Stolpersteine für Lorsch - Heimat

Transcrição

Stolpersteine für Lorsch - Heimat
Lorsch, 6. – 12. Juli 2015
Programm, Gäste,
Redebeiträge und Pressespiegel
Stolpersteine für Lorsch
Die ersten Stolpersteine in der Nibelungen-/Kirchstraße und Schulstraße
1
Gruppenfoto am 10.7.2015 in Alsbach. Es fehlen: Chris Dressler (7) und Jonathan Cobb (15). Vom Heimat- und Kulturverein und aus Lorsch,
v.l.: Gisela Steines (Hut), Reinhard Diehl, Heidi Angermann (12-11), Dieter Angermann (11-10), Winfried Dixkes, Birgit v. Loewis, (10-6),
Thilo Figaj (3-1)
Gästeliste:
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Elaine Kahn
Rabbi Lawrence Troster
Sara Kahn-Troster
Rabbi Rachel Kahn-Troster
Liora Pelavin (2007)
Ron Dressler
Chris Dressler
Otto Kahn (1934, Lorsch)
Irene Kahn
Deborah Kahn
Lisa Kahn
Candace Kahn
Michael Kahn
Catherine De Freitas
Jonathan Cobb
Enkelin der Karola Mainzer Kahn (1902-1993), Tochter von Ernst Kahn (1925 – 1996)
Ehemann Elaine Kahn
Enkelin Ernst Kahn, Tochter von Elaine Kahn und Lawrence Troster
Enkelin Ernst Kahn, Tochter von Elaine Kahn und Lawrence Troster
Ur-Enkelin Ernst Kahn, Tochter von Rachel Kahn-Troster
Enkel des Dr. Moritz Mainzer (Lorsch, 1878 – Frankfurt, 1938)
Ur-Enkel des Dr. Moritz Mainzer
Sohn der Karola Mainzer-Kahn und Leopold Kahn (1892 – 1960)
Ehefrau von Otto Kahn
Enkelin der Karola Mainzer Kahn
Enkelin der Karola Mainzer Kahn
Mutter von Lisa Kahn
Enkel der Karola Mainzer Kahn
Ur-Ur-Ur-Enkelin Mayer Mainzer I (1803-1850), Enkelin Ralph Layton (1890 – 1976)
Nachfahre der Familie Lorch – Strauss (Bahnhofstrasse)
2
New Jersey
New Jersey
Maine
New Jersey
New Jersey
New York
Colorado
Kalifornien
Kalifornien
Kalifornien
Ontario
Kalifornien
Kalifornien
London
London
Inhalt
Stolpersteine für die Opfer
4
Hans Jürgen Brunnengräber, Starkenburger Echo
Aufstieg einer Beerdigungsbruderschaft
5
Thilo Figaj
Redebeitrag anlässlich der Verlegungen, englische Fassung
7
Reinhard Diehl
Redebeitrag anlässlich der Verlegungen, deutsche Fassung
10
Otto Kahn
Ansprache anlässlich der Verlegungen
13
Christian Knatz, Starkenburger Echo
Die ersten elf Stolpersteine für Lorsch
14
Programm
Empfang der Stadt Lorsch
15
Thilo Figaj, Redebeitrag Rathhausempfang
Debating Jewish History in Lorsch and
Commemorative Work after the War
16
Deutsche Fassung
Aufarbeitung der Geschichte Jüdischen Lebens in
Lorsch nach dem Krieg
20
Christian Knatz, Starkenburger Echo
Große Gesten in Lorsch
24
Nina Schmelzing
Nur Flucht aus Lorsch rettete das Leben
26
Claudia Stehle, Starkenburger Echo
Lorsch-Besucher feiern jüdischen Gottesdienst
28
3
Stolpersteine in der Nibelungenstrasse
56 / Ecke Kirchstraße für:
Rosa Mainzer (1871, Flucht nach Kanada
1939)
Von ihrer Tochter Gustine (1897, ermordet
1941 in Hadamar in der Aktion T4
existiert kein Foto)
v.l.
Carola Kahn (1902, Flucht nach Kanada
1939)
Leopold Kahn (1892, 1933 und 1939 KZ
Osthofen und Buchenwald, Flucht nach
Kanada 1939)
v.l. oben: Ernst (1925) und Berthold Kahn
(1928), beide 1939 gemeinsame Flucht
über London nach Kanada.
unten: Fritz (1929), Otto (1934) und Heinz
Kahn (1931), Flucht mit den Eltern 1939
nach Kanada.
Aufnahme 1937 in Lorsch:
Stolpersteine in der Schulstraße 18 für:
v.l.
Johanna Mainzer 1863 – 1943,
Deportation nach Theresienstadt, ermordet
Regina Josef 1878 – 1942, Deportation
nach Piaski, ermordet.
4
Lorsch 10.07.2015
Aufstieg einer Beerdigungsbruderschaft
Von Hans-Jürgen Brunnengräber
VORTRAG – Thilo Figaj schildert vor Nachfahren Lorscher Juden die Geschichte der
jüdischen Gemeinde
LORSCH - Bis ins Mittelalter lässt sich die Geschichte der Juden von Lorsch zurückverfolgen.
Thilo Figaj gab in Lorsch einen Überblick.
Ein fürstbischöflicher Eid aus dem 15.
Jahrhundert ist eines der ersten Zeugnisse. Die
Deportationen von Lorscher Juden in
Konzentrationslager im Jahr 1942 bilden das
Ende der jüdischen Gemeinde in Lorsch. „Die
Juden von Lorsch“ war das Thema von Figajs
Vortrag; er hielt ihn anlässlich des Besuchs von
Angehörigen der Familien Kahn und Mainzer
zur Verlegung von Stopersteinen. Mit ihnen wird
an ehemals in Lorsch lebende Vorfahren dieser
Familien erinnert.
Thilo Figaj gibt mit seinem Vortrag einen Überblick
über die jüdische Geschichte von Lorsch.
Foto: Karl-Heinz Köppner
Erneut zeichnete Thilo Figaj, der in den
vergangenen Jahren mehrfach mit Vorträgen zur
Geschichte der Lorscher Juden überzeugt hatte,
ein ebenso fundiertes wie facettenreiches Bild jüdischen Lebens in Lorsch. Der Unternehmer
und Publizist erinnerte an die Zuwanderung von Juden aus Worms, Mainz und Speyer zu
Beginn des 30-jährigen Krieges, an die Sonderstellung der jüdischen Gemeinde ab dem 18.
Jahrhundert
durch
die
Gründung
eines
„Wohltätigkeitsvereins“,
der
als
Beerdigungsbruderschaft die Besetzungen auch für umliegende jüdische Gemeinden
organisierte. Ende des 18. Jahrhunderts folgte der Bau einer ersten Synagoge.
Auch aufgrund der Hessischen Gemeindeordnung von 1821, die zumindest formell eine
Gleichstellung der Juden vorsah, stieg auch in Lorsch die Zahl Mitglieder der jüdischen
Gemeinde.
Siedlungsbeschränkungen und ein wenig unternehmerfreundliches Klima sowie die
Restauration nach der Revolution von 1848 veranlassten viele Juden jedoch zur Auswanderung
nach Amerika. Von der dort beginnenden Industrialisierung profitierten sie als fleißige und
ideenreiche Unternehmer. Beispielsweise in New York, diesem ersten Metropolis der Neuzeit,
kreuzten sich die Lebenswege von Menschen, die selbst oder durch ihre Vorfahren einen Bezug
zu Lorsch hatten oder gar aus Lorsch stammten. Als Unternehmer vergaßen sie die alte Welt
nicht, sondern integrierten sie in neue Geschäfts- und Handelsbeziehungen. Figaj erinnerte in
diesem Zusammenhang an die Familien Krakauer und Morgenthau.
5
1884 folgte in Lorsch der Neubau einer Synagoge in der Bahnhofstraße mit angrenzender
Mikwe, einem Ritualbad, und einer Schule. Mit 101 Mitgliedern erreichte die jüdische
Gemeinde in Lorsch 1895 ihren höchsten Stand. Ihre Mitglieder hätten trotz der
überschaubaren Zahl das Leben in der Gemeinde geprägt, betonte Figaj.
Selbst ein akribischer Rechercheur benötigt das Glück, fundierte Quellen ausfindig zu machen.
So lieferte Dr. Moritz Mainzer (1878–938) als Chronist der Geschichte der Lorscher Jude, viele
Fakten, die Figaj informativ und kurzweilig aufbereitete.
Der Heimat- und Kulturverein hat sich bereits in früheren Jahren um ein Gedenken für die
Lorscher Juden bemüht. Aufsätze und Publikationen zu Gedenktagen, eine Ausstellung zur 40.
Wiederkehr der Reichspogromnacht gehörten ebenso dazu wie die Einweihung einer
Gedenkstätte für die Lorscher Juden.
Ein Besuch als Großereignis
2001 wurde Professor Claude Abraham mit dem ersten Ehrenring der Stadt Lorsch
ausgezeichnet. „In respektvoller Würdigung seines Wirkens als geachteter Wissenschaftler und
in demütigem Bedauern für das grausame Schicksal, das ihm, seinen Eltern und vielen
jüdischen Bürgern von Lorsch (…) bereitet wurde, verleiht die Stadtverordnetenversammlung
(…) den ersten Ehrenring der Stadt Lorsch“, hieß es in der Verleihungsurkunde. Damals wurde
unter Federführung des Lorscher Sportpublizisten Karl-Heinz Huba ein Programm mit
Vorträgen und Diskussionen organisiert.
6
Thilo Figaj, Lorsch, 9.7.2015
Stolpersteine
Rede am Verlegeort in Lorsch, Englisch
Here at the memorial was once the centre of Jewish Life in Lorsch which had made the life
within our community richer. Here are the addresses of two houses which both since the first
count of houses 1827 belonged to the Mainzer family. This family, into which Leopold Kahn
from Babenhausen had married in 1924, was the leading Jewish family of Lorsch in the 19th
century. Their merchants and traders have ever added to the prosperity of the entire
community. With the first Stolpersteine laid in this city, we commemorate and honor those
members of their families, who suffered more than a decade under the injustice of the Nazi
regime, were forced to flee from their homes, or were murdered. We thank all members of the
families that they have made the long journeys from the USA, Canada and England to this day
and place in Lorsch.
Stolpersteine are no grave stones. You don’t trip over them. They are intended to encourage us
to pause and reflect. We, like so many other people in many other places in Europe, are
thankful for the opportunity to contribute to the largest memorial of this kind, to Mr. Gunter
Demnig who started this initiative. We are committed to our responsibility towards visible
German history, and the history of our town, just as our President Gauck said last January 27:
“The memory of the Holocaust remains a matter for all citizens living in Germany, it belongs to
the history of this country and it is something specific: here in Germany, where we daily walk
past houses from which Jews were deported, here in Germany, where the destruction was
planned and organized, where the horrors of the past is closer and the responsibility for present
and future is bigger and more obligatory than anywhere else."
“Where we daily walk past those houses“is the right keyword for the day, here in these streets,
which we now call the City Ring. In Schulstrasse 18 once stood the house of Nathan Mainzer.
Nathan died in 1914 and since then his widow Johanna lived here together with their
housekeeper Regina Josef. Both women were childless.
Regina Joseph was born in 1878. She came from Reichelsheim, and remained unmarried. As a
housekeeper she had come to the Mainzers before the turn of the century. Through marriage of
one of her brothers, she was related to the family. She herself came from the oldest Jewish
family, Joseph, in Reichelsheim, who had settled there in the 17th century after the expulsion
of Jews from Vienna. A brother of her lived in Mannheim. Apart from a nephew who escaped
to Holland, he and other family members were all victims of the Shoa, too. Unfortunately, we
know little more about this woman. We just have a few handwritten lines from her, written in
August 1939 from Lorsch shortly before the outbreak of war. The letter was addressed to Karola
Kahn and her children. “The pears in the courtyard are ripe now,” she wrote, “and no more
children here to pick them.” Regina Joseph was deported on 25 March 1942 from Lorsch to
Poland. The train went into the region of Lublin and her killing must be assumed for the same
year in one of the local death camps, Majdanek probably.
Johanna Mainzer, nee Mayer from Biebesheim, born in 1863, was deported in September 1942
to Theresienstadt. She is the oldest Lorsch victim of the Shoah, and died five months later, a
few days before their 80th birthday in the camp. From her letters of that summer of 1939,
which were only received in America, because they were written just before the mail service
7
across the Atlantic was suspended, we know that even the eldest Jews of Lorsch were not willing
to surrender to their fate in Lorsch. She describes how she tries in vain to sell her house which
would have made it a bit easier to immigrate. Even in 1941 she applied yet again - and again in
vain - a final exit visa.
Johanna’s empty house was then robbed by the Nazi financial authorities. After restitution of
the heirs, which was in 1953, to her maiden Mayer family and others, it was demolished. Apart
from the synagogue, it had been since 1827 the house with the longest Jewish ownership in
Lorsch. Before Nathan and Johanna took over in 1902, Jonas Mainzer lived here with his wife
Helene. He was a long term mid-19th century Warden of the Jewish community. His youngest
son, who later became a Frankfurt Rabbi, teacher and chronicler, Dr. Moritz Mainzer was born
here. As a representative of the family for this house are here today, from New York City and
Colorado, Ronald Dressler, grandson of Dr. Moritz Mainzer and his son Chris. Johanna
Mainzer was also their great-grand-aunt.
For Johanna Mainzer and Regina Josef, Kaddish
Music
The one house does not longer exist, the other house is more concise, and a beacon of Jewish
history in our city. The house Nibelungenstraße 56, formerly Wormser Straße 8, at the corner
of Church Street was also ownde from 1827 to 1939 by the Mainzer. Five generations lived
here. Members of her last three generations were victims of Nazi tyranny.
Rosa Mainzer, nee Neuberger from Friedelsheim in the Palatinate, born 1873, had been
married to Berthold Mainzer. He had died 1918 of the Spanish flu. The couple had three
daughters, Emilie born 1896, Gustine one year later and Karola, who was born in 1902. The
first girl had died shortly after she was born. Gustine, the second daughter was handicapped.
After the death of the husband and father Berthold Mainzer, the work of the family rested on
the shoulders of then 16 -year-old Karola. She had to give up high-school at the Sisters of Maria
Ward in Bensheim to keep the business running her father had established, selling fertilizer,
feed and coal. In 1924 she married Leopold Kahn from Babenhausen, a livestock trader who
was born in 1892. Leopold’s brother Karl had also married a Jewish Girl from here, Paula
Lorch, two years before.
Karola and Leopold got five sons:
Ernest 1925
Bert 1928
Fred 1929
Henry 1931
Otto 1934
The family became known as the "Boy -Kahns" after Karl Kahn and his wife Paula from the
Bahnhofstrasse had four girls, so they were the "Girl-Kahns".
With the seizure of power by the Nazis 1933, the male Jews of Lorsch experienced a first taste of
what was coming. Her husband Leopold and others were, as Karola described in her memoirs,
deported to the concentration camp Osthofen and intimidated there. After the pogroms in
1938 it got worse. All Jewish men in Germany were placed in concentration camps to extort
their and their families’ immediate departure. Leopold Mainzer, a WW I soldier awarded with
8
the Honorary Cross of frontier fighters, came to Buchenwald, where he was badly mistreated.
On images taken just 5 months apart, before and after Buchenwald camp, we see a man aged by
years.
Karola took the initiative after Leopold’s return from Buchenwald which her husband could
not muster. At first she let their eldest two sons Ernest and Bert go to England, to a cousin. The
elder sons could not any longer and under these circumstances remain in Lorsch.
She found a buyer for the house which helped her to finally and with the help of the cousin in
London get visas for Canada. The largest portion of the proceeds for the house was robbed
from them by the Nazi fiscal authorities.
What was left from the house was Rosa Mainzer’s invest in trust for her second daughter
Gustine, for whom she could not obtain exit permit. Gustine was housed in a ‘nursing home’
in Heppenheim. From there she was abducted on February 4, 1941 brought to Hadamar and
killed the same day in the so-called 'Action T4'. Her exact fate was not clear to the family until
2014. We do not have a proper image of her. Only her engraved spoon has stayed with her
mother Rosa and family. On July 11, 1939, almost exactly to the day 76 years ago, the rest of
the family left their centuries-old home Lorsch for Canada via London. On the way to
Hamburg they visited one last time their close relatives, the “Girl-Kahns” who had moved from
Lorsch to Babenhausen in 1934. They have not managed to leave Germany and have all been
killed. A school class in Babenhausen has initiated Stolpersteine for the “Girl-Kahns” in April
this year and Mr. Demnig has laid them in front of their house in Fahrstrasse, opposite the
Michels Brewery.
We are grateful that you all came here today, but above all we are deeply moved, that with you
Otto Kahn, we have a direct member and a time witness with us on this occasion.
That is not self-evident despite the many years that have passed. It is a great gesture for all of us
in Lorsch and, we think, it may also be for your family. It is a gesture that will stay in our
memories. Thank You, Otto Kahn.
For Gustine Mainzer, Kaddish
Music
Schluss
Von
1827
1830
1867
1902
1943
1953
1827
1855
1894
1925
1939
bis
1830
1867
1902
1943
1953
1959
1855
1894
1925
1939
1970
Haus
Schulstraße 18
Nibelungenstraße 56
Eigentümer
Mainzer
Herz
Mainzer
Löb
Mainzer
Jonas I
Mainzer
Nathan I
Reichsfinanzverwaltung und JRSO
Mayer
Max und Miterben
Mainzer
Meyer I
Mainzer
Leopold II
Mainzer
Berthold I
Mainzer
Carola
Angert
Ludwig
9
Reinhard Diehl, Lorsch, den 9.11.2015
Stolpersteine
Ansprache am Verlegeort
Der Platz dieser Gedenkstätte, wo wir uns versammelt haben, war das Zentrum Jüdischen
Lebens, das Lorsch über Jahrhunderte bereichert hat. Hier sind die Adressen zweier Häuser die
einmal der Familie Mainzer gehört haben. Die Großfamilie Mainzer, in die Leopold Kahn aus
Babenhausen 1924 eingeheiratet hatte, hat mehr als alle anderen Familien im 19. Jahrhundert
die jüdische Gemeinde geprägt und mit ihrer wirtschaftlichen Betätigung zur Prosperität des
gesamten Ortes beigetragen. An den Adressen Schulstrasse 18 und Nibelungenstrasse 56 ehren
und gedenken wir heute mit den ersten Stolpersteinen in Lorsch den Schicksalen ihrer
einzelnen Mitglieder, die über ein Jahrzehnt unter dem Unrecht des NS Regimes litten, die aus
ihrer Heimat flüchten mussten, oder die ermordet wurden. Wir danken allen Mitgliedern aus
den Familien Kahn und Mainzer, dass sie die zum Teil sehr weiten Anreisen aus den USA,
Kanada und England zu diesem Tag nach Lorsch gemacht haben.
Stolpersteine sind keine Grabsteine. Man stolpert auch nicht darüber, höchstens mit dem
Bewusstsein. Denn sie sollen zum Innehalten und Nachdenken anregen. Wir nehmen wie viele
andere Menschen an vielen anderen Orten Europas dankbar die Gelegenheit wahr, zum
größten Flächendenkmal der Welt unseren Beitrag zu leisten, das Herr Gunter Demnig mit
seiner Initiative für uns und mit uns allen schafft. Damit bekennen wir uns sichtbar zu unserer
Verantwortung gegenüber Deutscher Geschichte und der Geschichte unseres Ortes, so wie es
am 27. Januar 2015 Bundespräsident Gauck formulierte: „Die Erinnerung an den Holocaust
bleibt eine Sache aller Bürger, die in Deutschland leben. Er gehört zur Geschichte dieses
Landes. Und es bleibt etwas Spezifisches: hier in Deutschland, wo wir täglich an Häusern
vorbeigehen, aus denen Juden deportiert wurden; hier in Deutschland, wo die Vernichtung
geplant und organisiert wurde; hier ist der Schrecken der Vergangenheit näher und die
Verantwortung für Gegenwart und Zukunft größer und verpflichtender als anderswo.“
„Wo wir täglich an den Häusern vorbeigehen“, ist das passende Stichwort für den heutigen Tag,
hier in diesen Strassen, die wir den Cityring nennen. In der Schulstrasse 18 stand einmal das
Haus des Nathan Mainzer. Nathan war 1914 verstorben und seine Witwe Johanna bewohnte es
zusammen mit ihrer Wirtschafterin Regina Josef allein. Beide Frauen waren kinderlos.
Regina Josef war 1878 geboren. Sie stammte aus Reichelsheim, und blieb zeitlebens
unverheiratet. Als Wirtschafterin war sie vor der Jahrhundertwende zu den Mainzers nach
Lorsch gekommen. Durch Heirat einer ihrer Brüder war sie mit den Mainzers verwandt. Sie
stammte aus der ältesten jüdischen Familie, Joseph, in Reichelsheim, die im 17. Jahrhundert
nach Vertreibung der Juden aus Wien dort gesiedelt hatte. Ein Bruder von ihr lebte in
Mannheim. Außer einem Neffen, der nach Holland entkam, wurde auch dieser Teil der
Familie Opfer der Shoa. Wir wissen leider kaum mehr über diese Frau. Deswegen sind ein paar
handschriftliche Zeilen von ihr, geschrieben im August 1939 aus dem sommerheißen Lorsch
kurz vor Ausbruch des Krieges an die Kahns in Amerika ein wertvolles Zeugnis. „Die Birnen im
Hof sind nun reif“, schrieb sie, „und keine Kinder mehr da, die sie pflücken.“ Regina Josef
wurde am 25. März 1942 aus Lorsch nach dem Osten deportiert. Der Zug ging in den Raum
Lublin und ihre Ermordung muss noch für das gleiche Jahr in einem der dortigen Todeslager,
wahrscheinlich Majdanek, angenommen werden.
10
Johanna Mainzer, geborene Mayer aus Biebesheim, Jahrgang 1863, wurde im September 1942
nach Theresienstadt deportiert. Sie ist das älteste Lorscher Opfer der Shoa und starb fünf
Monate später, wenige Tage vor Vollendung ihres 80. Geburtstages im Lager. Aus ihren Briefen
des Sommers 1939, die nur deswegen erhalten blieben, weil sie kurz vor der Postsperre des
Krieges geschrieben wurden und noch im Ausland ankamen, wissen wir dass auch die alten
und ältesten Lorscher Juden sich keineswegs ihrem Schicksal in Lorsch ergeben wollten. Sie
schildert, wie sie vergeblich versucht ihr Haus zu verkaufen um sich die Ausreise zu
ermöglichen. Noch 1941 stellte sie zum wiederholten Male – und wieder vergeblich –
einen letzten Ausreiseantrag.
Das Haus wurde von der nationalsozialistischen Finanzverwaltung geraubt. Nach Restitution
der Erben im Jahr 1953, Familie Mayer, wurde es nach dem Krieg abgetragen. Es war seit 1827
in Familienbesitz Mainzer. Bevor Nathan und Johanna seit 1902 übernahmen, lebte hier Jonas
Mainzer mit seiner Frau Helene. Er war Mitte des 19. Jahrhunderts Vorsteher der Jüdischen
Gemeinde. Sein jüngster Sohn, der spätere Frankfurter Rabbiner, Lehrer und Chronist, Moritz
Mainzer wurde hier geboren. Als Repräsentant der Familie und für dieses Haus sind heute
Ronald Dressler, der Enkel von Moritz Mainzer und sein Sohn Chris aus New York und
Colorado hier in Lorsch. Johanna war ihre Großtante.
Für Johanna Mainzer und Regina Josef nun das Jüdische Totengebet, Kaddish
Musik
Das eine Haus existiert nicht mehr, das andere ist umso prägnanter, und ein Leuchtturm
Jüdischer Ortsgeschichte in unserem Stadtbild. Das Haus Nibelungenstraße 56, früher auch
Wormser Straße 8, an der Ecke Kirchstraße war von 1827 – 1939 im Besitz der Familie
Mainzer. Fünf Generationen lebten hier. Mitglieder ihrer letzten drei Generationen wurden
Opfer der NS Gewaltherrschaft.
Rosa Mainzer geborene Neuberger aus Friedelsheim in der Pfalz, Jahrgang 1873, war mit
Berthold Mainzer verheiratet gewesen, der bereits 1918 an der Spanischen Grippe verstorben
war. Sie hatte drei Töchter, Emilie Jahrgang 1896, Gustine 1897, und Karola, geboren 1902.
Das älteste Mädchen war kurz nach der Geburt verstorben. Gustine, die zweite Tochter war
behindert. Nach dem Tod des Ehemannes und Vaters Berthold Mainzer lastete die Arbeit der
Familie auf den Schultern der damals 16-jährigen Karola Mainzer. Sie musste die Schule der
Englischen Fräulein in Bensheim verlassen um den Feldfrucht- und Kohlehandel des
elterlichen Betriebes und die Landwirtschaft zu erhalten. 1924 heiratete sie Leopold Kahn aus
Babenhausen, einen Viehhändler der 1892 geboren war. Dessen Bruder Karl hatte ebenfalls
kurz zuvor nach Lorsch geheiratet. Karola und Leopold bekamen fünf Söhne
Ernst 1925
Berthold 1928
Fritz 1929
Heinz 1931
Otto 1934
Die Familie wurde bekannt als die „Buben-Kahns“, nachdem Karl Kahn und dessen Frau Paula
aus der Bahnhofstrasse vier Mädchen hatten, also die „Mädchen Kahns“ waren.
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten erlebten die männlichen Lorscher Juden
bereits 1933 einen ersten Vorgeschmack auf das was kommen würde. Wie Karola in ihren
11
Lebenserinnerungen schildert wurde auch ihr Mann Leopold in das KZ Osthofen verschleppt
und dort eingeschüchtert. Nach den Pogromen 1938 kam es noch schlimmer. Alle jüdischen
Haushaltsvorstände in Deutschland wurden in Konzentrationslager verbracht um ihnen die
sofortige Ausreise abzupressen. Leopold Mainzer, Soldat und Ehrenkreuzträger des Weltkrieges
kam nach Buchenwald, wo er misshandelt wurde. Auf Bildern zwischen August 1938 und
Januar 1939 sehen wir einen um Jahre gealterten und verstörten Menschen.
Karola ergriff die Initiative, die ihr Mann nach Rückkehr aus Buchenwald nicht mehr
aufbringen konnte. Zuerst schickte sie ihre ältesten Söhne Ernst und Berthold, die auf keinen
Fall mehr in Lorsch bleiben wollten, allein nach England zu einem Cousin. Es gelang ihr einen
Käufer für das Haus zu finden und endlich mit Hilfe des Cousins Visa für Kanada zu erlangen.
Den größten Teil des Erlöses für das Haus raubte ihnen die nationalsozialistische
Finanzverwaltung. Was noch übrig war wollte Rosa Mainzer treuhändisch für ihre zweite
Tochter Gustine anlegen, für die sie keine Ausreisebewilligung erlangen konnte. Gustine wurde
in der ‚Pflegeanstalt’ Heppenheim untergebracht. Von dort wurde sie am 4. Februar 1941 nach
Hadamar verschleppt und noch am selben Tag in der ‚Aktion T4’ ermordet. Über ihr genaues
Schicksal war die Familie bis 2014 im Unklaren. Von ihr gibt es kein Bild. Einzig ihr gravierter
Löffel war der Mutter und der Familie geblieben. Am 11. Juli 1939, heute fast auf den Tag
genau vor 76 Jahren, verließ die Familie ihre jahrhundertealte Heimat Lorsch mit dem Ziel
Kanada über London. Auf dem Weg nach Hamburg besuchten sie ein letztes Mal ihre
Verwandten, die „Mädchen-Kahns“, die nach Babenhausen verzogen waren. Sie haben die
Ausreise nicht mehr geschafft und sind alle ermordet worden. Eine Schulklasse in Babenhausen
hat im April dieses Jahres Stolpersteine für die „Mädchen-Kahns“ initiiert und Herr Demnig
hat sie vor ihrem Haus Fahrstrasse, gegenüber der Michelsbrauerei verlegt.
Wir sind dankbar dass Sie alle hierher gekommen sind, wir sind vor allem aber tief bewegt, mit
Otto Kahn ein unmittelbares Mitglied der letzten in Lorsch lebenden Familie und einen
Zeugen dieser Zeit bei uns zu haben. Das ist, trotz der vielen Jahre die vergangen sind, keine
Selbstverständlichkeit. Es ist eine große Geste für uns Lorscher und bestimmt auch für Ihre
Familie. Eine Geste, die uns im Gedächtnis beleiben wird. Danke Otto Kahn.
Für Gustine Mainzer das Kaddish
Musik
Schluss
Von
1827
1830
1867
1902
1943
1953
1827
1855
1894
1925
1939
bis
1830
1867
1902
1943
1953
1959
1855
1894
1925
1939
1970
Haus
Schulstraße 18
Nibelungenstraße 56
Eigentümer
Mainzer
Herz
Mainzer
Löb
Mainzer
Jonas I
Mainzer
Nathan I
Reichsfinanzverwaltung und JRSO
Mayer
Max und Miterben
Mainzer
Meyer I
Mainzer
Leopold II
Mainzer
Berthold I
Mainzer
Carola
Angert
Ludwig
12
Redebeitrag Dr. Otto Kahn (1934)
bei der Verlegung der Stolpersteine für seine Familie
in der Nibelungenstraße 56 / Ecke Kirchstraße
am 9. Juli 2015
13
Lorsch 9.07.2015
Die ersten elf Stolpersteine für Lorsch
Von Christian Knatz
Der Künstler Gunter Demnig verlegt Stolpersteine in Lorsch.Foto: Karl-Heinz Köppner
LORSCH - Am Donnerstag sind die ersten elf Stolpersteine in Lorsch verlegt worden, die an
ehemalige jüdische Mitbürger erinnern. Mehr als 100 Menschen waren beim Festakt dabei,
darunter 14 Gäste aus England, Kanada und den Vereinigten Staaten: Angehörige, deren
jüdische Lorscher Vorfahren in der Zeit des Nationalsozialismus vertrieben oder ermordet
worden waren. Eingeladen waren sie vom Heimat- und Kulturverein, der Sponsorengeld für
Flug und Unterbringung der Gäste gesammelt hatte. Thilo Figaj, Mitglied des Vereins und
Kenner der jüdischen Geschichte von Lorsch, stellte die Biografien der Menschen vor, für die
Steine verlegt wurden; einer von ihnen, der in Lorsch geborene Otto Kahn, war selbst
zugegegen. Figaj äußerte sich kritisch zur Aufarbeitung der Lorscher Geschichte nach dem
Zweiten Weltkrieg, bei der das Thema Judenverfolgung über Jahrzehnte ausgeklammert worden
sei. Otto Kahn erklärte: "Wir sind bereit zu vergeben, aber wir dürfen nicht vergessen."
14
Reception by the City of Lorsch, July 9th 2015
Empfang der Stadt Lorsch am 9. Juli 2015
Julius Krakauer „Holiday Sounds“ (1876)
1st Movement „Pessach“; Birgit Grüner, Grand Piano
1. Satz „Pessach“; Birgitt Grüner, Flügel
Welcome Address
Christian Schönung, Mayor
Christiane Ludwig-Paul, City Council Chairwoman
Grußwort
Bürgermeister Christian Schönung
Stadtverordnetenvorsteherin Christiane Ludwig-Paul
Julius Krakauer „Holiday Sounds“ (1876)
2nd Movement „Schawuot“; Birgit Grüner, Grand Piano
2. Satz „Schawuot“; Birgit Grüner, Flügel
Speech
Reinhard Diehl, Chairman of Heimat- und Kulturverein and Thilo Figaj,
Debating Jewish History in Lorsch and Commemorative Work after the War.
Reinhard Diehl, 1. Vorsitzender des Heimat- und Kulturvereins und Thilo Figaj,
Aufarbeitung der Geschichte jüdischen Lebens in Lorsch nach dem Krieg; Vortrag
Julius Krakauer „Holiday Sounds“ (1876)
3rd Movement „Purim“, 4th Movement “Chanukka”,
5th Movement “Sukkot”; Birgit Grüner, Grand Piano
3. Satz „Purim“, 4. Satz „Chanukka“, 5. Satz „Sukkot“; Birgit Grüner, Flügel
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Thilo Figaj, Lorsch, 9. Juli 2015, Redebeitrag Rathhausempfang
Debating Jewish History in Lorsch and
Commemorative Work after the War
In 1987, the German-Jewish writer Ralph Giordano published a book entitled “the second
guilt”. It is about the unwillingness of large sections of the German public to deal with the Nazi
crimes or offer compensation for the victims of the NS regime; and about the political decisions
that allowed accomplices to return to public office in our democracy.
Giordano's thesis was highly controversial 28 years ago, it was fiercely debated and often
rejected. Today his term “Second guilt", though still not recognized by all, is established in our
language, and it is now used detached from the author. That shows how much Giordano was
right in his analysis, however unpleasant it might have appeared to individuals or still is for
some.
A second guilt assumes a first, but that – and the even then existing – denial of the Holocaust
was not Giordano had set his focus on. Rather, the author summed up a general mood that
imposed itself in the 1970s and 1980s, that may best be described with the typical questions
asked in public debates.
-
-
Had not post war chancellor Adenauer met Israel Prime Minister Ben Gurion as early as
1960?
Had not he and therefore the German people agreed restitution to the State of Israel
and to the Jewish Claims Conference, a total sum of 3.5 billion Deutsche Mark? (In
todays value 7 billion Euros?)
Had Germany not agreed to all these General compensations as early as 1952, signing
the Luxemburg treaties?
The unlucky German term ‘Wiedergutmachung’ was established in those years, less than
adequately translated with reparation. To the German ear ‘Wiedergutmachung’ is a bit more; it
contains moral justice, something like re-establishing the old status. That of course was
impossible. Whoever cared to think carefully about using this term must have come early to the
conclusion that using it was part of the problem Giordano had identified. But compensation
was not the only topic. More typical arguments were:
- Had not the German Justice – 1959, finally – established the Central NS Prosecution
office in Ludwigsburg, an instrument that would help to identify and prosecute Nazis
faster and more efficiently?
- Did we not have the 1964 Auschwitz and the other trials?
The latter in fact, was Fritz Bauer’s merit alone, the Jewish Chief prosecutor in our post-war
State Hessen, in Frankfurt, whose saying was: “when I leave my office, I am in enemy country.”
And ever and again, the same phrases
- we ourselves did not know anything
- Concentration camps are not a German invention.
- The others also committed crimes.
- There must finally be an end to the accusations and trials; it should all be forgotten at
last.
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Giordano's analysis of 1987 appeared into the midst of a debate which was out here in Lorsch,
too. It culminated in the dispute over the construction of the memorial where we just have
been. Like everywhere, Lorsch was not an exception but the rule. Here it started with an
argument over the wording on the panel.
Clear and true statements such as deprivation of civil rights, repression, expulsion, escape and
death were avoided. Instead, the lapidary sentence "To the memory of the Jewish citizens of our
city," was found the least common denominator. The “destruction” of the Synagogue is
“remembered”, just as if it had been a Natural Disaster.
The right place of remembrance and the installation of the panel were even more controversial.
Some said it must be at the place of the former Synagogue. Others – who might have
remembered better – voted for the place where it is today. The owner of a new building in the
place of the Synagogue objected. Before the plaque was finally installed in 1988, it had to wait
over a year in store.
At the house where the synagogue had actually stood, another small plaque was placed years
later. Here at last the fate of the deportees became a little clearer in public space. However, the
fundamental error of this little panel, namely taking the unchecked data of the 1942
deportations, which are entered as ‘moving to a new place’ in the forged town’s registry files,
remained unnoticed for another couple of years.
The historian Paul Arnsberg from Frankfurt has thoroughly explored the history of “Country
Jews from Hessen” in the 1960s and published his two volumes in 1971. This work is still a
standard. During his research he also inquired with the Lorsch Rathaus. The information he
got were meager. However, he still had a chance to correspond with the expatriates. In this
context he received from Karola Mainzer Kahn the only photograph of the Lorsch Synagogue
that we know today. A poor copy of it was kept in our archives. We received a fresh copy from
Otto Kahn only last year.
Arnsberg could build his chapter on Lorsch on a publication which came from local historians
Paul Schnitzer and Hans Degen. The two had written their own chapter of Lorsch Jewish
history for a book which was published 1964 to celebrate the 1200 years anniversary of the
monastery. Going through Lorsch documents which are completely preserved since the Thirty
Years War, it was first of all Schnitzer with this and following publications who created a sound
base, especially concerning the data of early Jewish families. His story of the Jews of Lorsch does
however end in regret and with the forged deportation dates. It has to be said however, that at
the time of his writing he could not know of the forgeries. A closer look at the circumstances in
Lorsch which were only 20 years ago when he published, was not granted, time witnesses who
could have assisted Schnitzer in his work, did not contribute.
Karola Mainzer Kahn who received a copy, explicitly praised Schnitzer’s work in her
correspondence with Arnsberg which is preserved in his Frankfurt estate. That shows that even
directly affected people had no interest in a sharp focus of the events they had lived through.
Karola is satisfied with Schnitzer’s description, the mentioning alone of a former existence of a
Jewish Community in the anniversary book seems to make her happy. Recommending the book
to Arnsberg, she wrote: “they have not forgotten us after all,” adding that she had recently
visited Lorsch and the Alsbach cemetery, and had found for herself “everything in best order.”
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The economic importance of Lorsch Jews was outlined by Heinrich Diehl in 1985, and Walter
Glanzner and others reported at last some minor details of the pogroms and the destruction of
the synagogue. This was a full 40 years after the war, and in context of the public debate
surrounding this date.
The destruction of the synagogue appeared to most of the contemporaries as a closed chapter.
In 1948, the Darmstadt District Court had identified some of the accomplices, SA men of the
infamous Brigade 50, and had convicted some for violation of public peace and arson. They
had received minor prison sentences. Nazis from outside had so invaded the Lorsch Jews. The
criminals, so it was repeatedly told, did not come from here. It was faded out, against better
knowledge and against facts which were collected during the trial, that the nature and the
extent of the destruction and the subsequent pogroms would have simply been impossible
without internal and local participation.
Above all it had been the NS city council who ruled the razing and complete demolition of the
Synagogue building which was burnt but was still standing upright. The job was finished within
the four weeks of absence of the Jewish men from Lorsch who were kept hostage in the
Buchenwald and Dachau camps following the pogroms. The demolition contractor’s invoice
gives evidence and is kept in the archives.
A real public dispute, which persons destroyed the Synagogue in Lorsch, was only started 50
years after the pogroms. The trigger was pulled from outside. In 1988 the State Commission of
the History of Jews in Hessen released a documentation ‘Kristallnacht in Hessen’ compiled by
Arno Kropat. Here, for the first time people could read details of the Lorsch trial. Those who
did got a new insight.
A first thorough work-up of individual people’s fates followed. An exhibition of the city’s
documents was presented here, in this Rathaus. The core of the exhibition was those infamous
“J” stamped identity cards which had been issued since January 1939. They had been retained
when people immigrated, or taken from them on the day of deportation. Only with these
images people got a real idea of the persons. Especially disturbing were images of the men. It
looked like photos taken in a concentration camp. The assumptions were true. The younger
people did not know that the men had been to the camps for at least 4 weeks. There is no
record in Lorsch, nothing at all in the otherwise accurately kept city registries. On their return
to Lorsch the men had to pose for this new “J” stamped card, with hair hardly re-grown.
In 1985 Jochen Franke, a teacher at Siemensschule, had led his 10th graders through a project
investigating the fate of the local Jews. The students published their results in a school
newspaper. A secondary exploitation in a Social Democratic Party brochure brought it to a
broader public. Thanks to the teacher and his students we have a first collection of fate stories
from expatriates. Franke had identified addresses of survivors and the students had written to
them. Some responded, one was Ricardo Oppenheimer, a son of the murdered Leopold
Oppenheimer of Karlstrasse. He had lived in Buenos Aires. And Claude Abraham wrote a
remarkable letter to the students.
That he, Claude Abraham, born here 1934, finally came to Lorsch in 2001 goes to the credit of
Karl-Heinz Huba. Abraham, whose parents were killed in Auschwitz, had for decades avoided
to return for a visit, although his job as a professor led him to lectures in Germany several times
in his life. He describes his feelings in his remarkable autobiography “on the raft” which most
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of us have read. With him a personality returned whose individual fate made comprehensible
the dimension of the Shoa. Here was not some abstract figure from a book; here was a born
Lorscher. This alone made the difference. Suddenly and unexpectedly oral history returned,
memories were shared, some stories finally told. At least now it became clear what we had lost
in oral history by silence and concealment. Those who could have spoken had chosen to say
nothing.
It might appear that between the first publication of Paul Schnitzer and Hans Degen in 1964
and the public debates of 1985 and 1988 not much had happened in terms of Commemorative
Work. This impression does not deceive. But two exceptions must be mentioned. In 1979 it is
again Paul Schnitzer who goes deep into Jewish family research. For Lorsch and neighboring
villages he evaluates the oldest city documents.
In the same year 1979, our late Ludwig Brunnengräber, then Bürgermeister made a remarkable
trip to New York. There he met with expatriates, the Guthof brothers and Alfred Oppenheimer
who lived in Washington Heights at the time. Benno Jakob came from Brooklyn and Karola
Mainzer Kahn from Toronto. It was his private initiative and unfortunately he did not report
much of his visit. The group had shared memories, he remembered in a 2009 writing, and that
they had all agreed that they were happy to have gotten over “the hard times”, “die schwere
Zeit.”
“The hard times” – this was the expression Germans had found for themselves. It covered it all:
NS regime, persecution, Shoa, bomb terror, dead soldiers, German flight and expulsion,
hunger, and reconstruction. It said everything to those who used it and nothing to the rest.
There were some more private visits of Lorschers, who renewed old friendships, here and in
America, some as early as the 1950s. Encounters in Lorsch with people who had lost their
direct relatives in the Shoa were always problematic.
Since the installment of the memorial we have a central event every year in the evening hours of
November 9th. In the beginning just a handful attended. Now we have a growing number every
year. That shows that people not only care to show their empathy but are eager to hear and
learn more of the Jews of Lorsch and their once so rich contribution to our city’s life. We
regard it as our task not to restrict such events to cold, windy and rainy November nights. There
is still a lot to do. Human encounter and dialogue is one of the main aspects. They also help us
to deal with the tasks of our present and future. That is why we are so glad to have you with us.
The fact that we are all human beings in God's hands and share the same planet was conveyed
to us by Rabbi Troster this week. This was a wonderful example of how we can travel not only
in the often sad chapters of the past, but be people in the present and work for our own and
our children’s future.
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Thilo Figaj, Lorsch, 9.7.2015,
Aufarbeitung der Geschichte Jüdischen Lebens
in Lorsch nach dem Krieg
Deutsche Fassung des englischen Redebeitrages, Rathhausempfang
Im Jahre 1987 veröffentlichte der deutsch-jüdische Publizist Ralph Giordano ein Buch mit dem
Titel „die zweite Schuld“. Es handelt vom Unwillen breiter Teile der deutschen Öffentlichkeit
zu einer Aufarbeitung der NS Verbrechen und Entschädigung der Opfer sowie die politischen
Entscheidungen, die es Mittätern ermöglichten, auch in der Demokratie wieder in Amt und
Würden zu gelangen.
Giordanos These war vor 28 Jahren sehr umstritten, wurde heftig debattiert und meistens
abgelehnt. Heute ist der Begriff der „Zweiten Schuld“, wenn auch längst nicht von allen
anerkannt, ein Terminus geworden, der sich in unserem Sprachgebrauch etabliert hat, und
mittlerweile losgelöst vom Verfasser gebraucht wird. Das zeigt, wie sehr Giordano mit seiner
Analyse richtig lag, so unangenehm sie dem Einzelnen erschienen sein mochte oder immer
noch erscheinen mag.
Eine zweite Schuld setzt eine erste Schuld voraus, aber um das – auch damals noch vorhandene
– Leugnen des Holocaust ging es Giordano nicht einmal. Der Autor fasste vielmehr eine
Stimmung zusammen, die sich in den 1970er und 1980er Jahren breit machte.
Hatte nicht Adenauer schon 1960 Ben Gurion getroffen und hatte nicht Deutschland dem
Staat Israel und der Jewish Claims Conference mit 3,5 Milliarden DM (umgerechnet nach
heutiger Kaufkraft 7 Milliarden Euro) Restitutionsleistungen erbracht, die ja schon 1952 in
Luxemburger Verträgen zugesagt waren? (Alles unter der unglücklichen Vokabel
„Wiedergutmachung“.)
Hatte nicht die deutsche Justiz – 14 Jahre nach Kriegsende – reagiert und mit der Zentralstelle
Ludwigsburg ein Instrument geschaffen, um NS Verbrecher aufzuspüren und anzuklagen?
Und überhaupt, und immer wieder, dieselben Phrasen
-
Wir selber haben ja nichts gewusst.
Konzentrationslager sind keine deutsche Erfindung.
Die anderen haben auch Verbrechen begangen.
Es muss endlich Schluss sein mit den Anklagen und den Prozessen, es muss endlich
einmal vergessen werden.
Giordanos Analyse des Jahres 1987 erschien mitten hinein in eine Debatte, die – natürlich,
muss man sagen – auch hier in Lorsch geführt wurde. Es ging um die Jüdische Gedenkstätte, an
der wir uns eben versammelt hatten. Wie überall wurde um den Text1 gerungen. Klare und
wahre Aussagen wie Entrechtung, Unterdrückung, Vertreibung, Flucht und Mord wurden
vermieden. Das war bei uns, wie andernorts auch, der kleinste gemeinsame Nenner, auf den
1
"Dem Andenken der jüdischen Bürger unserer Stadt. Zur Erinnerung an die Synagoge der jüdischen Gemeinde
Lorsch, die am 10. November 1938 zerstört wurde."
20
sich die Verantwortlichen einigen konnten. An die Synagoge und ihre „Zerstörung“ wurde
„erinnert“, als wenn es eine Naturkatastrophe gewesen wäre. Um den Gedenkort der Tafel
allein wurde heftiger gerungen, manche sagten, sie müsse am Platz der Synagoge angebracht
werden. Andere, die sich - vielleicht - besser erinnerten, waren für den Platz an dem sie heute
noch ist, weil die Gedenktafel nicht am ursprünglichen Platz angebracht werden konnte. Der
damalige Eigentümer hatte nicht zugestimmt. Bis die Tafel endlich 1988 angebracht wurde,
musste sie die Zeit bis zu einer Einigung im Disput im Magazin verbringen.
Am dem Haus, wo früher die Synagoge tatsächlich einmal gestanden hatte, wurde erst Jahre
später eine kleine Tafel angebracht. Hier endlich wurde das Schicksal der Deportierten etwas
klarer im öffentlichen Raum. Der grundsätzliche Fehler dieser Tafel, nämlich die von den
Nationalsozialisten ungeprüft übernommenen und gefälschten Daten der Deportationen,
„Wegzüge“, aus den Meldeunterlagen der Stadt, blieb jahrelang unbemerkt.
Der Historiker Paul Arnsberg hat die Geschichte der hessischen Landjudenschaft und das
Schicksal der Menschen in der NS Zeit als erster und bis heute einziger in den 1960er Jahren
gründlich erforscht und im Jahre 1971 veröffentlicht. Er hatte auch in Lorsch nachgefragt. Die
Auskünfte, die er im Rathaus bekam waren dürftig. Allerdings hatte er noch die Gelegenheit
mit den ins Ausland geflüchteten Bewohnern zu korrespondieren. Dabei erhielt er von Karola
Mainzer das einzige Foto, das wir von der Synagoge heute kennen, und das dann über Umwege
und als schlechte Kopie ins Archiv der Stadt kam. Eine frische Kopie des Abzuges haben wir
vor zwei Jahren von Otto Kahn erhalten.
Stützen konnte sich Arnsberg bereits auf eine Veröffentlichung von Paul Schnitzer aus dem
Jahre 1964. Für das damalige Jubiläumsbuch zur 1250-Jahr Feier der Stadt hatte der Lehrer und
Historiker gründlich im Stadtarchiv recherchiert und eine erste Analyse der jüdischen Siedlung
und Gemeinde in Lorsch abgeliefert. Seine Auswertung der ältesten erhalten Judenmatrikel ist
eine Basis für weitere Erforschung, vor allem der Familiengeschichte. Die Geschichte der
Lorscher Juden endet bei Schnitzer allerdings mit den gefälschten Deportationsdaten aus der
Meldekartei. Dass die Einträge Fälschungen waren, konnte er damals nicht wissen. Eine nähere
Betrachtung der letzten Jahre der Jüdischen Gemeinde Lorsch, die zwanzig Jahre nach den
Deportationen mit Hilfe damaliger Zeitzeugen durchaus möglich gewesen wäre, wird uns in
seiner damaligen Arbeit nicht gegeben. Karola Mainzer, die ein Exemplar des Jubiläumsbuches
erhalten hatte, lobt die Darstellung allerdings ausdrücklich in einem Schriftwechsel mit
Arnsberg, der im Nachlass Arnsberg in Frankfurt erhalten ist. Das zeigt, dass es auch den
Betroffenen damals noch nicht um scharfe Fokussierung ging. Allein die Schilderung der
Existenz einer Jüdischen Gemeinde, dass „man hat uns dort nicht ganz vergessen hat, “
verschaffte ihr Genugtuung. Sie sei auch in Lorsch gewesen, schreibt sie an Arnsberg, und auf
dem Friedhof, und hätte „alles in bester Ordnung gefunden.“
Die vor allem wirtschaftliche Bedeutung der Lorscher Juden hat Heinrich Diehl 1985 skizziert;
Walter Glanzner und andere berichteten endlich Details zu Vorgängen in der Pogromnacht
und zur Zerstörung der Synagoge. Das geschah ganze 40 Jahre nach Kriegsende, in der
Erinnerungsliteratur und der öffentlichen Diskussion rund um dieses Datum. Die Zerstörung
der Synagoge betrachteten die meisten Zeitgenossen ja auch als ein abgeschlossenes Kapitel. Das
Landgericht Darmstadt hatte 1948 einige der Mittäter, vor allem SA Männer, identifiziert und
für schweren Landfriedensbruch und Brandstiftung zu geringen Gefängnisstrafen verurteilt. Als
erwiesen gilt, dass eine SA Standarte von auswärts die Lorscher Juden überfallen hatte.
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Die Verbrecher, so dachte man am Ort, waren also nicht die Lorscher. Verdrängt wurde, dass
der dokumentierte Ablauf, die Art und der Umfang der Zerstörung und die anschließenden
Pogrome allerdings gar nicht ohne innerörtliche Beteiligung hatten ablaufen können. Und dass
es schlussendlich der Lorscher NS Gemeinderat war, der das Synagogengebäude, das zwar
ausgebrannt war aber noch stand, innerhalb vier Wochen vollständig schleifen ließ. Die
Rechnung für den Abbruch liegt im Kassenarchiv.
Die Diskussion, wer Schuld hat an der Zerstörung der Synagoge in Lorsch wurde erstmals
richtig heftig und öffentlich 1988 geführt. Diesmal war es der 50. Jahrestag des Pogroms selbst.
Eine erste gründliche Aufarbeitung der Menschenschicksale erfolgte mit einer Ausstellung im
Rathaus. Mittelpunkt waren die Kennkarten Lorscher Juden, die ab Januar 1939 ausgestellt
wurden. Sie mussten bei Ausreise wieder abgegeben werden oder sie wurden den 1942
Deportierten abgenommen. Erst mit diesen Bildern bekamen die einzelnen Schicksale ein
Gesicht. Was verstörend wirkte und immer noch wirkt sind vor allem die Aufnahmen der
Männer. Damals wusste man noch nicht, dass die Haushaltsvorstände allesamt für mindestens
vier Wochen in die KZs Buchenwald und Dachau verschleppt worden waren. Die, die sich
vielleicht daran erinnerten oder es immer wussten, haben es für sich behalten. Geschrieben hat
darüber jedenfalls niemand.
Der Lehrer Jochen Franke von der Siemensschule in Lorsch führte eine 10. Abschlussklasse aus
Anlass des 40-jährigen Kriegsendes 1985 durch ein Projekt, dessen Ergebnisse die Schüler in
der Schulzeitung „Die Lupe“ veröffentlichten. Eine Zweitverwendung ihrer Forschung mit
breiterer Streuung erfolgte durch eine Veröffentlichung der Lorscher SPD. Dem Lehrer und
den Schülern ist es zu verdanken, dass es eine erste, wenn auch durch die begrenzten
Recherchemöglichkeiten nicht vollständige Schicksalserzählung über die Opfer und die
Deportierten gab. Franke hatte Adressen Überlebender ausfindig gemacht und zwei hatten
tatsächlich geantwortet, Ricardo Oppenheimer, ein Sohn des ermordeten Leopold
Oppenheimer aus der Karlstraße. Er wohnte in Buenos Aires. Und Claude Abraham schrieb
einen bemerkenswerten Brief an die Schüler.
Karl-Heinz Huba ist es zu verdanken, dass Claude Abraham im Jahre 2001 endlich nach Lorsch
kam, was er jahrelang vermieden hatte. So jedenfalls schreibt er es in seinem bemerkenswerten,
biografischen Buch „Auf dem Floß“. Mit Claude Abraham, dem anlässlich seines Besuches der
neu gestiftete Ehrenring der Stadt verliehen wurde, kam eine Persönlichkeit in unseren Ort, die
das ganze Schicksal und die Dimension der Shoa plötzlich für viele Lorscher begreifbar machte.
Hier war keine abstrakte Person, hier war ein gebürtiger Lorscher und allein deswegen kam er
allen näher mit der Geschichte seiner Familie, als ein noch so eindringliches Buch zum Thema
es zu vermitteln vermag. Plötzlich waren sie doch noch da bei uns in Lorsch, die Geschichten
und Erinnerungen, und sie wurden auch endlich erzählt. Spätestens an diesem Tag wurde
vielen bewusst, was wir auch durch Schweigen und Verschweigen über Jahrzehnte an erzählter
Geschichte verloren hatten. Weil es die Menschen, die es in ihrer Zeit hätten tun können nicht
getan haben.
Wenn der Eindruck entstanden ist, dass es zwischen der ersten Veröffentlichung von Paul
Schnitzer und Hans Degen 1964 und der Mitte der 1980er beginnenden öffentlichen Debatte
nicht viel an Aufarbeitung in Lorsch gegeben hat, so täuscht das nicht. Eine besondere
Ausnahme ist unser verstorbener Ehrenbürgermeister Ludwig Brunnengräber. Er reiste, wie er
erst viel später schriftlich berichtet hat, 1979 nach New York. Dort traf er sich mit den aus
Lorsch gebürtigen Brüdern Guthof, Alfred Oppenheimer und Benno Jacob. Auch Karola Kahn
22
war damals zu diesem Treffen aus Toronto gekommen. Leider hat uns Ludwig Brunnengräber
nicht viel mehr von dieser privaten Reise berichtet, als dass man Erinnerungen zu Lorsch
ausgetauscht hat und dass man allgemein froh sei, über die „schwere Zeit“, wie es immer gerne
in Deutschland hieß, hinweg gekommen sei. Aber auch sonst gab es eine Reihe von privaten
Besuchen und Gegenbesuchen in Lorsch, bei denen Jahrzehnte nach Kriegsende auch alte
Freundschaften noch einmal aufgefrischt wurden.
Seit es das Mahnmal gibt, findet dort regelmäßig am Abend des 9. November eine zentrale
Gedenkveranstaltung statt. Waren es anfangs nur wenige Menschen, die teilnahmen ist
festzustellen, dass mittlerweile immer mehr an der Gedenkveranstaltung teilnehmen – ein
Hinweis, dass das Interesse an der Befassung mit dem Thema nicht nur gegeben ist sondern
sogar wächst. Im letzten Jahr waren es 200 Lorscher die kamen. Wir betrachten es als unsere
Aufgabe und unsere Zielsetzung, das Gedenken nicht allein auf oft trübe, kalte und regnerische
Novemberabende zu beschränken. Wir haben noch viel vor, und es gibt noch viel zu tun.
Menschliche Begegnung gehört dazu und auch die Aufgaben, die uns allen die Gegenwart und
die Zukunft stellt. Deswegen sind wir froh, dass wir Sie in dieser Woche bei uns haben. Dass
wir alle Menschen in Gottes Hand sind, die denselben Planeten teilen, daran hat uns Rabbi
Troster am Anfang der Woche in seiner Rede zur päpstlichen Enzyklika erinnert. Das ist ein
wunderbares Beispiel dafür, dass wir nicht nur in den oft traurigen Kapiteln der Vergangenheit
unterwegs sind, sondern Menschen im Hier und Heute.
23
Lorsch 10.07.2015
Große Gesten in Lorsch
Von Christian Knatz
GESCHICHTE In würdigem Rahmen werden die ersten Stolpersteine für ehemalige
jüdische Mitbürger verlegt
Mehr als 100 Menschen waren zur Stolpersteinverlegung in Lorsch gekommen. Foto: Karl-Heinz Köppner
LORSCH - Am Donnerstag sind die ersten elf Stolpersteine in Lorsch verlegt worden, die an
ehemalige jüdische Mitbürger erinnern. Mehr als 100 Menschen waren beim Festakt dabei,
darunter Gäste aus England, Kanada und den Vereinigten Staaten: Angehörige, deren jüdische
Lorscher Vorfahren in der Zeit des Nationalsozialismus vertrieben oder ermordet worden
waren.
Das Motto des Tages nannte Otto Kahn, einer der Gäste: „Wir sind bereit zu vergeben, aber wir
dürfen nicht vergessen.“ Die Verlegung von Stolpersteinen, kleine Betonquader mit Angaben
zu früheren jüdischen Bewohnern eines Hauses auf Messingschildern, ist nichts
Außergewöhnliches mehr. Abertausende hatte der Kölner Gunter Demnig in Deutschland und
anderen Ländern schon verlegt, bevor er am Donnerstag in Lorsch zugange war.
Geld und guter Wille machen es möglich
Otto Kahn aber steht als Person für die Besonderheiten der Lorscher Zeremonie. Als einer von
fünf Söhnen der früheren Bewohner des Hauses Nibelungenstraße 56 war der in Lorsch
Geborene selbst bei der Installation seines eigenen Steins dabei – „ein historisches Ereignis“,
wie er selbst sagte. Kahn ist einer von sage und schreibe 14 Angehörigen ehemaliger jüdischer
Mitbürger der Familien Kahn und Mainzer, die von weither zur Verlegung samt ambitioniertem
Rahmenprogramm nach Lorsch gekommen sind.
Das ist das Verdienst des Lorscher Heimat- und Kulturvereins und vor allem seines Mitglieds
Thilo Figaj. Der Kenner jüdischer Geschichte stellte nicht nur die Menschen hinter den
24
Namen auf den Steinen vor; er hatte den Besuch auch anberaumt und organisiert. Möglich
wurde die Zusammenkunft durch Sponsoren und die grundsätzliche Offenheit beider Seiten.
Am Rande des Festakts gab es wie zum Beleg eine schöne Szene: Nachfahren der
Nibelungenstraße-56-Bewohner durften sich das von Inge Ludwig bewohnte Haus auch von
Innen ansehen; Eigentümer Richard Heinz gehört zu den Sponsoren. Nach dem Krieg
abgerissen worden war dagegen das Haus Schulstraße18, für deren frühere Bewohner am
einstigen Standort zwei weitere Stolpersteine verlegt worden waren.
Auch für Nachgeborene gehört indes einiges dazu, im Land der Täter die Spuren der eigenen
Geschichte aufzunehmen. „Wir sind froh, dass sie eine Brücke nach Deutschland, nach Lorsch
gebaut haben“, sagte Bürgermeister Christian Schönung an die Adresse der Gäste. Von einer
„großen Geste“ sprach Thilo Figaj.
Mit dieser Größe kontrastierte über Jahrzehnte auch in Lorsch der Kleinmut, sich der
Geschichte zu stellen. Darum ging es in einem weiteren Vortrag Figajs im Alten Rathaus. Selbst
integre Heimatforscher machten bis in die 1990er Jahre einen Bogen um das katastrophale
Ende jüdischen Lebens in Lorsch – vielleicht auch, weil von Anfang an klar war: „Es wäre ohne
lokale Beteiligung nicht möglich gewesen.“ Selbst das Anbringen einer Gedenktafel für die von
Nationalsozialisten zerstörte Synagoge sei vor gar nicht allzu langer Zeit ein Problem gewesen.
Der Besuch des in Lorsch geborenen Claude Abraham, dessen Familie ausgelöscht worden war,
habe die Wende zum Besseren befördert.
Als weitere Besonderheit der jüdischen Woche in Lorsch darf gelten, dass es nicht nur um
jüdischen Sterben, sondern auch um jüdisches Leben ging: in den Musikbeiträgen ebenso wie
in den gesprochenen Worten. Bis zu 100 Juden hatten im 19. Jahrhundert in Lorsch gelegt,
geliebt, gearbeitet, wie Figaj (auf Englisch) und der Heimatvereinsvorsitzende Reinhard Diehl
(auf Deutsch) erläuterten.
Vertriebene einst und jetzt
Kühn schlug Elaine Kahn aus New York später den Bogen vom Schicksal ihrer Vorfahren zu
den aus Eritrea nach Lorsch geflüchteten Menschen. Ihr Ehemann, Rabbi Lawrence Troster,
verband im Totengebet „Kaddisch“ Trauer und Hoffnung. Fünf Generationen der Mainzers
hatten hier gelebt, drei davon wurden Opfer der Verfolgung. Einige schafften gerade noch
rechtzeitig die Ausreise, andere wurden umgebracht in Majdanek oder Theresienstadt.
„In meiner Familie fiel kein Wort über den Holocaust“, sagte Ron Dressler, Enkel von Moritz
Mainzer. Dafür gab es gestern viele gute Worte. Eins davon mögen Einheimische besonders
gern aus dem Mund eines Gasts gehört haben: Otto Kahn dankte den „good people of Lorsch“,
den guten Menschen in Lorsch.
25
Lorsch 10.07.2015
Gedenken: Stolpersteine erinnern an jüdische Familien, die in der NS-Zeit
vertrieben wurden
Nur Flucht aus Lorsch rettete das Leben
Von unserem Redaktionsmitglied Nina Schmelzing
Lorsch.
Die grausamen Machenschaften
diktatorischer Regime, die derzeit
massenweise Menschen in die
Flucht treiben, sorgen hierzulande
für Entsetzen. Leicht könnte man
darüber vergessen, dass auch
Deutschland einmal ein Ort war,
von dem viele Menschen fliehen
mussten, wenn sie ihr Leben
behalten wollten. Und so lange ist es
noch gar nicht her.
Vor knapp 80 Jahren wurden
jüdische Bürger wegen ihres Glaubens aus Lorsch verjagt. Familien, die über Generationen in
der Stadt daheim waren, mussten ihre Häuser verlassen. Viele, die nicht rechtzeitig fliehen
konnten, wurden in Konzentrationslager deportiert und ermordet. An die Schicksale dieser
Vertriebenen erinnern jetzt sogenannte Stolpersteine. Der Künstler Gunter Demnig hat sie
gestern verlegt.
Vor dem Haus Nibelungenstraße 56 und in der
Schulstraße erinnern insgesamt elf kleine Steine
mit Messingplatten, auf denen die Namen der
früheren Bewohner eingraviert sind, an das, was
in Lorsch während der Herrschaft der
Nationalsozialisten passiert ist. Die Initiative
dafür kam vom Heimat- und Kulturverein.
Vorsitzender Reinhard Diehl hatte gestern
gemeinsam mit der Stadt an die jüdische
Gedenkstätte eingeladen. Viele
Lorscher
beteiligten sich.
Dass es eine sehr bewegende Gedenkstunde wurde, lag vor allem an den 15 Teilnehmern, die
aus den USA und aus Kanada angereist waren - Angehörige der damals vertriebenen Lorscher
Familien. Thilo Figaj, Unternehmer und Mitglied des Heimat- und Kulturvereins, hatte vor
vielen Monaten schon begonnen, die Geschichte der Lorscher Juden zu recherchieren. Er
schaffte es nicht nur, Kontakt mit den Familien aufzunehmen. Es gelang ihm auch, sie nach
Lorsch einzuladen - in die Stadt, mit der sie Schrecklichstes verbinden.
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Vergeben, nicht vergessen
Mit Dr. Otto Kahn nahm auch ein
Gast an der Gedenkstunde teil, der
1934 in Lorsch geboren wurde und
1938 miterleben musste, wie sein
Vater aus der Nibelungenstraße
nach Buchenwald verschleppt
wurde. Was geschehen sei, könne
nie vergessen werden, erklärte
Kahn in seiner Rede, für die er viel
Beifall erhielt. Die weite Reise habe
er trotzdem auf sich genommen, so
der pensionierte Herzspezialist, der
heute in Kalifornien lebt: "Um zu
vergeben." Kahn dankte Figaj und
Lorsch für die Initiative. Er rief zu
Freundschaft auf und zu Respekt gegenüber anderen Lebensweisen.
Auch Ron Dressler bedankte sich persönlich in einer Ansprache. Der Enkel des einst in Lorsch
wirkenden Dr. Moritz Mainzer berichtete, dass in seiner Familie fast nie über den Holocaust
gesprochen worden sei. Der Name seines Großvaters und das, was ihm widerfuhr, seien selten
erwähnt, meist aus Kummer verschwiegen worden. "Sie haben mir die Geschichte meiner
Familie zurückgegeben", erklärte Dressler nun Mitgliedern des Heimat- und Kulturvereins und
Lorscher Bürgern.
Mit der Verlegung der Stolpersteine in der Nibelungen- und Schulstraße ist die Aktion noch
nicht abgeschlossen. Der Heimat- und Kulturverein plant, weitere Steine vor Lorscher Häusern
zu verlegen. Derzeit laufen Gespräche mit den heutigen Eigentümern. Die nächste Verlegung
ist in der Bahnhofstraße vorgesehen.
Neue Flüchtlinge angekommen
Dass die Stadt heute ein Zufluchtsort für viele Menschen ist, wurde deutlich, kaum dass die
Gedenkstunde gestern zu Ende war. Am Nachmittag nämlich trafen neue Flüchtlinge ein: Acht
Asylsuchende aus Algerien, dem Iran und Afghanistan. Erstmals wurden für Flüchtlinge gestern
privat vermietete Unterkünfte zur Verfügung gestellt. Sie liegen in der Kunigunden- und der
Ludwig-Erhard-Straße.
© Bergsträßer Anzeiger, Freitag, 10.07.2015
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Lorsch 13.07.2015
Lorsch-Besucher feiern jüdischen Gottesdienst
Von Claudia Stehle
AUERBACH - Zum Schabbat in der Auerbacher Synagoge an der Bachgasse trafen sich am
Samstag die Nachkommen der Familien Kahn und Mainzer, die anlässlich der
Stolpersteinverlegung nach Lorsch gekommen waren. Zum Abschluss ihres Aufenthalts
wurde Gottesdienst gefeiert.
Die Nachkommen der Familien Kahn und
Mainzer wurden von Angelika KösterLossack, der Vorsitzenden des Auerbacher
Synagogenvereins, mit einem herzlichen
„Schabbat Schalom“ begrüßt. Rabbi
Lawrence Troster aus New Jersey leitete
zusammen mit seiner Tochter Rabbi
Rachel Kahn-Troster den Gottesdienst.
Lawrence Troster ist der Ehemann von
Elaine Kahn, einer Enkelin von Karola
Mainzer Kahn und Tochter von Ernst
In der ehemaligen Synagoge von Auerbach ist am Samstag Kahn. „Es ist für uns alle eine neue
ein jüdischer Gottesdienst mit Rabbiner Lawrence Troster Erfahrung, den Gottesdienst hier in der
(rechts) gefeiert worden. Er gehörte zum Programm für eine Auerbacher Synagoge zu feiern, wo unsere
Delegation von Angehörigen ehemaliger Lorscher Vorfahren früher auch zum Gottesdienst
Mitbürger jüdischen Glaubens, die eine Woche lang zu
zusammengekommen sind“, stellte Troster
Besuch war.
dem Gottesdienst voraus. So hat hier
Gustine Bendheim früher gebetet, die Ururgroßmutter seiner Frau Elaine. Mit einer kleinen
Foto-Dokumentation erinnerte der Synagogenverein an seine vor fast 30 Jahren begonnene
Arbeit.
Dass die ehemalige Synagoge an der Bachgasse entweiht und ihr Toraschrein leer ist, stellt nach
Auskunft von Köster-Lossack kein Hindernis für den Sabbat-Gottesdienst dar. „Wir hatten hier
schon zuvor jüdische Gottesdienste“, berichtete sie.
Anlass: Verlegung der Stolpersteine
Neben den 14 Familienmitgliedern, die aus den USA, Kanada und England anlässlich der
Stolpersteinverlegung für eine Woche nach Deutschland gekommen waren, waren auch
Mitglieder des Synagogenvereins sowie des Heimat- und Kulturvereins Lorsch mit
Vorstandsmitglied Thilo Figaj in die gut besetzte ehemalige Synagoge gekommen. In ihrem
leeren Toraschrein stand die siebenarmige traditionelle Menora. „Der heutige Tag ist für unsere
gesamte Familie ein wichtiges Datum, da vor 76 Jahren Vorfahren ausgereist sind nach Kanada
und in die USA“ stellte Lawrence Troster fest, dessen polnische Vorfahren schon schon vor der
Schoa Europa verlassen hatten.
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Mit dabei in der ehemaligen Synagoge war Otto Kahn, der damals als Fünfjähriger aus Lorsch
mit seinen Angehörigen abgereist war und nun zusammen mit seiner Tochter in die alte
Heimat zurückgekehrt ist. Einer der Teilnehmer war Ron Dressler, ein Enkel des Frankfurter
Rabbiners Moritz Mainzer, der ebenfalls aus Lorsch gebürtig war. Dressler begleitete auf seinem
Saiteninstrument die Gemeinde beim Gesang.
„Für uns Juden mit deutschen Ursprung ist es schon ein kompliziertes Gefühl, hier in
Deutschland zu sein, aber es ist für uns auch wichtig, wieder dort zu sein, wo unsere Vorfahren
herkommen“, stellte Elaine Kahn fest. Dass es noch die Auerbacher Synagoge als unzerstörtes
Kulturdenkmal gibt, habe sie vorher nicht gewusst. Elaine Kahn und ihr Mann Lawrence
Troster, die im vergangenen Jahr schon einmal hier waren, haben auf diese Reise nach
Deutschland auf den Spuren ihrer Ahnen ihre beiden Töchter mitgenommen und die
siebenjährige Enkeltochter Liora Pelavin.
„Wir sind Zeugen, aber keine Richter“
Die beiden Rabbiner Lawrence Troster und seine Tochter Rachel hatten für diesen SchabbatGottesdienst eine verkürzte Form gewählt mit einer Auswahl an Psalmen, Segnungen, Lesungen
aus der Tora sowie dem Sh’ma Yisrael (Höre Israel). Die Ansprache hielt Rachel Kahn-Troster
zum Thema „Wir sind Zeugen, aber keine Richter“. Den Ausklang dieses Gottesdiensts
gestaltete ihre siebenjährige Tochter Liora Pelavin zusammen mit ihrem Großvater Lawrence
Troster. Das Totengebet Kaddisch sprach Troster zur Erinnerung an alle schon
vorausgegangenen Toten. Er dankte am Schluss dem Auerbacher Verein für sein Engagement
zum Erhalt der früheren Synagoge. „Ich kann heute nur meine Dankbarkeit und Freundschaft
ausdrücken; auch wenn wir jetzt wieder abreisen, ist das nicht das Ende, sondern sicher der
Beginn neuer Kontakte“, stellte er fest.
Angelika Köster-Lossack lud anstelle der beim Gottesdienst üblichen Ankündigungen zu einem
Kiddusch, einem Imbiss nach dem Gottesdienst, ein.
Für einige hieß es dann schon wieder Abschiednehmen, weil sie nach dem Gottesdienst zum
Abflug zum Frankfurter Flughafen fahren mussten. Andere wie die Familie von Lawrence
Troster und Elaine Kahn reisten erst am Sonntag wieder in ihre Heimat zurück.
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