Stolpersteine für Lorsch - Heimat
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Stolpersteine für Lorsch - Heimat
Lorsch, 6. – 12. Juli 2015 Programm, Gäste, Redebeiträge und Pressespiegel Stolpersteine für Lorsch Die ersten Stolpersteine in der Nibelungen-/Kirchstraße und Schulstraße 1 Gruppenfoto am 10.7.2015 in Alsbach. Es fehlen: Chris Dressler (7) und Jonathan Cobb (15). Vom Heimat- und Kulturverein und aus Lorsch, v.l.: Gisela Steines (Hut), Reinhard Diehl, Heidi Angermann (12-11), Dieter Angermann (11-10), Winfried Dixkes, Birgit v. Loewis, (10-6), Thilo Figaj (3-1) Gästeliste: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 Elaine Kahn Rabbi Lawrence Troster Sara Kahn-Troster Rabbi Rachel Kahn-Troster Liora Pelavin (2007) Ron Dressler Chris Dressler Otto Kahn (1934, Lorsch) Irene Kahn Deborah Kahn Lisa Kahn Candace Kahn Michael Kahn Catherine De Freitas Jonathan Cobb Enkelin der Karola Mainzer Kahn (1902-1993), Tochter von Ernst Kahn (1925 – 1996) Ehemann Elaine Kahn Enkelin Ernst Kahn, Tochter von Elaine Kahn und Lawrence Troster Enkelin Ernst Kahn, Tochter von Elaine Kahn und Lawrence Troster Ur-Enkelin Ernst Kahn, Tochter von Rachel Kahn-Troster Enkel des Dr. Moritz Mainzer (Lorsch, 1878 – Frankfurt, 1938) Ur-Enkel des Dr. Moritz Mainzer Sohn der Karola Mainzer-Kahn und Leopold Kahn (1892 – 1960) Ehefrau von Otto Kahn Enkelin der Karola Mainzer Kahn Enkelin der Karola Mainzer Kahn Mutter von Lisa Kahn Enkel der Karola Mainzer Kahn Ur-Ur-Ur-Enkelin Mayer Mainzer I (1803-1850), Enkelin Ralph Layton (1890 – 1976) Nachfahre der Familie Lorch – Strauss (Bahnhofstrasse) 2 New Jersey New Jersey Maine New Jersey New Jersey New York Colorado Kalifornien Kalifornien Kalifornien Ontario Kalifornien Kalifornien London London Inhalt Stolpersteine für die Opfer 4 Hans Jürgen Brunnengräber, Starkenburger Echo Aufstieg einer Beerdigungsbruderschaft 5 Thilo Figaj Redebeitrag anlässlich der Verlegungen, englische Fassung 7 Reinhard Diehl Redebeitrag anlässlich der Verlegungen, deutsche Fassung 10 Otto Kahn Ansprache anlässlich der Verlegungen 13 Christian Knatz, Starkenburger Echo Die ersten elf Stolpersteine für Lorsch 14 Programm Empfang der Stadt Lorsch 15 Thilo Figaj, Redebeitrag Rathhausempfang Debating Jewish History in Lorsch and Commemorative Work after the War 16 Deutsche Fassung Aufarbeitung der Geschichte Jüdischen Lebens in Lorsch nach dem Krieg 20 Christian Knatz, Starkenburger Echo Große Gesten in Lorsch 24 Nina Schmelzing Nur Flucht aus Lorsch rettete das Leben 26 Claudia Stehle, Starkenburger Echo Lorsch-Besucher feiern jüdischen Gottesdienst 28 3 Stolpersteine in der Nibelungenstrasse 56 / Ecke Kirchstraße für: Rosa Mainzer (1871, Flucht nach Kanada 1939) Von ihrer Tochter Gustine (1897, ermordet 1941 in Hadamar in der Aktion T4 existiert kein Foto) v.l. Carola Kahn (1902, Flucht nach Kanada 1939) Leopold Kahn (1892, 1933 und 1939 KZ Osthofen und Buchenwald, Flucht nach Kanada 1939) v.l. oben: Ernst (1925) und Berthold Kahn (1928), beide 1939 gemeinsame Flucht über London nach Kanada. unten: Fritz (1929), Otto (1934) und Heinz Kahn (1931), Flucht mit den Eltern 1939 nach Kanada. Aufnahme 1937 in Lorsch: Stolpersteine in der Schulstraße 18 für: v.l. Johanna Mainzer 1863 – 1943, Deportation nach Theresienstadt, ermordet Regina Josef 1878 – 1942, Deportation nach Piaski, ermordet. 4 Lorsch 10.07.2015 Aufstieg einer Beerdigungsbruderschaft Von Hans-Jürgen Brunnengräber VORTRAG – Thilo Figaj schildert vor Nachfahren Lorscher Juden die Geschichte der jüdischen Gemeinde LORSCH - Bis ins Mittelalter lässt sich die Geschichte der Juden von Lorsch zurückverfolgen. Thilo Figaj gab in Lorsch einen Überblick. Ein fürstbischöflicher Eid aus dem 15. Jahrhundert ist eines der ersten Zeugnisse. Die Deportationen von Lorscher Juden in Konzentrationslager im Jahr 1942 bilden das Ende der jüdischen Gemeinde in Lorsch. „Die Juden von Lorsch“ war das Thema von Figajs Vortrag; er hielt ihn anlässlich des Besuchs von Angehörigen der Familien Kahn und Mainzer zur Verlegung von Stopersteinen. Mit ihnen wird an ehemals in Lorsch lebende Vorfahren dieser Familien erinnert. Thilo Figaj gibt mit seinem Vortrag einen Überblick über die jüdische Geschichte von Lorsch. Foto: Karl-Heinz Köppner Erneut zeichnete Thilo Figaj, der in den vergangenen Jahren mehrfach mit Vorträgen zur Geschichte der Lorscher Juden überzeugt hatte, ein ebenso fundiertes wie facettenreiches Bild jüdischen Lebens in Lorsch. Der Unternehmer und Publizist erinnerte an die Zuwanderung von Juden aus Worms, Mainz und Speyer zu Beginn des 30-jährigen Krieges, an die Sonderstellung der jüdischen Gemeinde ab dem 18. Jahrhundert durch die Gründung eines „Wohltätigkeitsvereins“, der als Beerdigungsbruderschaft die Besetzungen auch für umliegende jüdische Gemeinden organisierte. Ende des 18. Jahrhunderts folgte der Bau einer ersten Synagoge. Auch aufgrund der Hessischen Gemeindeordnung von 1821, die zumindest formell eine Gleichstellung der Juden vorsah, stieg auch in Lorsch die Zahl Mitglieder der jüdischen Gemeinde. Siedlungsbeschränkungen und ein wenig unternehmerfreundliches Klima sowie die Restauration nach der Revolution von 1848 veranlassten viele Juden jedoch zur Auswanderung nach Amerika. Von der dort beginnenden Industrialisierung profitierten sie als fleißige und ideenreiche Unternehmer. Beispielsweise in New York, diesem ersten Metropolis der Neuzeit, kreuzten sich die Lebenswege von Menschen, die selbst oder durch ihre Vorfahren einen Bezug zu Lorsch hatten oder gar aus Lorsch stammten. Als Unternehmer vergaßen sie die alte Welt nicht, sondern integrierten sie in neue Geschäfts- und Handelsbeziehungen. Figaj erinnerte in diesem Zusammenhang an die Familien Krakauer und Morgenthau. 5 1884 folgte in Lorsch der Neubau einer Synagoge in der Bahnhofstraße mit angrenzender Mikwe, einem Ritualbad, und einer Schule. Mit 101 Mitgliedern erreichte die jüdische Gemeinde in Lorsch 1895 ihren höchsten Stand. Ihre Mitglieder hätten trotz der überschaubaren Zahl das Leben in der Gemeinde geprägt, betonte Figaj. Selbst ein akribischer Rechercheur benötigt das Glück, fundierte Quellen ausfindig zu machen. So lieferte Dr. Moritz Mainzer (1878–938) als Chronist der Geschichte der Lorscher Jude, viele Fakten, die Figaj informativ und kurzweilig aufbereitete. Der Heimat- und Kulturverein hat sich bereits in früheren Jahren um ein Gedenken für die Lorscher Juden bemüht. Aufsätze und Publikationen zu Gedenktagen, eine Ausstellung zur 40. Wiederkehr der Reichspogromnacht gehörten ebenso dazu wie die Einweihung einer Gedenkstätte für die Lorscher Juden. Ein Besuch als Großereignis 2001 wurde Professor Claude Abraham mit dem ersten Ehrenring der Stadt Lorsch ausgezeichnet. „In respektvoller Würdigung seines Wirkens als geachteter Wissenschaftler und in demütigem Bedauern für das grausame Schicksal, das ihm, seinen Eltern und vielen jüdischen Bürgern von Lorsch (…) bereitet wurde, verleiht die Stadtverordnetenversammlung (…) den ersten Ehrenring der Stadt Lorsch“, hieß es in der Verleihungsurkunde. Damals wurde unter Federführung des Lorscher Sportpublizisten Karl-Heinz Huba ein Programm mit Vorträgen und Diskussionen organisiert. 6 Thilo Figaj, Lorsch, 9.7.2015 Stolpersteine Rede am Verlegeort in Lorsch, Englisch Here at the memorial was once the centre of Jewish Life in Lorsch which had made the life within our community richer. Here are the addresses of two houses which both since the first count of houses 1827 belonged to the Mainzer family. This family, into which Leopold Kahn from Babenhausen had married in 1924, was the leading Jewish family of Lorsch in the 19th century. Their merchants and traders have ever added to the prosperity of the entire community. With the first Stolpersteine laid in this city, we commemorate and honor those members of their families, who suffered more than a decade under the injustice of the Nazi regime, were forced to flee from their homes, or were murdered. We thank all members of the families that they have made the long journeys from the USA, Canada and England to this day and place in Lorsch. Stolpersteine are no grave stones. You don’t trip over them. They are intended to encourage us to pause and reflect. We, like so many other people in many other places in Europe, are thankful for the opportunity to contribute to the largest memorial of this kind, to Mr. Gunter Demnig who started this initiative. We are committed to our responsibility towards visible German history, and the history of our town, just as our President Gauck said last January 27: “The memory of the Holocaust remains a matter for all citizens living in Germany, it belongs to the history of this country and it is something specific: here in Germany, where we daily walk past houses from which Jews were deported, here in Germany, where the destruction was planned and organized, where the horrors of the past is closer and the responsibility for present and future is bigger and more obligatory than anywhere else." “Where we daily walk past those houses“is the right keyword for the day, here in these streets, which we now call the City Ring. In Schulstrasse 18 once stood the house of Nathan Mainzer. Nathan died in 1914 and since then his widow Johanna lived here together with their housekeeper Regina Josef. Both women were childless. Regina Joseph was born in 1878. She came from Reichelsheim, and remained unmarried. As a housekeeper she had come to the Mainzers before the turn of the century. Through marriage of one of her brothers, she was related to the family. She herself came from the oldest Jewish family, Joseph, in Reichelsheim, who had settled there in the 17th century after the expulsion of Jews from Vienna. A brother of her lived in Mannheim. Apart from a nephew who escaped to Holland, he and other family members were all victims of the Shoa, too. Unfortunately, we know little more about this woman. We just have a few handwritten lines from her, written in August 1939 from Lorsch shortly before the outbreak of war. The letter was addressed to Karola Kahn and her children. “The pears in the courtyard are ripe now,” she wrote, “and no more children here to pick them.” Regina Joseph was deported on 25 March 1942 from Lorsch to Poland. The train went into the region of Lublin and her killing must be assumed for the same year in one of the local death camps, Majdanek probably. Johanna Mainzer, nee Mayer from Biebesheim, born in 1863, was deported in September 1942 to Theresienstadt. She is the oldest Lorsch victim of the Shoah, and died five months later, a few days before their 80th birthday in the camp. From her letters of that summer of 1939, which were only received in America, because they were written just before the mail service 7 across the Atlantic was suspended, we know that even the eldest Jews of Lorsch were not willing to surrender to their fate in Lorsch. She describes how she tries in vain to sell her house which would have made it a bit easier to immigrate. Even in 1941 she applied yet again - and again in vain - a final exit visa. Johanna’s empty house was then robbed by the Nazi financial authorities. After restitution of the heirs, which was in 1953, to her maiden Mayer family and others, it was demolished. Apart from the synagogue, it had been since 1827 the house with the longest Jewish ownership in Lorsch. Before Nathan and Johanna took over in 1902, Jonas Mainzer lived here with his wife Helene. He was a long term mid-19th century Warden of the Jewish community. His youngest son, who later became a Frankfurt Rabbi, teacher and chronicler, Dr. Moritz Mainzer was born here. As a representative of the family for this house are here today, from New York City and Colorado, Ronald Dressler, grandson of Dr. Moritz Mainzer and his son Chris. Johanna Mainzer was also their great-grand-aunt. For Johanna Mainzer and Regina Josef, Kaddish Music The one house does not longer exist, the other house is more concise, and a beacon of Jewish history in our city. The house Nibelungenstraße 56, formerly Wormser Straße 8, at the corner of Church Street was also ownde from 1827 to 1939 by the Mainzer. Five generations lived here. Members of her last three generations were victims of Nazi tyranny. Rosa Mainzer, nee Neuberger from Friedelsheim in the Palatinate, born 1873, had been married to Berthold Mainzer. He had died 1918 of the Spanish flu. The couple had three daughters, Emilie born 1896, Gustine one year later and Karola, who was born in 1902. The first girl had died shortly after she was born. Gustine, the second daughter was handicapped. After the death of the husband and father Berthold Mainzer, the work of the family rested on the shoulders of then 16 -year-old Karola. She had to give up high-school at the Sisters of Maria Ward in Bensheim to keep the business running her father had established, selling fertilizer, feed and coal. In 1924 she married Leopold Kahn from Babenhausen, a livestock trader who was born in 1892. Leopold’s brother Karl had also married a Jewish Girl from here, Paula Lorch, two years before. Karola and Leopold got five sons: Ernest 1925 Bert 1928 Fred 1929 Henry 1931 Otto 1934 The family became known as the "Boy -Kahns" after Karl Kahn and his wife Paula from the Bahnhofstrasse had four girls, so they were the "Girl-Kahns". With the seizure of power by the Nazis 1933, the male Jews of Lorsch experienced a first taste of what was coming. Her husband Leopold and others were, as Karola described in her memoirs, deported to the concentration camp Osthofen and intimidated there. After the pogroms in 1938 it got worse. All Jewish men in Germany were placed in concentration camps to extort their and their families’ immediate departure. Leopold Mainzer, a WW I soldier awarded with 8 the Honorary Cross of frontier fighters, came to Buchenwald, where he was badly mistreated. On images taken just 5 months apart, before and after Buchenwald camp, we see a man aged by years. Karola took the initiative after Leopold’s return from Buchenwald which her husband could not muster. At first she let their eldest two sons Ernest and Bert go to England, to a cousin. The elder sons could not any longer and under these circumstances remain in Lorsch. She found a buyer for the house which helped her to finally and with the help of the cousin in London get visas for Canada. The largest portion of the proceeds for the house was robbed from them by the Nazi fiscal authorities. What was left from the house was Rosa Mainzer’s invest in trust for her second daughter Gustine, for whom she could not obtain exit permit. Gustine was housed in a ‘nursing home’ in Heppenheim. From there she was abducted on February 4, 1941 brought to Hadamar and killed the same day in the so-called 'Action T4'. Her exact fate was not clear to the family until 2014. We do not have a proper image of her. Only her engraved spoon has stayed with her mother Rosa and family. On July 11, 1939, almost exactly to the day 76 years ago, the rest of the family left their centuries-old home Lorsch for Canada via London. On the way to Hamburg they visited one last time their close relatives, the “Girl-Kahns” who had moved from Lorsch to Babenhausen in 1934. They have not managed to leave Germany and have all been killed. A school class in Babenhausen has initiated Stolpersteine for the “Girl-Kahns” in April this year and Mr. Demnig has laid them in front of their house in Fahrstrasse, opposite the Michels Brewery. We are grateful that you all came here today, but above all we are deeply moved, that with you Otto Kahn, we have a direct member and a time witness with us on this occasion. That is not self-evident despite the many years that have passed. It is a great gesture for all of us in Lorsch and, we think, it may also be for your family. It is a gesture that will stay in our memories. Thank You, Otto Kahn. For Gustine Mainzer, Kaddish Music Schluss Von 1827 1830 1867 1902 1943 1953 1827 1855 1894 1925 1939 bis 1830 1867 1902 1943 1953 1959 1855 1894 1925 1939 1970 Haus Schulstraße 18 Nibelungenstraße 56 Eigentümer Mainzer Herz Mainzer Löb Mainzer Jonas I Mainzer Nathan I Reichsfinanzverwaltung und JRSO Mayer Max und Miterben Mainzer Meyer I Mainzer Leopold II Mainzer Berthold I Mainzer Carola Angert Ludwig 9 Reinhard Diehl, Lorsch, den 9.11.2015 Stolpersteine Ansprache am Verlegeort Der Platz dieser Gedenkstätte, wo wir uns versammelt haben, war das Zentrum Jüdischen Lebens, das Lorsch über Jahrhunderte bereichert hat. Hier sind die Adressen zweier Häuser die einmal der Familie Mainzer gehört haben. Die Großfamilie Mainzer, in die Leopold Kahn aus Babenhausen 1924 eingeheiratet hatte, hat mehr als alle anderen Familien im 19. Jahrhundert die jüdische Gemeinde geprägt und mit ihrer wirtschaftlichen Betätigung zur Prosperität des gesamten Ortes beigetragen. An den Adressen Schulstrasse 18 und Nibelungenstrasse 56 ehren und gedenken wir heute mit den ersten Stolpersteinen in Lorsch den Schicksalen ihrer einzelnen Mitglieder, die über ein Jahrzehnt unter dem Unrecht des NS Regimes litten, die aus ihrer Heimat flüchten mussten, oder die ermordet wurden. Wir danken allen Mitgliedern aus den Familien Kahn und Mainzer, dass sie die zum Teil sehr weiten Anreisen aus den USA, Kanada und England zu diesem Tag nach Lorsch gemacht haben. Stolpersteine sind keine Grabsteine. Man stolpert auch nicht darüber, höchstens mit dem Bewusstsein. Denn sie sollen zum Innehalten und Nachdenken anregen. Wir nehmen wie viele andere Menschen an vielen anderen Orten Europas dankbar die Gelegenheit wahr, zum größten Flächendenkmal der Welt unseren Beitrag zu leisten, das Herr Gunter Demnig mit seiner Initiative für uns und mit uns allen schafft. Damit bekennen wir uns sichtbar zu unserer Verantwortung gegenüber Deutscher Geschichte und der Geschichte unseres Ortes, so wie es am 27. Januar 2015 Bundespräsident Gauck formulierte: „Die Erinnerung an den Holocaust bleibt eine Sache aller Bürger, die in Deutschland leben. Er gehört zur Geschichte dieses Landes. Und es bleibt etwas Spezifisches: hier in Deutschland, wo wir täglich an Häusern vorbeigehen, aus denen Juden deportiert wurden; hier in Deutschland, wo die Vernichtung geplant und organisiert wurde; hier ist der Schrecken der Vergangenheit näher und die Verantwortung für Gegenwart und Zukunft größer und verpflichtender als anderswo.“ „Wo wir täglich an den Häusern vorbeigehen“, ist das passende Stichwort für den heutigen Tag, hier in diesen Strassen, die wir den Cityring nennen. In der Schulstrasse 18 stand einmal das Haus des Nathan Mainzer. Nathan war 1914 verstorben und seine Witwe Johanna bewohnte es zusammen mit ihrer Wirtschafterin Regina Josef allein. Beide Frauen waren kinderlos. Regina Josef war 1878 geboren. Sie stammte aus Reichelsheim, und blieb zeitlebens unverheiratet. Als Wirtschafterin war sie vor der Jahrhundertwende zu den Mainzers nach Lorsch gekommen. Durch Heirat einer ihrer Brüder war sie mit den Mainzers verwandt. Sie stammte aus der ältesten jüdischen Familie, Joseph, in Reichelsheim, die im 17. Jahrhundert nach Vertreibung der Juden aus Wien dort gesiedelt hatte. Ein Bruder von ihr lebte in Mannheim. Außer einem Neffen, der nach Holland entkam, wurde auch dieser Teil der Familie Opfer der Shoa. Wir wissen leider kaum mehr über diese Frau. Deswegen sind ein paar handschriftliche Zeilen von ihr, geschrieben im August 1939 aus dem sommerheißen Lorsch kurz vor Ausbruch des Krieges an die Kahns in Amerika ein wertvolles Zeugnis. „Die Birnen im Hof sind nun reif“, schrieb sie, „und keine Kinder mehr da, die sie pflücken.“ Regina Josef wurde am 25. März 1942 aus Lorsch nach dem Osten deportiert. Der Zug ging in den Raum Lublin und ihre Ermordung muss noch für das gleiche Jahr in einem der dortigen Todeslager, wahrscheinlich Majdanek, angenommen werden. 10 Johanna Mainzer, geborene Mayer aus Biebesheim, Jahrgang 1863, wurde im September 1942 nach Theresienstadt deportiert. Sie ist das älteste Lorscher Opfer der Shoa und starb fünf Monate später, wenige Tage vor Vollendung ihres 80. Geburtstages im Lager. Aus ihren Briefen des Sommers 1939, die nur deswegen erhalten blieben, weil sie kurz vor der Postsperre des Krieges geschrieben wurden und noch im Ausland ankamen, wissen wir dass auch die alten und ältesten Lorscher Juden sich keineswegs ihrem Schicksal in Lorsch ergeben wollten. Sie schildert, wie sie vergeblich versucht ihr Haus zu verkaufen um sich die Ausreise zu ermöglichen. Noch 1941 stellte sie zum wiederholten Male – und wieder vergeblich – einen letzten Ausreiseantrag. Das Haus wurde von der nationalsozialistischen Finanzverwaltung geraubt. Nach Restitution der Erben im Jahr 1953, Familie Mayer, wurde es nach dem Krieg abgetragen. Es war seit 1827 in Familienbesitz Mainzer. Bevor Nathan und Johanna seit 1902 übernahmen, lebte hier Jonas Mainzer mit seiner Frau Helene. Er war Mitte des 19. Jahrhunderts Vorsteher der Jüdischen Gemeinde. Sein jüngster Sohn, der spätere Frankfurter Rabbiner, Lehrer und Chronist, Moritz Mainzer wurde hier geboren. Als Repräsentant der Familie und für dieses Haus sind heute Ronald Dressler, der Enkel von Moritz Mainzer und sein Sohn Chris aus New York und Colorado hier in Lorsch. Johanna war ihre Großtante. Für Johanna Mainzer und Regina Josef nun das Jüdische Totengebet, Kaddish Musik Das eine Haus existiert nicht mehr, das andere ist umso prägnanter, und ein Leuchtturm Jüdischer Ortsgeschichte in unserem Stadtbild. Das Haus Nibelungenstraße 56, früher auch Wormser Straße 8, an der Ecke Kirchstraße war von 1827 – 1939 im Besitz der Familie Mainzer. Fünf Generationen lebten hier. Mitglieder ihrer letzten drei Generationen wurden Opfer der NS Gewaltherrschaft. Rosa Mainzer geborene Neuberger aus Friedelsheim in der Pfalz, Jahrgang 1873, war mit Berthold Mainzer verheiratet gewesen, der bereits 1918 an der Spanischen Grippe verstorben war. Sie hatte drei Töchter, Emilie Jahrgang 1896, Gustine 1897, und Karola, geboren 1902. Das älteste Mädchen war kurz nach der Geburt verstorben. Gustine, die zweite Tochter war behindert. Nach dem Tod des Ehemannes und Vaters Berthold Mainzer lastete die Arbeit der Familie auf den Schultern der damals 16-jährigen Karola Mainzer. Sie musste die Schule der Englischen Fräulein in Bensheim verlassen um den Feldfrucht- und Kohlehandel des elterlichen Betriebes und die Landwirtschaft zu erhalten. 1924 heiratete sie Leopold Kahn aus Babenhausen, einen Viehhändler der 1892 geboren war. Dessen Bruder Karl hatte ebenfalls kurz zuvor nach Lorsch geheiratet. Karola und Leopold bekamen fünf Söhne Ernst 1925 Berthold 1928 Fritz 1929 Heinz 1931 Otto 1934 Die Familie wurde bekannt als die „Buben-Kahns“, nachdem Karl Kahn und dessen Frau Paula aus der Bahnhofstrasse vier Mädchen hatten, also die „Mädchen Kahns“ waren. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten erlebten die männlichen Lorscher Juden bereits 1933 einen ersten Vorgeschmack auf das was kommen würde. Wie Karola in ihren 11 Lebenserinnerungen schildert wurde auch ihr Mann Leopold in das KZ Osthofen verschleppt und dort eingeschüchtert. Nach den Pogromen 1938 kam es noch schlimmer. Alle jüdischen Haushaltsvorstände in Deutschland wurden in Konzentrationslager verbracht um ihnen die sofortige Ausreise abzupressen. Leopold Mainzer, Soldat und Ehrenkreuzträger des Weltkrieges kam nach Buchenwald, wo er misshandelt wurde. Auf Bildern zwischen August 1938 und Januar 1939 sehen wir einen um Jahre gealterten und verstörten Menschen. Karola ergriff die Initiative, die ihr Mann nach Rückkehr aus Buchenwald nicht mehr aufbringen konnte. Zuerst schickte sie ihre ältesten Söhne Ernst und Berthold, die auf keinen Fall mehr in Lorsch bleiben wollten, allein nach England zu einem Cousin. Es gelang ihr einen Käufer für das Haus zu finden und endlich mit Hilfe des Cousins Visa für Kanada zu erlangen. Den größten Teil des Erlöses für das Haus raubte ihnen die nationalsozialistische Finanzverwaltung. Was noch übrig war wollte Rosa Mainzer treuhändisch für ihre zweite Tochter Gustine anlegen, für die sie keine Ausreisebewilligung erlangen konnte. Gustine wurde in der ‚Pflegeanstalt’ Heppenheim untergebracht. Von dort wurde sie am 4. Februar 1941 nach Hadamar verschleppt und noch am selben Tag in der ‚Aktion T4’ ermordet. Über ihr genaues Schicksal war die Familie bis 2014 im Unklaren. Von ihr gibt es kein Bild. Einzig ihr gravierter Löffel war der Mutter und der Familie geblieben. Am 11. Juli 1939, heute fast auf den Tag genau vor 76 Jahren, verließ die Familie ihre jahrhundertealte Heimat Lorsch mit dem Ziel Kanada über London. Auf dem Weg nach Hamburg besuchten sie ein letztes Mal ihre Verwandten, die „Mädchen-Kahns“, die nach Babenhausen verzogen waren. Sie haben die Ausreise nicht mehr geschafft und sind alle ermordet worden. Eine Schulklasse in Babenhausen hat im April dieses Jahres Stolpersteine für die „Mädchen-Kahns“ initiiert und Herr Demnig hat sie vor ihrem Haus Fahrstrasse, gegenüber der Michelsbrauerei verlegt. Wir sind dankbar dass Sie alle hierher gekommen sind, wir sind vor allem aber tief bewegt, mit Otto Kahn ein unmittelbares Mitglied der letzten in Lorsch lebenden Familie und einen Zeugen dieser Zeit bei uns zu haben. Das ist, trotz der vielen Jahre die vergangen sind, keine Selbstverständlichkeit. Es ist eine große Geste für uns Lorscher und bestimmt auch für Ihre Familie. Eine Geste, die uns im Gedächtnis beleiben wird. Danke Otto Kahn. Für Gustine Mainzer das Kaddish Musik Schluss Von 1827 1830 1867 1902 1943 1953 1827 1855 1894 1925 1939 bis 1830 1867 1902 1943 1953 1959 1855 1894 1925 1939 1970 Haus Schulstraße 18 Nibelungenstraße 56 Eigentümer Mainzer Herz Mainzer Löb Mainzer Jonas I Mainzer Nathan I Reichsfinanzverwaltung und JRSO Mayer Max und Miterben Mainzer Meyer I Mainzer Leopold II Mainzer Berthold I Mainzer Carola Angert Ludwig 12 Redebeitrag Dr. Otto Kahn (1934) bei der Verlegung der Stolpersteine für seine Familie in der Nibelungenstraße 56 / Ecke Kirchstraße am 9. Juli 2015 13 Lorsch 9.07.2015 Die ersten elf Stolpersteine für Lorsch Von Christian Knatz Der Künstler Gunter Demnig verlegt Stolpersteine in Lorsch.Foto: Karl-Heinz Köppner LORSCH - Am Donnerstag sind die ersten elf Stolpersteine in Lorsch verlegt worden, die an ehemalige jüdische Mitbürger erinnern. Mehr als 100 Menschen waren beim Festakt dabei, darunter 14 Gäste aus England, Kanada und den Vereinigten Staaten: Angehörige, deren jüdische Lorscher Vorfahren in der Zeit des Nationalsozialismus vertrieben oder ermordet worden waren. Eingeladen waren sie vom Heimat- und Kulturverein, der Sponsorengeld für Flug und Unterbringung der Gäste gesammelt hatte. Thilo Figaj, Mitglied des Vereins und Kenner der jüdischen Geschichte von Lorsch, stellte die Biografien der Menschen vor, für die Steine verlegt wurden; einer von ihnen, der in Lorsch geborene Otto Kahn, war selbst zugegegen. Figaj äußerte sich kritisch zur Aufarbeitung der Lorscher Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg, bei der das Thema Judenverfolgung über Jahrzehnte ausgeklammert worden sei. Otto Kahn erklärte: "Wir sind bereit zu vergeben, aber wir dürfen nicht vergessen." 14 Reception by the City of Lorsch, July 9th 2015 Empfang der Stadt Lorsch am 9. Juli 2015 Julius Krakauer „Holiday Sounds“ (1876) 1st Movement „Pessach“; Birgit Grüner, Grand Piano 1. Satz „Pessach“; Birgitt Grüner, Flügel Welcome Address Christian Schönung, Mayor Christiane Ludwig-Paul, City Council Chairwoman Grußwort Bürgermeister Christian Schönung Stadtverordnetenvorsteherin Christiane Ludwig-Paul Julius Krakauer „Holiday Sounds“ (1876) 2nd Movement „Schawuot“; Birgit Grüner, Grand Piano 2. Satz „Schawuot“; Birgit Grüner, Flügel Speech Reinhard Diehl, Chairman of Heimat- und Kulturverein and Thilo Figaj, Debating Jewish History in Lorsch and Commemorative Work after the War. Reinhard Diehl, 1. Vorsitzender des Heimat- und Kulturvereins und Thilo Figaj, Aufarbeitung der Geschichte jüdischen Lebens in Lorsch nach dem Krieg; Vortrag Julius Krakauer „Holiday Sounds“ (1876) 3rd Movement „Purim“, 4th Movement “Chanukka”, 5th Movement “Sukkot”; Birgit Grüner, Grand Piano 3. Satz „Purim“, 4. Satz „Chanukka“, 5. Satz „Sukkot“; Birgit Grüner, Flügel 15 Thilo Figaj, Lorsch, 9. Juli 2015, Redebeitrag Rathhausempfang Debating Jewish History in Lorsch and Commemorative Work after the War In 1987, the German-Jewish writer Ralph Giordano published a book entitled “the second guilt”. It is about the unwillingness of large sections of the German public to deal with the Nazi crimes or offer compensation for the victims of the NS regime; and about the political decisions that allowed accomplices to return to public office in our democracy. Giordano's thesis was highly controversial 28 years ago, it was fiercely debated and often rejected. Today his term “Second guilt", though still not recognized by all, is established in our language, and it is now used detached from the author. That shows how much Giordano was right in his analysis, however unpleasant it might have appeared to individuals or still is for some. A second guilt assumes a first, but that – and the even then existing – denial of the Holocaust was not Giordano had set his focus on. Rather, the author summed up a general mood that imposed itself in the 1970s and 1980s, that may best be described with the typical questions asked in public debates. - - Had not post war chancellor Adenauer met Israel Prime Minister Ben Gurion as early as 1960? Had not he and therefore the German people agreed restitution to the State of Israel and to the Jewish Claims Conference, a total sum of 3.5 billion Deutsche Mark? (In todays value 7 billion Euros?) Had Germany not agreed to all these General compensations as early as 1952, signing the Luxemburg treaties? The unlucky German term ‘Wiedergutmachung’ was established in those years, less than adequately translated with reparation. To the German ear ‘Wiedergutmachung’ is a bit more; it contains moral justice, something like re-establishing the old status. That of course was impossible. Whoever cared to think carefully about using this term must have come early to the conclusion that using it was part of the problem Giordano had identified. But compensation was not the only topic. More typical arguments were: - Had not the German Justice – 1959, finally – established the Central NS Prosecution office in Ludwigsburg, an instrument that would help to identify and prosecute Nazis faster and more efficiently? - Did we not have the 1964 Auschwitz and the other trials? The latter in fact, was Fritz Bauer’s merit alone, the Jewish Chief prosecutor in our post-war State Hessen, in Frankfurt, whose saying was: “when I leave my office, I am in enemy country.” And ever and again, the same phrases - we ourselves did not know anything - Concentration camps are not a German invention. - The others also committed crimes. - There must finally be an end to the accusations and trials; it should all be forgotten at last. 16 Giordano's analysis of 1987 appeared into the midst of a debate which was out here in Lorsch, too. It culminated in the dispute over the construction of the memorial where we just have been. Like everywhere, Lorsch was not an exception but the rule. Here it started with an argument over the wording on the panel. Clear and true statements such as deprivation of civil rights, repression, expulsion, escape and death were avoided. Instead, the lapidary sentence "To the memory of the Jewish citizens of our city," was found the least common denominator. The “destruction” of the Synagogue is “remembered”, just as if it had been a Natural Disaster. The right place of remembrance and the installation of the panel were even more controversial. Some said it must be at the place of the former Synagogue. Others – who might have remembered better – voted for the place where it is today. The owner of a new building in the place of the Synagogue objected. Before the plaque was finally installed in 1988, it had to wait over a year in store. At the house where the synagogue had actually stood, another small plaque was placed years later. Here at last the fate of the deportees became a little clearer in public space. However, the fundamental error of this little panel, namely taking the unchecked data of the 1942 deportations, which are entered as ‘moving to a new place’ in the forged town’s registry files, remained unnoticed for another couple of years. The historian Paul Arnsberg from Frankfurt has thoroughly explored the history of “Country Jews from Hessen” in the 1960s and published his two volumes in 1971. This work is still a standard. During his research he also inquired with the Lorsch Rathaus. The information he got were meager. However, he still had a chance to correspond with the expatriates. In this context he received from Karola Mainzer Kahn the only photograph of the Lorsch Synagogue that we know today. A poor copy of it was kept in our archives. We received a fresh copy from Otto Kahn only last year. Arnsberg could build his chapter on Lorsch on a publication which came from local historians Paul Schnitzer and Hans Degen. The two had written their own chapter of Lorsch Jewish history for a book which was published 1964 to celebrate the 1200 years anniversary of the monastery. Going through Lorsch documents which are completely preserved since the Thirty Years War, it was first of all Schnitzer with this and following publications who created a sound base, especially concerning the data of early Jewish families. His story of the Jews of Lorsch does however end in regret and with the forged deportation dates. It has to be said however, that at the time of his writing he could not know of the forgeries. A closer look at the circumstances in Lorsch which were only 20 years ago when he published, was not granted, time witnesses who could have assisted Schnitzer in his work, did not contribute. Karola Mainzer Kahn who received a copy, explicitly praised Schnitzer’s work in her correspondence with Arnsberg which is preserved in his Frankfurt estate. That shows that even directly affected people had no interest in a sharp focus of the events they had lived through. Karola is satisfied with Schnitzer’s description, the mentioning alone of a former existence of a Jewish Community in the anniversary book seems to make her happy. Recommending the book to Arnsberg, she wrote: “they have not forgotten us after all,” adding that she had recently visited Lorsch and the Alsbach cemetery, and had found for herself “everything in best order.” 17 The economic importance of Lorsch Jews was outlined by Heinrich Diehl in 1985, and Walter Glanzner and others reported at last some minor details of the pogroms and the destruction of the synagogue. This was a full 40 years after the war, and in context of the public debate surrounding this date. The destruction of the synagogue appeared to most of the contemporaries as a closed chapter. In 1948, the Darmstadt District Court had identified some of the accomplices, SA men of the infamous Brigade 50, and had convicted some for violation of public peace and arson. They had received minor prison sentences. Nazis from outside had so invaded the Lorsch Jews. The criminals, so it was repeatedly told, did not come from here. It was faded out, against better knowledge and against facts which were collected during the trial, that the nature and the extent of the destruction and the subsequent pogroms would have simply been impossible without internal and local participation. Above all it had been the NS city council who ruled the razing and complete demolition of the Synagogue building which was burnt but was still standing upright. The job was finished within the four weeks of absence of the Jewish men from Lorsch who were kept hostage in the Buchenwald and Dachau camps following the pogroms. The demolition contractor’s invoice gives evidence and is kept in the archives. A real public dispute, which persons destroyed the Synagogue in Lorsch, was only started 50 years after the pogroms. The trigger was pulled from outside. In 1988 the State Commission of the History of Jews in Hessen released a documentation ‘Kristallnacht in Hessen’ compiled by Arno Kropat. Here, for the first time people could read details of the Lorsch trial. Those who did got a new insight. A first thorough work-up of individual people’s fates followed. An exhibition of the city’s documents was presented here, in this Rathaus. The core of the exhibition was those infamous “J” stamped identity cards which had been issued since January 1939. They had been retained when people immigrated, or taken from them on the day of deportation. Only with these images people got a real idea of the persons. Especially disturbing were images of the men. It looked like photos taken in a concentration camp. The assumptions were true. The younger people did not know that the men had been to the camps for at least 4 weeks. There is no record in Lorsch, nothing at all in the otherwise accurately kept city registries. On their return to Lorsch the men had to pose for this new “J” stamped card, with hair hardly re-grown. In 1985 Jochen Franke, a teacher at Siemensschule, had led his 10th graders through a project investigating the fate of the local Jews. The students published their results in a school newspaper. A secondary exploitation in a Social Democratic Party brochure brought it to a broader public. Thanks to the teacher and his students we have a first collection of fate stories from expatriates. Franke had identified addresses of survivors and the students had written to them. Some responded, one was Ricardo Oppenheimer, a son of the murdered Leopold Oppenheimer of Karlstrasse. He had lived in Buenos Aires. And Claude Abraham wrote a remarkable letter to the students. That he, Claude Abraham, born here 1934, finally came to Lorsch in 2001 goes to the credit of Karl-Heinz Huba. Abraham, whose parents were killed in Auschwitz, had for decades avoided to return for a visit, although his job as a professor led him to lectures in Germany several times in his life. He describes his feelings in his remarkable autobiography “on the raft” which most 18 of us have read. With him a personality returned whose individual fate made comprehensible the dimension of the Shoa. Here was not some abstract figure from a book; here was a born Lorscher. This alone made the difference. Suddenly and unexpectedly oral history returned, memories were shared, some stories finally told. At least now it became clear what we had lost in oral history by silence and concealment. Those who could have spoken had chosen to say nothing. It might appear that between the first publication of Paul Schnitzer and Hans Degen in 1964 and the public debates of 1985 and 1988 not much had happened in terms of Commemorative Work. This impression does not deceive. But two exceptions must be mentioned. In 1979 it is again Paul Schnitzer who goes deep into Jewish family research. For Lorsch and neighboring villages he evaluates the oldest city documents. In the same year 1979, our late Ludwig Brunnengräber, then Bürgermeister made a remarkable trip to New York. There he met with expatriates, the Guthof brothers and Alfred Oppenheimer who lived in Washington Heights at the time. Benno Jakob came from Brooklyn and Karola Mainzer Kahn from Toronto. It was his private initiative and unfortunately he did not report much of his visit. The group had shared memories, he remembered in a 2009 writing, and that they had all agreed that they were happy to have gotten over “the hard times”, “die schwere Zeit.” “The hard times” – this was the expression Germans had found for themselves. It covered it all: NS regime, persecution, Shoa, bomb terror, dead soldiers, German flight and expulsion, hunger, and reconstruction. It said everything to those who used it and nothing to the rest. There were some more private visits of Lorschers, who renewed old friendships, here and in America, some as early as the 1950s. Encounters in Lorsch with people who had lost their direct relatives in the Shoa were always problematic. Since the installment of the memorial we have a central event every year in the evening hours of November 9th. In the beginning just a handful attended. Now we have a growing number every year. That shows that people not only care to show their empathy but are eager to hear and learn more of the Jews of Lorsch and their once so rich contribution to our city’s life. We regard it as our task not to restrict such events to cold, windy and rainy November nights. There is still a lot to do. Human encounter and dialogue is one of the main aspects. They also help us to deal with the tasks of our present and future. That is why we are so glad to have you with us. The fact that we are all human beings in God's hands and share the same planet was conveyed to us by Rabbi Troster this week. This was a wonderful example of how we can travel not only in the often sad chapters of the past, but be people in the present and work for our own and our children’s future. 19 Thilo Figaj, Lorsch, 9.7.2015, Aufarbeitung der Geschichte Jüdischen Lebens in Lorsch nach dem Krieg Deutsche Fassung des englischen Redebeitrages, Rathhausempfang Im Jahre 1987 veröffentlichte der deutsch-jüdische Publizist Ralph Giordano ein Buch mit dem Titel „die zweite Schuld“. Es handelt vom Unwillen breiter Teile der deutschen Öffentlichkeit zu einer Aufarbeitung der NS Verbrechen und Entschädigung der Opfer sowie die politischen Entscheidungen, die es Mittätern ermöglichten, auch in der Demokratie wieder in Amt und Würden zu gelangen. Giordanos These war vor 28 Jahren sehr umstritten, wurde heftig debattiert und meistens abgelehnt. Heute ist der Begriff der „Zweiten Schuld“, wenn auch längst nicht von allen anerkannt, ein Terminus geworden, der sich in unserem Sprachgebrauch etabliert hat, und mittlerweile losgelöst vom Verfasser gebraucht wird. Das zeigt, wie sehr Giordano mit seiner Analyse richtig lag, so unangenehm sie dem Einzelnen erschienen sein mochte oder immer noch erscheinen mag. Eine zweite Schuld setzt eine erste Schuld voraus, aber um das – auch damals noch vorhandene – Leugnen des Holocaust ging es Giordano nicht einmal. Der Autor fasste vielmehr eine Stimmung zusammen, die sich in den 1970er und 1980er Jahren breit machte. Hatte nicht Adenauer schon 1960 Ben Gurion getroffen und hatte nicht Deutschland dem Staat Israel und der Jewish Claims Conference mit 3,5 Milliarden DM (umgerechnet nach heutiger Kaufkraft 7 Milliarden Euro) Restitutionsleistungen erbracht, die ja schon 1952 in Luxemburger Verträgen zugesagt waren? (Alles unter der unglücklichen Vokabel „Wiedergutmachung“.) Hatte nicht die deutsche Justiz – 14 Jahre nach Kriegsende – reagiert und mit der Zentralstelle Ludwigsburg ein Instrument geschaffen, um NS Verbrecher aufzuspüren und anzuklagen? Und überhaupt, und immer wieder, dieselben Phrasen - Wir selber haben ja nichts gewusst. Konzentrationslager sind keine deutsche Erfindung. Die anderen haben auch Verbrechen begangen. Es muss endlich Schluss sein mit den Anklagen und den Prozessen, es muss endlich einmal vergessen werden. Giordanos Analyse des Jahres 1987 erschien mitten hinein in eine Debatte, die – natürlich, muss man sagen – auch hier in Lorsch geführt wurde. Es ging um die Jüdische Gedenkstätte, an der wir uns eben versammelt hatten. Wie überall wurde um den Text1 gerungen. Klare und wahre Aussagen wie Entrechtung, Unterdrückung, Vertreibung, Flucht und Mord wurden vermieden. Das war bei uns, wie andernorts auch, der kleinste gemeinsame Nenner, auf den 1 "Dem Andenken der jüdischen Bürger unserer Stadt. Zur Erinnerung an die Synagoge der jüdischen Gemeinde Lorsch, die am 10. November 1938 zerstört wurde." 20 sich die Verantwortlichen einigen konnten. An die Synagoge und ihre „Zerstörung“ wurde „erinnert“, als wenn es eine Naturkatastrophe gewesen wäre. Um den Gedenkort der Tafel allein wurde heftiger gerungen, manche sagten, sie müsse am Platz der Synagoge angebracht werden. Andere, die sich - vielleicht - besser erinnerten, waren für den Platz an dem sie heute noch ist, weil die Gedenktafel nicht am ursprünglichen Platz angebracht werden konnte. Der damalige Eigentümer hatte nicht zugestimmt. Bis die Tafel endlich 1988 angebracht wurde, musste sie die Zeit bis zu einer Einigung im Disput im Magazin verbringen. Am dem Haus, wo früher die Synagoge tatsächlich einmal gestanden hatte, wurde erst Jahre später eine kleine Tafel angebracht. Hier endlich wurde das Schicksal der Deportierten etwas klarer im öffentlichen Raum. Der grundsätzliche Fehler dieser Tafel, nämlich die von den Nationalsozialisten ungeprüft übernommenen und gefälschten Daten der Deportationen, „Wegzüge“, aus den Meldeunterlagen der Stadt, blieb jahrelang unbemerkt. Der Historiker Paul Arnsberg hat die Geschichte der hessischen Landjudenschaft und das Schicksal der Menschen in der NS Zeit als erster und bis heute einziger in den 1960er Jahren gründlich erforscht und im Jahre 1971 veröffentlicht. Er hatte auch in Lorsch nachgefragt. Die Auskünfte, die er im Rathaus bekam waren dürftig. Allerdings hatte er noch die Gelegenheit mit den ins Ausland geflüchteten Bewohnern zu korrespondieren. Dabei erhielt er von Karola Mainzer das einzige Foto, das wir von der Synagoge heute kennen, und das dann über Umwege und als schlechte Kopie ins Archiv der Stadt kam. Eine frische Kopie des Abzuges haben wir vor zwei Jahren von Otto Kahn erhalten. Stützen konnte sich Arnsberg bereits auf eine Veröffentlichung von Paul Schnitzer aus dem Jahre 1964. Für das damalige Jubiläumsbuch zur 1250-Jahr Feier der Stadt hatte der Lehrer und Historiker gründlich im Stadtarchiv recherchiert und eine erste Analyse der jüdischen Siedlung und Gemeinde in Lorsch abgeliefert. Seine Auswertung der ältesten erhalten Judenmatrikel ist eine Basis für weitere Erforschung, vor allem der Familiengeschichte. Die Geschichte der Lorscher Juden endet bei Schnitzer allerdings mit den gefälschten Deportationsdaten aus der Meldekartei. Dass die Einträge Fälschungen waren, konnte er damals nicht wissen. Eine nähere Betrachtung der letzten Jahre der Jüdischen Gemeinde Lorsch, die zwanzig Jahre nach den Deportationen mit Hilfe damaliger Zeitzeugen durchaus möglich gewesen wäre, wird uns in seiner damaligen Arbeit nicht gegeben. Karola Mainzer, die ein Exemplar des Jubiläumsbuches erhalten hatte, lobt die Darstellung allerdings ausdrücklich in einem Schriftwechsel mit Arnsberg, der im Nachlass Arnsberg in Frankfurt erhalten ist. Das zeigt, dass es auch den Betroffenen damals noch nicht um scharfe Fokussierung ging. Allein die Schilderung der Existenz einer Jüdischen Gemeinde, dass „man hat uns dort nicht ganz vergessen hat, “ verschaffte ihr Genugtuung. Sie sei auch in Lorsch gewesen, schreibt sie an Arnsberg, und auf dem Friedhof, und hätte „alles in bester Ordnung gefunden.“ Die vor allem wirtschaftliche Bedeutung der Lorscher Juden hat Heinrich Diehl 1985 skizziert; Walter Glanzner und andere berichteten endlich Details zu Vorgängen in der Pogromnacht und zur Zerstörung der Synagoge. Das geschah ganze 40 Jahre nach Kriegsende, in der Erinnerungsliteratur und der öffentlichen Diskussion rund um dieses Datum. Die Zerstörung der Synagoge betrachteten die meisten Zeitgenossen ja auch als ein abgeschlossenes Kapitel. Das Landgericht Darmstadt hatte 1948 einige der Mittäter, vor allem SA Männer, identifiziert und für schweren Landfriedensbruch und Brandstiftung zu geringen Gefängnisstrafen verurteilt. Als erwiesen gilt, dass eine SA Standarte von auswärts die Lorscher Juden überfallen hatte. 21 Die Verbrecher, so dachte man am Ort, waren also nicht die Lorscher. Verdrängt wurde, dass der dokumentierte Ablauf, die Art und der Umfang der Zerstörung und die anschließenden Pogrome allerdings gar nicht ohne innerörtliche Beteiligung hatten ablaufen können. Und dass es schlussendlich der Lorscher NS Gemeinderat war, der das Synagogengebäude, das zwar ausgebrannt war aber noch stand, innerhalb vier Wochen vollständig schleifen ließ. Die Rechnung für den Abbruch liegt im Kassenarchiv. Die Diskussion, wer Schuld hat an der Zerstörung der Synagoge in Lorsch wurde erstmals richtig heftig und öffentlich 1988 geführt. Diesmal war es der 50. Jahrestag des Pogroms selbst. Eine erste gründliche Aufarbeitung der Menschenschicksale erfolgte mit einer Ausstellung im Rathaus. Mittelpunkt waren die Kennkarten Lorscher Juden, die ab Januar 1939 ausgestellt wurden. Sie mussten bei Ausreise wieder abgegeben werden oder sie wurden den 1942 Deportierten abgenommen. Erst mit diesen Bildern bekamen die einzelnen Schicksale ein Gesicht. Was verstörend wirkte und immer noch wirkt sind vor allem die Aufnahmen der Männer. Damals wusste man noch nicht, dass die Haushaltsvorstände allesamt für mindestens vier Wochen in die KZs Buchenwald und Dachau verschleppt worden waren. Die, die sich vielleicht daran erinnerten oder es immer wussten, haben es für sich behalten. Geschrieben hat darüber jedenfalls niemand. Der Lehrer Jochen Franke von der Siemensschule in Lorsch führte eine 10. Abschlussklasse aus Anlass des 40-jährigen Kriegsendes 1985 durch ein Projekt, dessen Ergebnisse die Schüler in der Schulzeitung „Die Lupe“ veröffentlichten. Eine Zweitverwendung ihrer Forschung mit breiterer Streuung erfolgte durch eine Veröffentlichung der Lorscher SPD. Dem Lehrer und den Schülern ist es zu verdanken, dass es eine erste, wenn auch durch die begrenzten Recherchemöglichkeiten nicht vollständige Schicksalserzählung über die Opfer und die Deportierten gab. Franke hatte Adressen Überlebender ausfindig gemacht und zwei hatten tatsächlich geantwortet, Ricardo Oppenheimer, ein Sohn des ermordeten Leopold Oppenheimer aus der Karlstraße. Er wohnte in Buenos Aires. Und Claude Abraham schrieb einen bemerkenswerten Brief an die Schüler. Karl-Heinz Huba ist es zu verdanken, dass Claude Abraham im Jahre 2001 endlich nach Lorsch kam, was er jahrelang vermieden hatte. So jedenfalls schreibt er es in seinem bemerkenswerten, biografischen Buch „Auf dem Floß“. Mit Claude Abraham, dem anlässlich seines Besuches der neu gestiftete Ehrenring der Stadt verliehen wurde, kam eine Persönlichkeit in unseren Ort, die das ganze Schicksal und die Dimension der Shoa plötzlich für viele Lorscher begreifbar machte. Hier war keine abstrakte Person, hier war ein gebürtiger Lorscher und allein deswegen kam er allen näher mit der Geschichte seiner Familie, als ein noch so eindringliches Buch zum Thema es zu vermitteln vermag. Plötzlich waren sie doch noch da bei uns in Lorsch, die Geschichten und Erinnerungen, und sie wurden auch endlich erzählt. Spätestens an diesem Tag wurde vielen bewusst, was wir auch durch Schweigen und Verschweigen über Jahrzehnte an erzählter Geschichte verloren hatten. Weil es die Menschen, die es in ihrer Zeit hätten tun können nicht getan haben. Wenn der Eindruck entstanden ist, dass es zwischen der ersten Veröffentlichung von Paul Schnitzer und Hans Degen 1964 und der Mitte der 1980er beginnenden öffentlichen Debatte nicht viel an Aufarbeitung in Lorsch gegeben hat, so täuscht das nicht. Eine besondere Ausnahme ist unser verstorbener Ehrenbürgermeister Ludwig Brunnengräber. Er reiste, wie er erst viel später schriftlich berichtet hat, 1979 nach New York. Dort traf er sich mit den aus Lorsch gebürtigen Brüdern Guthof, Alfred Oppenheimer und Benno Jacob. Auch Karola Kahn 22 war damals zu diesem Treffen aus Toronto gekommen. Leider hat uns Ludwig Brunnengräber nicht viel mehr von dieser privaten Reise berichtet, als dass man Erinnerungen zu Lorsch ausgetauscht hat und dass man allgemein froh sei, über die „schwere Zeit“, wie es immer gerne in Deutschland hieß, hinweg gekommen sei. Aber auch sonst gab es eine Reihe von privaten Besuchen und Gegenbesuchen in Lorsch, bei denen Jahrzehnte nach Kriegsende auch alte Freundschaften noch einmal aufgefrischt wurden. Seit es das Mahnmal gibt, findet dort regelmäßig am Abend des 9. November eine zentrale Gedenkveranstaltung statt. Waren es anfangs nur wenige Menschen, die teilnahmen ist festzustellen, dass mittlerweile immer mehr an der Gedenkveranstaltung teilnehmen – ein Hinweis, dass das Interesse an der Befassung mit dem Thema nicht nur gegeben ist sondern sogar wächst. Im letzten Jahr waren es 200 Lorscher die kamen. Wir betrachten es als unsere Aufgabe und unsere Zielsetzung, das Gedenken nicht allein auf oft trübe, kalte und regnerische Novemberabende zu beschränken. Wir haben noch viel vor, und es gibt noch viel zu tun. Menschliche Begegnung gehört dazu und auch die Aufgaben, die uns allen die Gegenwart und die Zukunft stellt. Deswegen sind wir froh, dass wir Sie in dieser Woche bei uns haben. Dass wir alle Menschen in Gottes Hand sind, die denselben Planeten teilen, daran hat uns Rabbi Troster am Anfang der Woche in seiner Rede zur päpstlichen Enzyklika erinnert. Das ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass wir nicht nur in den oft traurigen Kapiteln der Vergangenheit unterwegs sind, sondern Menschen im Hier und Heute. 23 Lorsch 10.07.2015 Große Gesten in Lorsch Von Christian Knatz GESCHICHTE In würdigem Rahmen werden die ersten Stolpersteine für ehemalige jüdische Mitbürger verlegt Mehr als 100 Menschen waren zur Stolpersteinverlegung in Lorsch gekommen. Foto: Karl-Heinz Köppner LORSCH - Am Donnerstag sind die ersten elf Stolpersteine in Lorsch verlegt worden, die an ehemalige jüdische Mitbürger erinnern. Mehr als 100 Menschen waren beim Festakt dabei, darunter Gäste aus England, Kanada und den Vereinigten Staaten: Angehörige, deren jüdische Lorscher Vorfahren in der Zeit des Nationalsozialismus vertrieben oder ermordet worden waren. Das Motto des Tages nannte Otto Kahn, einer der Gäste: „Wir sind bereit zu vergeben, aber wir dürfen nicht vergessen.“ Die Verlegung von Stolpersteinen, kleine Betonquader mit Angaben zu früheren jüdischen Bewohnern eines Hauses auf Messingschildern, ist nichts Außergewöhnliches mehr. Abertausende hatte der Kölner Gunter Demnig in Deutschland und anderen Ländern schon verlegt, bevor er am Donnerstag in Lorsch zugange war. Geld und guter Wille machen es möglich Otto Kahn aber steht als Person für die Besonderheiten der Lorscher Zeremonie. Als einer von fünf Söhnen der früheren Bewohner des Hauses Nibelungenstraße 56 war der in Lorsch Geborene selbst bei der Installation seines eigenen Steins dabei – „ein historisches Ereignis“, wie er selbst sagte. Kahn ist einer von sage und schreibe 14 Angehörigen ehemaliger jüdischer Mitbürger der Familien Kahn und Mainzer, die von weither zur Verlegung samt ambitioniertem Rahmenprogramm nach Lorsch gekommen sind. Das ist das Verdienst des Lorscher Heimat- und Kulturvereins und vor allem seines Mitglieds Thilo Figaj. Der Kenner jüdischer Geschichte stellte nicht nur die Menschen hinter den 24 Namen auf den Steinen vor; er hatte den Besuch auch anberaumt und organisiert. Möglich wurde die Zusammenkunft durch Sponsoren und die grundsätzliche Offenheit beider Seiten. Am Rande des Festakts gab es wie zum Beleg eine schöne Szene: Nachfahren der Nibelungenstraße-56-Bewohner durften sich das von Inge Ludwig bewohnte Haus auch von Innen ansehen; Eigentümer Richard Heinz gehört zu den Sponsoren. Nach dem Krieg abgerissen worden war dagegen das Haus Schulstraße18, für deren frühere Bewohner am einstigen Standort zwei weitere Stolpersteine verlegt worden waren. Auch für Nachgeborene gehört indes einiges dazu, im Land der Täter die Spuren der eigenen Geschichte aufzunehmen. „Wir sind froh, dass sie eine Brücke nach Deutschland, nach Lorsch gebaut haben“, sagte Bürgermeister Christian Schönung an die Adresse der Gäste. Von einer „großen Geste“ sprach Thilo Figaj. Mit dieser Größe kontrastierte über Jahrzehnte auch in Lorsch der Kleinmut, sich der Geschichte zu stellen. Darum ging es in einem weiteren Vortrag Figajs im Alten Rathaus. Selbst integre Heimatforscher machten bis in die 1990er Jahre einen Bogen um das katastrophale Ende jüdischen Lebens in Lorsch – vielleicht auch, weil von Anfang an klar war: „Es wäre ohne lokale Beteiligung nicht möglich gewesen.“ Selbst das Anbringen einer Gedenktafel für die von Nationalsozialisten zerstörte Synagoge sei vor gar nicht allzu langer Zeit ein Problem gewesen. Der Besuch des in Lorsch geborenen Claude Abraham, dessen Familie ausgelöscht worden war, habe die Wende zum Besseren befördert. Als weitere Besonderheit der jüdischen Woche in Lorsch darf gelten, dass es nicht nur um jüdischen Sterben, sondern auch um jüdisches Leben ging: in den Musikbeiträgen ebenso wie in den gesprochenen Worten. Bis zu 100 Juden hatten im 19. Jahrhundert in Lorsch gelegt, geliebt, gearbeitet, wie Figaj (auf Englisch) und der Heimatvereinsvorsitzende Reinhard Diehl (auf Deutsch) erläuterten. Vertriebene einst und jetzt Kühn schlug Elaine Kahn aus New York später den Bogen vom Schicksal ihrer Vorfahren zu den aus Eritrea nach Lorsch geflüchteten Menschen. Ihr Ehemann, Rabbi Lawrence Troster, verband im Totengebet „Kaddisch“ Trauer und Hoffnung. Fünf Generationen der Mainzers hatten hier gelebt, drei davon wurden Opfer der Verfolgung. Einige schafften gerade noch rechtzeitig die Ausreise, andere wurden umgebracht in Majdanek oder Theresienstadt. „In meiner Familie fiel kein Wort über den Holocaust“, sagte Ron Dressler, Enkel von Moritz Mainzer. Dafür gab es gestern viele gute Worte. Eins davon mögen Einheimische besonders gern aus dem Mund eines Gasts gehört haben: Otto Kahn dankte den „good people of Lorsch“, den guten Menschen in Lorsch. 25 Lorsch 10.07.2015 Gedenken: Stolpersteine erinnern an jüdische Familien, die in der NS-Zeit vertrieben wurden Nur Flucht aus Lorsch rettete das Leben Von unserem Redaktionsmitglied Nina Schmelzing Lorsch. Die grausamen Machenschaften diktatorischer Regime, die derzeit massenweise Menschen in die Flucht treiben, sorgen hierzulande für Entsetzen. Leicht könnte man darüber vergessen, dass auch Deutschland einmal ein Ort war, von dem viele Menschen fliehen mussten, wenn sie ihr Leben behalten wollten. Und so lange ist es noch gar nicht her. Vor knapp 80 Jahren wurden jüdische Bürger wegen ihres Glaubens aus Lorsch verjagt. Familien, die über Generationen in der Stadt daheim waren, mussten ihre Häuser verlassen. Viele, die nicht rechtzeitig fliehen konnten, wurden in Konzentrationslager deportiert und ermordet. An die Schicksale dieser Vertriebenen erinnern jetzt sogenannte Stolpersteine. Der Künstler Gunter Demnig hat sie gestern verlegt. Vor dem Haus Nibelungenstraße 56 und in der Schulstraße erinnern insgesamt elf kleine Steine mit Messingplatten, auf denen die Namen der früheren Bewohner eingraviert sind, an das, was in Lorsch während der Herrschaft der Nationalsozialisten passiert ist. Die Initiative dafür kam vom Heimat- und Kulturverein. Vorsitzender Reinhard Diehl hatte gestern gemeinsam mit der Stadt an die jüdische Gedenkstätte eingeladen. Viele Lorscher beteiligten sich. Dass es eine sehr bewegende Gedenkstunde wurde, lag vor allem an den 15 Teilnehmern, die aus den USA und aus Kanada angereist waren - Angehörige der damals vertriebenen Lorscher Familien. Thilo Figaj, Unternehmer und Mitglied des Heimat- und Kulturvereins, hatte vor vielen Monaten schon begonnen, die Geschichte der Lorscher Juden zu recherchieren. Er schaffte es nicht nur, Kontakt mit den Familien aufzunehmen. Es gelang ihm auch, sie nach Lorsch einzuladen - in die Stadt, mit der sie Schrecklichstes verbinden. 26 Vergeben, nicht vergessen Mit Dr. Otto Kahn nahm auch ein Gast an der Gedenkstunde teil, der 1934 in Lorsch geboren wurde und 1938 miterleben musste, wie sein Vater aus der Nibelungenstraße nach Buchenwald verschleppt wurde. Was geschehen sei, könne nie vergessen werden, erklärte Kahn in seiner Rede, für die er viel Beifall erhielt. Die weite Reise habe er trotzdem auf sich genommen, so der pensionierte Herzspezialist, der heute in Kalifornien lebt: "Um zu vergeben." Kahn dankte Figaj und Lorsch für die Initiative. Er rief zu Freundschaft auf und zu Respekt gegenüber anderen Lebensweisen. Auch Ron Dressler bedankte sich persönlich in einer Ansprache. Der Enkel des einst in Lorsch wirkenden Dr. Moritz Mainzer berichtete, dass in seiner Familie fast nie über den Holocaust gesprochen worden sei. Der Name seines Großvaters und das, was ihm widerfuhr, seien selten erwähnt, meist aus Kummer verschwiegen worden. "Sie haben mir die Geschichte meiner Familie zurückgegeben", erklärte Dressler nun Mitgliedern des Heimat- und Kulturvereins und Lorscher Bürgern. Mit der Verlegung der Stolpersteine in der Nibelungen- und Schulstraße ist die Aktion noch nicht abgeschlossen. Der Heimat- und Kulturverein plant, weitere Steine vor Lorscher Häusern zu verlegen. Derzeit laufen Gespräche mit den heutigen Eigentümern. Die nächste Verlegung ist in der Bahnhofstraße vorgesehen. Neue Flüchtlinge angekommen Dass die Stadt heute ein Zufluchtsort für viele Menschen ist, wurde deutlich, kaum dass die Gedenkstunde gestern zu Ende war. Am Nachmittag nämlich trafen neue Flüchtlinge ein: Acht Asylsuchende aus Algerien, dem Iran und Afghanistan. Erstmals wurden für Flüchtlinge gestern privat vermietete Unterkünfte zur Verfügung gestellt. Sie liegen in der Kunigunden- und der Ludwig-Erhard-Straße. © Bergsträßer Anzeiger, Freitag, 10.07.2015 27 Lorsch 13.07.2015 Lorsch-Besucher feiern jüdischen Gottesdienst Von Claudia Stehle AUERBACH - Zum Schabbat in der Auerbacher Synagoge an der Bachgasse trafen sich am Samstag die Nachkommen der Familien Kahn und Mainzer, die anlässlich der Stolpersteinverlegung nach Lorsch gekommen waren. Zum Abschluss ihres Aufenthalts wurde Gottesdienst gefeiert. Die Nachkommen der Familien Kahn und Mainzer wurden von Angelika KösterLossack, der Vorsitzenden des Auerbacher Synagogenvereins, mit einem herzlichen „Schabbat Schalom“ begrüßt. Rabbi Lawrence Troster aus New Jersey leitete zusammen mit seiner Tochter Rabbi Rachel Kahn-Troster den Gottesdienst. Lawrence Troster ist der Ehemann von Elaine Kahn, einer Enkelin von Karola Mainzer Kahn und Tochter von Ernst In der ehemaligen Synagoge von Auerbach ist am Samstag Kahn. „Es ist für uns alle eine neue ein jüdischer Gottesdienst mit Rabbiner Lawrence Troster Erfahrung, den Gottesdienst hier in der (rechts) gefeiert worden. Er gehörte zum Programm für eine Auerbacher Synagoge zu feiern, wo unsere Delegation von Angehörigen ehemaliger Lorscher Vorfahren früher auch zum Gottesdienst Mitbürger jüdischen Glaubens, die eine Woche lang zu zusammengekommen sind“, stellte Troster Besuch war. dem Gottesdienst voraus. So hat hier Gustine Bendheim früher gebetet, die Ururgroßmutter seiner Frau Elaine. Mit einer kleinen Foto-Dokumentation erinnerte der Synagogenverein an seine vor fast 30 Jahren begonnene Arbeit. Dass die ehemalige Synagoge an der Bachgasse entweiht und ihr Toraschrein leer ist, stellt nach Auskunft von Köster-Lossack kein Hindernis für den Sabbat-Gottesdienst dar. „Wir hatten hier schon zuvor jüdische Gottesdienste“, berichtete sie. Anlass: Verlegung der Stolpersteine Neben den 14 Familienmitgliedern, die aus den USA, Kanada und England anlässlich der Stolpersteinverlegung für eine Woche nach Deutschland gekommen waren, waren auch Mitglieder des Synagogenvereins sowie des Heimat- und Kulturvereins Lorsch mit Vorstandsmitglied Thilo Figaj in die gut besetzte ehemalige Synagoge gekommen. In ihrem leeren Toraschrein stand die siebenarmige traditionelle Menora. „Der heutige Tag ist für unsere gesamte Familie ein wichtiges Datum, da vor 76 Jahren Vorfahren ausgereist sind nach Kanada und in die USA“ stellte Lawrence Troster fest, dessen polnische Vorfahren schon schon vor der Schoa Europa verlassen hatten. 28 Mit dabei in der ehemaligen Synagoge war Otto Kahn, der damals als Fünfjähriger aus Lorsch mit seinen Angehörigen abgereist war und nun zusammen mit seiner Tochter in die alte Heimat zurückgekehrt ist. Einer der Teilnehmer war Ron Dressler, ein Enkel des Frankfurter Rabbiners Moritz Mainzer, der ebenfalls aus Lorsch gebürtig war. Dressler begleitete auf seinem Saiteninstrument die Gemeinde beim Gesang. „Für uns Juden mit deutschen Ursprung ist es schon ein kompliziertes Gefühl, hier in Deutschland zu sein, aber es ist für uns auch wichtig, wieder dort zu sein, wo unsere Vorfahren herkommen“, stellte Elaine Kahn fest. Dass es noch die Auerbacher Synagoge als unzerstörtes Kulturdenkmal gibt, habe sie vorher nicht gewusst. Elaine Kahn und ihr Mann Lawrence Troster, die im vergangenen Jahr schon einmal hier waren, haben auf diese Reise nach Deutschland auf den Spuren ihrer Ahnen ihre beiden Töchter mitgenommen und die siebenjährige Enkeltochter Liora Pelavin. „Wir sind Zeugen, aber keine Richter“ Die beiden Rabbiner Lawrence Troster und seine Tochter Rachel hatten für diesen SchabbatGottesdienst eine verkürzte Form gewählt mit einer Auswahl an Psalmen, Segnungen, Lesungen aus der Tora sowie dem Sh’ma Yisrael (Höre Israel). Die Ansprache hielt Rachel Kahn-Troster zum Thema „Wir sind Zeugen, aber keine Richter“. Den Ausklang dieses Gottesdiensts gestaltete ihre siebenjährige Tochter Liora Pelavin zusammen mit ihrem Großvater Lawrence Troster. Das Totengebet Kaddisch sprach Troster zur Erinnerung an alle schon vorausgegangenen Toten. Er dankte am Schluss dem Auerbacher Verein für sein Engagement zum Erhalt der früheren Synagoge. „Ich kann heute nur meine Dankbarkeit und Freundschaft ausdrücken; auch wenn wir jetzt wieder abreisen, ist das nicht das Ende, sondern sicher der Beginn neuer Kontakte“, stellte er fest. Angelika Köster-Lossack lud anstelle der beim Gottesdienst üblichen Ankündigungen zu einem Kiddusch, einem Imbiss nach dem Gottesdienst, ein. Für einige hieß es dann schon wieder Abschiednehmen, weil sie nach dem Gottesdienst zum Abflug zum Frankfurter Flughafen fahren mussten. Andere wie die Familie von Lawrence Troster und Elaine Kahn reisten erst am Sonntag wieder in ihre Heimat zurück. 29 30