt, war eine Reaktion auf die
niemals aufgeklärten “Jack the Ripper”-Morde. Als Legende finden sich folgende
Verse:
There floats a phantom on the slum’s foul air,
Shaping, to eyes which have the gift of seeing,
Into the spectre of that loathly lair,
Face it – for vain is fleeing!
Red-handed, ruthless, furtive, unerect,
’Tis murderous crime – the nemesis of neglect!
(Punch, September 29, 1888; zit. in Curtis 2001, 210)
Nur Augen, denen es gegeben ist zu sehen, wie Tenniel mit dem biblischen Zitat
(Matthäus 13:13) deutlich macht – “eyes which have the gift of seeing” –, können
die Verbindung zwischen Verwahrlosung, in diesem Fall den Zuständen im Londoner East End, und Verbrechen erkennen. Der aufklärerische Diskurs der Sozialreformer bedient sich hier einer Metaphorik des Übersinnlichen: “a phantom”,
“the spectre”.
3. Visuelle Evidenz und Übersinnliches in neo-viktorianischen Detektivromanen
Solche auf den ersten Blick unsichtbaren Zusammenhänge werden auch in allen hier
zu besprechenden neo-viktorianischen Detektivromanen unterstrichen. Beispielsweise führen die Serienmorde in Ackroyds Dan Leno and the Limehouse Golem,
wie die “Jack the Ripper”-Morde im Jahre 1888, zu einer städtebaulichen Reform
des East End (s. Ackroyd 1994, 162-3). Die verdreckten Großstadt-Slums der sozial-
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S. auch den Diskurs der viktorianischen Sozialreformer zum Zusammenhang zwischen Verwahrlosung, Verbrechen und Epidemien – “Vice, like pestilence, propagates itself by contagion”
(Heraud 1845) –, exemplarisch dargestellt in Trotter 1988.
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reformerischen Traktate finden sich in nahezu allen neo-viktorianischen Detektivromanen als Kulisse für die dargestellten Verbrechen wieder. Gerade in ihrer
Klischeehaftigkeit, in ihrer “touristification of England,” wie Barbara Korte es in
anderem Zusammenhang nennt (Korte 2002, 299), können alle hier untersuchten
Romane als typisch für die Postmoderne angesehen werden. Auch der Rückgriff
des neo-viktorianischen Detektivromans auf die optische Metaphorik der literarischen Vorläufer ist als postmodernes Spiel mit Versatzstücken und Klischees lesbar,
ebenso wie die motivischen Anklänge an die ‘Pseudo’-Wissenschaften des 19.
Jahrhunderts, beispielsweise Mesmerismus, Phrenologie oder Geisterbeschwörung
– auch dies vermeintliche Techniken zur ‘Sichtbarmachung des Unsichtbaren’.
Die Frage nach der Möglichkeit von Evidenz – und die Art ihrer Beantwortung –
ist jedoch auch in gattungstypologischer Hinsicht relevant. Das generische Muster
des Detektivromans ist gerade in der postmodernen selbstreflexiven, metafiktionalen
Literatur häufig als Grundlage verwendet worden. Die Detektiverzählung ist, laut
Michael Holquist, ein wiederkehrender Subtext postmoderner Literatur, ähnlich
wie die Mythologie einen Subtext modernistischer Literatur bilde (Holquist 1971).
Neo-viktorianische Romane sind ubiquitär – “the Victorian age has become historically central to late postmodernism” (Letissier 2004, 111)4 – und lassen sich nach
Dana Shiller definieren als
those novels that adopt a postmodern approach to history and that are set at least partly
in the nineteenth century. This capacious umbrella includes texts that revise specific
Victorian precursors, texts that imagine new adventures for familiar Victorian characters,
and ‘new’ Victorian fictions that imitate nineteenth-century literary conventions. (Shiller
1997, 538 n. 1)5
Auch die Untergattung des neo-viktorianischen Detektivromans verfügt, wie die
folgenden Beispiele zeigen werden, über diese Bandbreite möglicher Verhältnisse
zur historischen Vorlage. Allerdings ist, gerade wenn es um das Thema visueller
– oder übersinnlicher – Evidenz geht, der neo-viktorianische Detektivroman von
einer anderen postmodernen Spielart des Detektivromans abzugrenzen, der “metaphysical detective story,” die Patricia Merivale und Susan Elizabeth Sweeney 1999
überblicksartig vorgestellt haben (s. Merivale und Sweeney 1999): Diese weist keine
narrative Geschlossenheit auf, und kaum jemals finden sich hier die traditionellen
Strukturen der Verbrechensaufklärung, des klassischen “whodunit,” mit seinem
“Fragenkatalog [des] Quis? Quid? Ubi? Quibus auxiliis? Quomodo? Quando?”
(Klaas 2000, 174-5). Postmoderne “metaphysical detective stories” haben keine Lösung:
[W]hat authors are interested in now is […] the ‘mise en abyme’ of narration, the hypertextuality of solutions. […] The main theme of contemporary mystery thus becomes
the impossibility of resolving the mystery itself. (Carpi 2001, 55)
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4
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Kucich und Sadoff 2000, xi sprechen von “postmodernism’s privileging of the Victorian as its
historical ‘other’”.
Zur historiographischen Metafiktion s. Hutcheon 1988 sowie Engler und Müller 1994.
Visuelle Evidenz und Übersinnliches in neo-viktorianischen Detektivromanen
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Wichtige Vertreter dieser Richtung sind Donald Barthelme, Robert Coover, Paul
Auster und Thomas Pynchon (s. Merivale und Sweeney 1999, 4-5). Alle hier untersuchten neo-viktorianischen Detektivromane führen jedoch ihre Kriminalfälle – im
Anschluss an die viktorianischen Vorgänger – durchaus einer Lösung zu und präsentieren dabei vielfältige Verflechtungen von optischen und übersinnlichen ‘Sehhilfen’, teilweise kritisch kontrastiert, teilweise, und besonders in Arthur &
George, als komplementäre Perspektiven dargestellt, wie die folgenden Analysen
nun zeigen sollen.
3.1.
Ackroyd, Dan Leno and the Limehouse Golem
In Dan Leno and the Limehouse Golem (1994) wird optische Metaphorik im
Rahmen einer intensiven Diskussion über Wert und Unwert visueller Evidenz
verwendet – mit konkreten Bezügen auf die entsprechende Metaphorik und Thematik viktorianischer Detektivromane. Schon über die genaue Richtung der Blicke
eines der ersten Mordopfer, einer Prostituierten, gehen die Deutungen auseinander:
Wie der Polizeibericht festhält, waren die Blicke der Leiche, die mit gebrochenem
Hals aufgefunden wurde, auf die Kirche St Anne’s gerichtet; der Erzähler, der allerdings nur eine der vielen Stimmen dieses Romans darstellt, korrigiert dies: “Alice
Stanton had not been gazing at the church but at a building beyond it: she had
been gazing at the workshop where the Analytical Engine waited to begin its life”
(Ackroyd 1994, 123). Die Anspielung auf Charles Babbages Analytical Engine erzeugt nicht den klaren Gegensatz zwischen Religion und Rationalismus, den man
hier zunächst vermuten könnte, denn dieses Instrument des Rationalismus wird
im Roman vielfach mit Elementen der jüdischen Kabbala und der übernatürlichen
Golem-Figur gleichgesetzt, welche auch als Bezeichnung für den ungefassten
Serienmörder dient – eine Allegorie für das Unsichtbare im Sichtbaren: “hidden correspondences and signs [...] are everywhere. Even here in Limehouse we can see
the tokens of the invisible world” (Ackroyd 1994, 66). Dass die Stellung der
Augen eines Mordopfers so akribisch registriert wird, ist ebenfalls eine Mischung
aus Wissenschaft und Aberglauben, wie der Erzähler weiter ausführt:
[T]his was a period when, perhaps under the unacknowledged influence of old superstitions, the position of the eyes of the murdered victim was considered important. Even
in later years, they were photographed in case there was any truth in the belief that they
would reflect the face of the murderer. (Ackroyd 1994, 123)
Auch im historischen Fall der “Jack the Ripper”-Morde wurden die Blicke der
Toten als Beweismittel herangezogen; die Polizeibeamten öffneten – so ist es dokumentiert – mindestens einmal die Augen eines Opfers in dem Glauben, das, was
die Tote als letztes gesehen habe, dort abgebildet zu finden (s. Willis 2000, 60).
Die Unzugänglichkeit der Wahrheit über solche visuelle ‘Evidenz’ wird bei
Ackroyd jedoch deutlich; als George Gissing, neben Karl Marx eine der historischen
Figuren des Romans, zur Identifizierung der Getöteten gebeten wird, erscheint
ihm ihr Gesichtsausdruck wie ein “hieroglyph upon a tomb” (Ackroyd 1994, 141).
Ihre Blicke ergeben eine falsche Fährte – ebenso wie der Name “Golem” für den
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Serienmörder zufällig aus dem aufgeschlagenen Buch seines jüdischen Mordopfers
Solomon Weil resultiert, und ebenso wie das Tagebuch des “John Cree” scheinbar
auf dessen Täterschaft hindeutet, in ‘Wirklichkeit’ aber von seiner Frau, Elizabeth
Cree, der eigentlichen Mörderin, in seinem Namen verfasst wurde – wie diese vor
ihrer Hinrichtung dem Beichtvater gesteht: “I am the London phantom. […] I made
up a diary and laid the guilt upon him” (Ackroyd 1994, 272-3). Durch dieses Verwirrspiel sind tatsächlich einige Literaturwissenschaftler auf die ‘falsche Fährte’
gekommen, so Jeremy Gibson und Julian Wolfreys, bei denen es heißt: “While
John Cree ‘admits’ to the murders [...] in his journal, there is no conclusive evidence
in the novel that Cree did commit the murders. All the reader has to go on is
textual evidence without any access to authenticity or any authenticating trace”
(Gibson und Wolfreys 2000, 205). In dieser vorschnellen Einordnung des AckroydRomans als anti-referentielles Beispiel des ‘High Postmodernism’ wird ignoriert,
dass die Indizien, und gerade auch visuelle Indizien, für Elizabeths Täterschaft sich
gegen Ende des Romans häufen.6 Das Londoner ‘Phantom’, alias Elizabeth, wird
zum Beispiel auf ihrem Mordgang durch die Stadt als Schatten an einer Wand gesichtet, und Dan Leno, Schauspieler und Experte für Mimik und Gestik, der zudem häufig mit einer neuen Technik des 19. Jahrhunderts arbeitet, dem durch
Lampen ausgeleuchteten Schattenspiel oder Diorama, stellt fest: “believe me or
believe me not, I think you saw the shadow of a woman along the Ratcliffe
Highway” (Ackroyd 1994, 208). Die Kriminalfälle in diesem Roman haben also
durchaus eine Auflösung, doch ist diese nur dem Leser – und Elizabeths Beichtvater – zugänglich. Visuelle Evidenz, so wird hier postuliert, ist nicht per se aufschlussreich, sondern bedarf einer kundigen Interpretation; ansonsten bleibt sie,
wie schon Sherlock Holmes feststellte, “not invisible but unnoticed.” Gegenüber
Ackroyds früherem Roman Hawksmoor (1985), der sich als “metaphysical detective
story” bezeichnen lässt,7 nimmt sich Dan Leno als traditionellere Rückwendung
zum ‘klassischen’ Muster des Detektivromans aus, in welchem falsche Fährten
sich häufen, gerade dadurch aber das Vergnügen des Lesers an der Lösungsfindung
gesteigert wird. Dabei mischt sich wissenschaftliche Evidenzfindung mit dem
Thema des Übersinnlichen.
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6
7
In dem von ihr verfassten Theaterstück gesteht sie verschlüsselt ihre Schuld ein (s. Ackroyd
1994, 232). Unter anderem zeigt Ackroyd sie auch in der British Library bei der Lektüre von
Thomas de Quinceys Aufsatz “On Murder Considered as One of the Fine Arts”, in dem die
Morde am “Ratcliffe Highway”, Vorbilder für die hier erfolgende Mordserie, geschildert werden;
anschließend bestellt Elizabeth “other books which would have some effect upon the lives of
the characters in this history; she asked for certain volumes on contemporary surgical techniques” (Ackroyd 1994, 270).
S. Carpi 2001, 55: “The mystery is never revealed; in fact it is complicated by the ending. The
novel is also vehemently anti-empirical, which is to say it is against the classic detective’s primary
means for solving a murder.”
Visuelle Evidenz und Übersinnliches in neo-viktorianischen Detektivromanen
3.2.
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Peter Carey, Jack Maggs
Der Rückgriff auf ‘pseudo’-wissenschaftliche Lehren des 19. Jahrhunderts zeichnet
nicht nur Ackroyds, sondern auch Peter Careys neo-viktorianischen Detektivroman aus; hier spielt der Mesmerismus eine herausragende Rolle. Jack Maggs
(1997) ist eine postkoloniale ‘Umschreibung’ von Dickens’ Great Expectations aus
der Perspektive des aus der australischen Verbannung zurückgekehrten Jack Maggs,
alter ego für Dickens’ Sträfling Abel Magwitch. Leitmotiv dieses Romans, bei
dem es um die Aufdeckung der Identität eines ‘Verbrechers’ geht, sind Verdächtigungen, Bespitzelungen, verstohlene Blicke. Im Mittelpunkt des metafiktionalen
Textes steht die Schöpfung des Romans The Death of Maggs durch Tobias Oates,
alter ego für Charles Dickens selbst. Durch Mesmerismus lässt Oates Jack seine
kriminelle Vergangenheit und die Zeit in Australien visualisieren, um so an Stoff
für den neuen Roman zu gelangen – unter heftiger Gegenwehr seines Opfers: “‘Do
not make me see it’, he wailed” (Carey 1997, 204). Oates sieht nur den ‘Verbrecher’ in seinem Gegenüber – und hält sich für den Detektiv, der Verborgenes ans
Tageslicht holen muss:
‘What a puzzle of life exists in the dark little lane-ways of this wretch’s soul, what stolen
gold lies hidden in the vaults beneath his filthy streets.’ [...] ‘It’s the Criminal Mind’,
said Tobias Oates, ‘awaiting its first cartographer’. (Carey 1997, 90)
Nicht zufällig wird Oates’ fehlgeleiteter Wunsch, den kriminellen Geist zu ‘kartieren’, in derselben optischen Metaphorik ausgedrückt, die auch die Phrenologen
des 19. Jahrhunderts bei ihrer ‘Kartierung’ der menschlichen Psyche anhand von
physischen Merkmalen benutzten.8
Doch die ‘eigentlichen’ Erinnerungen Jacks an seine Vergangenheit als Kinderdieb – mit deutlichen Reminiszenzen an Oliver Twist – die er mit verschwindender
Zaubertinte für seinen Adoptivsohn, alter ego für Dickens’ Pip, niederschreibt,
erreichen nie ihren Adressaten und werden so nur mit dem Leser geteilt. Jack
baut sich schließlich mit einem ehemaligen Londoner Hausmädchen eine neue
Existenz in Australien auf. Der Roman endet mit einer Dickens-typischen Szene
des ‘Lesens’ im Feuer; hier transformiert Oates Jack erneut, mithilfe übersinnlicher
Visionen, in eine karikaturenhafte Verbrechergestalt:
In those flames he saw, as he would throughout his life, the figures and faces of his
fancy dancing before him. [...] It was Jack Maggs, the murderer, who now grew in the
flames. […] Tobias saw him hop like a devil. Saw him limp, as if his fiery limbs still
carried the weight of convict iron. (Carey 1997, 326)
In seinem Buch The Death of Maggs wird der ehemalige Sträfling entsprechend
zum “symbol of demonic energy” (Koval 1997, 669; zit. in Maack 2005, 234 n. 11).
Die Visionen des selbsternannten Detektivs decken hier die Identität des Verbrechers nicht auf, sondern erfinden sie. Doch für die Leser erfüllt sich das Bedürfnis
nach Aufklärung. Nicht nur erhalten sie privilegierten Einblick in Jacks Aufzeichnungen vor dem Verlöschen der Zaubertinte; auch der Paratext gibt zusätzliche
—————
8
S. auch Maack 2005, 231 zu Mesmerismus und Phrenologie in Jack Maggs.
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Anne-Julia Zwierlein
Hinweise: Die Cover-Photographie der ersten Taschenbuchausgabe von Careys
Hausverlag, Faber and Faber, präsentiert eine im späten 19. Jahrhundert aufgenommene Photographie eines zerlumpten Waisenkindes aus Barnardo’s Photographic
and Film Archive. Die wohltätige Organisation Dr Barnardo’s, gegründet im Jahre
1869, war an den zeitgenössischen “Child Emigration Schemes” maßgeblich beteiligt: Hier wurden Waisenkinder per Schiff in die Kolonien verschickt, allen voran
nach Kanada und Australien (s. Merseyside Maritime Museum und Gill 1998).
Dieser Paratext verbindet sich mit Jacks Selbstdarstellung als Oliver Twist-Figur
zu einer Version von Jack nicht als Täter, sondern als Opfer. Zudem suggeriert die
Photographie – hier allerdings entgegen Jacks eigenem Bericht –, der Protagonist
sei nicht als erwachsener Straftäter, sondern schon als Waisenkind nach Australien
verschickt worden. Im Sinne einer postmodernen ‘Umschreibung’ erhält hier gerade
auch durch visuelle Indizien eine Dickens’sche Nebenfigur eine eigene Vorgeschichte – und wird schließlich dadurch vom Status des Verbrechers freigesprochen,
den vermeintliche andere visuelle ‘Evidenz’, Phrenologie und Mesmerismus des
19. Jahrhunderts, ihr aus Oates’ Perspektive zugeschrieben hatten.
3.3.
Louis Bayard, Mr Timothy
Der Roman Mr Timothy (2003) des US-Amerikaners Louis Bayard setzt Charaktere
aus Dickens’ A Christmas Carol ins Zentrum eines neuen fiktionalen Plots um
die Aufdeckung eines Pädophilen-Rings im viktorianischen London – ein dezidiert
unviktorianisches Thema, so wie auch schon Carey mit der Darstellung von Homosexualität, Ehebruch und Abtreibung die Grenzen des in viktorianischer Zeit explizit Schreibbaren überschritten hatte. Noch eindeutiger als Ackroyd und Carey
schließt sich Bayard allerdings an den viktorianischen Detektivroman an, indem
der dargestellte Kriminalfall einer eindeutigen Auflösung zugeführt wird. Die Detektivfigur dieses Romans ist Mr Timothy, “Little Tim” aus A Christmas Carol;
als Erwachsener bestreitet er mittlerweile seinen Lebensunterhalt dadurch, dass er,
ähnlich wie es in der Anfangssequenz von Dickens’ Our Mutual Friend dargestellt ist, in der Themse nach den Wertgegenständen von Wasserleichen fischt.
Während seiner Suche nach dem Verbrecher wünscht Mr Timothy sich die
mnemotechnischen Qualitäten einer Kamera:
If only you’d given me [a] three-legged camera […], had it follow me through the streets
like a hunting dog, searing into my cortex every face I encountered, the exact circumstances of each meeting. (Bayard 2003, 238)
Hiermit wird der viktorianische Glaube an die Exaktheit der photographischen
Reproduktion evoziert; Poe hatte beispielsweise über die Photographie geäußert,
diese ermögliche im Gegensatz zur unvollkommenen Ausdrucksmöglichkeit der
Sprache eine ‘perfekte Identität der Darstellung mit dem Dargestellten’ – und wie
eingangs dargelegt, wurde ja der Blick seines Auguste Dupin mit dem Objektiv
einer Kamera verglichen (s. Thomas 1999, 116). Gleichzeitig findet sich in Mr
Timothys Wunsch aber auch der im “Jack the Ripper”-Fall bemühte Aberglaube,
Visuelle Evidenz und Übersinnliches in neo-viktorianischen Detektivromanen
41
einmal Gesehenes hinterlasse Spuren im menschlichen Auge, und von einzelnen
Charakteren des Romans werden Kameras sogar hypnotische, an den Mesmerismus erinnernde Fähigkeiten zugeschrieben (s. z.B. Bayard 2003, 90).
Der Detektiv entdeckt schließlich tatsächlich das Konterfei des Verbrechers
auf einer photographischen Visitenkarte im Photoatelier seines Bruders – auf einer
der “‘cartes de visite’ that have become the last word in fashion” (Bayard 2003, 239).
Wie Thomas bemerkt, wurden bereits um das Jahr 1860 herum jährlich drei bis
vier Millionen solcher Visitenkarten in England verkauft (s. Thomas 1999, 118).
Hier wird also aus einem Selbststilisierungsinstrument des gehobenen viktorianischen Bürgertums ein Indiz für die Verbrechensaufklärung. Dies weist implizit
auf eine kriminologische Erfindung des 19. Jahrhunderts hin, auf die “composite
photography”, im Jahre 1878 zum ersten Mal beschrieben von Francis Galton,
einem der ‘Väter’ der medizinischen Statistik, der auch Analysemethoden für Fingerabdrücke entwickelte: Er kopierte photographische Visitenkarten verschiedener
Personen übereinander und formte so eine ‘Durchschnittsperson’ aus den Vorlagen
heraus. Im Bereich der Kriminologie setzte er selbst diese vermeintlich objektive
Technik ein, um aus den Bildern mehrerer ‘Krimineller’ das visuell herauszufiltern,
was er für die ‘Essenz’ des Verbrechers hielt (s. Mighall 2003, 152-3; Rothfield
1992, 143). Der ‘epistemologische Plot’ Bayards, die Suche nach der Identität des
Kriminellen, folgt somit viktorianischen Modellen – nicht zuletzt auch dem
Sherlock Holmes-Abenteuer “A Scandal in Bohemia”, in dem die Auflösung des
Falls sich ebenfalls in einer Photographie manifestiert.
3.4.
Julian Barnes, Arthur & George
Vor dem dargestellten kulturgeschichtlichen und gattungstypologischen Hintergrund, im Vergleich mit viktorianischen Vorlagen sowie den exemplarisch vorgestellten anderen neo-viktorianischen Detektivromanen, lässt sich nun abschließend
Arthur & George umfassender analysieren. In den bisher erschienenen Rezensionen
wird routinemäßig der hybride generische Charakter des Textes hervorgehoben:
“Arthur & George, [Barnes’s] tenth novel, is a crime novel, a two-person biography, a romance, a historical novel, and a philosophical speculation all rolled
into one” (Smee 2005; s. ähnlich James 2005). Diese generische Unentschiedenheit
ist jedoch nicht unbedingt ein Vorteil: Barnes’ akribische Aufarbeitung von historischem Aktenmaterial zum Edalji-Fall resultiert, wie einige Rezensenten nicht
zu Unrecht feststellen, in Überfrachtung und fehlendem Spannungsaufbau (s. Jon
Barnes 2005; Kakutani 2005). Auch zur postmodernen Repräsentationskritik, die
Barnes in Romanen wie Flaubert’s Parrot (1985) oder England, England (1998) paradigmatisch kultiviert hatte, bezieht der Text keine deutliche Stellung: Einerseits
verweist die nachgestellte “Author’s Note” ausdrücklich auf die Authentizität der
zitierten Briefe und Dokumente (s. Barnes 2005, 360); andererseits findet sich im
Text – wenn auch deutlich gemäßigt – die für Barnes bisher typische postmoderne
Relativierung des Glaubens an eine eindeutige narrative Darstellbarkeit der Vergangenheit. Der historische Kriminalfall selbst wurde nie abschließend aufgeklärt. In
42
Anne-Julia Zwierlein
Doyles Autobiographie wird zwar der Verdacht gegen eine anonymisierte Person “X” ausgesprochen, doch ließ sich dies juristisch nicht erhärten. Für die obszönen Briefe, die angeblich Edalji geschrieben haben sollte, fand sich nachträglich ein Schuldiger, wie es in der “Author’s Note” heißt:
Four years after Sir Arthur Conan Doyle’s death, Enoch Knowles, a fifty-seven-year-old
labourer, pleaded guilty at Staffordshire Crown Court to the writing of menacing and
obscene letters over a thirty-year period. (Barnes 2005, 359)
Doch die Verstümmelung der Weidetiere blieb ein Rätsel. Barnes zitiert hierzu
Edaljis letzte öffentliche Stellungnahme im Daily Express vom 7. November 1934,
in der dieser feststellte: “The great mystery, however, remains unsolved” (Barnes
2005, 360).
Da es hier jedoch nur um eine historisch-faktisch begründete, nicht um eine
metaphysische, ins Metafiktionale übersetzte Unlösbarkeit geht, weist der Roman
kaum Gemeinsamkeiten auf mit der ‘metaphysical detective story’. Die für die
epistemologische Fragestellung verwendete optische Metaphorik ist allerdings
zweideutig: Sie wird hier zunehmend auch Bestandteil einer aus Doyles Biographie
erklärbaren Diskussion über den Gegensatz von Rationalismus und Spiritualismus.
Erkenntniswille wird schon ab den ersten Sätzen des Romans metaphorisch verknüpft mit dem Willen, zu sehen:
A child wants to see. It always begins like this, and it began like this then. A child wanted
to see. – He was able to walk, and could reach up to a door handle. He did this with
nothing that could be called a purpose, merely the instinctive tourism of infancy. A
door was there to be pushed; he walked in, stopped, looked. […] – What he saw there
became his first memory. (Barnes 2005, 3)
Diese erste Erinnerung Doyles, auch in seinen Memories and Adventures festgehalten, ist der aufgebahrte Leichnam seiner Großmutter, und die Sehnsucht nach
einem Aufschluss über das Wesen von Leben und Tod, zunächst durch wissenschaftliches Studium sichtbarer Zeichen sowie später durch Versuche, bei Séancen
mit Toten in Kontakt zu treten, bestimmt das Leben des Schriftstellers von nun
an. Edaljis fehlendem Sehvermögen, einem der Hauptbeweise Doyles für dessen
Unschuld, wie eingangs erwähnt, wird die Scharfsichtigkeit des ehemaligen Augenarztes symbolisch gegenübergestellt – wie Tim Adams formuliert: “In some ways,
Arthur & George is a kind of parable: the ophthalmologist lending his powers of
observation to the near-blind” (Adams 2005). Die Investigationsmethoden, die
Doyle von Professor Bell übernahm, werden in Arthur & George, in Anlehnung
an Doyles Autobiographie, ausdrücklich nachgezeichnet:
[Arthur] liked to tell how he had been taught the importance of careful looking at the
Edinburgh Infirmary. A surgeon there, Joseph Bell, […] would greet each patient, and
from a silent yet intense scrutiny try to deduce as much as possible about their lives
and proclivities. He would declare that this man was by trade a French polisher, that
one a left-handed cobbler, to the amazement of those present, not least of the patient
himself. Arthur remembered the following exchange:
‘Well, my man, you’ve served in the army.’
‘Aye, sir.’
‘Not long discharged?’
Visuelle Evidenz und Übersinnliches in neo-viktorianischen Detektivromanen
43
‘No, sir.’
‘A Highland regiment?’
‘Aye, sir.’
‘Stationed at Barbados?’
‘Aye, sir.’
It was a trick, yet it was a true trick; mysterious at first, simple when explained.
‘You see, gentlemen, the man was a respectful man but did not remove his hat.
They do not in the army, but he would have learned civilian ways had he been long discharged. He has an air of authority and he is obviously Scottish. As to Barbados, his
complaint is elephantiasis, which is West Indian and not British.’ (Barnes 2005, 38)
Sherlock Holmes ist, wie Barnes’ Arthur stolz verkündet, nach diesem Modell
entworfen, “a cool, calculating figure who could see the clue to a murder in a ball
of worsted, and certain conviction in a saucer of milk” (Barnes 2005, 53). Bei
seinem Kampf für Edaljis Freilassung verlässt sich Arthur jedoch, neben exakten
Untersuchungen über Dioptrie-Werte (Barnes 2005, 240), vor allem auf die ‘Augen
des Glaubens’, wie Edalji sich später erinnert:
The eyes of faith. The eyes Sir Arthur brought with him when they met at the Grand
Hotel, Charing Cross. His champion’s words: I do not think, I do not believe, I
know. (Barnes 2005, 355)
Somit betont Barnes’ Roman gerade auch den Gegensatz zwischen dem Rationalismus von Doyles Detektivgeschichten und dem Spiritismus-Glauben, dem der
Schriftsteller selbst sich mit zunehmendem Alter hingab. Doyles Hang zum Übernatürlichen ist um so bemerkenswerter, als seine Holmes-Figur häufig Fälle löst,
die wie Bells oben zitiertes Paradestück anmuten: “mysterious at first, simple when
explained.” Holmes führt so scheinbar übernatürliche Ereignisse auf ihre natürlichen
Ursachen zurück. Der unheimliche ‘Hound of the Baskervilles’, der kein Gespenst
ist, sondern lediglich mit leuchtendem Phosphor bestrichen, ist nur ein Beispiel
für dieses Leitmotiv (s. auch Otis 1999, 110; Willis 2000, 61). In seiner Autobiographie betonte Doyle dagegen, er hoffe, seine spiritistischen Aktivitäten würden
seinen Tod überdauern, “even when all the rest has been forgotten” – doch die
Nachwelt fand offensichtlich die Botschaft des Detektivs von der Möglichkeit rationalistischer Erkenntnis faszinierender als den späteren Glauben des Autors an übernatürliche Offenbarungen (Doyle 1924, 448). Wie Sebastian Smee anmerkt, war
Doyle auch vor Betrügereien mit scheinbarer visueller Evidenz für das Übernatürliche nicht gefeit – so war er einer der begeistertsten Anhänger der sogenannten
‘Cottingley Fairies,’ Bildern von Elfen, die zwei Kusinen im Jahre 1917 mithilfe von
Foto-Montagen herstellten.9
Tatsächlich gibt es einen Zusammenhang zwischen dem englischen Detektivroman und der Spiritismus-Bewegung, die beide in der Mitte des 19. Jahrhunderts
ihren Anfang hatten und bis in die 1930er Jahre äußerst populär waren; so heißt
es bei Chris Willis:
—————
9
S. Smee 2005 und Jones 1989. Doyle verfasste sogar ein Buch über die Cottingley Fairies: The
Coming of the Fairies (Doyle 1922).
44
Anne-Julia Zwierlein
Both attempt to explain mysteries. The medium’s role can be seen as being similar to
that of a detective in a murder case. Both are trying to make the dead speak in order
to reveal a truth. (Willis 2000, 60)
Der Versuch, an den Augen einer Toten die Identität ihres Mörders abzulesen,
wie in Ackroyds Dan Leno, oder die Mesmerismus-Sitzungen in Careys Jack Maggs
sind Beispiele für diese viktorianische – und neo-viktorianische – Vermischung
scheinbar inkompatibler Welten. Barnes’ Arthur überträgt die Metaphorik des
Sehens, zunächst für strenge Empirik benutzt, schon bald mit missionarischem
Eifer auch auf die Geisterbeschwörung: “It all depends how quickly slumbering
humanity wakes up and learns to use its eyes” (Barnes 2005, 204). Der Roman
endet plakativ, mit einer spiritistischen Massenveranstaltung, bei der ein Medium
Kontakt zum verstorbenen Doyle aufnehmen soll. Der Skeptiker Edalji hat sein
Fernglas, Symbol rationalistischer Wissenschaft, mitgebracht, um die Séance von
seinem Zuschauersitz aus zu verfolgen. Als das Medium schließlich die Anwesenheit des Geistes von Doyle verkündet – “HE IS HERE!” –, wird Edalji, durchs
Fernglas blickend, von seiner Sitznachbarin zurechtgewiesen: “You cannot see
him that way. [...] You will only see him with the eyes of faith” (Barnes 2005, 355).
Die Frage nach dem ‘Sichtbarmachen des Unsichtbaren’ wird somit auch zu einer
moralischen Frage nach Loyalitäten: “[Sir Arthur] had believed in George;
should George now believe in Sir Arthur?” (Barnes 2005, 355). Ohne die Frage
der Wertigkeit von Rationalismus und Spiritualismus abschließend zu beantworten,
klingt der Text mit drei Fragezeichen aus. Die Detektivgeschichte gleitet hier also
hinüber – ganz im Sinne der generischen Mixtur des Romans – in eine Beschäftigung mit den Grundlagen der Epistemologie, mit der Frage nach der Verknüpfung
von ‘Sehen’ und ‘Wissen’:
[… George] reaches down again and presses the binoculars to his spectacles. He focuses
once more on the platform, [… on] the line of empty chairs, and the one specific
empty chair with its cardboard placard, the space where Sir Arthur has, just possibly,
been. He gazes through his succession of lenses, out into the air and beyond.
What does he see?
What did he see?
What will he see?
(Barnes 2005, 356-7)
4. Fazit
Ausgehend von einer kurzen Darstellung der epistemologischen Fragestellungen
und optischen Metaphorik des viktorianischen Detektivromans wurden hier ausgewählte neo-viktorianische Detektivromane englischer (Ackroyd, Barnes), australischer (Carey) und US-amerikanischer (Bayard) Provenienz auf die Thematik von
visueller oder übersinnlicher Evidenz hin untersucht. Eine gewisse transnationale
“touristification” des Viktorianismus zeigt sich im Rückgriff neo-viktorianischer
Detektivromane auf die optische Metaphorik und Thematik der Zeit, auf Elemente wie Photographie, Diorama, Visitenkarten oder Ferngläser. Doch auch
‘pseudo’-wissenschaftliche Techniken zum ‘Sichtbarmachen des Unsichtbaren’,
Visuelle Evidenz und Übersinnliches in neo-viktorianischen Detektivromanen
45
wie Mesmerismus oder spiritistische Sitzungen, werden in den Romanen diesen
wissenschaftlichen Techniken teils gegenübergestellt, teils untrennbar mit ihnen
verwoben. Gerade der Barnes-Roman würde das im aufklärerischen Sinne verwendete Bibel-Zitat John Tenniels, “eyes which have the gift of seeing,” nicht nur auf
die rationalistische Aufdeckung verborgener Zusammenhänge beziehen, sondern
auch auf die ‘Augen des Glaubens’, “the eyes of faith.”
Die Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnis bildet ein Leitmotiv aller neoviktorianischen Detektivromane, so wie auch Arthur & George mit dem Willen zum
Wissen begann – “A child wants to see.” Während jedoch die metafiktionalen ‘metaphysical detective stories’, Produkte des ‘High Postmodernism’, jede Erkenntnismöglichkeit leugnen, lassen sich die untersuchten neo-viktorianischen Detektivromane einer klaren Auflösung zuführen – mit Ausnahme des Barnes-Romans, bei
dem das Fehlen einer Auflösung jedoch nicht postmoderner Repräsentationskritik,
sondern Barnes’ Treue zum historischen Material geschuldet ist. Dabei lässt sich
als eines der wesentlichen Merkmale dieser Gattung eine diskursive Kontrastierung
– oder Vermischung – von Wegen der Evidenzfindung festhalten: Zwar werden in
den meisten Beispielen der Gattung, wie in den Vorbildern der ‘rationalistischen’
Geschichten um Auguste Dupin oder Sherlock Holmes, ‘wissenschaftliche’ Techniken der Evidenzfindung privilegiert. Doch leben alle untersuchten Romane von einer produktiven Spannung zwischen visueller und übersinnlicher ‘Evidenz’, und so
vermischt sich, in kreativer Weiterführung der viktorianischen Diskursverflechtung, das Konstrukt des Rationalismus mit der Faszination, welche dem Verbrechen
eine übernatürliche Aura beigibt: so in den Bezeichnungen “Limehouse Golem”
oder “London phantom” für den Verbrecher bei Ackroyd oder in der schriftstellerisch durchaus produktiven Dämonisierung Jack Maggs’ durch die Autorfigur
Tobias Oates bei Carey. Die Vorstellung vom Verbrecher als übernatürlicher Figur,
als durch die Slums schwebendem Gespenst, bleibt also im neo-viktorianischen –
wie schon im viktorianischen – Detektivroman notwendiges, Spannung erzeugendes
Gegengewicht zum Verweis auf logische Beweisketten und visuelle Evidenz.
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