Diplomarbeit Kristina Radix

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Diplomarbeit Kristina Radix
Universität Siegen
Integrierter Studiengang Sozialpädagogik und Sozialarbeit
- Studienrichtung Sozialpädagogik -
Diplomarbeit
von
Kristina Radix
„Die unterschiedlichen Perspektiven auf das Leben eines
Kindes im Heim. Eine Einzelfallstudie.“
(Zeichnung Kind: „Mein Leben“, 17.02.2005)
Universität Siegen
Integrierter Studiengang Sozialpädagogik und Sozialarbeit
- Studienrichtung Sozialpädagogik -
Diplomarbeit
zum Thema:
„Die unterschiedlichen Perspektiven auf das Leben eines
Kindes im Heim. Eine Einzelfallstudie.“
Vorgelegt von:
Kristina Radix
Gartenstr. 16
97072 Würzburg
Matr.-Nr. 596365
Eingereicht am:
03.05.2005
Erstkorrektor:
Prof. Dr. Klaus Wolf
Zweitkorrektor:
Prof. Dr. Norbert Groddeck
Dank
Die vorliegende Arbeit wurde unter der Betreuung von Herrn Prof. Dr. Klaus
Wolf angefertigt.
Besonderer Dank gilt dabei:
Herrn Prof. Dr. Klaus Wolf für sein Interesse an der Themenstellung und seine
Impulse im Verlauf der Entstehung
Herrn Prof. Dr. Norbert Groddeck für die Bereitschaft, das Korreferat zu übernehmen
Dem Jugendamt und dem Kinderdorf für das Bereitstellen des Datenmaterials
Der Mutter, der jeweiligen Mitarbeiterin des Jugendamtes und des Kinderdorfs,
die bereit waren, mich durch ihr Interview in der Ausführung zu unterstützen
Insbesondere danke ich T. für seine Bereitschaft, mich durch seine Interviews
in der Ausführung zu unterstützen. Stellvertretend für alle Kinder und Jugendlichen im Kinderdorf, ohne die die Idee dieser Arbeit nicht entstanden wäre,
möchte ich ihm diese Arbeit widmen
Meiner Familie und meinen Freunden für die Unterstützung in meinem Studium
und während der letzten Monate. In diesem Zusammenhang möchte ich ganz
besonders Joe danken: Für seine Hilfe, seinen Zuspruch und für seine Geduld
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Einleitung...................................................................................................... 1
1.
Theoretische Grundlagen..................................................................... 8
1.1.
Die Entwicklung der Heimerziehung ....................................................................... 8
1.2.
Rechtliche Grundlagen ........................................................................................... 11
1.3.
Das Heim als Sozialisationsinstanz ...................................................................... 15
2.
Zur Auswahl der Methoden ................................................................ 18
2.1.
Die Rekonstruktion sozialer Wirklichkeit anhand der biographischen Methode .
.............................................................................................................................. 18
2.2.
Die biografische Methode: eine Einzelfallstudie.................................................. 22
2.3.
Angewandte Untersuchungsverfahren ................................................................. 24
2.4.
Die Datenerhebung ................................................................................................. 25
2.4.1.
Zur Fallauswahl ................................................................................................ 25
2.4.2.
Zum Leitfaden der Interviews ........................................................................... 26
2.4.3.
Durchführung der Interviews ............................................................................ 27
2.4.3.1. Die Interviewsituationen mit Tim ...................................................................... 27
2.4.3.2. Die Interviewsituation mit Tims Erzieherin ....................................................... 28
2.4.3.3. Die Interviewsituation mit der Mutter ................................................................ 28
2.4.3.4. Die Interviewsituation mit der Mitarbeiterin des Jugendamtes......................... 28
2.4.4.
2.5.
3.
Berichte und Protokolle .................................................................................... 28
Die Auswertung der Daten ..................................................................................... 29
Rahmenbedingungen zu Tims Lebenssituation............................... 32
3.1.
Zur Entstehung und Konzeption der Einrichtung................................................ 32
3.2.
Zur Struktur und Situation in Tims Haus .............................................................. 34
3.3.
Hintergründe zu Tims Familiensituation .............................................................. 36
Inhaltsverzeichnis
4.
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt .............. 38
4.1.
4.1.1.
Die Perspektive des Kindes.............................................................................. 38
4.1.2.
Die Perspektive der Mutter ............................................................................... 44
4.1.3.
Die Perspektive der Erzieherin ......................................................................... 54
4.1.4.
Die Perspektive des Jugendamtes................................................................... 57
4.1.5.
Zusammenfassung ........................................................................................... 63
4.2.
Tims Aufnahme ins Kinderdorf.............................................................................. 65
4.2.1.
Die Perspektive des Kindes.............................................................................. 65
4.2.2.
Die Perspektive der Mutter ............................................................................... 68
4.2.3.
Die Perspektive der Erzieherin ......................................................................... 71
4.2.4.
Die Perspektive des Jugendamts..................................................................... 75
4.2.5.
Zusammenfassung ........................................................................................... 81
4.3.
Tims Leben im Kinderdorf...................................................................................... 82
4.3.1.
Die Perspektive des Kindes.............................................................................. 82
4.3.2.
Die Perspektive der Mutter ............................................................................... 91
4.3.3.
Die Perspektive der Erzieherin ......................................................................... 97
4.3.4.
Die Perspektive des Jugendamts................................................................... 118
4.3.5.
Zusammenfassung ......................................................................................... 128
4.4.
Tims Zukunftspläne und -wünsche ..................................................................... 130
4.4.1.
Die Perspektive des Kindes............................................................................ 130
4.4.2.
Die Perspektive der Mutter ............................................................................. 132
4.4.3.
Die Perspektive der Erzieherin ....................................................................... 133
4.4.4.
Die Perspektive des Jugendamts................................................................... 134
4.4.5.
Zusammenfassung ......................................................................................... 136
4.5.
5.
Tims frühe Kindheit................................................................................................. 38
Resümee ................................................................................................................ 137
Exkurs: eigene Rolle......................................................................... 140
Schlussbetrachtung................................................................................. 142
Literaturverzeichnis ................................................................................. 144
Material ..................................................................................................... 147
Anhang...................................................................................................... 148
Einleitung
1
Einleitung
„Die Welt begegnet uns nicht als das was sie ist,
sondern als das, als was sie uns erscheint“ (Bittner
1996, 33).
„Nur allzuoft vergessen wir Erwachsenen - selbst
dann, wenn wir es gut mit Kindern und Jugendlichen
meinen - daß wir Ihnen gegenüber nicht nur Verantwortung tragen, sondern daß sie uns als Personen
und sich entwickelnde Persönlichkeiten mit eigenen
Rechten und Pflichten gegenüberstehen.
Auch wenn wir als Erwachsene, als Eltern, Erzieher,
Sozialarbeiter über und mit Kinder(n) und Jugendliche(n) reden, dann ist es immer wichtig, sich in die
Perspektive von Kindern und Jugendlichen zu versetzen und sich kritischen zu fragen, ob wir mit unseren Bemühungen auch tatsächlich das Recht von
Kindern und Jugendlichen verwirklichen“ (Wiesner
1996, 189).
Kinder und Jugendliche, die in den verschiedenen Formen der Heimerziehung leben, werden häufig mit einer ganzen Reihe von Erwachsenen in verschiedenen
Funktionen und Positionen konfrontiert, die wichtige Entscheidungen für ihr Leben
treffen: mindestens 2-4 pädagogische Betreuer, ein Mitarbeiter des Jugendamtes
zur fachlichen Begleitung und Überprüfung der Hilfe, die Eltern oder ein Elternteil
bzw. ein Vormund als gesetzlicher Vertreter und gegebenenfalls Psychologen, Therapeuten und/ oder Heilpädagogen (vgl. Wiesner 1996, 189f). Jeder Elternteil, jeder
Erzieher, Sozialpädagoge und Therapeut, der am Leben des Kindes oder Jugendlichen in einer stationären Hilfe zur Erziehung teilnimmt und das Hilfeangebot mitarrangiert, bringt eigene individuelle Erfahrungen mit sich. Auf dem Hintergrund dieser
Erfahrungen entwickelt jeder Einzelne eine eigene Sichtweise auf das Leben des
betroffenen Kindes, die die Reflexion über pädagogische Maßnahmen und Zusammenhänge und damit die Gestaltung der Hilfe für das jeweilige Kind oder den Jugendlichen beeinflussen. Eigene Interessen oder Ableitungen eigener Wahrnehmungen sind also mitwirkende Entscheidungsträger für das Arrangement und für die
Umsetzung einer Hilfe zur Erziehung im Heim. Auf der anderen Seite existiert auch
bei den Kindern eine eigene Sichtweise, basierend auf ihren jeweiligen Lebenserfahrungen.
Die Menschen in den verschiedenen sozialpädagogischen Berufen, die sich mit
Kindern in den komplexen Aufgabenfeldern des Heimalltags beschäftigen, müssen
Einleitung
2
heute ihr pädagogisches Handeln gegenüber der Gesellschaft, den Kindern und
auch vor sich selbst rechtfertigen sowie begründen können (vgl. Jakob & v. Wensierski 1997):
„Kinder dürfen heute umfassender mitreden und von den Erwachsenen Begründungen für ihre Gebote und Verbote einfordern. (…) Die heutigen Erzieherinnen brauchen mehr und bessere Argumente als sie Altvorderen, müssen eher Kompromisse schließen und sich stärker zurückhalten - wollen sie
nicht in den Augen der Kinder, mancher Menschen in ihrem Umfeld und … in
ihren eigenen Augen als rückständig, autoritär, ja geradezu primitiv dastehen“ (Wolf 2004, 3f).
Das pädagogische Handeln bedarf einer Reflexion. Einer Reflexion über pädagogische Tatbestände, anknüpfend an den eigenen Erfahrungen, denn sozialpädagogisches Handeln ist als Prozess zu verstehen, in dem die Akteure in wechselseitiger
Interaktion stehen und Wirklichkeit herstellen: „Wer über Erziehung reflektiert, sollte
den Punkt seiner persönlichen Berührt- und Bewegtheit offen legen“ (Bittner 1996,
19).
Erziehung als Leben und als Praxis soll nach Bittner (1996, 16) „...Kinder und Jugendliche in die Welt, in das Leben in der Welt so einzuführen, daß sie imstande
sind, ihr Leben zu leben...“. „Aufgabe der Erziehung soll es sein, Kinder in die Welt
zu setzen und zugleich die Welt in die Kinder…“ (Bittner 1996, 17). Kinder in die
Welt zu setzen soll demnach heißen, sie nicht nur in die Gesellschaft heranzuführen, sondern in den „hochkomplexen Zusammenhang der Welt“ (vgl. Bittner 1996,
17). Denn die Welt, in die sie hineingeboren werden, ist mehr als Gesellschaft: „Zur
Welt kommen bedeutet für das Kind immer beides zugleich: in die Welt eintreten
und sich als Subjekt konstituieren. Erziehung als Praxis hilft bei der Konstitution des
Subjekts…“ (Bittner 1996, 18). Eine Pädagogik, die die Kinder „zur Welt kommen“
lässt, lässt sich als Pädagogik der Lebensalter beschreiben, in der jede Lebensphase ihre eigenen Entwicklungsaufgaben hat: „…Ihre je eigenen Möglichkeiten und
Notwendigkeiten, mit der Welt und mit sich selber in dieser Welt zurecht zukommen,
und ist dabei auf je unterschiedliche Weise auf die Ermöglichung der notwendigen
Schritte durch die Mitmenschen angewiesen“ (Bittner 1996, ebd.).
Für die Erziehung im Heim bedeutet das, den Kindern entwicklungsfördernde Lebensbedingungen, ausgehend von ihren benötigten Ressourcen zu ermöglichen
und sich stets in ihre individuellen Lagen und Sichtweisen zu versetzen, um ihre
Wahrnehmungen und Bedürfnisse bei den Hilfearrangements ausreichend zu be-
Einleitung
3
rücksichtigen. Nicht das Symptom, sondern die Person in seiner Ganzheitlichkeit
sollte im Mittelpunkt stehen:
„Hier kommt es sehr darauf an, wie das Kind die arrangierten Lebensbedingungen erlebt, wie es das, was die Erwachsenen tun, interpretiert, welche
eigenen Gestaltungsmöglichkeiten es wahrnimmt. (…) Sie [die Kinder; d.
Verf.] tun dies vor dem Hintergrund ihrer Lebenserfahrungen, ihrer selbst
gebastelten und übernommenen Erklärungssysteme und ihrer strategischen
Interessen (z. B. des Selbstschutzes). Die Kinder nehmen ihre Wirklichkeit
so wahr wie sie sie wahrnehmen (und wir die unsere, wie wir sie wahrnehmen). Die Pointe für pädagogische Prozesse liegt darin, dass diese Deutungen, Selbstbilder und Gefühlsmuster des einzelnen Kindes den Erfolg der
Erziehung … mitbestimmen“ (Wolf 2004, 3ff).
In meiner jetzt mehrjährigen Tätigkeit als Jugend- und Heimerzieherin in einem Kinderdorf stelle ich mich und mein pädagogisches Handeln täglich vor die Frage, ob
wir als Erwachsene und Arrangeure der stationären Hilfe zur Erziehung dem Anspruch gerecht werden, auch wirklich das Recht der Kinder und Jugendlichen der
höchsten Leitlinie des KJHG umzusetzen, nämlich das Recht jedes jungen Menschen „...auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (§ 1 KJHG).
Diese Fragestellung begleitet mich seit Jahren durch den Umgang mancher Mitarbeiter mit den ihnen anvertrauten Kindern in den komplexen Aufgabenfeldern des
Kinderdorfalltags. In zahlreichen intensiven Gesprächen nach Auseinandersetzungen mit Erwachsenen schilderten die Kinder mir ihre Perspektive auf die Geschehnisse und Situationen innerhalb der Gruppe. Dabei wurde von Seiten der Kinder
häufig Unverständnis bis hin zu echter Verzweiflung über bestimmte Entscheidungen und Konsequenzen geäußert. Entscheidungen, die auch ich zuweilen nicht
nachvollziehen konnte. Auf Nachfrage bei den Erwachsenen war deren Perspektive
oftmals einseitig: Anlass für die Entscheidung waren die Kinder, d.h. ihr Verhalten
und die daraus resultierenden Erziehungsschwierigkeiten. Jedoch hatte ich in vielen
Fällen nicht das Gefühl, dass die Kinder „schwererziehbar“ sind, sondern dass eher
unflexible Rahmenstrukturen der Einrichtung oder festgefahrene Muster von Erziehungsmaßnahmen der Mitarbeiter für die angebliche Erziehungsschwierigkeit der
Kinder verantwortlich waren. Diese erlaubten keinen Perspektivenwechsel auf die
Wahrnehmung der Kinder, wurden einer Bedürfnisbefriedigung der Kinder nicht gerecht und waren damit maßgeblich selbst für das „erziehungsschwierige Verhalten“
verantwortlich. Auch in Gesprächen mit Erziehern und den Kindern, oder mit Erzie-
Einleitung
4
hern über die Kindern, kam oftmals klar das Fehlverhalten der Kinder zum Ausdruck, das Verständnis - im Sinne von „verstehen“ - für das Handeln der Kinder war
meist gering, eigene Handlungen wurden kaum oder gar nicht hinterfragt. Versuche
meinerseits, das Handeln der Kinder anhand ihrer Perspektive und ihrer zugrunde
liegenden Lebenserfahrungen zu erklären, führten teilweise zu fruchtbaren Lösungen, teilweise aber wurde aus Gründen geringen Einfühlungsvermögens eine Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung des Kindes strikt abgelehnt: Auf der Machtebene wurde Einsicht in eigenes Fehlverhalten häufig als Inkonsequenz gegenüber
den Kindern gedeutet, auf der Beziehungsebene wurde das „Hilfesuchen“ der Kinder bei anderen Menschen als persönliche Enttäuschung empfunden, die empfindliche Sanktionen für die Kinder nach sich zog.
Der Anspruch aber liegt woanders: „Heimerziehung - als gezielte Maßnahme - sollte
den von ihr betroffenen Kindern und Jugendlichen ein Lebensfeld bieten, das attraktiv für sie ist. Ein Lebensfeld, in dem sie von ihren Problemen entlastet, in ihren
Möglichkeiten gefördert und gefordert werden, in dem ihnen neue Perspektiven eröffnet werden“ (Freigang 1986, 196). Neue Perspektiven zu eröffnen bedeutet demnach nicht, die subjektive Wahrnehmung des Kindes aus eigenen Interessen nicht
zu berücksichtigen, aber gleichzeitig eine stabile Beziehung von den Kindern einzufordern. Denn nur auf der Grundlage von Stabilität, Verlässlichkeit, Sicherheit und
Geborgenheit in der Erzieher-Kind-Beziehung lassen sich neue und attraktive Perspektiven vermitteln (vgl. Freigang 1986).
Die Auseinandersetzung mit dieser Thematik ermutigte mich bei der Entscheidung
für mein Studium der Sozialpädagogik. Auch hier war die Auseinandersetzung mit
dieser Frage ein zentraler Gegenstand. Bedingt durch meine Arbeit im Kinderdorf
hatte ich parallel zu der Erweiterung meines theoretischen Wissens immer die Möglichkeit, Beziehung zur konkreten Erziehungswirklichkeit herzustellen. Hierdurch
gewann ich zunehmend an Reflexionsfähigkeit und an Anspruch an mein pädagogisches Handeln: Vor allem die subjektive Perspektive der Kinder als notwendige
Voraussetzung für jede sozialpädagogische Intervention zu sehen.
Zudem hatte ich im Rahmen des Studiums die Möglichkeit, ein Praktikum im Jugendamt im Bereich der Erziehungshilfen zu absolvieren. Hier gewann ich Einblicke
in die dritte Perspektive auf das Leben der Kinder im Heim. Auch hier stellte sich mir
die Frage, ob bei so vielen Einzelfällen, die es fachlich zu betreuen gilt, überhaupt
die Möglichkeit besteht, die Sichtweisen der betroffenen Kinder genügend wahrzunehmen oder ob die Erwachsenen nicht doch aus Zeitmangel oder anderen Grün-
Einleitung
5
den auf die Perspektiven der Einrichtungen zurückgreifen müssen, ohne sie zu verifizieren.
Wenn mir heute von manchen Gesprächen im Rahmen der Hilfeplanung berichtet
wird, bin ich oftmals der Meinung, dass die Wahrnehmung des Kindes nicht genügend beachtet und respektiert wird. Die Kinder sind zwar an der Mitwirkung des Hilfeplans beteiligt, doch nicht viele Kinder besitzen die Fähigkeit und/ oder haben den
Mut, bei einer großen Überzahl der Erwachsenen, wie sie doch häufig in solchen
Gesprächen der Fall ist, sich der Situation zu stellen und ihre Sichtweise zu schildern. Dafür ist ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein und an Sicherheit erforderlich: „Sich sicher in der Situation mit den vielen Erwachsenen zu fühlen“ und „angstfrei seine Meinung zu vertreten“. Eigenschaften, die nur wenige Kinder im Rahmen
der stationären Hilfe zur Erziehung im Heim besitzen. Wenn die Erwachsenen keinen sicheren Rahmen hierfür schaffen, wird das daraus resultierende Schweigen
der Kinder oftmals als Einverständnis fehlinterpretiert und missverstanden.
„Wie einer zur Welt gekommen ist und immer noch kommt, wie er von seinen
Erziehern zur Welt gebracht oder am Zur-Welt-Kommen gehindert worden ist –
das erfahren wir am besten von ihm, dem betroffenen Subjekt selbst. Darum
ist eine Pädagogik, die Erziehung als ‚zur Welt bringen' bestimmt, stets bezogen auf die autobiografische Perspektive“ (Bittner 1996, 18).
Wie stellt sich nun die von den Erwachsenen arrangierte Hilfe aus der Perspektive
eines konkreten Einzelfalles dar; wie sieht das Leben in einem Heim als Lebensgeschehen aus der Sicht eines betroffenen Kindes aus? Wie nehmen die beteiligten
Erwachsenen das Leben dieses Kindes wahr? Wo gibt es bei ihren je eigenen
Sichtweisen Übereinstimmungen und wo entstehen Spannungsfelder?
Aus diesen Fragen erwuchs für mich die Idee, in meiner Diplomarbeit das Leben eines Kindes im Heim aus verschiedenen Perspektiven genauer zu untersuchen: Die
subjektiv wahrgenommenen Sichtweisen möglichst vieler beteiligter Menschen so
für sich zu untersuchen, dass festgestellt werden kann, wie unterschiedlich eine
konkrete Lebensgeschichte eines Kindes im Heim wahrgenommen wird. Mein Anliegen ist es herauszufinden, inwieweit die Wahrnehmung, die individuellen Bedürfnisse und benötigten Ressourcen des Kindes für eine gelingende Sozialisation im
Lebensfeld Heim beim Hilfearrangement der damit betrauten Personen und Einrichtungen berücksichtigt wird. Welche spezifischen Sinnstrukturen und Orientierungsmuster sich durch welche subjektiven Einflussfaktoren gebildet haben, welche Gegebenheiten und Situationen sie dabei jeweils für eine Hilfe und Unterstützung für
Einleitung
6
sich selbst oder für das Kind als wichtig und sinnvoll erachten und mit welchen
Handlungsstrukturen sie diese im Alltag umsetzen.
Diese qualitative Einzelfallstudie beschäftigt sich mit der Biografie eines 13-jährigen
Jungen, der seit 3 ½ Jahren im Kinderdorf lebt, und lässt alle beteiligten Menschen
selbst zu Wort kommen, im Besonderen aber denjenigen, um den es in einer Hilfe
zu Erziehung geht: den betroffenen Jungen. Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang, die Perspektive des Kindes in den Mittelpunkt zu stellen und die Perspektiven
der Erwachsenen kontrastierend mit der Wahrnehmung des Kindes zu vergleichen.
Es geht aber nicht darum, die einzelnen Sichtweisen zu beurteilen. Jede Perspektive ist prinzipiell richtig und stellt erlebte Wirklichkeit dar.
Gegenstand des ersten Kapitels sind theoretische Grundlagen zur Heimerziehung:
Hier werde ich die Entwicklung der Heimerziehung und die Notwendigkeit ihrer Ausdifferenzierung skizzieren. Gleichzeitig unterliegt die Unterbringung eines Kindes im
Heim heute bestimmten rechtlichen Grundlagen, die im Rahmen des Kinder- und
Jugendhilfegesetz (SGB VIII) gesetzlich verankert sind und die dem Kindeswohl
dienen, die ich aufzuzeigen versuche. Ein weiterer Gesichtspunkt, der in diesem
Kapitel Beachtung finden soll, sind bestimmte Kriterien, die ein Heim als primäre
Sozialisationsinstanz zumindest für kurze Zeit oder auf Dauer erfüllen muss, um eine gelingende Sozialisation des Kindes zu erreichen.
Im zweiten Kapitel stellt sich die Frage nach geeigneten Forschungsansätzen und
-methoden, die den subjektiven Sichtweisen, der erlebten Wirklichkeit der beteiligten
Menschen auf den untersuchten Einzelfall gerecht werden. Zudem skizziere hier ich
den Verlauf meiner Untersuchung, d.h. die Erhebungs- und Auswertungsphase meiner Daten.
Das dritte Kapitel dient der Orientierung des Lesers und gibt einen kurzen Überblick
auf die Rahmenbedingungen der vergangenen und derzeitigen Lebenssituation des
Kindes. Dabei werde ich versuchen, die Strukturen der Einrichtung und der Gruppe,
sowie Familienhintergründe aufzuzeigen.
Das vierte Kapitel stellt sich die Frage nach der Unterschiedlichkeit der Perspektiven
auf das Leben eines Kindes im Heim. Hier sollen das Kind und die beteiligten Erwachsenen selber zu Wort kommen und die erlebte Wirklichkeit auf das Leben aus
ihrer je eigenen Sicht heraus beleuchten. Diese einzelnen Sichtweisen werden nebeneinander dargestellt und miteinander verglichen. Der Fokus soll hierbei auf der
Perspektive des Kindes liegen.
Einleitung
7
Das fünfte Kapitel erläutert die Frage nach Vor- und Nachteilen meiner eigenen
Doppelrolle während des Forschungsprozesses, einerseits als Forscherin und andererseits als Erzieherin der Gruppe.
Der Schwerpunkt der Schlussbetrachtung liegt auf der Frage nach dem Verhältnis
der einzelnen Sichtweisen zueinander im Hinblick auf eine erfolgreiche Hilfe für das
Kind.
Beginnen werde ich im folgenden Kapitel mit den theoretischen Grundlagen der Hilfe zur Erziehung im Heim.
Theoretische Grundlagen
8
1. Theoretische Grundlagen
1.1.
Die Entwicklung der Heimerziehung
Die Entwicklung der Heimerziehung reicht weit von den Anfängen der Fürsorgeerziehung in Arbeits-, Armen- und Zuchthäusern Ende des 17. Jahrhunderts über die
Waisenhäuser im Stile der Anstaltserziehung des 18. und 19. Jahrhundert sowie der
Kinderdorf-Bewegung mit dem Familienprinzip nach dem 2. Weltkriegs bis zur sog.
„Heimkampagne“ Ende der 60er Jahre hinein (vgl. Almstedt & Munkwitz 1982, 13ff).
Öffentliche Erziehungshilfen und ihre Ideen und Konzepte haben sich in Deutschland aufgrund gesellschaftspolitischer und sozialökonomischer Prozesse in den letzten 300 Jahren stets verändert und unterliegen noch immer stetem konzeptionellem
Wandel.
„Die grundlegenden Konzepte der Fremderziehung wurden nicht immer wieder
neu erfunden, eher im Gegenteil: Die Geschichte der Fremderziehung lässt
sich vereinfacht beschreiben als immer wieder neue Variationen zweier grundlegender Lösungsansätze für das Problem, das Aufwachsen und die Erziehung von Kindern und Jugendlichen außerhalb ihrer Herkunftsfamilie zu organisieren“ (Freigang & Wolf 2001,12f).
Einer dieser Ansätze war das Pflegekinderwesen, bei dem die schon bestehende
Primärgruppe „Familie“ genutzt wurde. Im zweiten Ansatz sollten Lebensorte wie
Heim, Institution oder Anstalt die Primärgruppe ersetzen. Ein neuer Impuls kam
nach 1989 durch die Heimerziehung in der ehemaligen DDR hinzu, die von einem
Konzept der Kollektiverziehung geprägt war. Dies in der Ausführlichkeit zu skizzieren, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Da ich im Folgenden nur auf die
Entwicklung des Heimerziehungsarrangements der „Gruppen in einem Zentralheim“
eingehen möchte, sei an dieser Stelle auf die Werke „Heimkinder“ von Mehringer
(1994) und „Ortsbestimmung der Heimerziehung“ von Almstedt & Munkwitz (1982)
sowie das Werk „Jugendhilfe als DDR-Nachlaß“ von Mannschatz (1994) hingewiesen, die sehr anschaulich und ausführlich den historischen Kontext und die pädagogische Entwicklung der Heimerziehung darstellen.
Zusammenfassend lässt sich folgendes feststellen:
„Die Geschichte der Heimerziehung ist durch sehr viel Leid, Missachtung,
durch das Fehlen elementarster Grundbedürfnisse … gekennzeichnet. Unzulängliche Rahmenbedingungen und das Fehlen oder Außerachtlassen päda-
Theoretische Grundlagen
9
gogisch begründeter Vorgehensweisen innerhalb der Praxis haben … zu ihrer
Abseitsstellung und zu ihrem Negativimage verholfen“ (Günder 1995, 15).
Die Entwicklung der Heimerziehung in den 70er Jahren ging aus der von linken Studentengruppen initiierten Skandalisierung der Heimerziehung Ende der 60er Jahre
hervor, die zu einer öffentlichen Kritik der Anstaltserziehung mit Aufbewahrungscharakter führte. „Sowohl die Skandalberichte über die Heimerziehung als auch die
Auswirkungen der antiautoritären Erziehungsbewegung leiteten Reformbewegungen
für die Heimerziehung ein“ (Günder 1995, 10). Gefordert wurden u.a. antiautoritäre
Erziehungsmethoden, kleinere Gruppengrößen, der Verzicht auf Stigmatisierungskennzeichen, tarifgerechte Entlohnung und Weiter- und Fortbildungsmöglichkeiten
für die pädagogischen Fachkräfte (vgl. Günder 1995, ebd.). Dies bewirkte weit reichende Veränderungen und eine Ausdifferenzierung der Heimerziehung in den 70er
und 80er Jahren. Die meisten Einrichtungen wurden entweder ganz oder teilweise
dezentralisiert und verließen das „Heimgelände“ (vgl. Freigang & Wolf 2001, 60).
Auch das Pflegekinderwesen wurde massiv ausgebaut. Vor allem jüngere Kinder
wurden aus pädagogischen Gründen in einer Pflegefamilie untergebracht und nur
noch selten in Heimen. Diese Maßnahme hat
„…aus der Sicht der Heimerziehung zu einer gewaltigen Erschwerung der täglichen Praxis geführt; denn den Heimen verblieb der schwierige ‚Rest’, der
nicht in Pflegestellen vermittelt werden konnte, der zu alt, zu spät und mit zu
massiv auftretenden Problemen aufgenommen wurde“ (Günder 1995, 11).
Der Rückgang an Heimunterbringungen führte zu einer schnelleren Umsetzung der
Reformen innerhalb der Einrichtungen. Da die Nachfrage ausblieb, „…mußten einzelne Gruppen und teilweise auch ganze Institutionen geschlossen werden, der zunehmende Konkurrenzdruck innerhalb des Arbeitsfeldes Heimerziehung bewirkte,
daß in erster Linie qualitativ gut ausgerichtete pädagogische Institutionen bestehen
konnten“ (Günder 1995, 14).
Die Qualifizierung und Professionalisierung der pädagogischen Mitarbeiter bedeutete gleichzeitig eine erhebliche Kostensteigerung für eine Heimunterbringung (vgl.
Günder 1995, 10ff). Verstärkt wurden deshalb vorbeugende und ambulante Maßnahmen in der Familie, die eine Heimunterbringung umgehen sollten, wie z. B. Erziehungsbeistandschaften, Intensive Sozialpädagogische Einzelbetreuungen und
die sozialpädagogische Familienhilfe.
Heute bewegen sich das Pflegekinderwesen und die Heimerziehung durch individuelle Lebens- und Lernfelder als Alternative zu den traditionellen Heimgruppen auf-
Theoretische Grundlagen
10
einander zu. Die Einrichtungen veränderten sich zu einer ganzen Vielfalt von Konzepten und Arrangements der Heimerziehung, mit jeweils eigenen institutionellen
Rahmenbedingungen und einem spezifischen pädagogischen Angebot, wie z. B.
Lebensgemeinschaften, Außenwohngruppen, Betreutes Wohnen, milieunahe Heimerziehung oder die Gruppen im einem Zentralheim. In diesem Zusammenhang wird
in der Fachliteratur betont, dass der Begriff „der“ Heimerziehung diesen Differenzierungen nicht mehr gerecht wird (vgl. Freigang & Wolf 2001; Hamberger 1998). Hamberger (1998, 200) spricht hier von Begriffen wie „stationären Erziehungshilfen“ und
„verschiedene Formen der institutionalisierten Fremdplatzierung“.
Aufgrund der Thematik dieser Arbeit, in der das Leben eines Kindes im Heim im Mittelpunkt meines Interesses steht, möchte ich im Folgenden näher auf das Heimerziehungsarrangement der Gruppen in einem Zentralheim eingehen:
Freigang und Wolf (2001, 60) stellen fest, dass trotz der Dezentralisierung der Einrichtungen im Zuge der Heimreform „…eine beträchtliche Anzahl größerer Heime …
mit 30 bis zu über 100 Plätzen“ bis heute bestehen blieb. Ein großer Teil der im
Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe im Heim untergebrachten Kinder, Jugendlichen und Heranwachsende lebt auch heute noch in diesen Gruppen. Sie befinden
sich zwar meist in verschiedenen Häusern, aber doch auf einem zentralen Gelände
der Einrichtung und räumlich abgegrenzt von der „Außenwelt“ (vgl. Freigang & Wolf
2001, 60f). Größere Einrichtungen tragen heute Namen wie Kinder- und Jugenddorf
oder Jugendhilfe. Allerdings sind die Gruppen kleiner geworden: In jeder Gruppe leben meist zwischen 8 und 10 Kinder und Jugendliche, die von 3- 5 Mitarbeiterinnen
betreut werden. Jede Gruppe ist in der Gestaltung des täglichen Lebens meist eine
eigene selbständige Einheit. Die Kinder und Jugendlichen gehen in öffentliche
Schulen oder Ausbildungsstätten. Das Anliegen dieser Einrichtungen ist es, „…im
Rahmen einer zentralen Institution den Kindern und Jugendlichen ein besserer Ersatz zu sein für ihre nicht (mehr) zur Verfügung stehenden Familien und … Kindern
und Jugendlichen mit lebensgeschichtlichen Belastungen Hilfestellung zu geben zur
Bewältigung der mitgebrachten Probleme“ (Freigang & Wolf 2001, ebd.).
Theoretische Grundlagen
1.2.
11
Rechtliche Grundlagen
Seit dem Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) am 01.01.1991
ist das alte Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) abgelöst. Die höchste Richtlinie des
Kinder- und Jugendhilfegesetzes besagt: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf
Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen
und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (§ 1 KJHG). Hier ist klar das Ziel und der
Zweck der Jugendhilfe definiert: Die Erwachsenen werden verpflichtet, in erster Linie die Entwicklung und Erziehung des jungen Menschen zu fördern; es handelt sich
dabei um ein Recht jedes Kindes und jedes Jugendlichen (vgl. Wiesner 1996, 189).
Die Entwicklung und Erziehung der jungen Menschen zu verwirklichen, ist zuallererst das Recht und die Pflicht der Eltern (vgl. § 1.1 KJHG). Die Jugendhilfe erfüllt
hierbei eine doppelte Funktion: Zum einen überwacht sie die Eltern bei ihrem Erziehungsauftrag als Kontrollinstanz (vgl. § 1.2 KJHG) und zum anderen unterstützt und
berät sie die Eltern in der Erziehung ihrer Kinder so, dass das in § 1 KJHG genannte
Recht der jungen Menschen gewährleistet ist. Alle Angebote zur Unterstützung und
Hilfe der Eltern dienen ausschließlich dem Kindeswohl: „Angebote an sorgeberechtigte Eltern dienen über die Stärkung und Verbesserung der Eltern und die Verbesserung der familiären Lebenslage der Förderung und Erziehung der Minderjährigen“
(Seithe 2001, 30).
Das „Kindeswohl“ ist ein Begriff, der rechtlich nicht klar bestimmt werden kann: Er
orientiert sich an entwicklungspsychologischen Erkenntnissen und an Normen und
Werten der Gesellschaft, aber immer auch an der individuellen Situation des betroffenen Kindes oder Jugendlichen. „Es gibt keine Tabelle zum Nachschlagen, ob das
Kindeswohl in einem konkreten Fall gefährdet, gegeben oder auch nicht gewährleistet ist. Vielmehr bedarf es der Kenntnis und der angemessenen Anwendung sozialwissenschaftlicher, psychologischer und sozialpädagogischer Erkenntnisse…“
(Seithe 2001, 82).
Die Erkenntnisse zur Bestimmung des Kindeswohls beschreiben bestimmte Sozialisationsbedingungen, die einer positiven Entwicklung eines jungen Menschen
zugrunde liegen. Daher müssen Erziehung und Sozialisation der Umwelt dem Kindeswohl angemessen sein, um die Entwicklung des Kindes fördern. Welche Bedingungen der Umwelt sich im Einzelnen positiv auf die Sozialisation und damit auch
auf die Entwicklung des Kindes auswirkt, werde ich in Kapitel 1.3. noch genauer
skizzieren.
Theoretische Grundlagen
12
Wenn sich nun das Umfeld des Kindes ungünstig auf seine Entwicklung auswirkt
und
„...die Sozialisationssituation eines Minderjährigen gefährdenden Charakter
annimmt, wir es also mit einer ‚Kindeswohlgefährdung’ zu tun haben, besteht
für die Jugendhilfe und vor allem für die Familiengerichte die Möglichkeit, in Elternrechte einzugreifen. Jugendhilfe hat allerdings auch in diesem Fall in erster
Linie die Aufgabe, Hilfe zur Erziehung zu vermitteln und durchzuführen“
(Seithe 2001, 79).
Die Hilfe zur Erziehung ist in § 27 KJHG verankert und gehört zu den Leistungsangeboten der Jugendhilfe, sofern nicht das Familiengericht einem oder beiden Elternteilen das Sorgerecht entzieht. Alle Leistungen sind Angebote, keine Anordnungen,
d.h. sie „…stellen den sozialpädagogischen Kern des KJHG im Sinne sozialer, pädagogischer Dienstleistungen dar“ (Seithe 2001, 33). Voraussetzung für die Gewährung der Hilfe ist, dass die „…dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist“ (§ 27.1 KJHG). Hierbei sollte es sich um gezielte Hilfemaßnahmen handeln, die sich an dem Hilfebedarf des konkreten Einzelfalles und an
seiner Lebenswelt orientieren, nicht umgekehrt. Ausgehend von unzureichenden
Sozialisationsbedingungen für die Entwicklung eines Kindes oder Jugendlichen ist
es das Ziel, durch eine Hilfe zur Erziehung „…einen Zustand zu erreichen, der die
Gewährleistung des Kindeswohls sichern hilft“ (Seithe 2001, 35).
Die Hilfe zur Erziehung ist eine freiwillige Leistung, d.h. sie wird von den Betroffenen
freiwillig angenommen. Allerdings ist diese Freiwilligkeit „…faktisch und psychologisch…“ (Seithe 2002, 36) eingeschränkt, da sie nur gewährt wird, wenn 1. die in §
27 KJHG genannten Bedingungen erfüllt sind und 2. die Sorgeberechtigten die Hilfe
beantragt haben.
Denn der Rechtsanspruch auf eine Hilfe zur Erziehung liegt bei den sorgeberechtigten Eltern, nicht mehr wie im JWG bei den Kindern. Seithe (2001, 29) gibt hier zu
bedenken, dass zum einen die Familienbelastung des KJHG kritisiert wird und zum
anderen, dass sich aber gerade „…der Bedarf für Hilfe zur Erziehung aus den unzureichenden Sozialisationsbedingungen der Kinder und Jugendlichen ergibt“. Nach
meiner eigenen Erfahrung aus der Praxis ist diese Diskussion nicht unbegründet, da
sich hieraus ein massives Problem für die Kinder und Jugendlichen ergeben kann,
Theoretische Grundlagen
13
wenn:
- Jugendämter in der derzeitigen wirtschaftlichen Lage die Pflicht der Eltern zur
Erziehung, die wie eben ausgeführt in § 1.1. KJHG gesetzlich verankert ist, stark
betonen, die Eltern jedoch aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage sind,
der Erziehungspflicht in dem vom Jugendamt geforderten Maße zu entsprechen;
oder
- Eltern aus individuellen Gründen eine andere Wahrnehmung auf die Probleme
der Kinder und Jugendlichen oder auf die Familiensituation als diese selbst haben. So stellt auch Seithe (2001, 36) fest, dass
„Vernachlässigung und verzerrte Problemlagen ... Eltern nicht selten daran
[hindern], Hilfe für sich und ihre Kinder einzufordern. (...) Es erfordert aktive
Mitarbeit und nicht selten auch die Bereitschaft, eigene Verhaltensweisen zu
überdenken, ggf. auch eigene Positionen aufzugeben und Verhaltensweisen
und unangenehmen Wahrheiten ins Gesicht zu sehen“.
Im Klartext heißt das, dass das Angebot zur Hilfe zur Erziehung erst dann wirksam
werden kann, wenn die Betroffenen das Angebot auch annehmen. Meines Erachtens ist dies ein sehr hoher Anspruch an viele Eltern, die ihren Kindern und Jugendlichen nur unzureichende Sozialisationsbedingungen bieten können. So kann es
sein, dass Verantwortlichkeiten über einen längeren Zeitraum gegenseitig zugeschoben werden, weil keine konkrete Kindeswohlgefährdung, aber eine Nichtgewährleistung einer dem Kindeswohl entsprechenden Erziehung vorliegt. Zeit, die die
Kinder oder Jugendlichen in einer für sie unerträglichen und belastenden Situation
verbringen müssen. Da sie selber keinen Rechtsanspruch auf eine Hilfe zur Erziehung haben, bleiben die Kinder oder Jugendlichen so lange zurück, bis die Familiensituation eskaliert und das Jugendamt zum Schutze der Kinder und Jugendlichen
zum Handeln gezwungen wird, z.B. durch eine „Herausnahme des Kindes oder Jugendlichen ohne Zustimmung des Personenberechtigten“ (§ 43 KJHG). Ob das dem
Anspruch des Kindeswohls gerecht wird, ist hier meines Erachtens fraglich (vgl.
auch Seithe 2001, 132ff; 281). Genauso wird eine Einschränkung der Freiwilligkeit
sichtbar, wenn die Klienten einer Hilfe eigentlich nicht zustimmen wollen, aber es
aus Schutz vor weiteren Konsequenzen doch tun. Sensibilität in der Motivierung und
Beratung der Eltern ist daher ein überaus wichtiger Aspekt: „Meistens ist die Aktivierung der Klienten und eine Motivierung, die sie dazu bewegt, Hilfe wirklich für sich
zu nutzen, sie zu wollen und aktiv mitzugestalten, schon eines der am schwierigsten
zu erreichenden, aber auch eines der wichtigsten Ziele von Hilfe zur Erziehung“
(Seithe 2001, 243).
Theoretische Grundlagen
14
Wenn das Angebot der Hilfe zur Erziehung von den Personensorgeberechtigten angenommen wird, gibt es verschiedene Möglichkeiten der Hilfe: Die einzelnen Angebote stehen für bestimmte pädagogische Rahmenbedingungen. Hierbei haben die
Betroffenen zwar ein „Wunsch- und Wahlrecht“ (§ 5 KJHG), das sich aber nicht auf
die Auswahl der Hilfe bezieht, sondern nur auf die Ausgestaltung der Hilfe (vgl.
Seithe 2001, 36). Basis für die Ausgestaltung der Hilfe ist der „Hilfeplan“ in § 36
KJHG, der gemeinsam mit den Sorgeberechtigten und dem Kind oder dem Jugendlichen und ggf. anderen Personen, die bei der Durchführung beteiligt sind, erstellt
wird, und der „…Feststellungen über den Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfe
sowie die notwendigen Leistungen enthält...“ (§ 36.2 KJHG). Gleichzeitig dient der
Hilfeplan zur regelmäßigen Überprüfung auf Eignung und Notwendigkeit der gewählten Hilfeart (vgl. § 36.2 KJHG).
Wenn nun eine Hilfe zur Erziehung außerhalb der Familie vorübergehend oder auf
längere Zeit für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen notwendig wird, stellt
eine stationäre Unterbringung nach § 34 KJHG „Heimerziehung, sonstige betreute
Wohnform“ für die Kinder und Jugendlichen ein neues Lebensfeld dar. Die Formulierung des Paragrafen § 34 KJHG „trägt … dem Tatbestand Rechnung, daß Heimerziehung heute in sehr differenzierten Institutionen stattfindet“ (Günder 1995, 21).
Dort sollen „...Kinder und Jugendliche durch eine Verbindung von Alltagserleben mit
pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung...“(§ 34 KJHG)
gefördert werden. Das Ziel dieser Hilfe ist zwar auf unterschiedliche Dauer angelegt,
aber nicht auf eine bestimmte Zeit beschränkt. Es wird entweder eine Rückführung
in die Familie, die Vorbereitung auf eine Erziehung in einer Pflegefamilie oder die
Förderung und Begleitung der Verselbständigung des Jugendlichen angestrebt (vgl.
§ 34 KJHG).
Ein Drittel der Kinder und Jugendlichen, die 1993/94 in der stationären Erziehungshilfe untergebracht waren, nahmen im Vorfeld schon ambulante Hilfen in Anspruch
(vgl. Hamberger 1998, 213). Untergebracht in den verschiedenen Formen der
Heimerziehung wurden im gleichen Jahr Kinder und Jugendliche aufgrund verschiedener Gründe und Problemlagen: Besonders belasteten hier schwierige sozioökonomische Verhältnisse, wie ein geringes Einkommen der Eltern, problematische
Wohnverhältnisse, Arbeitslosigkeit oder Verschuldung das System der Familie und
trugen zu Gewalterfahrungen, zu Suchtproblematiken eines Elternteils und zu erheblichen Schwierigkeiten in der Eltern-Kind-Beziehung bei.
Theoretische Grundlagen
15
Weniger stark erwiesen sich Gründe wie Verhaltensauffälligkeiten, Entwicklungsverzögerungen oder Erziehungsschwierigkeiten der Kinder oder Jugendlichen:
„Am deutlichsten zeigen sich aber im Vergleich zu den anderen Hilfeformen
die Belastungen in den Beziehungen zwischen Eltern und Kind und die verfahrenen und teilweise chaotischen Beziehungsverhältnisse in der gesamten Familie als Hintergründe für die Notwendigkeit einer stationären Erziehungshilfe.
(…) Im Hinblick auf diese Begründungsmuster scheint sich in den letzten Jahrzehnten die Profession stärker den komplexen Schwierigkeiten im Lebensfeld
zuzuwenden und weniger eine Hilfebegründung an den Verhaltensauffälligkeiten … der jungen Menschen aufzuhängen“ (Hamberger 1998, 211f).
Jeder einzelne dieser jungen Menschen bringt seine individuelle Lebensgeschichte
aus den schwierigen Familienbeziehungen mit. Die Erfahrungen der Kinder reichen
von Vernachlässigung, Kindesmisshandlung, bis hin zu traumatischen Lebensereignissen, die teilweise von erheblichen Erziehungs- und Entwicklungsdefiziten begleitet werden.
1.3.
Das Heim als Sozialisationsinstanz
Die Heimgruppen eines Zentralheims haben nach § 34 KJHG die Aufgabe, die Herkunftsfamilie dauerhaft oder für bestimmte Zeit zu ersetzen. Sie stellen ein soziales
Lernfeld dar, innerhalb dessen sich der primäre Sozialisationsprozess eines Kindes
vollzieht oder Teilbereiche nachgeholt werden (vgl. Freigang & Wolf 2001, 61).
Unter der Sozialisation versteht man nach Schaub & Zenke (2004, 519) einen
„Prozess, in dessen lebenslangem Verlauf ein Individuum über die kulturspezifischen Regulationen seiner Bedürfnisbefriedigung, den alltäglichen Umgang
mit Familienangehörigen und anderen Bezugspersonen, über Lernprozesse im
System gesellschaftlicher Instanzen … die wesentlichen Verständigungsmittel
und ein daran orientiertes Repertoire von Einstellungen und Verhaltensmustern erwirbt“.
Die Sozialisation ist also ein gesellschaftlich vermittelter Lernprozess eines jeden
Menschen, in dem er sich mit den Angeboten und Einflüssen seiner Umwelt auseinandersetzt und die darin gemachten Erfahrungen, Rollenerwartungen und vermittelten Werte verinnerlicht. Die Umwelt wirkt sich also auch auf die Entwicklungs- und
Reifeprozesse des Kindes aus (vgl. Seithe 2001, 83f).
Theoretische Grundlagen
16
Im Normalfall ist der Ort der primären Sozialisation die Familie. Durch die Interaktion
mit den Eltern wird dem Kind die eigene Handlungsfähigkeit im Rahmen seiner sozialen Umwelt vermittelt, wie z.B. das Erlernen von herkömmlichen Rollen und der
Erwerb von Alltagswissen. „Die Beziehungen in der Primärgruppe sind nicht sachlich, sondern intim und emotional. (…) Deshalb haben sie auch eine ausgesprochene soziale Stützfunktion für das Individuum“ (Abels 2001, 273).
Wesentliche Merkmale der Primärgruppe kennzeichnen Wolf und Freigang (2001,
61f) so: Die Primärgruppe muss überschaubar klein und stabil sein; sie muss die
Möglichkeit bieten, dass die Partner intime Beziehungen eingehen können, und die
Chance lassen, die Entwicklung der Partner über längere Zeit zu verfolgen, sowie
Verlässlichkeit und Rückendeckung nach außen bieten; das Kind muss angenommen, anerkannt und bestätigt werden, um ein positives Selbstbild ausbilden zu können (vgl. Freigang & Wolf 2001, 62). Das Kind braucht Verlässlichkeit, d.h. Erfahrungen müssen in einer vergleichbaren Situation wiederholbar sein. Darauf muss
sich das Kind verlassen können. Denn „Lernen im Sinne von Erwerb von gesichertem Wissen über Dinge und soziale Zusammenhänge setzt Stabilität und Kontinuität
des Lernfeldes voraus...“ (Freigang & Wolf 2001, ebd.). Damit müssen auch die Bezugspersonen und deren Handlungen innerhalb des Lernfeldes stabil und kontinuierlich sein. Zudem muss ein Lernfeld den Kindern attraktive Ressourcen und
Schutz vor Über- und Unterforderung bieten, um die Lernmotivation zu erhalten (vgl.
Freigang & Wolf 2001, ebd.).
Nach den Erkenntnissen aus der Deprivationsforschung von Rutter (1991) hängt eine positive Entwicklung und damit eine erfolgreiche primäre Sozialisation der Kinder, die vorübergehend oder auf Dauer getrennt von ihren bisherigen Bezugspersonen leben, entscheidend von der Qualität des Ersatzumfelds ab: „Kinder, die eine
Hauptbezugsperson verlieren, können sich demnach sowohl im kognitiven als auch
im sozial-emotionalen Bereich weitgehend normal (im Sinne von alterangemessen)
entwickeln, wenn die Qualität der Ersatzpflege gut ist“ (Paar, v. Hagen, Kriebel &
Wörz 1999, 309). Können Grundbedürfnisse wie liebevolle Zuwendung und Sicherheit des Kindes nicht befriedigt werden, wird die Entwicklung eines Kindes überhaupt verzögert und damit auch kleinste Ziele der Sozialisation nicht erreicht. (vgl.
Freigang 1986, 17). Kognitive und emotionale Deprivation, insbesondere auf lange
Sicht, führen zu erheblichen Entwicklungsrückständen und schweren emotionalen
Störungen. „Wächst ein Kind ohne liebevolle Zuwendung und Sicherheit in einer
Beziehung auf, so kann es … nicht nur krank werden durch diesen Mangel, es hat
Theoretische Grundlagen
17
selbst nicht die Möglichkeit, Liebesfähigkeit zu erwerben, denn lieben zu können
setzt die Erfahrung des Geliebt-Werdens voraus“ (Freigang & Wolf 2001, 61f).
Hieraus ergibt sich nicht nur, dass das Lebensfeld Heim als primäre Sozialisationsinstanz die notwendigen Eigenschaften der Familie aufweisen muss, um eine erfolgreiche Sozialisation zu gewährleisten, sondern dass diese Bedingungen für die
Heimerziehung ganz besonders gelten, da sie es oft mit Kindern und Jugendlichen
zu tun hat,
„…die weder Verlässlichkeit, Stabilität und Kontinuität, noch Geborgenheit,
Liebe und Anerkennung erfahren haben. Ihr auffälliges Verhalten, ihr häufig
geringes Selbstbewusstsein und negatives Weltbild spiegelt diese Defizite wider. Sie müssen nicht nur Rollenerwartungen lernen und Wissen erwerben, sie
müssen gleichzeitig alte Klassifikationen verlernen“ (Freigang 1986, 23).
Die hiermit festgelegten Anforderungen für das Sozialisationsfeld Heim sind allerdings schwer zu erreichen. Freigang und Wolf (2001, 62ff) beschreiben die Gruppen
in einem Heim als „...ein von Instabilität bedrohtes Lernfeld...“, da sich durch die institutionellen Strukturen, u.a. durch Wechsel der Mitarbeiter und Kinder, Arbeit im
Schichtdienst und der Schaffung einer Zwangsgemeinschaft auf Zeit erschwerte
Sozialisationsbedingungen für die Kinder und Jugendlichen ergeben. Hierbei gilt:
„In jedem Fall hängt die Wirksamkeit des Heimes als Sozialisationsinstanz, die eine
positive Entwicklung fördert, stark von der Qualität der Beziehungen und Reflexion
der Arbeit ab“ (Freigang & Wolf 2001, 88).
Im nächsten Kapitel gehe ich nun der Frage nach geeigneten Forschungsmethoden
nach, um die jeweils erlebte Wirklichkeit der einzelnen Perspektiven auf das Leben
eines Kindes im Heim zu untersuchen. Zudem skizziere ich hier den Verlauf meiner
Untersuchung, d.h. die Erhebungs- und Auswertungsphase meiner Daten.
Zur Auswahl der Methoden
18
2. Zur Auswahl der Methoden
2.1.
Die Rekonstruktion sozialer Wirklichkeit anhand der biographischen
Methode
Im Zentrum meines Interesses steht das Aufspüren der einzelnen erlebten Wirklichkeiten der beteiligten Menschen. Meine Untersuchung rückt die einzelnen subjektiven Sichtweisen auf das Leben eines Kindes im Heim in den Mittelpunkt. Die Handlungsmuster eines Menschen zu verstehen, geschieht in der Interpretation bzw. der
Rekonstruktion seiner sozialen Wirklichkeit: „Im Zentrum einer rekonstruktiven Perspektive steht also das Verständnis der sozialen Wirklichkeit als Prozess von subjektiven und sozialen Sinnkonstruktionen in der alltäglichen Lebenswelt“ (v. Wensierski & Jakob 1997, 10).
Um die erlebte Wirklichkeit meiner Informanten auf das Leben eines Kindes im Heim
zu verstehen und zu interpretieren, erfordert meine Untersuchung die Bezogenheit
auf das Kind und die Nähe zu seinem natürlichen und alltäglichen Leben. Darum
geht es in der qualitativen Sozialforschung, nämlich „…möglichst nahe an der natürlichen, alltäglichen Lebenssituation anzuknüpfen“ (Mayring 1999, 12). Parallel fordert sie eine stärkere Orientierung auf das Individuum: „Die von der Forschungsfrage betroffenen Subjekte müssen Ausgangspunkt und Ziel der Untersuchung sein“
(Mayring 1999, 11).
Empirisch-qualitative Forschungsansätze, die sich mit der Rekonstruktion sozialer
Wirklichkeit befassen, analysieren das subjektive Erleben der Betroffenen und machen entstandene Sinnstrukturen und Handlungsmuster der Individuen sichtbar.
Wer sich für diese Motive interessiert, muss sich mit einer individuellen Lebensgeschichte, mit der Biographie eines Individuums auseinandersetzen (vgl. Baake &
Schulze 1993, 6ff): Eine Biographie bezieht sich auf die Geschichte eines einzelnen
Individuums, die in einem Text von anderen verfasst erzählt oder beschrieben wird,
in einer Autobiographie verfasst das Individuum, dessen Leben beschrieben wird,
den Text selbst. Somit wende ich mich in meiner Untersuchung zugleich einer Autobiografie und einer Biographie zu, und zwar der Autobiografie des Kindes, in der das
Kind seine individuellen Erfahrungen selbst erzählt und der Biographie des Kindes,
erzählt und dargestellt aus der Sicht von unmittelbar Beteiligten.
Zur Auswahl der Methoden
19
Diese Auseinandersetzung mit einer individuellen Lebensgeschichte ist die biografische Methode: „Die Biographie ist die Interpretation beziehungsweise Rekonstruktion dieses Lebensverlaufs“ (Lamnek 1995, 341). Interpretation stützt sich immer auf
verbale oder nonverbale Äußerungen eines Menschen:
„Interpretation ist eine Methode des Sinnverstehens. (…) Interpretation als Methode setzt da an, wo das normale Verständnis eines Textes auf Schwierigkeiten stößt oder aber wo wir zu einem Verständnis zu kommen suchen, das
zwar im Text angelegt ist, doch nicht ohne weiteres erkennbar und zugänglich
ist, oder über ihn hinausgeht“ (Schulze 1997, 330f).
Die Rekonstruktion sozialer Wirklichkeit in der qualitativen Sozialforschung entwickelte sich aus zwei Ansätzen soziologischer Forschungstheorien: aus dem „Symbolischen Interaktionismus“ und der „Ethnomethodologie“. Anfänge der biografischen Forschung gehen auf Thomas & Znaniecki (1958) in den 20er und 30er Jahren zurück, die ein erstes biographisch orientiertes Forschungsprojekt über soziale
Probleme und Phänomene polnischer Bauern in Europa und Amerika leiteten (vgl.
Lamnek 1995, 332). Dieses Projekt beeinflusste die sog. „Chicago-Schule“, eine soziologische Forschungsrichtung rund um Thomas, die soziologische Theoriebildung
und empirische Sozialforschung miteinander verknüpfte: „Zentrales Merkmal dieser
neuartigen Sozialforschung war die sozialökologische Perspektive auf soziale Probleme“ (v. Wensierski 1997, 88). Dieser Forschungsansatz stützt sich auf subjektive
Perspektiven für soziologische Fragestellungen, auf Einzelfallanalysen als wichtiges
Quellenmaterial und auf einen unauflösbaren Sinnzusammenhang des zu untersuchenden sozialen Umfelds aus objektiven und subjektiven Faktoren (v. Wensierski,
1997, 89f).
Die Tradition der „Chicago-Schule“ gilt als Vorläufer des Symbolischen Interaktionismus, der sich in den 50er und 60er Jahren als eigenständige Methodologie entfaltete. Der Begriff des Symbolischen Interaktionismus geht zurück auf die von Blumer (1969) entwickelte Theorie des interpretativen Paradigmas auf der Basis von
Mead (1934): Das Individuum steht im Mittelpunkt von sozialen Prozessen, d.h. Individuen handeln miteinander und aufeinander bezogen (vgl. Abels 2001, 156). Um
zu einer Erklärung zu gelangen, wie Individuen in der Interaktion ihre Handlungen
aneinander anpassen, geht Mead davon aus, „…dass sie sich den Sinn ihres Handelns über gemeinsame, signifikante Symbole erschließen“ (Abels 2001, 166).
Zur Auswahl der Methoden
20
Blumer erweitert Meads Grundannahme dahingehend, dass die Handelnden sich
wechselseitig
„…durch ihre Sprache und ihr Verhalten einander dauernd anzeigen, wie sie
die Situation verstehen und wie der andere sie verstehen soll. Sie produzieren
in der Interaktion fortlaufend gemeinsame Symbole, an denen sie sich orientieren, die sie durch ihr Handeln bestätigen, revidieren und wieder neu definieren. So wird der Sinn der Interaktion fortlaufend ausgehandelt“ (Abels 2001,
ebd.).
Der Symbolische Interaktionismus geht also davon aus, dass sich Interaktion nur
durch Interpretation erklären lässt: „Durch ihre wechselseitige Interpretation definieren die Handelnden sich, ihr Handeln und die objektiven Bedingungen des Handelns. Durch ihr Handeln bestätigen sie die Situation oder suchen sie zu verändern“
(Abels 2001, 157). Dies geschieht in einem ständigen Prozess von Beobachtungen,
Handlungen und weiteren Handlungsentwürfen der Individuen.
Diese Theorie machte sich eine zweite Generation der Chicagoer-Schule (wie z. B.
Goffman, Strauss und Glaser) zunutze, die sich in ihrer Tradition mit der Untersuchung von sozialen Problemen beschäftigte. Hervor gehen hieraus gerade auch für
die Sozialpädagogik interessante qualitativ-empirische Studien, in denen „…nicht
mehr allein soziale Probleme im Kontext von Alltagsmilieus untersucht werden, sondern insbesondere die Professionalisierungs- und Institutionalisierungsfolgen bei der
Bearbeitung von sozialen Problemen einer kritischen Analyse unterzogen werden“
(v. Wensierski 1997, 89).
Parallel entwickelte sich in den 60er Jahren unter dem Einfluss von Schütz (1974)
der Ansatz der Ethnomethodologie von Garfinkel (1967), der durch eine Alltags- und
Lebensweltorientierung gekennzeichnet ist: Das Individuum geht in seinem Alltagshandeln methodisch vor, damit Interaktion gelingt. Hier geht es aber nicht um das
„Warum“ einer Handlung, sondern darum, „Wie“ Menschen ihr Handeln durchführen
(vgl. Abels 2001, 172). Aus dem Vorrat vergangener Erfahrungen aus dem Sozialisationsprozess entsteht das Denken eines Menschen. Der Mensch konstruiert seine
soziale Wirklichkeit stets so, dass sie für ihn Sinn macht, d.h. neue Erfahrungen
werden in ein vertrautes Muster sortiert (vgl. Abels 2001, 175). In der Interaktion benutzen die Menschen bestimmte Methoden, um sich gegenseitig den Sinn ihrer
Handlungen aufzeigen. „Diese Methoden [des Alltagshandelns; d. Verf.] wenden wir
manchmal bewusst, meist aber unbewusst, aber immer in einer für ein soziales Gebilde ... typischen Weise, an“ (Abels 2001, 172). Die Ethnomethodologie zielt darauf
Zur Auswahl der Methoden
21
ab, „…die Regeln und Ordnungen, die dem Alltagshandeln, seinen Bewältigungsstrategien und tagtäglichen Routinen als Bemühungen um eine sinnhafte Strukturierung der sozialen Wirklichkeit zugrunde liegen, systematisch herauszuarbeiten und
sichtbar zu machen“ (v. Wensierski 1997, 91).
Hieraus entstand „…erstmals ein sozial wissenschaftliches Instrumentarium für eine
empirische Untersuchung von Erziehungssituationen und Bildungsprozessen zur
Verfügung, das es erlaubte, Erziehungswirklichkeit und sozialpädagogisches Handeln nicht nur zu beschreiben, sondern … auch auf ihre konstitutiven und latenten
Bedeutungen hin empirisch zu untersuchen“ (v. Wensierski 1997, 93). Allerdings
wurde in den qualitativen Studien durch Biographien vor allem die Perspektive der
Institutionen rekonstruiert, d.h. die Strukturen der Institutionen sichtbar gemacht und
nicht die subjektiven Perspektiven zum Verstehen des Lebenszusammenhangs und
der Orientierungsmuster der betroffenen Klienten.
Für die Pädagogik gilt die Biografieforschung von Baacke & Schulze (1979) Ende
der 70er Jahre als programmatischer Vorstoß für einen Perspektivenwechsel der
Forschung auf die subjektiven Sinnstrukturen in der Reflexion von Erziehungsprozessen (vgl. v. Wensierski 1997, 94). Baake & Schulze (1993, 9) verweisen auf die
Wichtigkeit, „…über die Erforschung von Strukturen, Institutionen, Systemzwängen
und Interaktionsmustern nicht zu vergessen, dass sich reale Erziehung im Umgang
mit individuellen Kindern und Jugendlichen in konkreten Situationen und Handlungszusammenhängen abspielt“. Und diese „…Handlungszusammenhänge, Situationen und Folgen von Situationen in unmittelbaren Lebenszusammenhängen, ... Erlebnisse und Erfahrungen, die man sich erinnernd erzählt oder dichtend erfindet“
(Baacke & Schulze 1993, 8f), findet man in selbst erzählten Geschichten in der
Kommunikation des Alltag. Denn nur über Erinnerungen lassen sich individuelle Lebensgeschichten und die darin gemachten Lebenserfahrungen festhalten. Die Lebensgeschichte eines Menschen „...besteht weder allein aus den Ereignissen und
Vorkommnissen, die sich in einem individuellen Leben aneinanderreihen, noch in
ihrer nachträglichen Beschreibung, sondern in erster Linie in der Organisation und
Neuorganisation von Erfahrungen“ (Schulze 1993, 134).
Menschen bilden ihre subjektive Wirklichkeit also aufgrund ihres alltäglichen sozialen Lebens und Handelns im Interaktionsprozess mit ihrer sozialen und kulturellen
Umwelt. Aus den daraus entstandenen und zugrunde liegenden subjektiven Erfahrungen werden Sinnstrukturen und Orientierungsmuster gebildet, die die individuelle
Persönlichkeit prägen und das weitere Handeln bestimmen. „Die Biografieforschung
eröffnet den Sozialwissenschaften einen Zugang zur sozialen Wirklichkeit, bei dem
Zur Auswahl der Methoden
22
einerseits die Individualität des Akteurs berücksichtigt bleibt und andererseits diese
Individualität sozial verursacht und strukturiert gedacht wird“ (Lamnek 1995, 360;
Hervorh. n. übernommen, d. Verf.). Die biografische Methode befasst sich also mit
der Auswertung von persönlichen Geschichten oder der Rekonstruktion von individuellen Lebensläufen und versucht, ein typisches Handlungsmuster des Individuums herauszufiltern.
„Die narrative Form der Äußerung hält den Prozesscharakter der Erfahrung fest,
und ihr symbolisierender Charakter hält die Vielfalt der Verweisungen offen“ (Schulze, 1997, 326). Sie bietet durch einen offenen, reflexiven Interaktionsprozess zwischen dem Forschenden und dem Informanten einen Zugang zu „…der detaillierten
Erfassung der Zusammenhänge zwischen Einstellungen und sozialer Umwelt und
der Erforschung der Persönlichkeitsentwicklung“ (Lamnek 1995, 352). Die Lebenserfahrungen, die mitgeteilt und entfaltet werden, sind auf Interpretation angewiesen.
Der Informant interpretiert seine Erinnerungen, indem er sie sprachlich äußert und
der Forscher diese Interpretation mit der Beschäftigung der Formulierungen fortsetzt. „Das Ergebnis ist wiederum eine Art Geschichte auf einem abstrakteren Niveau…“ (Schulze 1997, 326) und dient dazu, das einzelne Leben besser zu verstehen. Die einzelnen Individuen gelten als Experten für die Deutung und Interpretation
ihrer sozialen Wirklichkeit. Daher gilt für die biografische Methode, dass sie stärker
als andere qualitative Forschungsansätze die wichtigen Kriterien der Naturalistizität
und der Kommunikativität erfüllt (vgl. Lamnek 1995, 346f).
2.2.
Die biografische Methode: eine Einzelfallstudie
Um nun das Kind in seiner Individualität und in seinem konkreten Kontext zu verstehen, ist ein Forschungsansatz notwendig, der sich auf die im Mittelpunkt meines Interesses stehenden einzelnen konkreten Biographie, also auf das Leben des Kindes
bezieht: die Einzelfallstudie. Die biographische Methode bedient sich immer der
Einzelfallstudie, denn „...nur die Einzelfallstudie kann diese extrem subjektive Sichtweise angemessen berücksichtigen und methodologisch in den Forschungsansatz
angemessen einbeziehen“ (Lamnek 1995, 362).
Die Einzelfallstudie in der biographischen Forschung besteht insgesamt aus mehreren Einzelfallstudien. „Insofern handelt es sich bei der biographischen Forschung
also um eine Anwendung der Einzelfallstudie mit einem speziellen theoretischen
23
Zur Auswahl der Methoden
Zugang“ (Lamnek 1995, 363; Hervorh. n. übernommen, d. Verf.). Jeder Einzelfall
wird hierbei einzeln für sich betrachtet und ausgewertet.
„Unter der Einzelfallstudie hat man sich keine spezifische und isolierte Technik der
empirischen Sozialforschung vorzustellen“ (Lamnek 1995, 4), denn sie ist keine bestimmte Erhebungstechnik und kein selbständiges methodisches Modell, sondern
ein Forschungsansatz. Dieser wird auch als „approach“, als eine „…vielschichtige
methodische Vorgehensweise…“ (Hillmann 1994, 174) bezeichnet. Mayring (1999)
unterscheidet hier zwischen Untersuchungsplan (oder auch Forschungsdesign) und
konkreten Untersuchungsverfahren. Die Einzelfallanalyse ist demzufolge ein Forschungsdesign,
in
dem
verschiedene
qualitative
Erhebungstechniken
und
-methoden kombiniert werden können.
Die Einzelfallstudie ist nach Hillmann (1994, 174) dadurch gekennzeichnet, dass
„unter besonderer Berücksichtigung der Ganzheit und Individualität des einzelnen
Falles ... jeweils die Anzahl und das Zusammenwirken verursachender Faktoren
analysiert“ werden. „Die Komplexität des ganzen Falles, die Zusammenhänge der
Funktions- und Lebensbereiche in der Ganzheit der Person und der historische, lebensgeschichtliche Hintergrund sollen hier besonders betont werden“ (Mayring
1999, 28). Die qualitative Einzelfallstudie soll also vor allem ein ganzheitliches Abbild der sozialen Wirklichkeit des Subjekts darstellen. Dabei sind „…möglichst alle
für das Untersuchungsobjekt relevanten Dimensionen in die Analyse einzubeziehen“
(Lamnek 1995, 5; Hervorh. nicht übernommen, d. Verf.). Die Überschaubarkeit meiner Untersuchungseinheit ermöglicht mir, Zusammenhänge wichtiger Faktoren für
die Entstehung der einzelnen Wahrnehmungen und damit mögliche Orientierungsmuster für alltägliche Handlungen und Entscheidungen zu erkennen. Diese detailliert herauszufiltern, zu beschreiben und zu interpretieren sind für die Beantwortung
meiner Fragestellung wichtig. Das Ziel meiner Arbeit ist es, eine einzelne Lebensgeschichte aus verschiedenen Perspektiven hinsichtlich möglichst vieler Dimensionen zu erforschen.
In der Vorgehensweise meiner Untersuchung bin ich wie folgt vorgegangen: Zuallererst habe ich die Fragestellung meiner Einzelfallstudie formuliert, dann die Kriterien für meine Fallauswahl definiert. Als dritten Schritt habe ich die Methoden zur
Erhebung meiner Daten bestimmt und das Datenmaterial gesammelt. Danach habe
ich das Material aufbereitet und schließlich für die Beantwortung meiner Fragestellung die Autobiografie des Kindes und die Perspektiven der beteiligten Menschen
auf die Lebensgeschichte des Kindes interpretiert. Diese habe ich dann kontrastie-
Zur Auswahl der Methoden
24
rend nebeneinander gestellt und verglichen. Im Folgenden werde ich diesen Verlauf
näher skizzieren.
2.3.
Angewandte Untersuchungsverfahren
Im Zusammenhang mit der Erhebung der Daten meiner biografischen Studie (d.h.
die unterschiedlichen Perspektiven auf das Leben des Kindes im Heim) ist es wichtig, die einzelnen unmittelbar beteiligten Menschen wie das Kind selbst, die Mutter,
die Erzieherin des Kindes und die zuständige Verantwortliche vom Jugendamt
selbst zu Wort kommen zu lassen, um die jeweils selbst erlebte Wirklichkeit auf das
eigene Leben oder auf das Leben dieses Kindes anhand von Erzählungen und Erinnerungen zu rekonstruieren. Daher war meine ursprüngliche Absicht, alle Daten
anhand von narrativen Interviews zu erheben.
Das narrative Interview ist eine von Fritz Schütze (1977) entwickelte Datenerhebungsmethode mit einer hohen Bedeutung für die sozialwissenschaftliche Biografieforschung. In der Interviewsituation „…wird der Informant darum gebeten und darin
unterstützt, seine eigenen Erlebnisse als Geschichte zu erzählen“ (Glinka, 1998, 9).
Das narrative Interview besteht aus drei Phasen: Der Einleitungsphase, der Haupterzählungsphase und der Nachfragephase. Der Hauptteil besteht aus der Erzählung
selbst erlebter Begebenheiten (Lebensgeschichten, Alltagsgeschichten) durch den
Informanten. Es ist eine besondere Form des offenen Interviews, aus dessen natürlichem Charakter sich die Naturalistizität und die Kommunikativität des Verfahrens
ergibt.
„In Abgrenzung zu Leitfaden-Interviews zielt hier die Interviewführung darauf
ab, dem Befragen weitgehend die Strukturierung des Gegenstandes zu überlassen und das Datenmaterial des Interviews nicht durch Vorgaben (Leitfragen) von seiten des Forschenden vorzustrukturieren. (…) Das zentrale Merkmal des narrativen Interviews bildet die ausführliche und ungestörte ‚Stegreiferzählung’, zu der er oder sie durch eine offene Erzählaufforderung in Form
einer Eingangsfrage angeregt wird“ (Friebertshäuser 1997, 386f).
In den Stegreiferzählungen wird die vergangene Erfahrung des Kindes rekonstruiert
und zugleich früheres Handeln rückblickend interpretiert. Dieser Vorgang soll
„…durch freies Erzählen lassen von Geschichten zu subjektiven Bedeutungsstrukturen gelangen, die sich einem systematischen Abfragen sperren würden“ (Mayring
1999, 55). Nach der Haupterzählungsphase, die der Informant durch ein deutliches
Zur Auswahl der Methoden
25
Signal beendet, folgt der Nachfrageteil. Dort ist es dem Forschenden erlaubt, die im
Interview thematisierten Sachverhalte anzusprechen und bei Bedarf genauer zu klären.
Im Verlauf der Interviewsituation mit der Mutter war ich gezwungen, die Interviewform zu ändern: „Auf Seiten der Interviewten setzt das Verfahren voraus, dass der
oder die Befragte gewillt und kompetent ist, etwas von sich zu erzählen, eine Voraussetzung, die nicht auf alle potentielle Interviewpartner zutreffen muss“ (Friebertshäuser 1997, 387). Hier musste ich erkennen, dass entweder die kommunikativen Anforderungen an die Mutter zu hoch waren oder mein Erzählstimulus nicht geeignet war. Daher habe ich auf die Technik des offenen Leitfadeninterviews zurückgegriffen, die neben dem narrativen Interview zur Erhebung biografischer Daten verwendet wird. „Das zentrale Charakteristikum von Leitfragen-Interviews besteht darin, dass vor dem Interview ein Leitfaden mit formulierten Fragen oder Themen erarbeitet wird“ (Friebertshäuser 1997, 375). Dadurch haben auch weniger kommunikationskompetente Menschen die Möglichkeit, ausführlich zu berichten. Mein Leitfaden
war ein grobes Gerüst von offenen Themenkomplexen auf wichtige Lebensphasen
des Kindes, die im Vorfeld von mir festgelegt wurden (siehe 2.4.2. Zum Leitfaden
der Interviews).
Mit dem Kind war die Durchführung eines weiteren Interviews notwendig, das einen
zweiten Teil der Nachfragephase umfasst, um Sachverhalte aus dem ersten Interview zu konkretisieren. Dieses Interview wurde ebenso nach der Technik des offenen Leitfadeninterviews durchgeführt.
2.4.
Die Datenerhebung
2.4.1. Zur Fallauswahl
Durch die Auseinandersetzung mit der Entstehung meiner Fragestellung, wie in der
Einleitung erläutert, war die Erhebung meiner Untersuchung innerhalb des Kinderdorfs nahe liegend. Zugleich war es mir wichtig, meinen Einzelfall auch möglichst
innerhalb der Gruppe zu untersuchen, in der ich seit vier Jahren arbeite (siehe hierzu auch Kapitel 5.). Zudem ergaben sich bei meiner Fallauswahl folgende Kriterien:
Für die Perspektive des Kindes oder Jugendlichen sollte meine „Handlungsfigur“
schon längere Zeit in der Gruppe untergebracht sein. Für meine Fragestellung der
Einzelfallstudie war es nicht von Bedeutung, welche der Kinder oder Jugendlichen
Zur Auswahl der Methoden
26
meine Handlungsfigur darstellen sollte. Jeder einzelne von ihnen hat seine individuelle Geschichte und Erfahrung und war dadurch prinzipiell für meine Untersuchung
interessant.
Vielmehr sollten für die verschiedenen Perspektiven auf das Leben meiner Handlungsfigur unmittelbar an dem Leben beteiligte Personen wie die Eltern, eine Erzieherin aus der Einrichtung und die zuständige Mitarbeiterin des Jugendamtes des
Fachbereichs Erziehungshilfen bereit sein, an meiner Untersuchung teilzunehmen.
In diesem Zusammenhang war es mir sehr wichtig, dass es in der Vergangenheit
keinen Zuständigkeitswechsel oder Mitarbeiterwechsel gegeben hatte, d.h. ich wollte auf die Perspektiven der Personen zurückgreifen, die an der Entscheidung zur
Aufnahme des Kindes im Kinderdorf unmittelbar beteiligt waren und seit der Zeit der
Aufnahme diese Hilfe auch fachlich begleiten.
Diese Bedingungskriterien trafen nur bei einem Kind zu, ich nenne ihn Tim Fischer1.
Ein weiterer Vorteil meiner Fallauswahl lag darin, dass die Zuständigkeit des Jugendamtes für die Begleitung der Hilfe zur Erziehung von Tim gerade bei dem Jugendamt liegt, in dem ich im Rahmen des Studiums zwei Jahre zuvor ein Praktikum
im Fachbereich der Erziehungshilfen absolviert hatte. Somit bestand zu allen Interviewpartnern eine relative Vertrautheit. Nach einzelnen Vorgesprächen mit Tim, seiner Mutter, der Erzieherin von Tim und der Mitarbeiterin des Jugendamtes über den
Sinn und Zweck dieser Arbeit erklärten sich alle Beteiligten bereit, mich durch ihr Interview in der Ausführung zu unterstützen.
2.4.2. Zum Leitfaden der Interviews
Das Interview mit der Mutter umfasst drei Teile, die mir als grober Leitfaden meiner
Befragung dienten: Der erste Teil umfasst ihre Sichtweise auf wichtige Lebensstationen von Tim in der Vergangenheit, d.h. Tims Kleinkindalter, seine Kindergartenund Schulzeit und seine Aufnahme in das Kinderdorf. Der zweite Teil umschließt
Tims gegenwärtige Situation im Kinderdorf und der dritte Teil seine Zukunftsperspektiven.
In der Nachfragephase der narrativen Interviews mit Tims Erzieherin und der Mitarbeiterin des Jugendamtes habe ich mich an einem groben Gerüst von Themenkomplexen orientiert, falls diese nicht von den Informanten thematisiert wurden, um
„…eine gewisse Vergleichbarkeit der Ergebnisse … zu sichern“ (Friebertshäuser &
1
Alle Namen sind maskiert
Zur Auswahl der Methoden
27
Prengel 1997, 375). Dies geschah auf der Basis von offen gehaltenen Erzählaufforderungen. Diese umfassen vier wichtige Lebensstationen: die Vergangenheit umfasst zwei Lebensphasen, „Tims frühe Kindheit“ und das kritische Lebensereignis
seiner „Aufnahme in das Kinderdorf“; die Gegenwart stellt seine derzeitige Lebensphase, das „Leben im Kinderdorf“ dar und die Zukunft „Tims Zukunftsperspektiven“.
2.4.3. Durchführung der Interviews
Die Interviews wurden einzeln in der Zeit von Oktober bis Dezember 2004 und unter
der Zusicherung von Vertraulichkeit und Anonymität durchgeführt. Die Interviews mit
Tim, der Mutter und der Erzieherin fanden im Kinderdorf statt, das Interview mit der
Mitarbeiterin des Jugendamtes in deren Büroräumen. Den jeweiligen Ort der Befragung wählten hier die Informanten selbst. Durch meine Arbeit im Kinderdorf und
mein Praktikum im Fachbereich Erziehungshilfen des Jugendamtes im Rahmen des
Studiums bestand zu allen Interviewpartnern eine relativ vertraute Atmosphäre. Die
Interviews dauerten jeweils ca. 1 Stunde und wurden auf Tonband aufgenommen.
Folgend beschreibe ich die Gegebenheiten der Interviewsituationen im Einzelnen:
2.4.3.1.
Die Interviewsituationen mit Tim
Das erste Interview mit Tim führte ich am späten Nachmittag des 09.11.2004 im
Musikraum des Kinderdorf-Gartenhauses durch. Der Musikraum wird für Musik- und
Werkangebote genutzt, dient aber auch Gesprächen und kleineren Konferenzen.
Der Raum ist ebenerdig und beinhaltet ein Klavier, einen Schrank mit Musikinstrumenten und einen runden Tisch, der in der Mitte des Raumes steht. Andere Personen im Raum, wie auch im gesamten Gartenhaus waren nicht anwesend. Bei Tims
Raumauswahl hatte ich nicht bedacht, dass der Musikraum gern für Gespräche im
Rahmen des Hilfeplans genutzt wird. Dies führte nach der Transkription des ersten
Interviews zu Bedenken meinerseits, ob er dadurch in seinem Erzählfluss beeinflusst wurde. Bei langen Pausen wurde Tim sichtlich nervös und unbehaglich, woraufhin ich entweder neue Anregungen anbot oder das Thema beendete.
Das zweite Interview führte ich am Nachmittag des 16.11.2004 mit Tim in seinem
von ihm bewohnten Zimmer in Haus X durch. Tims Zimmer dient ihm als Rückzugsmöglichkeit und als sicherer Zufluchtsort bei Schwierigkeiten. Er bewohnt das
Zimmer allein und hält sich dort gern und oft auf. Im Verlaufe dieses Interviews fiel
ich mehrmals aus der Rolle des Interviewers heraus, da ich teilweise zum einen das
Gefühl hatte, dass schon im ersten Interview Irritationen bei Tim mit meiner Rolle als
unabhängiger Forscher entstanden und zum anderen mir auch meine Doppelrolle
Zur Auswahl der Methoden
28
als gleichzeitige Erzieherin erhebliche Schwierigkeiten bereitete (siehe Kapitel 5.
Exkurs: eigene Rolle).
2.4.3.2.
Die Interviewsituation mit Tims Erzieherin
Am frühen Nachmittag des 04.12.2004 führte ich das Interview mit Tims Erzieherin
(und Leiterin des Gruppenhauses) im großen Raum des Kinderdorf-Gartenhauses
durch. Dieser Raum wird für Feste aller Art, für Fortbildungen, Tagungen und Konferenzen genutzt. Auch hier waren keine anderen Personen im Raum, wie auch im
gesamten Gartenhaus anwesend. Der Raum ist ebenerdig, bietet einen Blick auf
den Garten, und beinhaltet eine Reihe von Tischen, einen Schrank mit Büchern und
Fernsehgerät. Um die räumliche Größe zu verkleinern nutzten wir einen beiseite geschobenen kleinen Tisch. Informantin und Interviewerin kennen sich seit dem Jahr
2000 als Mitarbeiterinnen des Kinderdorfes.
2.4.3.3.
Die Interviewsituation mit der Mutter
Das Interview mit Tims Mutter führte ich am frühen Nachmittag des 27.11.2004
ebenso im großen Raum des Gartenhauses der Einrichtung durch. Andere Personen im Raum, wie auch im gesamten Gartenhaus waren nicht anwesend. Den kleinen Raum des Gartenhauses zu nutzen, hielt ich hier ebenso aufgrund der „Hilfeplan-Atmosphäre“ für unklug. Informantin und Interviewerin saßen an einem kleinen
Tisch und kennen sich seit drei Jahren im Rahmen der Elternbesuchskontakte der
Einrichtung.
2.4.3.4.
Die Interviewsituation mit der Mitarbeiterin des Jugendamtes
Dieses Interview führte ich am Mittag des 09.12.2004 im Landratsamt A-Stadt mit
der zuständigen Jugendamtsmitarbeiterin der Erziehungshilfen durch, die Tim seit
Einleitung der stationären Hilfe Anfang 2001 betreut und fachlich begleitet. Der Büroraum beinhaltet einen Schreibtisch, Aktenschränke und eine kleine Sitzgruppe mit
einem Tisch und bietet einen Blick auf den Innenhof. Informantin und Interviewerin
kennen sich seit 2 Jahren aus dem Praktikum im Rahmen des Studiums im Handlungsfeld „Arbeit mit Familien – die Aufgaben des Jugendamtes nach dem KJHG“
und aus dem Kinderdorf im Rahmen der Hilfeplanung.
2.4.4. Berichte und Protokolle
Für die Erhebung der Daten habe ich Material aus unterschiedlichen Quellen herangezogen, um ein möglichst komplexes und ganzheitliches Bild von Tims Leben zu
erhalten. Die Konzeption des Kinderdorfs, das Hausleitbild von Tims Gruppe und
Zur Auswahl der Methoden
29
Aktenvermerke des Jugendamts bieten im Vorfeld in Kapitel 3. Hintergrundwissen
auf wichtige Rahmenbedingungen von Tims Lebenssituation. Informationen aus Aktenvermerken und Hilfeplanprotokollen des Jugendamtes und aus Entwicklungsberichten des Kinderdorfs vervollständigen gegebenenfalls die Angaben meiner Informanten und ergänzen die Auswertung von Zusammenhängen verschiedener Faktoren der unterschiedlichen subjektiven Perspektiven.
2.5.
Die Auswertung der Daten
Das Interview mit Tim stellt kein in sich geschlossenes narratives Interview dar und
weist nur vereinzelte narrative Erzählpassagen in dem Nachfrageteil auf. Die
Hauptphase glich eher einer Aufzählung von den für ihn wichtigen Lebensereignissen. Hier hätte ich bessere Vorbereitungen treffen müssen, dass Tim den geforderten Erzählkompetenzen eventuell nicht so einfach gewachsen sein könnte. Um ihm
mehr Hilfestellung zu bieten, hätte ich im Vorfeld eine Methodik anwenden können,
die es ihm erleichtert hätte, sich den Verlauf seines Lebens wieder ins Gedächtnis
zu rufen, wie z. B. sein Leben erst zu malen und dann zu erzählen.
Mein ursprüngliches Vorhaben, die erhobenen Interviews in Anlehnung an die von
Schütz (1977) entwickelte Interpretationstechnik narrativer Interviews von Glinka
(1998) auszuwerten, verwarf ich im Verlauf der Auswertung von Tims Interview. Dort
werden im ersten Arbeitsschritt alle nicht-narrativen Erzählpassagen eliminiert und
die narrativen Passagen einer genauen sequenziellen Analyse unterzogen. Hierbei
stieß ich auf erhebliche Schwierigkeiten im Hinblick auf die Informationsdichte der
wenigen narrativen Passagen. Daher habe ich die Auswertung meiner Interviews an
das von Lenz (1977) entwickelte themenzentrierte-vergleichende Auswertungsverfahren an der Darstellung von Wolf (1999) angelehnt. Hier wird jedes Interview für
sich nach bestimmten, entweder vom Informanten genannten oder vom Forscher
angesprochenen, Themenkomplexen ausgewertet. Alle je relevanten Äußerungen
und wichtigen Informationen auch aus nicht-narrativen Passagen können in die Interpretation einbezogen werden. Der Forscher arbeitet sich in mehreren Phasen
immer weiter in die verborgenen Erzählinhalte des Textes eines jeden Interviews
hinein:
Als ersten Schritt habe ich die auf Tonband aufgezeichneten Interviews vollständig
transkribiert und mehrmals auf ihre Richtigkeit überprüft. Dabei habe ich den Fein-
Zur Auswahl der Methoden
30
heitsgrad der Transkription meinem Forschungsgegenstand angemessen nach eigener Einschätzung berücksichtigt (vgl. transkribierte Interviewtexte im Anhang).
Für das Identifizieren von Themenkomplexen „...soll das Interview sorgfältig gelesen
werden, und einzelne Passagen sollen den Themenkomplexen inklusive zugeordnet
werden...“ (Wolf 1999, 47). Durch mehrmaliges Lesen der einzelnen Interviews habe
ich alle genannten Themen meiner Informanten und die Themen, die mir selbst
wichtig waren, in Unterthemen zu den von mir vorformulierten Themenkomplexen
aus dem Leitfaden zugeordnet: „Tims frühe Kindheit“, „Tims Aufnahme ins Kinderdorf“, „Tims Leben im Kinderdorf“ sowie „Tims Zukunftspläne und -wünsche“. Dabei
habe ich einzelne Textstellen sowohl mehreren Hauptthemen als auch Unterthemen
zugeordnet.
In der Analysephase der Themen habe ich nun versucht, schrittweise zu interpretieren, was meine Informanten mit ihren jeweiligen Äußerungen gemeint haben. Hierbei soll auch das Wissen um den Kontext, in dem diese Aussagen standen, mit einbezogen werden, d.h. die Aussagen davor und danach, sowie mein Wissen über
den Interviewten und über die angesprochenen Themenbereiche dieser Aussagen
hinaus (vgl. Wolf 1999, 48). Die nach gründlichem Studium der transkribierten Interviews gewonnenen Vermutungen der einzelnen Textstellen wurden als Hypothesen
formuliert und mit weiteren Stellen im Interview auf Übereinstimmung überprüft und
weiter verfeinert oder widerlegt und umformuliert bzw. verworfen. Schließlich entstand aus den so verfestigten und zusammengefassten Hypothesen zu jedem Themenkomplex ein „Substrat“ (vgl. Wolf 1999, ebd.).
Bei Tims Auswertung ergaben sich dabei folgende Themen:
Familienleben/ -alltag
Familienbeziehungen
Selbstbild
Wichtige Menschen
Aufnahme und erstes Erleben im Kinderdorf
Alltag im Kinderdorf - Zusammenleben
Beziehungen zwischen Tim und Kinderdorf/ Jugendamt
Beziehungen zwischen Tims Familie und Kinderdorf/ Jugendamt
Pläne und Wünsche für die Zukunft
Zur Auswahl der Methoden
31
„Dabei orientiert man sich am Sprachduktus des Textes und verzichtet weitgehend
darauf, andere - etwa wissenschaftliche - Interpretationsmuster an den Text heranzutragen“ (Wolf 1999, ebd.). In dieser Phase habe ich nur wenige wissenschaftliche
Theorien zur Interpretation herangezogen und mich an den Sprachrhythmus und die
Ausdrucksweise der einzelnen Interviews gehalten, um ein besseres Verständnis für
die jeweiligen Denkmuster und Gedankengänge zu gewährleisten und die eigene
Sicht der Dinge und Erzählweise der jeweiligen Informanten in den Vordergrund zu
stellen. Bei der jeweiligen Analyse der Themenbereiche bezog ich auch Aussagen
mit ein, die nicht in aller Ausführlichkeit von den einzelnen Personen dargestellt
wurden, um eine Vergleichbarkeit der Sichtweisen in möglichst vielen Bereichen zu
sichern. An diesen Stellen zog ich gegebenenfalls Protokolle und Entwicklungsberichte des Jugendamtes und des Kinderdorfs zur weiteren Klärung hinzu.
Um nun die unterschiedlichen Perspektiven auf Tims Leben darzustellen und miteinander zu vergleichen, wurden in einem weiteren Schritt „...die einzelfallbezogenen Substrate aller in die Untersuchung einbezogener Interviewprotokolle systematisch miteinander verglichen“ (Wolf 1999, 49). Hierbei habe ich Schritt für Schritt die
einzelnen Unterthemen meiner Interviewpartner zu den jeweiligen Hauptthemen
durch Gegenüberstellung auf Übereinstimmungen und Unterschiede hin untersucht.
Der Fokus lag dabei immer auf den von Tim bezeichneten Themenbereichen (s.o.),
um die Unterschiede zu den Sichtweisen der anderen Personen im Vergleich zu
seiner herauszufinden. So entstand ein Grundmuster, das im Laufe des Verfahrens
immer weiter verfeinert wurde, um die Unterschiede in den einzelnen Perspektiven
festzustellen und um zu klären, aus welchen Sinnstrukturen diese Sichtweisen rühren.
Wie schon darauf hingewiesen, sind alle Datenschutzmaßnahmen hinsichtlich der
Anonymität der Informanten getroffen worden. Alle Aussagen der Interviewpartner
stellen erlebte Wirklichkeit dar. Die Auswertung erhebt somit keinerlei Anspruch auf
Repräsentativität bei anderen Kindern oder Jugendlichen im Kinderdorf. Dahinter
stehen diese unterschiedlichen Menschen mit ihrer jeweiligen eigenen Sichtweise.
Bevor ich die einzelnen Sichtweisen auf Tims Leben darstelle, soll das nächste Kapitel zum besseren Verständnis des Lesers einen Überblick über die Rahmenbedingungen der vergangenen und derzeitigen Lebenssituation Tims bieten.
Rahmenbedingungen zu Tims Lebenssituation
32
3. Rahmenbedingungen zu Tims Lebenssituation
3.1.
Zur Entstehung und Konzeption der Einrichtung
Tim ist seit dem Jahr 2001 im Rahmen der stationären Hilfe zur Erziehung in einem
Kinderdorf in katholischer Trägerschaft untergebracht. Dieses liegt inmitten einer
Reihenhaussiedlung am Rande einer nordbayrischen Großstadt in ländlicher Umgebung.
Das Kinderdorf und sein Trägerverein wurden 1955 von einer sozial engagierten
Frau konstituiert, die in der Nachkriegszeit mehrere soziale Initiativen in der Region
anregte. Das Ziel des Kinderdorfs sah die Begründerin darin, Waisen und Sozialwaisen ein Zuhause zu geben und „Mutter- und Geschwisterliebe“ erfahrbar zu machen (vgl. Kinderdorf: Rundbrief, 2/1984). In Kooperation mit einem katholischen
Pfarrer, der zuvor schon ein Kinderdorf gründete, entstanden 4 Reihenhäuser mit
einem gemeinsamen Garten, die der Konzeption zufolge jeweils mit einer Mutter
und einer Erzieherin bis zu 12 Kindern ein Zuhause bieten sollte. „1955 wurden die
Häuser von 41 Kindern und 9 Erwachsenen bezogen“ (Kinderdorf: Rundbrief, ebd.).
Von Beginn an waren die Häuser koedukativ strukturiert und altersgemischt konzipiert. Das Alter der damals aufgenommenen Kinder und Jugendlichen schwankte
zwischen neun Tagen und achtzehn Jahren.
Von Anfang an verstand sich das Kinderdorf nicht als abgeschlossene Dorfanlage,
sondern als „Kinderdorf in der Stadt“. Rein äußerlich gibt es keine Hinweise auf eine
Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe. Dies ist ein wichtiges Detail des Erziehungskonzeptes des Kinderdorfes, das auf „normalitätsnahe“ Lebensbedingungen
für die Kinder und Jugendlichen ausgerichtet ist (vgl. Konzeption des Kinderdorfs
2001, 8).
Das Kinderdorf ist eine heilpädagogisch orientierte Einrichtung und bietet in den vier
Häusern Unterbringungsmöglichkeiten für jeweils 8 Kinder und Jugendliche. Fünf
Jugendliche und junge Erwachsene ab 16 Jahren, die vorab mindestens ein Jahr in
den Kinderdorfhäusern gewohnt haben, können im Rahmen des „Betreuten Wohnens“ mit Beginn einer Ausbildung aufgenommen werden. „Das Leistungsangebot
entspricht dem § 27 in Verbindung mit den §§ 34, 35a, 41 und 42 SGB VIII“ (Konzeption des Kinderdorfs 2001, 13).
Aufgenommen werden Kinder sowohl mit als auch ohne Elternkonnex, die infolge
von ungünstiger frühkindlichen Entwicklung oder anderer Defizite feste Bezugsper-
Rahmenbedingungen zu Tims Lebenssituation
33
sonen und intensive Zuwendung brauchen (vgl. Konzeption des Kinderdorfs 2001,
15). Des Weiteren werden Kinder und Jugendliche aufgenommen, die aufgrund von
familieninternen Schwierigkeiten zur Klärung der Gegebenheiten für eine begrenzte
Zeit außerfamiliär untergebracht oder in Obhut genommen werden müssen. Verändert sich die Familiensituation positiv, ist eine Rückführung möglich. Hier wird die
Bindung der Familie intensiviert und die Erziehungsfähigkeit der Eltern gezielt gestärkt. Wenn keine Rückführung in die Familie möglich ist, muss gemeinsam mit
dem zuständigen Jugendamt beraten werden, wie die Kontakte zu der Familie gestaltet werden, dass das Kind nicht „zwischen die Fronten“ gerät (vgl. Konzeption des
Kinderdorfs 2001, 16).
Die Basis des pädagogischen Konzepts bilden ein lösungsorientierter Ansatz und
verhaltenstherapeutische Grundsätze in familienähnlichen Strukturen. Für jedes
Kind wird ein individueller Erziehungsplan erstellt und immer wieder überprüft.
„…Erziehungsziele sind:
- Selbstakzeptanz und Toleranz andern gegenüber
- Selbstbewusstsein und Eigenverantwortung
- Christlich-ethische Verantwortung dem eigenen Leben und der Umwelt
gegenüber
- Anstrengungsbereitschaft, Kreativität und Leistungsfreude
- soziale Kompetenz und Bindungsfähigkeit
- lebenspraktische Alltagsfertigkeiten
- bestmöglicher Schul- und Ausbildungsabschluss“ (Konzeption des Kinderdorfs
2001, 30).
Zurzeit leben 33 Kinder und Jugendliche im Kinderdorf, davon 3 junge Erwachsene
in der betreuten Wohnform. Jedes Gruppenhaus versteht sich als selbständige Einheit innerhalb der Kinderdorfgemeinschaft. Hier arbeiten jeweils 3-4 Erzieher; im
„Betreuten Wohnen“ ist ein Erzieher beschäftigt. Unterstützt werden sie in ihrer Arbeit von hauswirtschaftlichen Mitarbeiterinnen, Auszubildenden zu Heim- und Jugenderziehern und Praktikanten bzw. Praktikantinnen.
Der Kinderdorfleiter Herr Wertz, ein Diplom-Sozialarbeiter und Diplom-Pädagoge, ist
für die Erziehungsleitung verantwortlich (vgl. Konzeption des Kinderdorfs 2001, 25).
Darüber hinaus steht dem Kinderdorf eine Diplom-Psychologin, Frau Schmitt, stundenweise zur Verfügung. Des Weiteren bieten eine Heilpädagogin und ein Heilpädagoge nach Vereinbarung im Rahmen des Hilfeplans heilpädagogische Einzelförderung und Kleingruppenarbeit an. Zusätzlich gibt es für einzelne Kinder und Jugendliche bei erhöhtem Förderbedarf die Möglichkeit einer individuellen Lernförde-
Rahmenbedingungen zu Tims Lebenssituation
34
rung durch Studenten. „Gezielte und regelmäßige Elternarbeit übernehmen der heilpädagogische und sozialpädagogische Fachdienst“ (Konzeption des Kinderdorfs
2001, 27), in Form von Begleitung und Beratung der Familie zur Stärkung der elterlichen Erziehungsfähigkeit, bei einer Rückführung und zur Nachbetreuung.
3.2.
Zur Struktur und Situation in Tims Haus
Tims Gruppenhaus, Haus X, „…entspricht als Reihenhaus weitgehend dem Wohnhaus einer kinderreichen Familie“ (Konzeption des Kinderdorfs 2001, 9). Tim ist mit
13 Jahren der älteste Junge im Haus. Derzeit leben außer ihm vier Jungen im Alter
von 6, 8, 11 und 12 Jahren und drei Mädchen im Alter von 7, 13 und 15 Jahren in
der Gruppe. Betreut werden sie von vier Erzieherinnen, einem Auszubildenden und
einer Erzieherin in geringfügiger Beschäftigung2. Die Funktion der Hausleitung füllt
eine der Erzieherinnen in Vollzeit aus; ihre vermehrte Präsenz liegt in der Vertretung
der anderen Mitarbeiter3 in Urlaubs- und Krankheitssituationen (vgl. Hausleitbild
2005, 4). Das derzeitige Team besteht seit ca. 1 1/2 Jahren; die Konstellation der
Kinder und Jugendlichen in der Gruppe seit ca. 1 Jahr.
Die Gruppe in Haus X lebt als selbständige Gemeinschaft und führt ihren eigenen
Haushalt. Hier werden die Erzieher vormittags von zwei hauswirtschaftlichen Mitarbeiterinnen und in der Lernzeit von zwei Studenten unterstützt. Auch die Kinder und
Jugendlichen werden in die Hausarbeit miteingebunden. So haben alle kontinuierlich bestimmte Aufgaben wie z. B. Küchendienste, Kehrdienste zu erfüllen. „Die
ganzheitliche Alltagserziehung fördert die bestmögliche lebenspraktische und soziale Kompetenz“ (Hausleitbild 2005, 2).
Die Kinder, Jugendlichen und Erzieher gestalten gemeinsam das Haus und die
Zimmer nach ihrem individuellen Geschmack und ihren Bedürfnissen. Besonders
das eigene Zimmer oder die eigene Zimmerecke soll Rückzugsmöglichkeit und ein
„Gefühl des Zuhause sein“ (vgl. Hausleitbild 2005, 2) bieten.
Die Kinder und Jugendlichen aus der Gruppe gehören mit zum Stadtteil. So besuchen sie dort den Kindergarten, die Grundschule oder sind in Vereine, Kirchengemeinden oder Kinder- und Jugendgruppen eingebunden. Tim beteiligte sich in der
2
Die Verfasserin selbst
3
Aus Gründen der Einfachheit werde ich im Folgenden von der männlichen Form „Erzieher“
oder „Mitarbeiter“ sprechen.
Rahmenbedingungen zu Tims Lebenssituation
35
ersten Zeit an einer Pfadfindergruppe, seine Mitgliedschaft wurde aber ein halbes
Jahr später auf eigenen Wunsch beendet. „Besonderen Wert legen wir auf individuelle schulische Förderung, um unseren Kinder und Jugendlichen optimale Berufschancen mitzugeben“ (Hausleitbild 2005, 2). Tim besucht seit dem letzten Sommer
die 8. Klasse der Hauptschule und bekommt regelmäßig einmal die Woche eine individuelle Lernförderung von einem Studenten.
„Das Leben in einer bunt gemischten Gruppe braucht feste Tagesstrukturen und
Regeln, gemeinsame Rituale, Feste und Unternehmungen, aber auch Rückzugsmöglichkeiten und den Respekt vor individuellen Bedürfnissen“ (Hausleitbild 2005,
1): Morgens werden die Kinder geweckt, die Jugendlichen stehen selbständig auf.
Dann frühstücken alle gemeinsam mit dem Erzieher und gehen zur Schule. Mittags
wird das Mittagessen gekocht und gegessen, in der anschließenden Lernzeit von
14.00-15.30 Uhr machen die Kinder und Jugendlichen ihre Hausaufgaben oder lernen. Nachmittags wird versucht, die ohnehin schon sehr verplanten Freiräume im
Alltag zu erhalten, in denen sich die Kinder und Jugendlichen alleine und selbständig beschäftigen können oder gemeinsame Freizeitaktivitäten unternommen werden. Gegen 18.00 Uhr isst die Gruppe zu Abend, um danach meist gemeinsam den
Abend ausklingen zu lassen mit Lesen, Spielen oder Fernsehen gucken. Jedes Kind
und jeder Jugendlicher hat je nach Alter individuelle Bettgehzeiten. „Der gemeinsame Alltag ist zugleich Ausgangspunkt und Ziel der Erziehungsarbeit im Kinderdorf:
Miteinander-leben-lernen, Miteinander-leben-können, Miteinander-leben-wollen: dazugehören zu einer Gemeinschaft, die Sicherheit und Geborgenheit gibt, die Eigenständigkeit fördert und fordert“ (Konzeption des Kinderdorfs 2001, 11).
Um Klarheit und Sicherheit in der Ansprechperson zu gewährleisten, ist jeder Erzieher für zwei Kinder oder Jugendliche für die Bereiche Arzt- und Schulkontakte, Geburtstage, Kleiderkauf und Elternarbeit zuständig. Für Tims Angelegenheiten ist
Frau Sonntag, die Hausleiterin, verantwortlich. Die Erzieher stehen in einem geregelten Dienstverhältnis und arbeiten im Schichtdienst (vgl. Konzeption des Kinderdorfs 2001, 13). Hier wird Wert darauf gelegt, dass täglich bis 20.00 Uhr mindestens
zwei Erzieher als Ansprechpartner zur Verfügung stehen und dass diejenige Person, die die Kinder und Jugendlichen beim Abendritual begleitet, in der Gruppe übernachtet und sie auch morgens weckt. „Das familienähnliche Miteinanderleben
rund um die Uhr bietet vielfältige Beziehungserfahrungen beim Essen, Spielen, Lernen, Zubettbringen … und ist die Grundlage für vertrauensvolle Beziehungen“
(Hausleitbild 2005, 1).
Rahmenbedingungen zu Tims Lebenssituation
36
„Im Rahmen der Hilfeplanung werden Entwicklungsdefizite aufgeholt und Ressourcen gestärkt“ (Hausleitbild 2005, 4). Tims Ansprechpartnerin des Jugendamtes stellt
Frau Hall dar. Gemeinsam wird die Erziehungsplanung für jedes Kind oder Jugendlichen individuell gestaltet, d.h. für jedes Kind und Jugendlichen werden individuelle
Erziehungsziele formuliert. Zur praktischen Umsetzung der Ziele für die Kinder werden die Erziehungspläne meist in Form von Verhaltensplänen in den Alltag integriert. So hat auch Tim seinen eigenen Verhaltensplan mitgestaltet, der ihm zur Unterstützung der Selbstkontrolle dient. Jeden Tag kann er sich bei Erreichen einer
bestimmten Punktanzahl Belohnungen verdienen. Unterstützt wird er hierbei durch
das fachliche Handeln der Erzieher, dass von „...wertschätzender Zuwendung und
verlässlicher, konsequenter Autorität“ (Hausleitbild 2005, 4) gekennzeichnet ist.
Alle acht Kinder und Jugendlichen der Gruppe haben einen festen Kontakt zu mindestens einem Elternteil oder Familienangehörigen, der durch regelmäßige Besuchskontakte und Telefonate gepflegt wird: „Grundlage für eine positive Entwicklung der Kinder ist die wertschätzende Zusammenarbeit zwischen den Erziehern
und Eltern und verlässlicher Familienkontakt“ (Hausleitbild 2005, 4). Eine Rückführung in die jeweiligen Familien ist derzeit nicht abzusehen.
3.3.
Hintergründe zu Tims Familiensituation
Die folgenden Angaben beziehen sich auf Tims vergangene und gegenwärtige Familiensituation (vgl. ASD-Aktenvermerk 05/1997, Sonderpäd. Gutachten 05/1997,
ASD-Aktenvermerk 07/2000,11/2000, 03/2001, 05/2001, 09/2001, ASD-Abschlussbericht 09/2001, Hilfeplanfortschreibung 01/2004):
1990 heiraten Tims leibliche Eltern Herr Fischer und Frau Berger. 1991 wird Tim
geboren.
Während der Schwangerschaft flüchtet Frau Berger vor ihrem Mann in ein Frauenhaus. Tims leiblicher Vater ist alkoholkrank und „...sei aggressiv und gewalttätig gewesen“ (ASD-Aktenvermerk 05/1997). Daraufhin kommt es zur Trennung zwischen
seinen Eltern.
Noch vor der Trennung muss Frau Berger aufgrund einer Krankheit operiert werden.
Nach der Geburt von Tim ist nochmals ein längerer Krankenhausaufenthalt notwendig, der zu einer längeren Trennung von Mutter und Kind führt. 1993 wird die Ehe
geschieden; Tim lebt seitdem bei seiner Mutter.
Rahmenbedingungen zu Tims Lebenssituation
37
In seiner frühen Kindheit hat Tim „…mehrere Umzüge miterlebt“ (ASDAktenvermerk05/1997):
Das zweite Kind Sabine wird 1993 geboren. Mit dem Vater der Tochter lebt Frau
Berger nur zeitweise zusammen. Auch er sei gewalttätig gewesen, woraufhin Frau
Berger 1994 mit den beiden Kindern Tim und Sabine wieder in ein Frauenhaus
flüchtet und sich von ihm trennt.
1995 lernt Frau Berger Herrn Teichert, den Vater ihres dritten Kindes Lars kennen,
in dessen Ortsnähe sie 1996 mit den Kindern nach A-Stadt verzieht.
Da Tim als Kleinkind sehr unruhig ist, bekommt er vor dem Schulbesuch eine Frühförderung. Wegen „…deutlichen Problemen in der Aufmerksamkeitssteuerung und
im Sozialverhalten“ (Sonderpäd Gutachtens 05/1997) wird beim Einschulungstest
1997 eine Aufmerksamkeitsstörung mit Hyperaktivität nach DSM-IV (ADHS) diagnostiziert. Tims Einschulung erfolgt daraufhin in eine Schule für Erziehungshilfen mit
dem gleichzeitigen Besuch einer heilpädagogischen Tagesstätte.
Im gleichen Jahr wird Tims kleiner Bruder Lars geboren.
Im Juli 2000 wird die heilpädagogische Tagestätte als Hilfe für Tim beendet. Die
Familie erhält ab Anfang 2000 eine Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) zur
Unterstützung der Familiensituation: Der Übergang von Tim in das familiäre Umfeld
am Nachmittag und die Bewältigung einer Trennungssituation zwischen Frau Berger
und Herrn Teichert soll durch die Sozialpädagogische Familienhilfe unterstützt werden. Diese wird aber nach einem dreiviertel Jahr im Herbst 2000 abgebrochen. Aufgrund der zunehmend schwierigen Situation innerhalb der Familie wird im September 2001 eine stationäre Hilfe für Tim notwendig.
Erst Anfang 2004 kommt es zur endgültigen Trennung von Frau Berger und Herrn
Teichert. Herr Teichert erhält daraufhin die Zustimmung vom Jugendamt, seinen
Sohn Lars bei sich aufzunehmen. Sabine lebt seitdem auch in einem Kinderdorf.
Im nächsten Kapitel sollen nun Tim, seine Mutter Frau Berger, die Erzieherin Frau
Sonntag und die Mitarbeiterin des Jugendamtes Frau Hall zu Wort kommen und
sein eigenes Leben oder das Leben von Tim aus der je eigenen Sicht heraus beleuchten. Die einzelnen Sichtweisen werden nebeneinander dargestellt und miteinander verglichen. Der Fokus soll hierbei auf der Perspektive des Kindes liegen.
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
38
4. Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
4.1.
Tims frühe Kindheit
4.1.1. Die Perspektive des Kindes
Tim erinnert sich nicht mehr genau an konkrete Situationen als Säugling oder Kleinkind. Doch er bemüht sich, sein Erleben als „Baby“ in Bruchstücken zu rekonstruieren: „…Ich weiß nich’ mal, ob das wirklich is’, das war nur so ’n Gedankenfetzen“
(Interview I a, 2/34-35). Häufige Umzüge, die er während seiner frühen Kindheit miterlebt, belasten nicht nur seine Erinnerung, sondern auch sein Gefühl, sich irgendwo zuhause zu fühlen. So thematisiert Tim in den Interviews mehrmals, wie oft er
umgezogen sei oder ist sich unsicher, wo er gelebt hat: „...Da war ich ähm irgendwo
in B-Stadt oder so“ (Interview I a, 2/20-21) oder „…Ja bis (.) jetzt bin ich (.) vier Mal
umgezogen“ (Interview I b, 2/13-14).
An seine Mutter kann sich Tim, als er klein war, nicht erinnern: „…Wo ich noch ’n
Baby war, weiß ich nix“ (Interview I a, 2/38). Nach der Entbindung von Tim kommt
es aufgrund eines nochmaligen Krankenhausaufenthalt der Mutter zu einer längeren
Trennung zwischen ihm und seiner Mutter (siehe 3.3. Hintergründe zu Tims Familiensituation). Wo Tim in dieser Zeit untergebracht ist, kann nicht mehr rekonstruiert
werden. Fakt ist, dass die mütterliche Zuwendung in den ersten Wochen seines Lebens fehlt. Die Erfahrung eines Säuglings, dass die Befriedigung seiner Bedürfnisse
nicht „...ständig oder nicht in ausreichendem Maße erfolgt“ (Abels 2001, 219) stellt
nach Erikson (1956) eine psychosoziale Krise dar, die zu Misstrauen und Resignation des Säuglings, anstatt zu einem Gefühl des Vertrauens, des „Urvertrauens“ führt.
Diese Erfahrungen bilden die Basis für die seelische Entwicklung eines Kindes, in
diesem Fall von Tim.
Sein „Gedankenfetzen“ im Alter von 2-3 Jahren bezieht sich auf seinen leiblichen
Vater: „Aber da war ich ähm (.) noch mit meinem ähm richtigen Papa (.) zusammen…“ (Interview I a, 2/21-22). Obwohl seine Eltern nicht mehr zusammenleben,
erlebt Tim, dass sich sein „richtiger“ Papa weiterhin für ihn interessiert und sich um
ihn kümmert. Aber die Beziehung zwischen seinen Eltern ist schwierig. Beim Aufeinandertreffen der Eltern bei den Besuchskontakten muss Tim mit ansehen, wie sie
sich streiten: „…Da ähm (.) war ich halt mal (.) so vor der Haustür gestanden (.).
Und ähm dann ham sich die glaub’ ich dann gestritten oder so“ (Interview Kind I a,
2/42-43). Schon früh erlebt er hier die konfliktbesetzte Beziehung seiner Eltern, die
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
39
sich um ihn streiten. Als Tim 3 Jahre alt ist, bricht der Vater den Kontakt zu ihm ab,
aufgrund einer Anschuldigung der Mutter, er hätte Tim sexuell missbraucht (vgl.
ASD-Aktenvermerk 05/1007). Der Missbrauch wird allerdings nie bestätigt. Der Vater, der Tim in den ersten drei Lebensjahren begleitet hat, lässt ihn allein. Den Verlust seines „richtigen“ Papas hat Tim nie verwunden: So hat er auch heute noch ein
dringendes Bedürfnis, ihn wieder zu sehen. So heißt es in der Hilfeplanfortschreibung vom 10/2004, dass Tim den Wunsch geäußert hat, „…Kontakt zu seinem leiblichen Vater aufzunehmen“.
Als Tim 2 Jahre alt ist, wird seine Schwester geboren. Ihre Geburt ist für ihn ein
wichtiges Erlebnis, genauso die Geburt seines Bruders vier Jahre später: „…Wo halt
ähm mein Bruder noch geboren is’ und so (.) und meine Schwester (..), hab’ ich
auch noch ähm erlebt und wie die groß geworden sind“ (Interview I a, 2/9-11). Immer wieder bezieht Tim sich in seinen Erinnerungen auf seine Geschwister, besonders auf den kleinen Bruder. Rückblickend beschreibt er:
„Ja und ähm (..) da war halt der Lars noch klein. Ähm (…) ich kann mich noch
erinnern, der war da ganz klein und (…) ja da hab’ ich ihm immer was vorgelesen. Bücher und so (..). Und dann is’ er halt größer geworden, wie alle“ (Interview I a, 3/8-11).
Tim liebt seinen kleinen Bruder. Bei dem kleinen Säugling findet er emotionale und
körperliche Nähe. Sein Bruder ist ein wichtiger Bestandteil seines Lebens und eine
wichtige Bezugsperson. Tim schildert an dieser Stelle wehmütig, dass der kleine
Bruder älter und größer wurde. Mit zunehmender Selbständigkeit des Bruders hat er
sich vermutlich nicht mehr so um ihn kümmern müssen oder können.
Den Vater der Schwester lernt er nach seinen Erinnerungen nicht kennen. Im Alter
von 6 Jahren zieht Tim mit seiner Familie zum leiblichen Vater seines Bruders Lars
Herrn Teichert nach A-Stadt. Auch Tims Oma, die Mutter von Frau Berger, lebt dort
mit im Haushalt. Seinen „normalen“ Alltag beschreibt er selbst so:
„Ähm (.) ja, ich bin da immer in die Schule gegangen halt immer (ironisch gesprochen bis *) mit dem Malteser-Bus *. (…) Und dann (..) nee (..) nach der
Schule bin ich ähm in so ’ne Tagesstätte gegangen…“ (Interview I a, 3/28-4/5).
Tim kritisiert deutlich das „Abgeholtwerden“ mit dem Malteser-Bus, der in der Öffentlichkeit bekannt ist als Fahrgelegenheit für Schüler, für die eine spezielle Beschulung außerhalb der Regelschule notwendig ist. Genauso die Tagesstätte, in die nur
Kinder gehen, die in den Augen anderer „anders“ sind. Auf der einen Seite gefällt es
ihm in der Tagesstätte gut, besonders die Freizeitbeschäftigung wie „Computer und
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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so“ (Interview I a, 4/16), auf der anderen Seite ist es ihm peinlich, weil er den Bus
und die Tagesstätte als Symbol für Sonderschüler und als Abwertung für sich selbst
erlebt. Dies gibt einen Hinweis darauf, wie Tim die Reaktionen von anderen Kindern
oder Erwachsenen deutet. In beiden Interviews fehlen Kontakte zu anderen Kindern
völlig. Im Verlauf des Interviews spricht er in der frühen Kindheit von keinen weiteren Menschen als seinen Familienmitgliedern. Zwangsläufig muss er Kontakt zu
Gleichaltrigen durch die Nachbarschaft, Schule oder Tagesstätte gehabt haben. So
heißt es im Sonderpäd. Gutachten vom 05/1997: „Tim habe eine großes Bedürfnis
nach sozialem Kontakt zu Kindern“, gleichzeitig habe er aber große Schwierigkeiten
im Umgang mit Gleichaltrigen. Lauth & Schlottke (1997, 3) weisen darauf hin, dass
„... Kinder ... den Kontakt mit einem aufmerksamkeitsgestörten Kind als wenig verstärkend [erleben], so dass sie den Kontakt mit ihm meiden…. Aufmerksamkeitsgestörte Kinder sind deshalb oft sozial isoliert“. So wird auch der Computer im weiteren Verlauf des Interviews noch mehrmals von Tim thematisiert. Der Computer, d.h.
die darin enthaltene Scheinwelt, in die er hinabtauchen kann ohne abgewiesen zu
werden, stellt für ihn einen Ersatz von sozialen Außenkontakten dar. Der Computer
kann ihm nicht wehtun.
Durch die Schule und die anschließende Tagesstätte kommt Tim erst spät nachmittags nach Hause. Selbst in den Schulferien geht er nach Aktenlage tagsüber in die
Tagesstätte. Das für ihn „normale“ Familienleben schildert er so:
„…Und dann bin ich (.) halt von ’ner Schule gekommen und dann hab’ ich
Hausaufgaben ähm (.) gemacht und hab’ dabei Fernseh’n geguckt. Und (.)
dann (.) ähm hat meine Oma mir geholfen. (…) Und dann is’ meine Mama
meistens gekommen. (…) Und dann (.) ja (.) hat meine Schwester der Oma
halt geholfen. (…) Beim Bügeln und so weiter halt. Ähm ja und (..) dann (...)
sind die halt gekommen und dann ham wir halt gegessen. Und dann (..) nee
(…), nach der Schule bin ich ähm in so ’ne Tagesstätte gegangen (.) und dann
bin ich erst heim gekommen, das war dann ganz spät (…). (…) [I.: War das
jetzt zeitgleich mit deiner Mama?]. Mh, die kam halt ganz arg spät abends. (…)
Wir ham dann so gespielt (…) oder ham zusammen Fernseh’n geguckt“ (Interview I a, 3/29-4/19).
Tim ist das einzige Kind, das den ganzen Tag außerhalb der Familie verbringt. Das
alltägliche Familienleben findet also zum größten Teil ohne ihn statt. Die Schlüsselszene ist, dass die Oma ihm Hilfestellung anbietet. Nicht die Mutter, sondern die
Oma stellt eine feste Bezugsperson und Ansprechpartnerin für Tim und seine Geschwister im Alltag dar: „…Und die Mama is’ auch mit dem Papa immer weggegan-
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
41
gen. Da sind sie zum Schlachten oder zum Wandern (.) und dann ham sie den Lars
meist mitgenommen“ (Interview I a, 4/25-27). Die Oma kümmert sich tagsüber um
die Betreuung der Kinder und um den Haushalt der Familie. Die Mutter überträgt ihr
viele Erziehungsaufgaben, während sie selbst und ihr Lebensgefährte bis abends
arbeiten oder Freizeitaktivitäten nachgehen. Die Oma mag Tim sehr gerne und
„...verwöhnt Tim sehr stark“ (Sonderpäd. Gutachten 1997). Während die Schwester
im Haushalt hilft, bleibt Tim weitgehend von den Aufgaben im Haushalt verschont
und „...nutzt seine Freiheiten zu Hause stark aus, wie z.B. viel fernsehen und draußen allein herum streunen“ (Entwicklungsbericht 09/1998). Auch nach Tims Schilderung entsteht hier ein hohes Konfliktpotential im Alltag: „Ja, da ham wir die Oma
manchmal geärgert. (…) Ja und die ähm Sabine wollte halt net immer das machen,
was die Oma gesagt hat. [I: Und Du?] Mh, manchmal hab’ ich auch gemacht“ (Interview I a, 4/33-38). Die Oma kann sich nicht durchsetzen, wenn sich Tim und seine
Schwester weigern, auf Anforderungen im Alltag zu reagieren. Das Wort „manchmal“ benutzt Tim an vielen weiteren Stellen des Interviews, immer in Verbindung mit
für ihn selbst unangenehmen Sachverhalten. Dies deutet an, dass er hier eine Strategie des Selbstschutzes verfolgt, um sich selbst oder seine Familie auf der einen
Seite mit konkreten Angaben nicht angreifbar zu machen, andererseits um keine
Unwahrheit zu sagen. So schiebt er öfters seine Geschwister vor, um zwar Erklärungen zu bieten, sich dennoch nicht selbst zu belasten. „Manchmal“ ist für ihn ein
Ausweg, um mit seinen Angaben nicht ins Detail gehen zu müssen und gleichzeitig
das Thema beenden zu können.
Zugleich entsteht hier, auch nach der Aktenlage, ein Konflikt zwischen der Oma und
der Mutter: Wenn die Mutter etwas verbietet, erlaubt es die Oma trotzdem. Das
Abendessen bildet die Grundlage für das gemeinsame Familienleben. Für sonstige
gemeinsame Beschäftigungen auch am Wochenende mit den Kindern und Eltern
zusammen gibt es wenige Ideen. Meist beschäftigt sich Tim allein oder mit seinen
Geschwistern, an konkrete Unternehmungen kann er sich nicht erinnern: „Ja, da
ham wir halt manchmal Ausflüge gemacht (..) und (.) ja (…) halt Verschiedenes (.)
alles Mögliche“ (Interview I a, 4/30-31).
Auch im Alltag ist immer wieder die Abwesenheit der Mutter auffällig. So hat das
Essen für Tim eine wesentliche Bedeutung für seine frühkindliche Bedürfnisbefriedigung: „Wie ich halt immer gegessen hab’ und ähm gespielt“ (Interview I a, 2/17).
Schon als Tim klein ist, bezieht er seine Zuwendung und Aufmerksamkeit über das
Essen. Im Laufe seiner Entwicklung wandelt sich dies ab. Bei der Einschulung wird
bei Tim eine Aufmerksamkeitsstörung diagnostiziert (siehe 3.3. Hintergründe zu
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
42
Tims Familiensituation), in dessen Folge er medikamentös behandelt wird. Hier ist
zu vermuten, dass dieses Medikament unter anderem auch appetithemmend wirkt.
Nach der Aktenlage ist die Mutter immer sehr bemüht um Tim und versorgt ihn mit
Essen, Kleidern und Spielsachen sehr gut. Die „Überversorgung“ der Mutter wird in
fast allen Berichten und Vermerken thematisiert: So zeigt sie Tim ihre mütterliche
Liebe und Zuneigung durch eine besonders gute und besorgte materielle, medizinische und ernährungstechnische Versorgung.
Tim merkt, dass ihm aus Sorge besondere Aufmerksamkeit und Zuneigung der
Oma und Mutter zuteil wird, wenn er sich weigert zu essen. So wird er z.B. noch im
Alter von 6 Jahren laut Sonderpäd. Gutachten vom 05/1997 von seiner Oma gefüttert. Zudem heißt es im Entwicklungsbericht vom 08/1998, dass „Tim ... seine Mutter
erheblich unter Druck [setzt], indem er Essen verweigert“. Tim hat hier eine Strategie für sich entdeckt, die mütterliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Das Familienleben ist zusätzlich geprägt durch Streitigkeiten der Eltern:
„Ähm es gab manchmal Streit, weil (.) der Papa ähm (.) mag eigentlich immer
den Lars mehr und die Mama die Sabine (..). Und dann hat immer ähm die
Mama gesagt ähm (.), der Papa soll halt net immer den/ die Sabine anschrei’n“
(Interview I a, 4/40-43).
Wenn die Familie beisammen ist, erlebt Tim die Streitigkeiten zwischen Papa, Mama und Oma, in denen es meist um die Kinder geht. Hier weist Tim deutlich auf die
Familienbeziehungen hin: Der Papa, der seinen leiblichen Sohn vorzieht und die
„nicht-leiblichen“ Kinder ablehnt, die Mama, die Sabine lieber hat als ihn und die
Oma, deren Lieblingskind wiederum er selbst ist. Gerade wegen der Kinder gibt es
häufig Streit. Da jeder Erwachsene zu jedem Kind eine eigene Ansicht und einen eigenen Erziehungsstil zeigt, kommt es zu häufigen Konflikten, so dass sich wenig
Orientierung und wenig Sicherheit für Tim bietet.
Tim lernt damit umzugehen, er kennt es auch nicht anders. So kümmert er sich nicht
darum, wenn sich die Erwachsenen streiten. Er geht zu seinem kleinen Bruder Lars:
„Dann hab’ ich halt mit dem Lars was gespielt“ (Interview I a, 5/27). Während die Eltern streiten, rücken die Geschwister zusammen und beschäftigen sich allein. So
geben sie sich gegenseitig emotionale Zuwendung, Halt und Geborgenheit. An dieser Stelle wird der Zusammenhalt der Geschwister untereinander besonders deutlich. An mehreren Stellen der Interviews wird das Zusammengehörigkeitsgefühl von
Tim zu seinen Geschwistern, aber auch zu seinen Eltern und seiner Oma in Form
von einem „Wir-Gefühl“ ausgedrückt: „…Wir ham dann so gespielt…“ (Interview I a,
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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4/18). Aber auch wenn Tim feststellt, dass seine Eltern immer weggehen und erst
spät abends nach Hause kommen, kritisiert er dabei eher, dass sie „…den Lars
meist mitgenommen“ (Interview I a, 4/26-27) haben, als dass seine Eltern eigentlich
nie da sind.
Als Tim 8 Jahre alt ist, mündet der Streit der Eltern in der Beendigung ihrer Beziehung. Für Tim wendet sich der Alltag zum Besseren, als sich seine Eltern trennen.
Der alltägliche Streit in der Familie wird durch den Auszug von Herrn Teichert erheblich reduziert:
„…Ich weiß nur, dass es dann ’ne ganze Zeit gut lief (.) und dann kam halt irgend ’n Mann oder irgend ’ne Frau (..). [I.: Ein Mann oder ’ne Frau?]. Ähm (.),
’n Mann glaub’ ich (.), aber ich weiß net, wo der her kam. Ich glaub’ (.), vom
Jugendamt oder so“ (Interview I a, 5/4-8).
Plötzlich kommt ein fremder Mann vom Jugendamt in die Familie. Für Tim unverständlich, da er selbst die Situation schon einmal schlimmer erlebt hat. So betont er
im Verlauf des Interviews mehrmals, dass doch alles „eigentlich“ gar nicht so
schlimm war. Hier deckt Tim seine Familie, die damals wie auch heute sein einziges
soziales Leben darstellt. Laut Entwicklungsbericht vom 09/1998 wird auf Empfehlung von Tims Schule und Tagesstätte vom Jugendamt eine Sozialpädagogische
Familienhilfe als eine weitere Unterstützung für die Familie bewilligt, „...um zu Hause
Strukturen einzurichten und klare Grenzen zu setzen“. Tim erlebt rückblickend den
Eingriff von außen in das Familienleben als Vorbote zum Kinderdorf. Denn für ihn
plötzlich und unerwartet wird die Tagesstätte vom Jugendamt als beendet erklärt.
Tims damalige Reaktion auf diese Nachricht ist laut ASD-Aktenvermerk (09/2000)
„...überrascht und eher nicht so begeistert“. Tim verbringt die Nachmittage von nun
an zu Hause. Schwierig wird es nach Aktenlage, als eine Räumungsklage der Vermieter ansteht und die SPFH durch den damaligen Mitarbeiter wegen fehlender Mitwirkung der Mutter beendet wird (vgl. ASD-Aktenvermerk 09/2000). Tims Mutter, deren Alltag daraufhin nur von der Wohnungssuche bestimmt ist, kann sich nicht um
ihn kümmern. Gleichzeitig finden Herr Teichert und seine Mutter nach ASDAktenvermerk vom 09/2000 auch wieder zueinander. Für Tim wird es immer schwieriger sich zu orientieren. Laut ASD-Aktenvermerk vom 05/2001 reagiert er auf die
ihm mögliche Weise: So weigert er sich in der Schule nach Hause zu gehen, versteckt sich beim Heimbringen hinter der Lehrerin, macht keine Hausaufgaben mehr
und provoziert seine Mutter, z.B. zieht er sich im Bus vor seiner Mutter und allen
anderen Passagieren völlig nackt aus. Seine Mutter ist mit ihm und der Situation
überfordert.
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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Tims Hilferufe werden missverstanden, denn der „...Verdacht auf häusliche Gewalt“
(ASD-Aktenvermerk, ebd.) entsteht. Dieser lässt eine Heimerziehung für das Jugendamt dringlicher werden. Nach Aktenlage ist jedoch erst die Schule der ausschlaggebende Aspekt, die eine Beschulung von Tim wegen seines Verhaltens nicht
mehr gewährleisten kann, ihn vom Unterricht ausschließt und eine Unterbringung
von Tim in ein therapeutisches Heim empfiehlt.
4.1.2. Die Perspektive der Mutter
Frau Berger erlebt die frühe Kindheit Tims wegen konfliktreicher Beziehungen zu
den jeweiligen Vätern ihrer Kinder als problematisch. Die Zeit der Trennung von
Tims Vater und die Geburt von Tim schildert sie so:
„Ich war dann schwanger und (.) äh bei der Trennung, wo Tim noch nich’ auf
der Welt war (räusper), ähm (..) war ich im Frauenhaus. (…) Bis ich die Wohnung wieder gekriecht hab’. Und dann (.) bin ich dann wieder zurück. Und (.)
hab’ den Tim dann gekriecht. Er war zwar dabei bei der Entbindung (.) und (..)
danach dann auch, hat ihn dann zum Besuch g’habt“ (Interview II, 3/35-41).
Noch während der Schwangerschaft flüchtet sie in ein Frauenhaus: Ein deutlicher
Hinweis auf gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen ihr und dem Vater (siehe
3.3. Hintergründe zu Tims Familiensituation). Als der Vater aus der gemeinsamen
Wohnung auszieht, kehrt Frau Berger zurück. Trotz allem ermöglicht sie dem Vater,
bei der Geburt von Tim dabei zu sein und seinen Sohn auch weiterhin zu sehen. Ob
Tim während des Krankenhausaufenthalts der Mutter (siehe 3.3. Hintergründe zu
Tims Familiensituation) beim Vater gelebt hat, kann nicht geklärt werden.
Die Entwicklung von Tim als Kleinkind beschreibt Frau Berger so:
„Ja, dass er ziemlich bald angefangen hat zu laufen (..) und (..) er hat immer
viel getrunken (lacht) und war halt ziemlich stark (..) und da hat der Arzt sogar
g’sacht, dass er eben (..) abnehmen müsste“ (Interview II, 2/7-9).
Tim hat nach ihrem Erleben als Kind immer einen großen Hunger und sehr viel Gewicht gehabt. Laut ASD-Aktenvermerk vom 03/2001 ist Tim schon als Kleinkind sehr
unruhig. Aufgrund seiner frühen Hyperaktivität (siehe 3.3. Hintergründe zu Tims
Familiensituation) und der damit verbundenen ständigen innerlichen Unruhe sucht
Tim schon früh Bewegung. Auch dies ist ein weiterer belastender Aspekt für die
Mutter-Kind-Beziehung. Es ist zu vermuten, dass sie ihm vermehrt die Flasche gegeben hat, um ihn zu beruhigen. Zudem wird Tim kein einfaches Kind gewesen sein
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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und sie schnell an ihre Grenzen gebracht haben, da sie selbst aus ihren bisherigen
Erfahrungen wenig Potential an Ressourcen entwickeln konnte, um sich von ihm zu
erholen. Auch die frühe Trennung zwischen Tim und ihr nach der Geburt belasten
den Aufbau einer emotionalen Mutter-Kind-Bindung.
Nach weiteren zwei Jahren wird Tims Schwester geboren und Frau Berger flüchtet
mit ihren beiden Kindern ein zweites Mal ins Frauenhaus, diesmal wegen des Vaters von Sabine. Auch hier erlebt sie einen Mann, der gewalttätig ist und trinkt. Dies
bedeutet, dass der Vater von Sabine entweder doch mit in der gemeinsamen Wohnung oder die Familie zumindest zeitweise bei Sabines Vater gelebt haben muss.
Währenddessen hat Tim weiterhin Kontakt zu seinem leiblichen Vater, den Frau
Berger so erlebt:
„Der hat halt immer (.) ziemlich oft gestritten, weil die Besuchskontakte war’n
(…) net direkt beim Frauenhaus, sondern ’n Stück weiter weg. (…) Ja, da hat
er (.) die Wut an mir und an der Sabine ausgelassen. [I.: Der Tim?] Ne, der Vater. (…) Und hat mich dermaßen beschimpft (..). Der Tim der kam dann verstört (..) ähm wie sagt man (..), aufgehetzt zurück und ließ dann wieder des (.)
an der Sabine aus. Entweder (.) er hat sie ’runtergeschmissen (.), er hat sie
geboxt (.), dann war er bös’ auf mich…“ (Interview II, 4/13-27).
Frau Berger hat sich von Tims Vater bedroht gefühlt, der ihren Sohn gegen sie aufhetzt. Auch der ASD-Aktenvermerk (1997) bestätigt: „Die Kinder der Väter hätten
sich … gegen Frau Berger solidarisiert und sie massiv belästigt“. Gemeint sind hier
wohl eher die Väter der Kinder, die ihr damals das Leben schwer machen. Die Situation ist aber umso prekärer, wenn Frau Berger tatsächlich das Gefühl hat, dass ein
10 Monate alter Säugling und ein dreijähriges Kleinkind sich gegen sie verbünden
und sie belästigen. Doch wie auch immer, Frau Bergers Familiensystem gerät außer
Kontrolle. Die Schuld an Tims Verhalten, d.h. seine Aggressionen gegen sie und die
Schwester, sieht sie in der Person des Vaters. Doch Tim, ohnehin schon unruhig,
verbündet sich nicht mit dem Vater gegen sie, sondern steht zwischen den Fronten.
Er reagiert auf den Stress in seiner Umgebung, auf die massiven Konflikte und das
instabile Umfeld.
Den Tag, als Tim seinen Vater das letzte Mal sieht, erlebt sie rückblickend so:
„Na ja, dann hat sich halt das Ganze gesteigert und dann war’s dann (..) letzten Besuch kann man sagen ja (…) äh kam er/ hab’ ihn dann ganz verstört
abg’holt. (…) Und da hab’ ich auch gemerkt, dass was net stimmt. (…) Ähm (.)
da (.) ging er halt wieder auf die Sabine los (..), dann is’ er ’rausgerennt und (.)
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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wollt sich halt über’n Balkon (.) springen. (…) Dann hab’ ich ihn grad noch erwischt (..5..). Dann bin ich mit ihm ins Bad gegang’n und (..) hab’ dann g’fragt
eben, was eben los war …. Da hat er so ’rumgedruckst (..) und hat halt eben
g’sagt: ‚Der (..) Papa hat sein Pissi bei mir in mein Popo nei gesteckt’ (Interview II, 4/31-5/2).
Dass Tim sich tatsächlich im Alter von drei Jahren über den Balkon stürzen will, erscheint doch sehr unwahrscheinlich. Der Schlüsselsatz liegt woanders: „…Da hab’
ich auch gemerkt, dass was net stimmt“ (Interview II, 4/35). Frau Berger, die Angst
hat, Tim zu verlieren, interpretiert Tims Verhalten und zwar mit dem dringenden Bedürfnis, den Vater loszuwerden, der nach ihrem Erleben die eigene Beziehung zu
ihrem Sohn gefährdet. Denn er ist derjenige der Väter, dessen Umgangsrecht sie
nicht unterbinden kann, da es ihm im Zuge der Scheidung gerichtlich eingeräumt
wurde. Für diese Annahme sprechen mehrere Gründe:
1. die Mutter dient Tim als Vorbild, auch was ihre Problemlösestrategien anbetrifft.
Nach den Lerntheorien von Bandura (1959, 1963) ist das ‚Lernen am Modell’ ein
Lernprozess gerade bei Kindern, in dem sie Verhaltensweisen, die sie bei anderen
beobachten, übernehmen. Da Tim in schwierigen Situationen meist andere Menschen vorschiebt, damit er sich nicht selbst belasten und sich und sein Handeln hinterfragen muss, liegt der Verdacht nahe, dass Tim dies bei der Mutter beobachtet
und gelernt hat. Das heißt: Damit sie sich selbst keine Schuld geben muss, wird der
Vater von ihr als der Schuldige erlebt, der die Familiensituation und ihre Beziehung
zu Tim ganz erheblich beeinträchtigt. Zudem sieht sie sich aus mangelnder Selbstsicherheit nicht in der Lage, ihre eigene Meinung auf direktem Wege zu vertreten
und sich zu wehren. So schiebt sie Tim als Grund vor. (Dies erklärt auch die Situation, dass Frau Berger dem Vater die Möglichkeit gibt, bei der Geburt seines Sohnes
dabei zu sein, trotz eines traumatischen Ereignisses wie einer Flucht ins Frauenhaus; gesetzt den Fall, dass der Vater darauf bestanden hat);
2. das Verstehen von Tims nonverbalen Aussagen zeigt sich im weiteren Verlauf
des Interviews als doch untypisch für die Beziehung zwischen ihr und Tim;
3. die Mutter projiziert im weiteren Verlauf des Interviews häufig Dinge auf Tim, die
sie entweder für sich selbst wünscht oder die sie selbst erlebt hat. D.h. es kann sein,
dass die Mutter einen sexuellen Missbrauch erlebt hat, aber nicht bei Tim, sondern
bei sich selbst, d.h. der sexuelle Missbrauch an Tim wird von ihr tatsächlich als real
angesehen;
4. sie weicht meiner Frage nach der Beziehung zwischen Tim und seinem Vater
mehrmals aus: „Na ja, des is’ halt ziemlich lang her. Ich weiß ja net, wie (…).
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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[I.: Können Sie sich nich’ mehr dran erinnern, wie der Tim heim kam?] Doch das
weiß ich, aber ich weiß jetzt net, ob ich das (.) so sagen soll“ (Interview II, 4/9-11).
Gleichzeitig sichert sie sich und den Wahrheitsgehalt ihrer Geschichte ab: „Das hat
er nur mir g’sagt“ (Interview II, 5/4) und sucht lange Begründungen, obwohl ich ihr
nicht signalisiert habe, dass ich ihren Ausführungen nicht glaube.
Frau Berger erlebt Tims Verhalten jedenfalls als hoch problematisch und schaltet
professionelle Hilfe ein:
„Ich hab’ dann (.) zu ihm g’sagt: ‚Ich helf’ Dir’ (..) und hab’ dann näxten Tach
gewartet, bis die eben (.) vom Haus komme’ sind. (…) Und da gab’s dann eben extra welche für (.) die Eltern und (.) für die Kinder dann extra äh (.) Erzieher oder wie man da sacht. (…) Dann hab’ ich’s denen g’sacht (..) und die
ham’s natürlich net geglaubt (…) und ich hab’ dann ’n Termin ausgemacht (.)
bei ’ner Beratungsstelle für mein Sohn. (…) Und dann hat sich die eine Frau,
wo für die Kinder zuständig is’ äh unterhalten mit ihm. Da hat er nur ’n Bild
gemalt und (.) hat’s zusammengerissen und drauf ’rumgetret’n und hat gesacht: ‚Endlich is er tot, der böse Papa!’“ (Interview II, 5/4-18).
Sie weiß, was zu tun ist und wartet auf die Kinderpsychologen des Frauenhauses,
deren Hilfe sie für Tim in Anspruch nimmt. An ihrer Vorgehensweise wird deutlich,
dass sie gut organisiert ist und weiß, wie und wo sie sich Hilfe holen kann. Zudem
räumt sie in ihrer Darstellungsweise mit dem Wort „natürlich“ schon im Vorfeld der
Geschichte eventuelle Zweifel des Zuhörers aus. In ihrem Erleben wird ihr von den
Behörden nicht geglaubt und ihre Aussage nicht ernst genommen:
„Ne, ich hab’s dann eben zur (.) Anzeige gebracht, die [gemeint ist hier die
Frau vom Frauenhaus; Anm. d. Verf.] is’ dann mit mir (.) zur Polizei, der Tim
war dabei.. . (…) Und natürlich hat er sich da net/ nix eben (.)/ der hat zu denen nix gesacht. (…) Warum, weiß ich jetzt auch net. Vielleicht weil sie fremd
war’n oder äh. (…) Kann sein. Dann wurde das eben unter ’n Teppich gekehrt.
[I: Und warum?] Weiß ich net. Ich hatte ja den Termin da eben g’habt und die
ham dann dort ang’rufen und ham gesacht, weil die sich untereinander gekannt haben so so so Freunde war’n die gewesen, die ham dann gesacht: ‚Da
war nix’…“ (Interview II, 5/38-6/12).
Frau Bergers Verdacht wird nicht bestätigt. So sucht sie für sich nach Begründungen, warum Tim bei der Polizei „umgefallen“ ist und die Beschuldigungen gegen den
Vater nicht wiederholt hat. Aus ihrer Sicht unverständlich. Daher gibt sie den Behörden und deren „Vetternwirtschaft“ die Schuld daran, dass der Verdacht nicht weiter
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verfolgt wird. Sie hat alles getan, was sie tun konnte, um ihrem Sohn zu helfen. Aber
auch sie verfolgt den Verdacht nicht weiter. Die Besuchskontakte des Vaters werden von ihr von nun an im Rahmen eines begleitenden Umgangs geplant:
„Da musst’ ich ihn weiterhin (.) äh trotzdem mitgeb’n (.), aber ich hab’ das
dann so gestaltet (..) äh bei der Beratungsstelle (.) in B-Stadt, …dass er dorthin kommt und dort den Sohn abholt und (.) damit die seh’n, wie er is’. (…) Na
ja, ich bin dreimal hingang’n (.) und dreimal umsonst (..). Das dritte Mal hat er
dann angeruf’n (.) und hat den Leiter oder wie man sacht man da? (…) Äh (…)
zusamm’n geschimpft und hat nur gesacht: (..) ‚Ich will nix mehr wissen (.), die
soll mit dem Bangert4 machen, was sie will!’ Das war das letzte, was ich dann
(.) eben g’hört hab’“ (Interview II, 5/20-31).
Nachdem Frau Berger in das Besuchsrecht des Vaters nicht eingreifen kann, versucht sie in der Beratungsstelle zu zeigen, „wie er is’’. Die Mutter setzt darauf, dass
die Mitarbeiter sehen, dass der Vater Tim nicht gut tut, damit sie die Besuche zwischen Tim und ihm kürzen oder beenden kann. Doch so weit kommt es nicht. Der
Vater hat genug und bricht den Kontakt ab. Das Empfinden von Tim, um das es hier
eigentlich geht, beachtet sie in diesem Prozess nicht mehr. Die Hauptsache für sie
ist, dass Tim den Vater nicht mehr sehen muss. Doch heute weiß sie, dass Tim seinen Vater nicht vergessen hat und über ihn spricht: „Und (.) der kann sich auch
praktisch (.) jetzt (.) nimmer d’ran erinnern, wie er ausschaut oder (.) wo er wohnt“
(Interview II, 2/29-31). So wird auch in der letzten Hilfeplanfortschreibung thematisiert, dass Tim Kontakt zu seinem Vater aufnehmen möchte. Dort wird festgehalten,
dass Frau Berger erst heute damit einverstanden ist.
Frau Berger erlebt gerade diese Zeit für ihre eigene Beziehung zu Tim als sehr
schwierig: „Auf der einen Seite wollt’ ich helfen (..), konnt’ ich oder durft’ ich net. (..)
Ja, und auf der andern Seite war ich irgendwie (.) hilflos“ (Interview II, 6/19-21). Frau
Berger beschreibt hier zum einen die Zurückweisung der Ämter und Behörden, die
sie in ihrer Hilfe für Tim einschränken, zum anderen erlebt sie ihren Sohn damals
selbst als schwierig mit seinen Aggressionen, die ihr das Leben nicht leicht machen
und die Mutter-Kind-Beziehung erheblich belasten. Sie hat handeln müssen, um das
Gleichgewicht ihres Familiensystems wieder herzustellen.
4
Anmerk. d. Verf.: „Bangert“ = fränkisch; bedeutet so viel wie „Bengel, Lausbub“
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Im Gegensatz dazu schildert Frau Berger Tims Kindergartenalter problemlos und
„ruhig“:
„Ja, im Kindergarten (.) äh da war er damals in (.) B-Stadt gewesen (.) und das
war grad in Umbau. Da war’n sie so in ’nem Container/ war’n die Kinder da untergebracht. Und (..) da hat er sich eigentlich recht gut zurecht gefunden“ (Interview II, 2/33-36).
Erst im Laufe seiner Schulzeit wird Tims Verhalten wieder „unruhiger“:
„Und in der Schule (..4..) da wurd’ er eben meistens gehänselt, weil er net (.) /
weil er eben anders war wie ’n ander’s Kind (…). Des war auch (.) daheim, wo
ich gewohnt hab’ (.), weil ich ihn da zur Fußballgruppe äh ’reingetan hab’ …
und dann wurd’ er immer zurückgestuft (.), also in die kleinste Gruppe (...) und
(.) das hat ihn schon mitgenommen. (…) Ja, dann kam noch (.) der Umzug
noch, Wohnungssuche“ (Interview II, 2/36-3/1).
Hier treffen aus der Sicht der Mutter gleich mehrere Faktoren von äußeren Umständen für Tims Unruhe aufeinander. In der Schule und in der Fußballgruppe hat Tim
Probleme mit anderen Kindern und Erwachsenen, weil er „anders“ als andere, also
nicht normal ist: „…Der wurde halt richtig veräppelt (.) von den Erwachsenen aus
und von den Kindern“ (Interview II, 8/8-9). Tim hat „Tics“ „…an den Augen dann mit
der Hand…“ (Interview II, 8/8), die vermutlich als Nebenwirkung des Medikaments
gegen seine Aufmerksamkeitsstörung auftreten, das er einnimmt. Diese Tics machen ihn andersartig, womit die Menschen in seiner Umgebung nicht umgehen können:
„Die ham ihn halt quasi/ die ham gewusst, das er eben wenn er aufregt is’, ’n
Tic hat (..). Und dann ham sie ihn noch (.) mehr aufgepuscht, kann man sagen. Zum Beispiel äh (.) in der Fußballgruppe wurd’ er zurückgestuft (..) von
der großen Mannschaft in die ganz kleine. Also das heißt dann scho (…) einiges. Und mei Tochter war da noch dabei gewesen, die war dann (.) ziemlich
stark, konnt’ sich net bewegen. Dann hat die noch ’n Dämpfer abgekriecht von
den Erwachsenen. (…) Dann hab’ ich ihn dann ’rausgetan (..) und ähm (...)
den Tach dann (..) sind dann die ganze Gruppe ans Haus hingekomme’ und
ham ihn dann (.) veräppelt. (…) Die ham ihn auch so veräppelt, weil er (.) extra
mit ’m Bus abgeholt worden is’ und wieder gebracht is’ und eben net in die
Schule ’gange is’, wo wir im Dorf g’wohnt ham“ (Interview II, 8/17-36).
Frau Berger erlebt hier, wie andere ihre Kinder ablehnen und ausgrenzen. Das eine
ist dick und das andere ist nicht normal. Auch sie fühlt sich schuldig, da sie diejenige
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gewesen ist, die Tim zur Fußballgruppe gebracht hat, in der Hoffnung, er findet Anschluss. Die Zurückstufung von Tim in die kleine Gruppe empfindet sie selbst als
Erniedrigung und hat großes Mitleid mit ihm. Sie erlebt, wie Tim von seinen Fußballkollegen, die auch im Dorf wohnen, verfolgt und gepiesackt wird. In diesem Kontext
fällt auch das Stichwort „Malteser-Bus“, den Tim schon thematisiert hat. Auch Frau
Berger erlebt den Bus als ein klares Zeichen für die anderen, dass Tim auf eine
Förderschule geht und er deshalb geärgert und für „doof“ erklärt wird.
Seine Reaktionen auf die Beleidigungen und das „Veräppeltwerden“ beschreibt sie
so: „Nee, wie sacht man da (..) äh (.) er hat auf seine Schwester aufgepasst, weil sie
die auch veräppelt ham (..) Er war halt praktisch der Große dann in der Gruppe und
hat halt sein Bestes gemacht“ (Interview II, 8/26-28). Sie ist stolz auf ihn, weil er seine Schwester beschützt und sich nicht darum gekümmert hat, was andere sagen.
Sie nimmt nicht bewusst wahr, dass sich die Ablehnung Tims der anderen Kinder
auch gegenseitig bedingt. Tim, der sozial sehr unsicher ist und schnell Angst hat,
hat erhebliche Probleme in jeder Gruppe von Gleichaltrigen. Nach dem Entwicklungsbericht vom 05/1997 habe er „…große Probleme Kontakt mit Gleichaltrigen
aufzunehmen. Er verstoße extra gegen Regeln im Spiel, um Aufmerksamkeit auf
sich zu ziehen“. Ein Jahr später heißt es im Entwicklungsbericht vom 05/1998, dass
Tim „versteckte, verbale Aggressionen“ zu anderen Kindern zeigt und sich Konflikte
mit ihm häufen. Zudem stiehlt er, was ihr eigentlich bekannt sein dürfte. Um ihre eigene Darstellung einer eigentlich heilen Familie, die nur durch äußere Umstände
problematisch ist, nicht zu erschüttern, deckt sie Tim.
Gespräche, wie sich Tim in solchen Momenten fühlt, hat sie mit ihrem Sohn nicht
geführt: „Nee, ich hab’s halt gemerkt und (…) quasi, er hat halt keine Freunde
g’habt“ (Interview II, 8/40). Dennoch weiß sie sehr gut, wie es ihm geht: „Er hat’s
dann g’spürt“ (Interview II, 8/17) oder „…Das hat ihn schon mitgenommen“ (Interview II, 2/42). Sie weiß es, weil es ihr selber nicht anders geht und sie das Gleiche
erlebt, denn Frau Berger leidet nicht nur mit Tim, sondern auch unter Tim: „Doch ich
kannt’ viele, aber (.) die ham sich net (..) mit mir ab’geben (.). Auch wie die Kinder
sich net mit ’m Tim ab’geben ham (..). Die ham mich ausg’schlossen (..) Es gab nur
eine Frau, die (..) äh (.) kann man sagen, die zu mir g’halten hat und die auch mich
verstanden“ (Interview II, 9/6-9). Auch Frau Berger selbst hat erhebliche Probleme
damit, wie Tim ist: „Da hat er ja/ da war/ da war er eben noch nich’ so“ (Interview II,
7/31). Sie hat das Gefühl, damals seinetwegen aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen zu werden: „Ich hab’s halt denen erklärt äh (.) wie’s is’. Wie sie’s halt aufgenomme’ ham, weiß ich net (..). Und (.) ich hab’ halt immer zu ihm gehalten“ (Inter-
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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view II, 8/14-15). Ihre eigenen sozialen Probleme projiziert sie auf Tims „Tics“ und
Unruhe. Seinetwegen ist auch sie sozial isoliert und wird von der Dorfgemeinschaft
gemieden. Deshalb hat auch sie lange Zeit keine Freunde. Die einzigen Sozialkontakte sind ihre Kinder und ihr Lebensgefährte Herr Teichert. Hier wird zum einen eine große Abhängigkeit voneinander sichtbar, zum anderen wirkt sich dieser Aspekt
gerade für Frau Berger als sehr belastend aus. So legt sie laut Entwicklungsbericht
vom 10/1998 „...großen Wert auf Zeiten mit ihrem Lebenspartner Herr Teichert, in
denen die Kinder nicht dabei sind“. Ihr schlechtes Gewissen darüber, dass sie häufig nicht da ist, beruhigt sie mit der bestmöglichen materiellen Versorgung der Kinder. Die materiellen Dinge dienen aber vermutlich nicht nur der Beruhigung ihres
schlechten Gewissens: Da sie mit Tim nicht zurecht kommt und oft nicht weiß, wie
sie mit ihm umgehen soll, erkauft sie sich Zuneigung und ein „gutes“ Verhalten von
Tim mit Versprechungen und Geschenken. So hat Tim laut Sonderpäd. Gutachten
vom 05/1997 auch bereits im Kindergarten versucht, sich „...Zuwendung durch Geschenke und Versprechen bei anderen Kindern zu erkaufen“. Nach lerntheoretischer
Sicht liegt es nahe, dass er dies bei seiner Mutter gelernt hat.
Auch in der häuslichen Situation erlebt Frau Berger Tim zunehmend als Belastung:
„Ja, er war halt recht/ ja (..) er hat noch Tagestätte g’habt (.) und (..) da is’ er
halt auch immer erst nachmittag heim’komme’. (…) Der Tach war fast ’rum
und (..) da hat er eigentlich dann net viel g’macht. Außer am Wochenende
dann die Hausaufgaben g’macht (...) und (..) hat auch viel gelesen (.). Draußen (.) war er eigentlich (.) net viel, außer wenn ich ’rausgangen bin (…). Und
(.) mei Mutter hat damals noch ’n Garten g’habt und da is’ er dann (.) viel mit
’rausgangen“ (Interview II, 9/35-10/2).
In der Freizeitgestaltung trennt sie klar zwischen Tim und sich selbst. Die Familienmitglieder gestalten ihren Tag jeder für sich, nicht gemeinsam. Frau Berger will,
dass die Kinder sich allein beschäftigen, um sich selbst mehr Freiheiten zu ermöglichen. Sie empfindet Tim, der sich allein nicht mehr nach draußen traut, sich wegen
seiner sozialen Isolation sehr an sie hängt und viel Aufmerksamkeit von ihr wünscht,
als ständigen Begleiter ihrer selbst als lästig. Mit ihm ist es anstrengend und „aufregend“. Gleichzeitig steht er ihr im Weg, um soziale Kontakte knüpfen. Sie wünscht
sich mehr Zeit für sich. Da Tim keine Freunde hat, ist sie froh über die Zeit, die er in
der Tagesstätte oder mit der Oma verbringt. Die Tagesstätte wird nach drei Jahren
sehr plötzlich beendet. So heißt es in einem ASD-Aktenvermerk vom 07/2000: „Die
Einrichtung zeigt sich überrascht über die plötzliche Beendigung der Hilfe. Sie äußert Unverständnis und Misstrauen, dass es zu Hause mit Tim funktionieren kann.
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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Sie gab zu bedenken, dass …keine Übergabe an Frau Berger stattgefunden hat“.
Das Jugendamt aber besteht auf eine Entlassung Tims aus der Tagesstätte, da seit
Anfang 2000 eine Sozialpädagogische Familienhilfe als Unterstützung für Frau Berger innerhalb der Familie dient und begründet die Entscheidung so: „Durch die Anwesenheit von Tim in der Familie am Nachmittag wird es der laufenden SPFH ermöglicht, mit Mutter und Kind zu arbeiten“ (ASD-Aktenvermerk 7/2000).
Wie von der Tagesstätte vorausgesehen, wird es gerade in dieser Zeit für Frau Berger schwierig. Da Tim nun den ganzen Nachmittag zuhause verbringt, hat sie zunehmend weniger Zeit für sich, in der sie sich von ihm erholen kann. Auch Probleme
mit dem Lebensgefährten Herrn Teichert, dem Vater von Lars, belasten ihrer Ansicht nach das Familienleben:
„Äh (.), am Anfang (.) hat er halt die beiden Kinder gemocht. Na ja, dann hab’
ich dann noch eins gekriecht und dann hat er halt eben (..)/ is’ er mit denen net
zurecht gekommen. Dann hat er quasi den ganzen Tach nur (.) geschrien (..),
is’ net mit den Kindern zurecht komme. [I.: Und warum?] Ich weiß net. Der hat
halt nur (.)/ ich weiß net, der war so komisch. Der/ den hat halt alles gestört
(..). Als Beispiel beim Essen. Wenn sie geredet ham oder mh (..) jede Kleinigkeit, is’ er gleich aufgebraust … und da hab’ ich halt ihm (..) scho ’n paar Mal
g’sacht, dass er halt eben (..)/ dass ich mich dann trennen will. (…) Na ja, das
hab’ ich dann auch gemacht“ (Interview II, 6/26-38).
Auch an dieser Stelle erwähnt sie sich selbst nicht. Um sich und ihre Person nicht
zu gefährden, ist nach ihrem Erleben Herr Teichert derjenige, der mit „denen“,
sprich Tim und Sabine, nicht klar kommt. Wie in fast allen Passagen des Interviews,
in denen es um schwierige Situationen geht, grenzt sie sich hier wörtlich klar von ihren Kindern ab. So hat sie wieder eigentlich nichts damit zu tun. Herr Teichert fordert Struktur und Regeln ein, hat aber Probleme mit der Inkonsequenz der Mutter.
Weil Tim macht was er will und auf Anforderungen nicht reagiert, sollen nach dem
Entwicklungsbericht der Tagestätte Regeln in den Alltag der Familie integriert werden, an die sich Frau Berger nicht hält. Hier ist zu vermuten, dass Herr Teichert Regeln einfordert und dadurch zusätzliche Konflikte entstehen. Für Frau Berger ist das
ein Zeichen, dass er mit den Kindern nicht zurecht kommt. Sie erlebt ihn nicht mehr
als Unterstützung im Alltag, sondern eher als Hindernis.
Hinzu kommt, dass die Wohnungssituation schwierig wird. Frau Berger schildert das
so: „Weil (...) da durft’ er [Tim; d. Verf.] halt dieses und jenes net machen (.) von den
(.) Vermietern aus“ (Interview II, 3/1-2). Wieder projiziert sie hier die internen familiä-
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Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
ren Probleme auf das Verhalten von Tim. Schuld sind die Vermieter, die Tim in seiner Freiheit einschränken. Laut ASD-Aktenvermerk vom 09/2000 wird das Wohnverhältnis wegen häufigen „lautstarken“ Auseinandersetzungen der Familie gekündigt. An anderer Stelle des Interviews stellt sie den Umzug als ihre eigene Lösungsstrategie dar: „Und (..) na ja dann hab’ ich dann versucht, wechzuzieh’n“ (Interview
II, 9/4).
Frau Berger erlebt, wie sich, verstärkt durch den Umzug Herrn Teicherts und der
Schule, Tims „Unruhe“ immer weiter verschlimmert:
„…Und (…) das Ganze hat sich dann halt gesteigert in der Schule und (..) ja
mit dem (.) Lebensgefährten, dann mit dem Umzug, weil ich ewig keine Wohnung gefunden hab’ (..). Das war’n über zwei Jahr“ (Interview II, 7/33-35). „Und
dann hab’ ich halt a Wohnung gefund’n (..). In der Zwischenzeit is’ er weiter in
die Schule ’reingegangen und die ham dann nich’ mehr äh (.) genommen, die
war’n halt kann man (.) sagen, fertig mit ihrem Talent“ (Interview II, 3/6-8).
Frau Berger sieht lauter äußere Faktoren, die Tim und ihr das Leben schwer machen. Nach der Trennung finden sie und Herr Teichert jedoch wieder zueinander
und die Situation beruhigt sich, zumindest innerhalb ihrer Beziehung. Die SPFH ist
ihr bei der Wohnungssuche und auch im Umgang mit Tim keine Unterstützung und
wird daraufhin zwei Monate später abgebrochen. Frau Berger, die mit Tim zuhause
überfordert
ist,
drängt
laut
SPFH-Abschlussbericht
(09/2000)
auf
eine
„…Hortunterbringung Tims am Nachmittag“.
Den Auslöser für Tims Unterbringung in einem Heim sieht Frau Berger klar in der
Reaktion der Schule auf Tims Verhaltensweisen. So beschreibt sie:
„Ja, die (..) Schule hat mich dann angesprochen und hat g’sacht, ich soll mich
halt eben (..)/ dass die net zurechtkommen mit ihm, weil er (.)/ er hat Proben
verbessert (.), er hat sie durchgestrich’n, im Unterricht net aufgepasst (..),
dann (..) sämtliche Verstecke gekannt, was (.) ähm also unmögliche Sachen
angestellt (…). Na, das hat sich halt total hoch gesteigert, weil er eben net so
is’ (.) oder war wie eben ’n anders Kind. (…) Weil eben net (..) äh die ham halt
ihm gezeigt, dass er eben net (.) zu denen gehört oder ham sich net mit ihm
abgegeben (.). Gar nix“ (Interview II, 7/18-26).
Ein Aspekt wird an dieser Stelle ganz deutlich: Die Beziehung zwischen ihr und Tim.
Sie selbst erlebt Tim nicht als ein normales Kind. Auf der einen Seite ist Tim ihr
Sohn, den sie gern hat oder den sie gern gern hätte und für den sie sehr viel Verständnis zeigt. Auf der anderen Seite ist sie die Mutter eines Kindes, das „…eben
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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net so is’ oder war wie eben ’n anders Kind“ (Interview II, 7/23), mit und wegen dem
sie nicht das Leben führen kann, das sie gern leben würde, der sie einschränkt, der
sie einsam macht und der zunehmend schwieriger wird. Um dies nicht zugeben zu
müssen, schildert Frau Berger hier wieder, dass es nur die anderen sind, die mit
Tim nicht klarkommen. Aber: Sie verspricht und korrigiert sich am Anfang ihrer Aussage. Eigentlich hat sich die Schule an sie gewandt und ihr nahe gelegt, sich ans
Jugendamt zu wenden und Hilfe anzufordern, weil Tim in der Klasse nicht mehr
tragbar ist. Und sie nimmt die Aufforderung ernst und geht zum Jugendamt.
4.1.3. Die Perspektive der Erzieherin
Über die frühe Kindheit Tims weiß die Erzieherin Frau Sonntag nicht sehr viel. Ihr
heutiges Wissen kann sie zum größten Teil nur über die Akte rekonstruieren. In späteren Gesprächen mit Tim oder der Mutter entdeckt sie für sich viel Widersprüchliches: „Das was der Tim erzählt und das was die Mutter erzählt, deckt sich nich’ immer mit dem, was in der Akte steht (.). Und da steht sehr wenig“ (Interview III, 4/1113). Frau Sonntag ist sich auch heute noch sehr unsicher, was wirklich stimmt und
was nicht. Sicher weiß sie nur, dass Tim „…von Anfang an (.) wohl (.) für die Mutter
als sehr schwierig erlebt worden is’“ (Interview III, 4/13-14). So schildert sie:
„…Also ein Vorfall steht in der Akte, dass wenn (.) er sich (.) nicht gegen die
Mutter behaupten konnte, hat er sich dann auch nackt im Bus ausgezogen
und hat die Mutter also bis aufs Letzte provoziert. Und sie (.) war einfach nich’
in der Lage, ihm dann da ’nen Endpunkt oder ’ne Grenze zu setzen und dann
hat’s einfach (.), also so weiß es ich, eskaliert, weil sie mit drei Kindern einfach
auch überfordert war“ (Interview III, 4/26-31).
Frau Sonntag schildert hier einen Vorfall, der in der Akte festgehalten wird und der
ihr in Erinnerung geblieben ist. Aus ihrer Sicht ist die Mutter mit ihren drei Kindern,
besonders mit Tim, überfordert gewesen. Tim hat sich ihrer Ansicht nach einerseits
nicht gegen seine Mutter wehren können, andererseits hat er aufgrund ihrer Inkonsequenz nicht auf sie gehört und „…das ganze Haus zum Beben…“ (Interview III,
6/28-29) gebracht, besonders da sie ihm keine Grenzen aufgezeigt hat. So kommt
es damals immer wieder zu schweren Konflikten zwischen Mutter und Sohn. Ebenso sieht sie in der damaligen häuslichen Situation Probleme, da Frau Berger auch
mit dem Haushalt überfordert war: „Also, die Mutter von der Frau Berger war ja
scheinbar (.) schon lange Zeit immer (.) in dem Haushalt mit dabei und hat da so
heimlich (.) mitgeholfen, so Wäsche bügeln, Essen kochen“ (Interview III, 4/33-35).
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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Schon an dieser Stelle des Interviews wird Frau Sonntags negative und abwertende
Haltung gegenüber Frau Berger sichtbar, die im weiteren Verlauf des Interviews
immer wieder deutlich wird. Frau Sonntag unterstellt Tims Mutter „Heimlichkeiten“,
denn auch nach Aktenlage hat die Mutter von Frau Berger als fester Bestandteil des
Familienlebens offiziell mit im Haushalt gewohnt.
Die Strategie der Mutter wertet Frau Sonntag aus ihrer heutigen Perspektive als
Versuch Frau Bergers, ihre Umwelt und auch das Kinderdorf über ihre eigene mangelnde Kompetenz hinweg zu täuschen, und zwar so, „…als würd’s die Frau Berger
irgendwie geregelt kriegen. Aber eigentlich war’s sie selber nich’, sondern es waren
die Leute außen ’rum, die ihr den Haushalt aufrechterhalten haben“ (Interview III,
4/37-39). Explizit nennt sie hier Herrn Teichert, zu dem Tim „Papa“ sagt, die Oma
von Tim und einen Onkel vom Tim, die Frau Berger nicht nur den Haushalt abgenommen haben, sondern auch die Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Nur durch die
Mithilfe „…dieses Stützsystems…“ (Interview III, 5/1) schafft Frau Berger ihrem Erleben nach das Bild so, „…dass das lange Zeit so ausgeschaut hat, als wär’ das alles in Ordnung“ (Interview III, 4/43-5/1): Als wäre sie eine gute Mutter, die sich um
ihre Kinder kümmert und „…als würd sie sich in der Erziehung ihrer Kinder (.) viel,
viel Mühe geben“ (Interview III, 5/2-3). Bestätigt wird ihr Verdacht erst heute: „Je
mehr Kinder aus dieser Familie ’raus gekommen sind, umso mehr hat man g’sehen
(.), wie viel die anderen Leut’ getan haben für die Frau Berger und nich’ sie selbst“
(Interview III, 5/5-7).
Nach Frau Sonntags Eindruck waren die damaligen Wohnverhältnisse der Familie
sehr desolat und ungeordnet: Tim erzählt ihr später, dass er seine Mutter „…ganz
lange Zeit auf Kisten lebend“(Interview III, 8/32) gekannt hat, „die … alle so daheim
’rum [standen]“ (Interview III, 8/35-36) und nicht ausgepackt worden sind. Auch Herr
Teichert bestätigt heute ihren damaligen Verdacht über die häusliche Situation,
„…dass (.) immer wieder Schimmel in der Wohnung wär’ oder dass so schwierig
wär’ … ’ne neue Mietswohnung zu finden“ (Interview III, 8/38-39). Was Tim daraus
ihrer Sicht nach in Erinnerung bleibt, ist, „dass sie sehr oft umgezogen sind“ (Interview III, 8/42).
Des Weiteren schildert sie, dass Tim von seinem leiblichen Vater, „…kurz bevor er
die Familie verlassen hat, so mit drei oder vier…“ (Interview III, 6/7-8) sexuell missbraucht worden sein soll:
„…In wieweit der Verdacht oder der Vorfall wirklich stimmt (..), das konnt’ ich
bis jetzt noch net ’raus finden. Ich weiß auch net, ob man das jemals noch
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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’rausfindet. Jedenfalls (…) mh (.) is’ es so, dass die Frau Berger halt an diesem/ an dieser Geschichte dran geblieben is’ und g’sacht hat: ‚Das war so’“
(Interview III, 4/15-19).
Auch an dieser Stelle werden Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Mutter laut, obwohl sie im weiteren Verlauf des Interviews selbst die Möglichkeit als gegeben annimmt. Bisher hat Frau Sonntag trotz eigener Nachforschungen nur Widersprüchliches zu den Anschuldigungen des sexuellen Missbrauchs an Tim durch seinen Vater feststellen können. Frau Sonntag sieht den sexuellen Missbrauch mit als Auslöser, „…warum die Ehe (.) nich’ mehr funktioniert hat oder dann letztendlich beendet
wurde“ (Interview III, 6/12-13). Aber sie weiß es nicht genau, ist sich unsicher. Auch
das Frau Berger an dem Verdacht festgehalten hat, entnimmt sie nur der Akte. Mit
der Mutter selbst gesprochen hat sie darüber nicht, will sie auch nicht:
„Aber ob’s so is’, da hab’ ich auch nie mit der Frau Berger d’rüber geredet, weil
da is’ sie sehr, sehr verschlossen. (…) Also wenn, dann muss man sie direkt
fragen. Und ich denk’ mir halt immer, wenn sie mir nix erzählt (..), dann geht’s
mich erstmal nix an“ (Interview III, 6/13-17).
Auch zusammen mit Tim thematisiert sie den Vater nicht. So erfährt sie später in ihren Nachforschungen nur von Tims Therapeutin, dass auch Tim sich selbst „…nich’
wirklich an den sexuellen Missbrauch erinnern kann“ (Interview III, 5/34). In Bezug
auf Tims damaligen Kontakt zu seinem Vater weiß sie aus der heutigen Perspektive
nichts Genaues: „In der Akte stand nix“ (Interview III, 5/25). Doch sie erlebt, dass
Tim seinen Vater thematisiert: „Der Tim selber sagt, er (..) kennt den Papa nich’
mehr. Er muss den mit vier das letzte Mal g’sehn haben…“ (Interview III, 5/25-26).
Gleichzeitig ist sie aber doch nicht sicher: „… Vielleicht war er auch fünf, da müsst’
man jetzt zurück rechnen“ (Interview III, 5/26-27). Eine wichtige Beziehung in Tims
früher Kindheit vermutet sie dahinter nicht. Diese Vermutung begründet sie im weiteren Verlauf des Interviews damit, das Tim sich erst für seinen Vater interessiert,
nachdem seine Familie „…langsam das Bröckeln…“ (Interview III, 5/28) angefangen
hat.
Einen ihr noch bekannten Vorfall aus der Akte schildert Frau Sonntag rückblickend
so:
„…Irgendwann mit fünf oder sechs, vielleicht war er auch sieben soll Tim mit
seiner Schwester so ’ne Art Doktorspielchen gespielt ham und äh hätt’ ihm angeblich äh/ ihr Legosteine in die Scheide geschoben und (.) von dem Zeitpunkt
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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an war der Tim für die Frau Berger (.) sehr, sehr, sehr schwierig“ (Interview III,
4/20-24).
Auch an dieser Stelle äußert sie klare Zweifel an der Glaubwürdigkeit Frau Bergers,
obwohl nach Aktenlage dieser Vorfall festgehalten wird: Die Legosteine „…mussten
operativ entfernt werden“ (ASD-Aktenvermerk 03/2001). Auch hier liegt der Verdacht nahe, dass Frau Sonntag der Mutter von Tim nicht glaubt. Gleichzeitig wird
ihre eigene Beziehung zu Tim sichtbar: Sie schützt ihn. Zugleich bildet diese Situation demnach für sie auch den Auslöser, der letztendlich zu einer Heimunterbringung
Tims geführt hat. Doch nach Aktenlage wird der Missbrauch an seiner Schwester
nur im ASD-Aktenvermerk vom 09/2001 und in einem Satz erwähnt. Den tatsächlichen Auslöser, die Beendigung der Tagestätte und schließlich der Schulausschluss
Tims, aus deren Folgen die Situation für Tim schwierig wird, kennt sie nicht.
4.1.4. Die Perspektive des Jugendamtes
Frau Halls Wissen über Tims frühe Kindheit gründet zum größten Teil auf Vermutungen, die sie aus Erzählungen und Akten ihrer Kollegin des ASD rekonstruiert.
Bekannt wird sie mit Tim und seiner Familiengeschichte nach eigener Schilderung
durch seinen Besuch der heilpädagogischen Tagesstätte, als er neun Jahre alt ist.
Die damals aktuelle Situation beschreibt sie so:
„Damals war (.) für die Hilfeplanung der ASD zuständig, die mich dann gebeten hat zum nächsten Hilfeplangespräch mitzukommen (.), weil sie große Sorgen hatte um den Tim und weil die Tagesstätte auch signalisiert hat, das ist alles recht schwierig. Ähm (.) damals war so aktuell (.) ’ne Geschichte mit sexuellem Missbrauch, wo die Mutter (.) vom Tim gesagt hat, der Tim hätte seine
Schwester sexuell missbraucht…“ (Interview IV, 2/8-13).
Frau Hall, in ihrer Funktion als Mitarbeiterin der Erziehungshilfen, lernt Tim hier
schon im Vorfeld durch Hörensagen und Lesen der Akten unter sehr problembehafteten Bedingungen kennen. Dass Tim seine Schwester missbraucht haben soll, als
er „…selber ’n Grundschulkind…“ (Interview IV, 4/33) war, lässt sie schon damals
an der Glaubwürdigkeit der Mutter zweifeln. Sie bewertet den Missbrauch als „...
Dinge (.) äh, die er eventuell selber erlebt hat, die er dann auch ausprobiert hatte
mit seiner Schwester (.) oder übersteigerte Doktorspiele“ (Interview IV, 4/36-38).
Denn „…die Mutter hat’s auch nie so genau benennen können“ (Interview IV, 4/38).
Zudem stellt sie aus der heutigen Perspektive fest: „…Das (.) ähm (.) Thema sexuel-
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
58
ler Missbrauch, das war immer in der Familie irgendwie ’n Thema“ (Interview IV,
4/30-32).
So schildert sie, dass die Mutter auch immer davon geredet hat, „…dass der Tim
selber von seinem leiblichen Vater missbraucht worden sei“ (Interview IV, 4/39-40).
Hintergründe kennt sie nicht: „Und der Tim hatte nie Kontakt nach der Scheidung (.)
zu seinem Vater, also der (..) hätte sich wohl am Anfang ähm (..) noch mal gekümmert oder gerührt, aber das is’ dann ziemlich schnell eingeschlafen“ (Interview IV,
4/42-5/1). Frau Hall irrt sich an dieser Stelle. So heißt es im ASD-Aktenvermerk vom
05/1997, dass der Vater auch nach der Scheidung 1993 noch über ein Jahr seine
Besuchskontakte wahrgenommen und sich bis zum Verdacht des sexuellen Missbrauchs im Jahre ’94 um Tim gekümmert hat.
Persönlich lernt Frau Hall Tim und seine Mutter im Hilfeplangespräch der Tagesstätte kennen, woran sie sich zwar im Einzelnen nicht mehr erinnern kann, aber an die
damalige Problematik. Diese beschreibt sie so:
„…So vom Verhalten her damals war das so, dass man an den Tim überhaupt
nich’ rangekommen is’, dass die Lehrer nich’ rangekommen sind, dass die Tagesstätte große Probleme hatte (.), dass er sich während dem Unterricht einfach unter’n Tisch verkrümelt hat, da hat er sich versteckt, festgehalten (.) ähm
(..) es konnt’ keiner eigentlich so richtig Zugang zu dem Tim finden“ (Interview
IV, 4/1-6).
Tim hat sich ihrer Meinung nach in der Schule und in der Tagesstätte komplett aus
seiner Umwelt zurückgezogen und konnte und wollte sich niemanden mehr mitteilen. Doch auch hier irrt sich Frau Hall gravierend mit der Einrichtung. Nicht die Tagesstätte, sondern die Schule schildert diese Probleme mit Tim im Unterricht.
Gleichzeitig entstehen laut ASD-Aktenvermerk vom 03/2001 die Schwierigkeiten für
Tim gerade aufgrund der Beendigung der Tagesstätte, da die Entscheidung für alle
Beteiligten sehr unerwartet und plötzlich kommt, so dass Tim und seine Mutter auf
die Situation zuhause nicht vorbereitet werden können. So heißt es dort auch: „Zur
Abklärung der weiteren Perspektive, besonders im Hinblick auf eine stationäre Maßnahme, soll die Mutter eingeladen werden“ (ASD-Aktenvermerk, ebd.). Dies bedeutet, dass Frau Hall damals in diesem Rahmen in ihrer Funktion als Mitarbeiterin der
Erziehungshilfen dazu gerufen wird. Nachdem die Tagesstätte in dieser Zeit schon
beendet gewesen ist, lernt sie Tim auch nicht über die Tagesstätte kennen, sondern
im Rahmen der E-Schule. Doch Frau Hall räumt an dieser Stelle selbst ein, dass sie
auch nicht mehr wisse, ob „…er auch aggressiv war…“ (Interview IV, 4/11) und stellt
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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fest: „…Das müsst’ ich jetzt noch mal nachblättern“ (Interview IV, 4/12). Sie weiß
nur, dass damals daraufhin Ziele aufgestellt worden sind, „…wie die Tagesstätte mit
dem Jungen arbeiten soll und wie die Mutter mit dem Jungen arbeiten soll“ (Interview IV, 2/21-22).
Frau Hall selbst erlebt Tim als „…ein sehr verstörtes Kind“ (Interview IV, 4/8), der
auch verwahrlost auf sie wirkt. Zudem hat sie Tim in sich gekehrt und kontaktscheu
in Erinnerung: „Er hat (.) mit niemanden so eigentlich richtig Kontakt aufgenommen“
(Interview IV, 4/10-11). Auch nicht mit seiner Mutter. Die Beziehung zwischen Tim
und seiner Mutter beschreibt Frau Hall so: „… Es war auffällig, dass die Mutter immer sehr (.) fürsorglich war, was so die (.) die Gesundheit anging vom Tim, ’ne? (…)
Also, es waren so praktische Dinge, die mir aufgefallen sind. So auf der emotionalen
Ebene is’ mir wenig aufgefallen…“ (Interview IV, 10/5-11). Auch Frau Hall thematisiert hier die zwar fürsorgliche, aber überwiegend materielle Zuwendung der Mutter.
Emotionale Zuwendung wie Augen- oder Körperkontakt dagegen erlebt sie in der
Beziehung zwischen Mutter und Sohn wenig. So beschreibt sie den Kontakt heute
wie damals als „…so ’n bisschen beziehungslos…“ (Interview IV, 4/9-10):
„… Was halt (.), was schon auffällig is’, es fehlt, glaub’ ich wirklich, so die (.)
die klare Ansprache zwischen Mutter und Sohn, ’ne? Dass die Mutter den
Sohn anguckt und mit ihm spricht, (.) dass sie ihn wirklich wahrnimmt und ich
glaub’, der Tim hat da auch Schwierigkeiten mit, so seine Mutter wirklich wahrzunehmen und mit ihr in Kontakt zu gehen“ (Interview IV, 10/20-24).
Obwohl Frau Hall im weiteren Verlauf des Interviews feststellt, dass man mit solchen Aussagen vorsichtig sein muss, weil „…Eltern … oft sehr aufgeregt [sind],
wenn das Jugendamt dabei is’“ (Interview IV, 10/26-27) glaubt sie damals wie auch
heute nicht an eine intensive Mutter-Kind-Beziehung.
Den weiteren Verlauf beschreibt Frau Hall wie folgt:
„Irgendwann kam dann aber von der Tagesstätte das Signal, der Junge is’
derart neben dem Wind, der muss unbedingt in ein therapeutisches Heim (.)
vollstationär untergebracht werden (.). Er soll von der Mutter getrennt werden
(.) ähm (.) der (.) Tim (.) sei (.) in sich total gestört (.) und zerstört und braucht
(.) ’n sehr intensiven therapeutischen Rahmen“ (Interview IV, 2/23-27).
Die Mutter kann die aufgestellten Ziele des Hilfeplangesprächs nicht verwirklichen.
Sie hält sich nicht an Absprachen und kann für Tim keine Strukturen und Regeln in
den Alltag einführen und durchsetzen. Tims Auffälligkeiten verschlimmern sich, und
zwar so, dass in Frau Halls Erleben die Tagesstätte, also eigentlich die E-Schule,
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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eine Beschulung Tims nicht mehr für möglich hält und eine stationäre Unterbringung
in einer therapeutischen Einrichtung empfiehlt. Dies bestärkt Frau Hall damals in ihrem eigenen Eindruck: Wichtig ist, dass Tim von seiner Mutter getrennt wird.
Frau Hall erlebt Tims Mutter immer schon als schwierig:
„Also, was ja damals schon immer war, dass die Mutter sehr unklar war (.), …
dass die Mutter sehr zu gemacht hat, also die … (..) sie macht immer so den
Eindruck einer schwerstdepressiven Frau, wobei nie klar war, ob sie das (.)
tatsächlich war (.) oder ob sie das nur (.) so funktionalisiert hat“ (Interview IV,
4/13-18).
Frau Hall gewinnt damals den Eindruck, dass die Mutter die Rolle der „depressiven“
Frau nur vortäuscht. Grund zu dieser Annahme entsteht, als sie Frau Berger
„…manchmal woanders gesehen [hat], nich’ im Jugendamt“ (Interview IV, 4/20):
Außerhalb vom Jugendamt macht sie Beobachtungen, in denen sie die Mutter als
„…’ne ganz normale Frau…“ (Interview IV, 4/21), in den Gesprächen dagegen
„…immer in sich versunken…“ (Interview IV, 4/23) erlebt, die allen das Gefühl vermittelt, „…sie bricht jetzt jeden Moment zusammen“ (Interview IV, 4/26). Trotzdem
glaubt Frau Hall schon, dass Frau Berger „…psychisch sehr angegriffen…“ (Interview IV, 4/19) gewesen ist. Nach den Gesprächen zu urteilen, hält Frau Hall fest:
„…Die Mutter is’ so mit sich selbst beschäftigt (..) und so äh (.) damals zumindest psychisch auffällig gewesen, dass der Tim nur darunter gelitten hat. Also,
der Tim is’ am Verhalten der Mutter einfach kaputtgegangen. (…) Und ähm (.)
was halt auch ganz (.) offensichtlich war diese Solidarität mit der Mutter. …Die
hatt’ (..) äh den Tim so für sich (..) funktionalisiert, dass der Tim überhaupt keine Möglichkeit hatte, sich (.) kindgerecht zu entwickeln“ (Interview IV, 14/1-11).
Nach Frau Halls Erleben trägt deutlich die Mutter allein die Schuld an Tims Problemen. Tim muss schon immer Verantwortung für seine Mutter übernehmen. Sich
selbst und eine eigene Persönlichkeit hat er ihrer Ansicht nach unter diesen Umständen nicht entwickeln können.
Wie es zum ersten Kontakt zwischen Tims Familie und dem Jugendamt gekommen
ist, weiß Frau Hall heute nicht mehr. Doch nach ihrem späteren Erleben, glaubt sie
nicht daran, dass Frau Berger sich selbständig ans Jugendamt gewendet hat, als
Tim in die heilpädagogische Tagesstätte soll: „…Ich vermute fast, dass die Schule
sich ans Jugendamt gewendet hat (.). Ich glaub’ (.) nicht, dass die Frau Berger sich
ans Jugendamt gewendet hat. (…) Ich vermute, dass die Kollegin vom ASD damals
schon Kontakt hatte, (.) aber (..) das weiß ich nich’“ (Interview IV, 9/30-43). Auch
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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hier wird die heutige Haltung Frau Halls gegenüber der Mutter deutlich: Wie auch im
Verlauf des Interviews sichtbar wird, traut Frau Hall der Mutter die Einsicht nicht zu,
dass sie Hilfe braucht. Laut dem Sonderpäd. Gutachten zur Einschulung wurde Tim
jedoch „…von seiner Mutter auf Empfehlung der Frühförderstelle und des Kindergartens“ (05/1997) der Schule für Erziehungshilfe vorgestellt. Zudem heißt es im ASDAktenvermerk vom 09/2001, dass die Familie erstmalig 1997 bekannt wird und Frau
Berger damals „…von überall Hilfe anfordert“ und „…nach außen hin sehr engagiert
und bemüht“ ist. So geht sie zwar auf Empfehlung „zur Feststellung besonderer Erziehungsbedürfnisse…“ (Sonderpäd. Gutachten, ebd.) Tims zum Einschulungstest,
aber sie setzt diese Empfehlung selbständig um. Dieser Aspekt wird in Frau Halls
Wahrnehmung nicht berücksichtigt.
Gleichzeitig beschreibt Frau Hall ihren eigenen Kontakt zu Tim und seiner Mutter als
wenig vertrauensvoll und „…wahnsinnig misstrauisch“ (Interview IV, 9/2):
„Die hat ja alles abgelehnt, was mit Jugendamt zu tun hatte. Und der Tim hat
sich damals ja noch sehr stark solidarisiert mit seiner Mutter und demnach hat
er auch die Leut’ vom Jugendamt (.) ziemlich abgelehnt. Also (.), ähm (.) der
hat sogar gescheut, so Blickkontakte aufzunehmen“ (Interview IV, 9/4-7).
„…Der hat sich (.)/ wirklich, also da ging gar nichts am Anfang, man konnte ihn
nicht angucken, man konnte auch gar nicht mit ihm reden (.) äh Fragen stellen
(.) war ganz schwierig, er hat keine Fragen beantwortet. Er hat immer dann,
wenn’s ihm zu blöd war oder zu viel war, hat er einfach irgendwas erzählt (.)
un/oder is’ laut geworden, is’ aggressiv geworden, is’ motorisch sehr unruhig
geworden (.) ähm, sodass ich nich’ wirklich weiß, wie er mich überhaupt wahrgenommen hat. Also (..), ich denke eher, dass er mich absolut abgelehnt hat,
weil er das so bei der Mutter (.) gesehen hat“ (Interview IV, 9/9-16).
Frau Hall bezieht die Unsicherheit und die Angst Tims, ausgelöst durch fremde
Menschen, die plötzlich in sein Leben dringen, auf eine innere Ablehnung ihr selbst
und der Institution Jugendamt gegenüber, die er von der Mutter übernommen hat.
Dass Tim in solchen Situationen zusätzlich von seiner „…deutlichen Aufmerksamkeitsstörung…“ (vgl. Sonderpäd. Gutachten 05/1997) belastet wird, deren Symptome, eine übermäßige Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität (vgl. Lauth
& Schlottke 1997, 3ff) sie zwar hier selbst aufzählt, aber nicht berücksichtigt. Auch
die Mutter hat Gründe für ihr Misstrauen: So beschreibt Frau Hall zunächst, dass zu
Beginn, als die Familie mit dem Jugendamt in Kontakt getreten ist, „…die Kollegin
vom ASD Ansprechpartner [war], die … dann (.) auch in der Person ’n paar Mal ge-
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
62
wechselt [hat]“ (Interview IV, 9/26-28). So ist nach Aktenlage festzustellen, dass die
ASD-Mitarbeiter, die Tim und Frau Berger begleitet haben, innerhalb von vier Jahren dreimal gewechselt haben. So verschärft sich der anfänglich positive Grundtenor der Vermerke zunehmend: Während die erste Mitarbeiterin des ASD Frau Berger darin sehr lobenswert erwähnt, da sie Termine zur Elternarbeit „…regelmäßig
besucht…“ (ASD-Aktenvermerk 05/1998) und zudem auch an „…freiwilligen Familienwochenenden…“ (Aktenvermerk, ebd.) teilnimmt, wirft ihr die zweite Mitarbeiterin
„…mangelndes konsequentes Handeln…“ (ASD-Aktenvermerk 07/2000) vor und
zweifelt, „…ob die Familie alle Probleme soweit als nötig bewerkstelligen kann“
(ASD-Aktenvermerk, ebd.). Kurz vorher wird von dieser Mitarbeiterin eine Sozialpädagogische Familienhilfe bewilligt und kurze Zeit später die Tagestätte plötzlich und
unerwartet für Tim und zum Unverständnis der Mutter sowie auch der Tagesstätte
beendet. Zwei Monate später wechselt die Zuständigkeit wieder. Da der Mitarbeiter,
der die SPFH durchführt, die Maßnahme abbricht, weil sie seines Erachtens unter
den gegebenen Umständen keinen Sinn macht, hält die dritte Mitarbeiterin fest:
„Frau Berger hat derzeit nur noch Wohnungssuche im Kopf und weder Zeit noch
Einsicht, dass parallel innerfamiliär gearbeitet werden sollte“ (Aktenvermerk
09/2000), sowie „Frau Berger ist nicht bereit, Hilfe anzunehmen bzw. ihren eigenen
Teil dazu zu tun“ (Aktenvermerk, ebd.). Der Aspekt, dass Frau Berger sich immer
wieder auf neue Menschen einstellen muss, die in ihrem Privatleben „wühlen“ und
Entscheidungen treffen, die sie nicht versteht, wird ein vertrauensvolles Verhältnis
erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht haben. Frau Hall hinterfragt die Akten
und Erzählungen der Kollegin nicht. Eher im Gegenteil unterstützen die Aussagen
ihren negativen Eindruck: „War [die Mutter; d. Verf.] auch wenig kooperativ“ (Interview IV, 4/27). Für sie steht fest: „Die Mutter lehnt das Jugendamt (.) total ab, und
der Tim (..) äh (.) hat gedacht, wenn meine Mutter das macht, dann is’ das richtig“
(Interview IV, 9/18-19). Rückblickend hält Frau Hall fest:
„Der Tim war sehr lang in der HPT, also die HPT geht ja in der Regel (.) zwei
Jahre, er war aber drei Jahre und (.) war sogar angedacht, dass er noch ’n
viertes Jahr geht, aber dann kam das mit dem Heim (.) einfach dazwischen“
(Interview IV, 5/4-7).
Aus den schon angegeben Gründen irrt sie sich hier wie schon im Vorfeld. Tim hat
nach Aktenlage drei Jahre lang Tagesstätte besucht, ein viertes Jahr jedoch war
nicht geplant. Sie selbst merkt im Verlauf des Interviews, dass ihre Erinnerung ohne
die Akten erhebliche Lücken aufweist: „Echt ohne Blätter!“ (Interview IV, 4/13).
63
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
Wie stellen sich nun die unterschiedlichen Perspektiven auf die frühe Kindheit Tims
im Vergleich dar?
4.1.5. Zusammenfassung
Tims eigene Sichtweise auf seine frühe Kindheit bezieht sich vor allem auf die instabilen Beziehungen in seinem sozialen Umfeld. Auslöser hierfür sieht er in den
häufigen Umzügen, im Beziehungsabbruch seines richtigen Vaters, in der permanenten Abwesenheit seiner Mutter, und vor allem in den ständigen familiären Konflikten der Mutter, des leiblichen Vaters, der Großmutter und Herrn Teicherts, deren
Zeuge er tagtäglich wird. Auch die individuellen Erziehungsstile seiner Eltern und
der Oma bieten ihm wenig Sicherheit und Orientierung. Die leidvollen Erfahrungen
mit anderen Kindern und Erwachsenen haben ihn nachhaltig unsicher geprägt und
sein geringes Selbstwertgefühl nochmals gemindert. Gerade deswegen stellt sich
aber seine Familie für ihn als seine „normale“ soziale Lebenswelt dar, die ihm
Schutz vor der „feindlichen“ Außenwelt bietet. Nur hier fühlt sich Tim sicher vor Angriffen, Ablehnung und Ausgrenzung durch andere Menschen.
Aus der Sicht der Mutter stellt sich die Situation ähnlich problematisch dar. Eine
unruhige Säuglingszeit Tims und viele Konflikte mit dem leiblichen Vater belasten
schon früh ihre Mutter-Sohn-Interaktion. Mit zunehmendem Alter führen die bei
ADHS typischen Verhaltens- und Erziehungsschwierigkeiten Tims, wie z. B.
häufiges Verweigern oder Regelverstöße (vgl. Lauth &Schlottke 1997, 1ff), zu einer
großen Überforderung und Hilflosigkeit ihrerseits. Gerade auch die negativen
Reaktionen der Umwelt auf Tim und seine Isolation verbindet sie zwar einerseits mit
Tims Sichtweise, andererseits beeinträchtigen diese sie so stark in ihrer eigenen
Selbstverwirklichung, dass sie Tims Probleme zwar wahrnimmt, aber dennoch nicht
in ihrem Handeln berücksichtigt. Äußere Umstände tragen zusätzlich dazu bei, dass
angenommene Hilfen scheitern. Gemeinsam ist Tim und seiner Mutter, dass sie als
sozialen Kontakt beide fast ausschließlich nur sich selbst und die Familie haben.
Dieser
Aspekt
bestimmt
bei
beiden
Sichtweisen
den
großen
familiären
Zusammenhalt und die gegenseitige emotionale und wertschätzende Anerkennung,
die Frau Berger zu einem großen Teil über ihre materielle Versorgung zeigt.
Frau Sonntag und Frau Hall identifizieren die Mutter als eindeutige Symptomträgerin
für Tims negative Entwicklung in seiner frühen Kindheit. Während sich Frau Sonntags Ansicht dabei eher auf desolate Verhältnisse der häuslichen Situation und einer
massiven Überforderung der Mutter mit Tim bezieht, diagnostiziert Frau Hall die
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
64
Mutter als „psychisch Auffällige“, die Tim für sich und ihre eigenen Interessen funktionalisiert, ständig ihm ihre Verantwortung überträgt und ihn sich folglich nicht kindgerecht entwickeln lässt. Einen Zusammenhang zwischen der Überforderung der
Mutter und Tims Krankheit sowie Tims eigene Probleme durch das ADHS sehen
Frau Hall und Frau Sonntag nicht. Die Fokussierung beider Sichtweisen auf die Mutter lassen einen Perspektivenwechsel auf Tims Sichtweise nicht zu. Eher das Gegenteil ist der Fall: Erst das von Frau Hall und ihren Kollegen des ASD nach außen
vertretene „Feindbild Mutter“ veranlasst Tim schon in der frühen Kindheit Stellung
gegenüber seiner Mutter zu beziehen. Dieses Verhalten wird von Frau Hall missverstanden und als Bestärkung der eigenen Perspektive interpretiert. Frau Sonntag und
Frau Hall übernehmen jeweils die Meinung der vorliegenden Jugendamtakte, ohne
sie zu hinterfragen: Unter der thematischen Dominanz „Mutter“ geht Tims Perspektive schon früh fast unter.
Seinen „richtigen“ Vater sieht Tim im Kleinkindalter als eine wichtige Bezugsperson.
Frau Berger, die ihre Probleme mit Tim auf den Vater projiziert und sich in ihrer eigenen Person und ihrem Familienerhalt bedroht fühlt, berücksichtigt in ihrem Handeln die Perspektive Tims nicht. Sie versucht, die Beziehung zu ihrem Sohn aus eigenem Interesse zu vermeiden. In den Sichtweisen von Frau Hall und Frau Sonntag
wird der leibliche Vater ausschließlich im negativen Kontext des sexuellen Missbrauchs wahrgenommen und als relativ unwichtig für Tim dargestellt.
An vorhandenen Ressourcen in Tims Lebenswelt orientieren sich weder Frau Hall,
noch Frau Sonntag: Die Großmutter, die für Tim die Rolle einer festen Bezugsperson im Alltag inne hat und ihm viel Liebe und Aufmerksamkeit schenkt, wird in ihren
Perspektiven komplett übergangen. Genauso wenig beachtet werden Tims Geschwister, die besonders kontinuierliche und stabile Bezugspersonen für ihn darstellen und ihm in der unruhigen frühen Kindheit Halt, Sicherheit und Geborgenheit geben. Die Mutter thematisiert den Zusammenhalt zwischen Tim und seinen Geschwistern und ist sehr stolz darauf.
Tim selbst sieht den häufigen Streit der Eltern als Auslöser für die Aufnahme ins
Kinderdorf. Die Mutter hingegen Tims Verhalten in der Schule und Frau Hall und
Frau Sonntag stellen die Mutter als das ursächliche Problem dar.
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
4.2.
65
Tims Aufnahme ins Kinderdorf
4.2.1. Die Perspektive des Kindes
Tim beschreibt, wie ihm mitgeteilt wird, dass er in ein Heim muss: „…Und dann
musst’ ich halt ins Kinderdorf“ (Interview I a, 5/19-20). Im zweiten Interview präzisiert
er dies: „…Ja und dann (.) wurde mir halt gesagt, dass ich ins Kinderdorf musste.
Ähm (.), da war ich halt (.) neun oder so und mit zehn bin ich dann ins Kinderdorf
gekommen“ (Interview I b, 2/7-9).
Die für Tim als plötzlich und unerwartet erlebte Entscheidung zu einer Unterbringung im Heim außerhalb der Familie, wird über seinen Kopf hinweg entschieden. Er
wird von den Erwachsenen vor vollendete Tatsachen gestellt und dann mit diesem
Wissen allein gelassen. Seine Erinnerung an diese leidvolle Erfahrung blockt er in
der Interviewsituation erst einmal ab: „Weiß ich nich’“ (Interview I a, 5/13). Für ihn ist
klar, wer diese Entscheidung getroffen hat: Das Jugendamt. Tim versteht damals
wie heute nicht den Auslöser und den Grund, warum er ins Kinderdorf muss. Tim
hat sich zuhause wohl gefühlt, da er sonst keinerlei Kontakte gehabt hat. Zudem
stellt er aus seiner heutigen Sicht fest, dass sich die Familiensituation gebessert hat,
nachdem Herr Teichert ausgezogen ist und sich dann seine Eltern wieder versöhnt
haben. Dies wird damals auch von der Sozialpädagogischen Familienhilfe bestätigt:
„Nach dem Trennungskonflikt haben Frau Berger und Herr Teichert einen Weg im
Umgang miteinander gefunden“ (SPFH-Bericht 09/2000).
Für Tim entsteht damals eine Zeit der Unsicherheit und Angst, auf die niemand eingeht. Er hat nicht gewusst, was ihn erwartet. So schildert Tim, dass seine Mutter
Versuche unternommen hat, es ihm zu erklären. Trotzdem hat sich Tim nichts Konkretes unter einem Heim vorstellen können: „Aber ähm (..) ich hab’s dann trotzdem
net gewusst“ (Interview I a, 5/38). So lassen ihn die Erwachsenen in dem Glauben,
nur am Wochenende ins Heim zu müssen: „Ich hab’ gedacht, ähm da muss ich nur
am Wochenende hin und dann geh’ ich wieder heim“ (Interview I a, 5/40-41). Die
viermonatige Zeit bis zur Aufnahme im Kinderdorf beschreibt Tim fast teilnahmslos:
„…Da ham wir geguckt, was ich alles mitnehm’“ (Interview I a, 6/3). An dieser Stelle
hat sich Tim damals wahrscheinlich denken können, dass er nicht nur am Wochenende im Kinderdorf bleiben wird. All seine Sachen werden gemeinsam mit der Mutter eingepackt und Tim fügt sich den Entscheidungen der Erwachsenen.
Mit dem Umzug ins Kinderdorf erlebt Tim das „Herausgerissenwerden“ aus seiner
gewohnten und für ihn „normalen“ Umgebung als das schlimmste Ereignis in seinem
Leben. Seine erste Erinnerung am Anfang des Interviews geht sofort zurück auf die
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
66
Aufnahme ins Kinderdorf: „Ähm, eigentlich nur wo ich ähm (.) kurz vor (.)/ wo ich ins
Kinderdorf gekommen bin (…). Und sonst (.) eigentlich nix, seitdem ich hier bin“ (Interview Ia, 2/6-7). Dies macht deutlich, dass Tim in seinem Leben keine andere Erfahrung als so leidvoll empfunden hat.
Schon im Vorfeld entstehen große Unsicherheiten: Tim bekommt zwar die Möglichkeit, sich das Kinderdorf vorher anzuschauen; doch das Haus, in dem er leben wird,
lernt er nicht kennen. Bis zu dem Tag seiner Aufnahme kennt er weder die Erzieher
noch die Kinder, die von nun an sein neues unmittelbares Lebensfeld ausmachen:
„[I.: Und wann haste dann Haus X kennen gelernt?] Mh (.), halt später (..) ähm wo
ich halt gekommen bin“ (Interview I a, 6/23-24). Nach Aktenlage ist ursprünglich von
der Heimleitung ein anderes Haus für die Aufnahme von Tim vorgesehen. Das
Haus, das er sich am Tag der Vorstellung anschaut und kennen lernt, d.h. die Menschen die darin leben, lehnt eine Aufnahme in ihrer Gruppe aufgrund seiner Verhaltensproblematik ab. Dies wird auch nach außen hin so vertreten und Tims Mutter
mitgeteilt, die es wiederum ihm erklärt haben muss. Tim muss sich hier schon von
vornherein abgelehnt gefühlt haben.
An den konkreten Tag, an dem er im Kinderdorf einzieht, erinnert sich Tim nur ungern. Er geht in eine ungewisse Zukunft. Sein neues Lebensfeld birgt große Unsicherheit, er ist allein, kennt niemanden und weiß nicht, was ihn erwartet. Sein Gefühl, dass er gar nicht die Möglichkeit gehabt hat, sich zu entscheiden, besteht auch
heute noch: „Halt ich konnt’ ja nich’ sagen: ‚Nein, ich will nich’’. [I.: Warum nich’?]
Ähm (.), weiß ich nich’ (…). Ich musste halt einfach hierher“ (Interview I a, 6/28-30).
Tim erlebt hier eine Übermacht der Erwachsenen, der er nicht gewachsen ist: Die
Mutter, die im Vorfeld schon all seine Sachen sorgfältig gepackt, gleich mitgenommen und sich damit mit einer Aufnahme bereits abgefunden hat, und die Erzieherin
Frau Sonntag, der Heimleiter Herr Wertz und die zuständige Jugendamtsmitarbeiterin Frau Hall, die ihm keine Orientierung bieten und keine Möglichkeit zur Entscheidung einräumen. In Tims großer Unsicherheit und Angst stellt sich die Frage für ihn
auch nicht. Die Entscheidung der Erwachsenen steht fest. Ob er nun will oder nicht,
er muss im Kinderdorf bleiben, es gibt keine Alternative.
Den Ablauf des Tages seiner Aufnahme im Kinderdorf beschreibt Tim so:
„Ja (.), da sind wir halt ähm (..) hierher gekommen, wir sind aber zweimal gefahr’n, glaub’ ich und (...) und die sagen immer noch, weil ich so viel Sachen
hab’, aber das stimmt eigentlich gar net (…). Und (..) ähm dann sind die Eltern
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
67
halt wieder gegangen (.) und ich hab’ dann gedacht, die kommen dann nochmal (.) und dann ham wir halt zu Abend gegessen“ (Interview I a, 7/1-5).
Im zweiten Interview fügt er hinzu: „…Und dann (.) ham wir halt alles ausgepackt
und mir wurd’ das Zimmer gezeigt und so“ (Interview I b, 2/11-12). Mit dem Wort
„wir“ meint Tim hier seine gesamte Familie, die ihn bei seinem Umzug in das Kinderdorf begleitet. Während die Mutter und Tim das Aufnahmegespräch führen und
die Gruppe kennenlernen, sitzen Herr Teichert, Sabine und Lars vor dem Kinderdorf
im Auto und warten. Nach Tims Erleben geht alles Schlag auf Schlag, nach Aktenlage dauert das Ganze einen halben Tag. Das Schlimmste erlebt Tim in dem Gefühl
des „Verlassenwerdens“: Seine Eltern und seine Geschwister verabschieden sich
nicht von ihm, sondern gehen einfach und fahren nach Hause. Für Tim heißt das,
dass er den ganzen Abend darauf wartet, dass seine Familie nochmals zurückkommt und sich verabschiedet. Tim geht es schlecht und er fühlt sich unwohl: „Mh
(..) hab’ fast gar nix gegessen“ (Interview I a, 7/13). Aber sie kommen nicht mehr.
Hilfe und Unterstützung von Seiten der Erzieher, die ihn in dieser Situation hätten
auffangen sollen, erlebt er nicht. Eher im Gegenteil, denn Tim beschreibt sein erstes
Gefühl bei einer der Erzieherinnen so: „Mh, also Kati hab’ ich gleich gedacht (..),
ähm (…) ja das wird halt nix so (.). [I.: Warum?] Das wusst ich auch nich’ so, aber
(..) das war halt dann wirklich so“ (Interview I a, 7/18-20). Bei den anderen ist er sich
unsicher. Angebote oder Orientierung bieten aber auch sie Tim nicht. Zudem
scheint sich auch niemand so wirklich um ihn zu kümmern oder sich für ihn zu interessieren: „[I.: … Und hat Dich jemand gefragt, wie’s Dir geht?] Nee (..)“ (Interview
I a, 7/27-28). Rückblickend zieht er Bilanz: „[I.: …Wie war so der Tag für Dich?] Komisch und so (..) war halt ähm alles neu. Und dann hab’ ich halt lieber das gemacht,
was (…) was ich halt für richtig fand“ (Interview I a, 6/37-39). Tim weiß nicht, wie er
sich in der fremden Umgebung verhalten soll. Er fühlt sich allein gelassen und verlassen und erlebt den schlimmsten Moment seines Lebens: Für ihn stellt die Heimaufnahme ein „kritisches Lebensereignis“ dar, in dem er die Frage nach seiner Identität neu organisieren muss (vgl. Freigang 1986, 28; Freigang & Wolf 2001, 117).
Das Einzige, was ihm Sicherheit bietet, sind seine Sachen, die er von Zuhause mitgebracht hat. Seine Besitztümer vermitteln ihm ein Heimatgefühl und machen von
nun an seine Vergangenheit und seine Identität aus.
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
68
4.2.2. Die Perspektive der Mutter
Den Verlauf, „…dass er (..) in so ’n Kinderheim eben (.) geht“ (Interview II, 3/10) beschreibt Frau Berger so:
„Die äh (.) Schule hat’s halt (.) mir g’sacht und dann hab ich’s halt eben (..) äh
(.) im Jugendamt g’sacht und die ham dann g’sacht die und die Frau wär dafür
zuständig (..). Und dann ham wir dann Gespräche geführt und dann ham sie
g’sacht das (.) macht halt eben die (..) Frau Hall“ (Interview II, 9/16-19).
Frau Berger wird vom ASD an Frau Hall verwiesen. Frau Berger erlebt hier Frau
Hall nicht als die Institution Jugendamt, sondern als Person. Da schon die Tagesstätte im Vorfeld eine außerhäusliche Unterbringung empfohlen hat, wird entschieden, dass Tim nun tatsächlich in einem Heim untergebracht werden soll: „Und (..)
die hat halt eben (.) zwei Heime vorg’schlagen…“ (Interview II, 9/21).
Frau Berger erklärt Tim daraufhin, dass er in ein Heim soll. Seine Reaktion erlebt sie
so: „Ja, ich hab’s ihm halt gesacht. Äh (..) da war er halt total aufgeregt und wusst’
net (..) warum, weswegen und was los war und (.). Na dann hab’ ich’s ihm halt erklärt (.) und ham uns dann die Heime halt angeschaut“ (Interview II, 7/8-10). Auch
nach ihrer Ansicht kommt die Entscheidung, dass Tim in ein Heim soll, plötzlich und
unerwartet. Sie versucht es Tim, den sie total aufgelöst erlebt, zu erklären: „Dass
halt eben (…) besser für ihn is’, wenn er in ein Heim halt eben geht und dort zur
Schule. (…) Und dass er sich eben (..) wohler fühlt (..) und zurechtkommt“ (Interview
II, 7/12-15). Hier projiziert sie eigene Wünsche für sich selbst auf Tim: Da sie nicht
aus ihrem Umfeld entfliehen kann, soll Tim dies für sie tun.
Noch eine Woche verbringt Tim nach dem Ausschluss der Schule die Nachmittage
innerhalb seiner Familie. Dort erlebt ihn Frau Berger als zunehmende Belastung:
„Ja, am Anfang war’s halt schwierig ähm, weil er noch ’ne Woche daheim
bleiben musste (..), weil der Lehrer ihn net (.) genomme’ hat. (…) Und ich
auch net wusst’, wo er eben (.) äh hinkommt (..). Da is’ ihm halt sämtliche
Sachen eingefall’n (..8..). Ja da kam dann ’n Anruf, dass dann die Frau (.)
ähm Hall was gefunden hat. Ich hab’s dann vorher angeschaut (..) und (...)
dem Tim hat’s halt gefall’n und mich natürlich auch“ (Interview II, 3/12-18).
Frau Berger erlebt Tim so schwierig wie noch nie: „Manchmal (..) ging’s, manchmal
net. Kam drauf an, wie er eben (..) grade is’“ (Interview II, 10/8). Sie fühlt sich überfordert. Dann kommt der für sie erlösende Anruf von Frau Hall, dass sie und ihr
Sohn sich das Kinderdorf anschauen können.
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
69
Das erste Kennenlernen des Kinderdorfs schildert sie so: „Ja, die (..) hat mir am Anfang das (..) äh Haus halt dann gezeigt. Net das eben wo der Tim jetzt drin is’, sondern (..) glaub’ ich Haus Y“ (Interview II, 10/29-30). Frau Berger erlebt, dass Tim
erst in einem anderen Haus untergebracht werden soll. Im Vergleich zu einem anderen Heim, das sich Frau Berger ebenso gemeinsam mit ihrem Sohn anschaut,
glaubt sie, dass sich Tim im Kinderdorf wohler fühlt. Und nicht nur er, sondern auch
sie selbst: „Die erste, die war (..) äh (.) da hat er sich irgendwie unwohl gefühlt (…).
Ich weiß auch net warum (lacht). Bei mir war’s (..) dasselbe gewesen“ (Interview II,
10/20-21). Dieser erste Eindruck verbindet Mutter und Sohn in dieser schwierigen
Situation. Nachdem sie Tims Reaktion als „recht begeistert“ von Haus Y schildert,
obwohl er gar nicht in ein Heim wollte und auch nicht ins Kinderdorf, projiziert sie
hier wieder ihre Gefühle auf Tim. Sie hat sich im Kinderdorf wohler gefühlt und gewollt, dass Tim in Haus Y untergebracht wird. Rückblickend erlebt sie heute die Entscheidung, dass Tim zwar aufgenommen wird, aber in einem anderen Haus, als
Enttäuschung: „Und (.) dann is’ dann später dann g’sacht worden, dass die ihn
nehmen (.) und aber in Haus (..) X, wo er eben jetzt is’“ (Interview II, 10/38-39).
Nachdem das Kinderdorf zusagt, zögert sie jedoch nicht: „Ja und dann (…) ham wir
ihn halt gebracht“ (Interview II, 11/3). „Wir“, d.h. die ganze Familie, bringt Tim damals ins Kinderdorf.
Tims Aufnahme beschreibt seine Mutter so: „Mh na dann kam halt der Tach, wie die
Sachen zu packen und herzufahr’n und (.) Abschied zu nehme’“ (Interview II, 3/1820). Kurz und knapp schildert sie an dieser Stelle emotionslos, wie die ganze Familie Tim ins Kinderdorf bringt. Auch für sie ist der Umzug ihres Sohnes ein schlimmes
Ereignis. Ihre mütterliche Zuneigung und ihr schlechtes Gewissen Tim gegenüber
zeigt sie durch die vielen Sachen, die sie ihm einpackt. Sie will Tim in seinem neuen
Leben gut versorgt wissen. Und zwar so, dass ihm an materiellen Dingen nichts
fehlt. Aber dies zeigt auch, dass sie mit der Unterbringung im Heim einverstanden
ist und sich damit abgefunden hat: So sollen sich die Eltern „... emotional aber auch
physisch auf den Umzug vorbereiten – sei es mit packen, neue Kleider mit einkaufen ...“ (IGFH 2002, 83) oder ähnlichem. Dies hat Frau Berger gemacht.
Als erstes lernen Frau Berger und Tim das Gruppenhaus und die Hausleiterin Frau
Sonntag kennen: „Am Anfang ham (..) äh (.) Frau Sonntag halt das Haus gezeigt
und (.) dann halt eben Kaffee getrunken. Und dann (.) ham wir äh (..) die Sachen
aus’m Auto g’holt“ (Interview II, 11/18-20). Allgemein schildert sie den Tag, wie sie
ihn erlebt hat, so: „Mh (…), na ja fremd“ (Interview II, 11/14). Über die fremden Menschen, mit denen ihr Sohn von nun an leben muss und über die sie von nun an ihren
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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Kontakt gestalten wird, sagt sie nichts. Im Gegensatz zu Tim sieht Frau Berger aber
eine Möglichkeit, sich von Tim zu verabschieden. Nach ihrem Erleben hat Tim im
Vorfeld gewusst, dass er an diesem Tag schon im Kinderdorf bleiben wird: „Ja, ich
hab’s ihm vorher g’sacht“ (Interview II, 11/16). Auch die übrige Familie verabschiedet sich auf ihre Weise von ihm: Herr Teichert und Tims Geschwister, die während
des Tages im Auto sitzen und warten. Hier wird trotz aller Probleme der große Zusammenhalt innerhalb der Familie sichtbar.
Im weiteren Verlauf des Interviews drückt Frau Berger rückblickend einen inneren
Zwiespalt aus, in dem sie sich damals befunden hat, als sie das Kinderdorf verlässt.
Sie weiß nicht, ob Tim im Kinderdorf gut aufgehoben ist: „Mh (..6..) äh (..) ja und
nein“ (Interview II, 11/24). Auf der einen Seite wünscht sie sich, dass sich für Tim
etwas verändert: „Mh (.), dass er eben was (.) ander’s sieht. Dass er vielleicht Spielkameraden find’ (...) und ’n Neuanfang macht“ (Interview II, 11/26-28). Auf der anderen Seite entstehen aus ihrem ersten Eindruck vom Kinderdorf Bedenken und Zweifel: „Mh (..), na ja, was er halt noch alles mitmachen muss“ (Interview II, 11/29). Zum
einen wird auch an dieser Stelle eine Projektion von Frau Berger auf Tim deutlich:
Sie wünscht sich für sich, genauso wie für Tim, einen Neuanfang machen zu können und neue Freunde zu finden. Da sie es nicht kann, soll Tim die Möglichkeit bekommen und die Chance, d.h. den Weg aus der Isolation, nutzen. Zum anderen ist
sie beunruhigt und weiß nicht, was Tim in Zukunft erwartet. An dieser Stelle des Interviews ist Frau Berger in der Interviewsituation sehr unruhig und nervös geworden.
Hier hat sie meine Person und meine Rolle als Forscher unsicher gemacht, die sie
ganz klar mit dem Kinderdorf verbindet: „…Oder wie sagt’s da?“ (Interview II, 3/20).
Frau Berger hat hier Angst gehabt, dass das, was sie sagt, von mir gegen sie verwendet wird. Das Misstrauen, das sie mir teilweise im Interview entgegengebracht
hat, lässt schon negative Erfahrungen zwischen ihr und dem Kinderdorf vermuten.
Doch auch sie thematisiert Schwierigkeiten, die ihre Zweifel an der Entscheidung für
das Kinderdorf bestätigen: „Mh (..), der Anfang war a weng5 schwer“ (Interview II,
10/26).
5
Anmerkung d. Verf.: „a weng“ = fränkischer Dialekt, bedeutet „ein wenig“
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
71
4.2.3. Die Perspektive der Erzieherin
Ob Tim damals im Kinderdorf überhaupt aufgenommen werden kann, ist eine
schwierige Entscheidung gewesen. Frau Sonntag lernt Tim am Tag der Aufnahme
im Kinderdorf kennen: „Das war so, dass der Tim mit ’m Jugendamt und der Mutter
kam (.) und er dann eigentlich auch da geblieben is’“ (Interview III, 7/9-10). So schildert sie, dass der Heimleiter Herr Wertz sich im Vorfeld mit Tims Akte an sie wendet, mit der Bitte, sich „…das mal durchzulesen…“ (Interview III, 2/8). Bevor Frau
Sonntag die Akte bekommt, ist diese „…schon mal in ’nem anderen Haus gewesen…“ (Interview III, 2/9), in dem jedoch eine Aufnahme von Tim aufgrund der in der
Akte geschilderten Verhaltensauffälligkeiten abgelehnt wird. Auch die Psychologin
des Kinderdorfs spricht sich nach Frau Sonntags Schilderung schon von vornherein
gegen Tim aus: „…Aufgrund der Aktenlage hat sie immer g’sacht (.), der Tim
bräuchte eventuell ’ne andere Form von Hilfe, also ’ne heilpädagogische (.) Einrichtung“ (Interview III, 7/1-3). Der Heimleiter hat eine klares Anliegen: Frau Sonntag
soll sich „…den Jungen doch mal angucken“ (Interview III, 2/10), „…weil das ja auch
das Jugendamt A-Stadt wär’“ (Interview III, 2/8-9). Frau Sonntag hat es nach eigener Aussage nicht interessiert, was über den Jungen bereits bekannt gewesen ist,
zumal „…in der Akte … net so viel drin“ (Interview III, 2/12) stand. Sie „hätt’ ihn zwar
gern vorher mal g’seh’n“ (Interview III, 7/18), um sich einen eigenen Eindruck von
Tim zu verschaffen, „…aber das ging aus irgendwelchen Gründen net“ (Interview III,
7/19). Frau Sonntag hat damals den Eindruck, dass alles „…einfach sehr, sehr
schnell geh’n musste“ (Interview III, 7/28-29), wie das „…mit Notaufnahmen oder
wie auch immer man das nennen will (.), hier eigentlich dann immer [so is’]“ (Interview III, 7/29-30), da die Mutter laut Aktenlage erhebliche Probleme mit Tim hat, der
den ganzen Tag zu Hause verbringt. Daher wird von Frau Sonntag und Frau Hall
entschieden: Wenn eine Möglichkeit zur Aufnahme Tims besteht, dann sofort. Nachdem sie Frau Hall Bescheid gibt, dass sie Tim gern persönlich sehen würde,
„…kamen se, (lacht bis *) die Mutter, der Tim und die Frau Hall *“ (Interview III,
2/14). Aus der heutigen Perspektive erinnert sie sich: „…Ich hab’ eigentlich (..) von
den Beschreibungen her ’n viel extremeres Kind erwartet“ (Interview III, 6/25-26).
Den ersten Eindruck von Tim und seiner Mutter beschreibt sie so:
„Ja, dann ham wir zusammen Kaffee getrunken und der Tim saß halt auf der
Eckbank und war fürchterlich unruhig und die Mutter hat mir erstmal so ’n ganzen Medikamenten (..) korb gebracht (.), was der Tim alles bräuchte und war
fürchterlich besorgt, ob wir das überhaupt richtig machen (.). (…) Ja, und (.)
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
72
dann hat sie mit mir noch ’rumdiskutiert, dass sie (..) dass der Tim Amphetamine nehmen müsste, aber dass sie das eigentlich gar net will (..). Und dann
hab’ ich eben gemeint: „Also, wir geben ihm das jetzt erstmal und warten mal
bis zum nächsten Termin beim Doktor. (…) Und dann entscheiden wir neu“
(Interview III, 2/16-27).
Frau Sonntag erlebt zwar rückblickend die Mutter von Tim als überaus besorgt um
ihren Sohn, aber sie glaubt ihr die Rolle der besorgten Mutter nicht. Denn sie weiß:
Laut Akte ist die Mutter ja „nich’ in der Lage“, sich um Tim zu kümmern. Gleichzeitig
wird auch hier schon ein erstes Machtgefälle sichtbar: Frau Sonntag fühlt sich als
gelernte Erzieherin in ihrer Kompetenz angegriffen, von einer Mutter, die sich erlaubt, ihr zu widersprechen, mit ihr „rumdiskutiert“ und die ihr sagt, wie sie Tim zu
versorgen hat. Frau Sonntag demonstriert hier deutlich schon von Anfang an, wer
ab jetzt das Sagen hat und wer nicht.
Tim selbst erlebt Frau Sonntag als fürchterlich unruhig, frech und aufgeregt:
„…Er war sehr, sehr unruhig den ganzen Nachmittag über und musste irgendwie alles anlangen und war sehr vorlaut. Also wenn die Mutter was erzählt hat,
dann is’ er da immer ins Wort gefall’n mit irgendwelchen Witzchen und
Sprüchchen (..). Bis zu dem Zeitpunkt, wo ich dann g’sacht hab’: ‚Also (.) es
langt jetzt. Wir unterhalten uns und Du bist still.’ Und dann saß er da auch
recht (..) ordentlich auf der Bank…“ (Interview III, 7/37-42).
Frau Sonntag stellt fest, dass Tim keine Regeln und Struktur kennt. Ihrer Ansicht
nach braucht er klare Ansagen. Sie macht ihm deutlich, dass er mit der Unterhaltung der Erwachsenen nichts zu tun und sich demnach auch ruhig zu verhalten hat.
Frau Sonntags Bemühungen um ein persönliches Kennenlernen von Tim beziehen
sich nach ihren Aussagen ausschließlich auf das Beobachten von Verhaltensweisen
und das folgsame Reagieren auf ihre Anweisungen. Ihre Worte zeigen Wirkung und
Tim verhält sich ruhig. Damit fällt die Entscheidung: Tim braucht aus ihrem Erleben
heraus für sein „vorlautes’“ Verhalten nur eine autoritäre und konsequente Hand, die
ihn führt.
Nachdem für Frau Sonntag „…sich das Bild vom Tim nich’ wirklich mit der Akte gedeckt hat…“ (Interview III, 7/3-4), wird die Aufnahme Tims von ihr befürwortet. Doch
nicht Herr Wertz entscheidet, sondern sie: „Kriegst ’ne Akte, sollst sie lesen und
sollst was entscheiden“ (Interview III, 7/30-31). Nach ihrem Erleben ist Tim „damals
noch ’n absolut (..) zierlicher, schmächtiger Junge“ (Interview II, 6/27) gewesen, der
ihrer Ansicht nach kaum „…das ganze Haus zum Beben bringen…“ (Interview III,
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
73
6/28-29) kann. Sie ist positiv überrascht, da Tim in Wirklichkeit bei weitem nicht so
schlimm ist, wie in der Akte beschrieben. Dieser Aspekt spricht auch für ihren Eindruck, die Mutter sei unfähig. Sie fühlt sich dem gewachsen, es mit Tims
„…Problemchen…“ (Interview III, 6/37) und seiner Mutter aufzunehmen: „…Ich hab’
eigentlich (..) auf ’n viel heftigeres Kind gewartet“ (Interview III, 6/34-35). Dies ist der
ausschlaggebende Grund, warum Frau Sonntag zu Herrn Wertz sagt: „Wir probier’n
das jetzt“ (Interview III, 6/31). Frau Sonntag, damals vor kurzer Zeit erst Hausleiterin
geworden, möchte Herrn Wertz zeigen, was sie kann. Sie fühlt sich auf der sicheren
Seite: „…Die letztendliche Entscheidung lag schon beim Herrn Wertz“ (Interview III,
7/32-33). Das übrige Mitarbeiterteam weiß nach Frau Sonntags Schilderung zwar
„…von der Sache…“ (Interview III, 7/27), d.h. der Aufnahme Tims, „…aber wirklich
in die allerletzte Entscheidung mit eingeschlossen (.) war’n sie nich’…“ (Interview III,
7/27-28). Falls es nicht klappen würde, könnte Tim immer noch in ein anderes Heim
gehen. Tim wird „ausprobiert“, aus eigenem Ehrgeiz und um dem Jugendamt einen
Gefallen zu tun.
Nachdem die Entscheidung gefallen ist, trägt Herr Teichert, der währenddessen mit
den Geschwistern im Auto wartet, Tims „…sämtliche Kisten…“ (Interview III, 2/28)
ins Haus: „…Bestimmt zwanzig Kartons mit Spielsachen und Klamotten“ (Interview
III, 2/29). Tims viele Sachen werden im Vorfeld und im weiteren Verlauf des Interviews immer wieder belustigend von Frau Sonntag dargestellt. So lacht sie auch
deshalb im Rückblick auf die damalige Situation, als Tim, Frau Berger und Frau Hall
ins Kinderdorf kommen. Es überrascht sie, dass Tim sofort „…richtig…“ (Interview
III, 8/22) einzieht, mit allen Sachen, die er besitzt: „Fahrrad, Roller (.), Inliner, Winterausrüstung, Sommerausrüstung. Der hatte ja echt (..) sofort alles dabei. (…) Und
in sämtlichen Kleidergrößen auch, also der war das erste Jahr ja komplett ausgestattet“ (Interview III, 8/23-27). Die Bedeutung für Tim und auch die Bedeutung für
Frau Berger erkennt sie nicht.
Den Abschied von Mutter und Kind erlebt Frau Sonntag so:
„Und dann is’ (.) die Mutter gegangen mit der Frau Hall, und der Tim is’ da
geblieben und was ich sehr interessant fand, war (..), äh die Mutter war zwar
sehr besorgt (.), aber der Tim hat meist gar nix g’sacht, außer dass er unruhig
überall dran ’rumgefingert hat. Und als es dann drum ging (.), sich zu verabschieden (..), is’ er aber nimmer mit zum Auto oder so. Er is’ einfach steh’n
geblieben in der (..) Eingang/ im Eingangsbereich vom Haus“ (Interview III,
2/31-26).
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
74
Tims Abschied von seiner Mutter erlebt Frau Sonntag als nicht so schwer und
schmerzlich, wie Tim selbst dies tut. Rückblickend stellt sie fest, dass sich Tim
„…eigentlich so gar net gesorgt hat…“ (Interview III, 2/40). Nach ihrem damaligen
Erleben hat es ihm nicht viel ausgemacht. Er hat eher abwesend und angespannt
auf sie gewirkt, als würde er darauf warten, dass seine Mutter geht. Die Erwartungen von Frau Sonntag an ein Kind in dieser Situation erscheinen hier doch wenig
einfühlsam und sensibel. Für Frau Sonntag hat sich Tim in diesem Moment mit seinem neuen Lebensumfeld abgefunden: „…Das war einfach so: Die Haustür war zu
(.) und die Mama war weg“ (Interview III, 2/40-41). Diese Szene hat einen symbolischen Charakter: Da Frau Sonntag nach ihrem ersten Eindruck die Mutter-SohnBindung zwischen Tim und Frau Berger für nicht sehr intensiv hält, schlägt Frau
Sonntag die Tür für Mutter und Kind zu. Sie sperrt die Mutter aus ihrer eigenen Zukunft mit Tim aus. Von nun an ist sie, die kompetentere Bezugperson, für ihn da. In
dem Moment, als die Mutter das Kinderdorf verlässt, erlebt Frau Sonntag rückblickend ein anderes Verhalten von Tim: „…Dann war er einfach erstmal (.) die nächsten Tage ’n ganz normales Kind, wo auch überhaupt net körperlich unruhig irgendwie oder vorlaut…“ (Interview III, 8/2-4) war. In der heutigen Perspektive erahnt sie
die Gründe für Tims damaliges plötzlich „normales“ Verhalten: Das, was ihm gefehlt
hat, ist „…so der Schutz der Mutter…“ (Interview III, 8/1) gewesen und „…vielleicht
auch ’n bisschen Angst“ (Interview III, 8/4-5) vor dem neuen Umfeld: „So dieses
neue Haus, viele neue Leute, viele Kinder…“ (Interview III,8/7).
Frau Sonntag handelt „kurz und bündig“, ohne auf Tims Ängste und Sorgen einzugehen:
„…Dann hab’ ich zu ihm g’sacht, er soll sich Hausschuhe anzieh’n und dann
war er eigentlich (.) da. (…) Ja, und dann ham wir (.) am Abend, als die an
der’n Kinder im Bett war’n, ham wir dann (.) sämtliche Kisten ausgepackt. Und
(..) joa (.), da war der erste Tag scho’ gelaufen“ (Interview II, 2/38-3/2).
Schnell wird Tim von Frau Sonntag in den Kinderdorfalltag integriert. Wie es Tim an
diesem Tag wirklich geht oder wie er sich gefühlt hat, weiß sie bis heute nicht: „Mh
(.), das hab’ ich ihn nie gefragt. Also so im Nachhinein ham wir uns da nie drüber
unterhalten“ (Interview III, 8/18-19).
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
75
4.2.4. Die Perspektive des Jugendamts
Als Frau Hall die Nachricht der Schule über den Ausschluss Tims und deren Empfehlung über weitere Maßnahmen erreicht, wird sie tätig: „Also es war (.) in erster
Linie (.) Schutz vor der Mutter (..) ihn da weg zu bringen, ’ne“ (Interview IV, 14/1213). Diesen Verlauf beschreibt sie so:
„Ich hab’ mir dann noch mal so die ganze Akte durchgelesen und hatte dann
auch noch mal ’nen Gespräch mit der Mutter (.). Hab’ dann so für mich überlegt, dass der Junge einfach viel (.) Ruhe braucht, viel (.) äh Struktur und (.)
dass er wissen muss, woran er ist. Also Regeln, Struktur, ’n ordentlichen Tagesablauf und jemand, der sich wirklich kontinuierlich um ihn kümmert. Also
wo er weiß, auf diese erwachsene Person kann ich mich verlassen und ich
hab’ dann damals gesagt, ich würde den Tim nicht in ein therapeutisches Heim
tun (..), weil ich irgendwie das Gefühl hatte (.), der muss weg von der Mutter.
Mit der Mutter ähm (.), das wird schwierig sein, da viel zu verändern und ich
hatt’ damals schon den Eindruck, das es hier um ’ne (.) langfristige Unterbringung geht und ’nen therapeutisches Heim ist ja immer nur für ein bis zwei Jahre … und dann wird das Kind zurückgeführt“ (Interview IV, 2/29-3/1).
Die Schule bestätigt zwar damals ihren Eindruck, dass Tims Hauptproblem in der
Mutter liegt und er dringend von der Mutter getrennt werden soll, doch ergeben sich
hieraus für sie eigene Probleme, hinsichtlich der Vorstellungen über die Dauer der
Unterbringung. Nach einem Beratungsgespräch mit der Mutter glaubt Frau Hall
schon im Vorfeld nicht an eine Rückführung Tims zur Mutter nach den zwei Jahren
in einem therapeutischen Heim. Einen dann anstehenden Wechsel in ein anderes
Heim will sie ihm ersparen. Sie möchte eine langfristige Möglichkeit für Tim und erlebt bei der Lösungsfindung einen eigenen inneren Zwiespalt: Einerseits ist da die
Schule, die einen hohen therapeutischen Förderbedarf für Tims Entwicklung feststellt und andererseits „…so ’n Gefühl…“ (Interview IV, 3/4), dass er eine zuverlässige und feste Bezugsperson braucht, wo er nach zwei Jahren eben nicht wieder
„…’n Abbruch hat…“ (Interview IV, 3/5-7).
In die Entscheidung, dass Tim in ein Heim soll, hat sie ihn nach ihrem eigenen Erleben miteinbezogen, „…wobei er da sehr ambivalent war…“ (Interview IV, 10/36).
Inwieweit Tim von ihr tatsächlich einbezogen wird, kann hier nicht geklärt werden. In
die Entscheidung zur Einrichtung selbst wurde er nicht einbezogen: „…Da war er
wenig beteiligt“ (Interview IV, 10/37). Erst beim Vorstellungsgespräch im Kinderdorf,
als es ernst wird für ihn, stellt sie seine klare Haltung fest, „…dass er grundsätzlich
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
76
nicht (...) in ein Heim will“ (Interview IV, 10/39). Hier geht Frau Hall einen Alleingang,
indem sie zwar mit Tim die geeignete Hilfe verhandelt, jedoch ihn nicht in die Auswahl der Einrichtung miteinbezieht (siehe 1.2. Rechtliche Grundlagen). Tim weiß
hier von Beginn an nicht, „woran er ist“ bei ihr, obwohl sie selbst dies im Interviewverlauf thematisiert und eine verlässliche Person als so wichtig für ihn erachtet.
Die Einbeziehung der Mutter bei der Entscheidung zur Heimunterbringung erlebt sie
so:
„…Die Entscheidung, dass er ins Heim kommt, war letztendlich doch freiwillig, aber
wenn die Mutter äh (.) sich nich’ freiwillig geäußert hätte, hätten wir das Ganze übers Familiengericht erwirken müssen, also wir hätten ihr das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen“ (Interview IV, 5/17-20). Frau Hall erlebt damals, dass die
Mutter trotz aller Schwierigkeiten und trotz ihrer Ablehnung des Jugendamtes einer
Heimaufnahme Tims zustimmt, womit sie selbst nach den erschwerten Bedingungen der Vergangenheit nicht gerechnet hätte. So betont sie im Nachsatz nochmals:
„Die (sehr deutlich gesprochen bis *) Mutter (.) hat (.) meines Erachtens * dem Tim
immer signalisiert, dass das Jugendamt (.) ’ne böse (lacht bis *) Institution is’ * “ (Interview IV, 5/20-22). Da Frau Hall hier sehr förmlich spricht, liegt der Verdacht nahe,
dass sie diesen Satz im Zusammenhang mit der Frage nach der Freiwilligkeit der
Mutter zu einer Heimunterbringung in einem Brief an das Gericht diktiert hat. Frau
Hall hat hier damals also schon für den Fall vorgesorgt, falls die Mutter nicht zustimmen würde. Damit ergibt sich hier für die Mutter das Problem der eingeschränkten „Freiwilligkeit“ der Hilfe zur Erziehung (siehe 1.2. Rechtliche Grundlagen).
Frau Hall entscheidet aus ihrem Gefühl heraus, Tim „…in ’ne kleinere Einrichtung zu
tun, wo auch klar is’, da kann er bleiben. …Die vielleicht familienähnlich is’“ (Interview IV, 3/10-11). Am liebsten hätte sie Tim in einer Pflegefamilie untergebracht,
doch aufgrund seiner Auffälligkeiten sieht sie hier für ihn keine Chance: „…Dafür
war er wirklich zu (.) anstrengend“ (Interview IV, 3/12). Gleichzeitig ist ihr wichtig
gewesen, dass Tim in der Nähe von A-Stadt bleibt, „…einfach dass er den Kontakt
zur Mutter auch weiterhin hat…“ (Interview IV, 3/15). Da es keine andere kleine Einrichtung in der Nähe gegeben hat, hat sie „…ihn daraufhin (..) im Kinderdorf untergebracht“ (Interview IV, 3/16). Warum sie sich an dieser Stelle rechtfertigt und erklärt, weshalb sie Tim im Kinderdorf untergebracht hat, wird im weiteren Verlauf des
Interviews sichtbar: Frau Hall handelt gegen eine professionelle Empfehlung und
muss dies vor sich, ihrem Arbeitgeber und vor allem vor der Schule rechtfertigen:
„…Der Psychologe, der (..) fand das damals gar net gut, die Entscheidung, dass er
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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ins Kinderdorf geht (.). Der hat also wirklich gesagt: ‚Nee, der braucht ’ne therapeutische Einrichtung!’“ (Interview IV, 3/39-41).
Tims Vorstellungsgespräch im Kinderdorf erlebt Frau Hall so:
„Das Vorstellungsgespräch dort (lacht bis *) is’ so gelaufen, dass die (.) Psychologin und der Leiter damals äh (.) mir gleich ’ne Absage gegeben haben*,
so ’n Kind (..) können sie nicht aufnehmen (lacht bis *) das sei viel zu schwierig und zu anstrengend *, die wollten den Tim nich’ (.) nehmen, die ham (.) sich
überfordert gefühlt oder ham gesagt, wir sind nich’ die richtige Einrichtung für
den Jungen (..) mit diesen Auffälligkeiten“ (Interview IV, 3/16-22).
Tim, der nach Frau Halls Aussage klar äußert, „…dass er grundsätzlich nicht (...) in
ein Heim will“ (Interview IV, 10/39) und aufgrund der angespannten Situation, die ihn
zusätzlich unter Stress setzt, wird in dem stattfindenden Gespräch deutliche Auffälligkeiten gezeigt haben, die das Kinderdorf abschrecken: „Ich hab’ ja dann am
nächsten Tag ’ne Absage bekommen (lacht bis *), die (.) können * sich das nicht
vorstellen mit dem Tim, … der passt da nich’ hin…“ (Interview IV, 11/2-6). Aus der
heutigen Perspektive lacht sie über die damalige ablehnende Haltung des Kinderdorfs. Im weiteren Verlauf des Interviews wird deutlich warum: Mit der Arbeitsbasis
von Herrn Wertz und der Psychologin Frau Schmitt kann sie nicht viel anfangen: „So
die Frau Schmitt, die (.) die hat wahnsinnig viel Macht und der Herr Wertz, der eigentlich der Leiter is’, der hat sich so untergeordnet“ (Interview IV, 20/37-38).
Für Tim und seine Mutter erlebt sie die Absage des Kinderdorfs als nicht besonders
problematisch: Tim, der nach dem Kennenlernen des Kinderdorfs „…wieder nach
Hause gegangen [is’]…“ (Interview IV, 11/24), ist ihrer Ansicht nach nachmittags in
der Tagesstätte „…tagsüber versorgt…“ (Interview IV, 11/27). Da Tim sowieso nicht
in ein Heim möchte und „…die Mutter sich sehr schwer getan hat damit, den Tim
überhaupt ins Heim zu geben“ (Interview IV, 11/27-29), sieht sie keine Eile geboten.
Doch Frau Hall gibt den Gedanken an eine Unterbringung im „Kinderdorf“ noch nicht
auf:
„Und ich hab’ dann mit dem Herrn Wertz, war das glaub’ ich, gesprochen (..)
und auch mit der Frau Schmitt und hab’ denen dann noch mal mein Statement
gegeben, warum ich (.) das Kinderdorf ausgesucht hab’ und nich’ ’ne therapeutische Einrichtung und hab’ dann halt die gleichen Argumente noch mal
vorgebracht wie vorhin, dass er (.) … einfach ähm viel Sicherheit braucht, viel
Struktur, viel Regeln und dass ich mir vorstellen kann, dass man dann gut mit
ihm (.) klar kommt und … (.) jetzt weiß ich nich’ mehr, was das Ausschlagge-
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
78
bende war, auf jeden Fall haben sie ihn dann doch genommen“ (Interview IV,
3/24-34).
Frau Hall nutzt hier ihre Position als Jugendamtsmitarbeiterin, um ihr Ziel zu erreichen. Sie hat die Hoffnung, die Zweifel des Kinderdorfs auszuräumen, denn ihrer
Meinung nach ist „nur“ ein eng strukturierter Tagesablauf, ein straffes Regelwerk
und Konsequenz notwendig, um Tim in seiner Entwicklung zu helfen. Um den Kinderdorfleiter zu überzeugen, neutralisiert sie den therapeutischen Förderbedarf. Da
sie diejenige Person darstellt, die die Kinder in den Einrichtungen im Raum A-Stadt
unterbringt und das natürlich unter ökonomischen Aspekten weiterhin auch gerne im
Kinderdorf tun soll, bleibt ihre Bitte nicht ungehört: Dann „…ham se sich ’s … noch
mal überlegt und gesagt: ‚Okay, sie probieren es.’ Ich glaub’, das war ’ne Woche
später“ (Interview IV, 11/10-11). Das „Ausschlaggebende“ ist die Hausleiterin Frau
Sonntag, die sich den von Frau Hall genannten Anforderungen gewachsen fühlt.
Frau Hall geht hier ein hohes Risiko ein: Ihrem Gefühl folgend, gibt sie ihr Einverständnis dafür, das Tim im Kinderdorf „ausprobiert“ wird.
Den Tag von Tims Aufnahme im Kinderdorf erlebt Frau Hall als „…so furchtbar…“
(Interview IV, 11/38). Im Verlauf des Interviews ist sie sich erst nicht sicher, ob sie
ihn mit der Aufnahme eines anderen Kindes verwechselt: „…Ich weiß es nich’ mehr,
ob ich ’s durcheinander bring’, aber ich glaube, ich war am Tag der Aufnahme dabei“ (Interview IV, 11/36-37). Doch dann erinnert sie sich rückblickend an eine ihr im
Gedächtnis gebliebende Situation, die sie selbst sehr mitgenommen hat: „…Da
konnt’ sich die Mutter (.) nicht verabschieden vom Tim und der Tim auch nich’, ’ne?
Wo wir dann (.) g’sagt ham, die Frau Sonntag und ich, (.) wir äh müssen das jetzt
abbrechen. Wir müssen die Mutter jetzt einfach (.) fortschicken, ’ne?“ (Interview IV,
11/38-41). Für Frau Hall und Frau Sonntag steht damals fest, dass die „so furchtbare“ Situation für Tim beendet werden muss, weil er „…immer auffälliger…“ (Interview
IV, 11/42) geworden ist. Dass Frau Hall keine andere Möglichkeit sieht als diese und
sie hier in ihrer Erzählweise ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit Frau Sonntag
ausdrückt, gibt Hinweise darauf, dass sie selbst sehr unsicher gewesen ist.
Denn schon der Nachmittag ist für sie mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden.
Diese beschreibt sie so:
„Also, so von der Atmosphäre her war es ganz schwierig, weil die Frau Berger
ja mit ihrer (.) ganzen Körperhaltung, mit ihrer Mimik und Gestik (.) so (..) das
absolute Opfer (.) ausgedrückt hat: ‚Du böses Jugendamt, ihr nehmt mir mein
Kind und du böses Kinderheim’ (..). Ähm, also da war alles nur so (.) so
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
79
schwer, so traurig, so trist und die Frau Berger hatte ja auch immer so ’ne
Stimme (.) ähm (.), man hat gedacht, man is’ auf ’ner Beerdigung, ’ne? Und
den Tim, äh (.) den hat das derart verunsichert, ’ne? Der war äh (.) saß am
Tisch, hat rumgezappelt und immer nach unten geguckt und man konnt’ wirklich nich’ mit ihm reden,’ ne? Aber (.) ähm (..5..) und ich hatte so das Gefühl,
ich bin wirklich hier die Böse vom Jugendamt, dann hatt’ ich das Gefühl: ‚Oh
Gott es war doch nich’ die richtige Entscheidung, ich glaube, das is’ (.) das falsche Heim für ihn (.).’ Und musste jetzt aber doch (.) irgendwie das Ganze (.)
gut (.) zu ’nem guten Ende bringen“ (Interview IV, 12/39-13/8).
Frau Hall erlebt hier eine für sich selbst ganz schwierige Situation, die sie an ihre eigene Grenze bringt. Ihre Zweifel, die schon im Vorfeld bei der Auswahl der Unterbringungsart entstehen, kommen wieder in ihr hoch. Gleichzeitig belastet die schwere und traurige Umgebung ihre gefühlsbetonte Persönlichkeit, die für sie „…ganz
schlimm (.) auszuhalten…“ (Interview IV, 13/16-17) ist. Hier wird deutlich, warum
Frau Hall das Gefühl hat, dass Tim von seiner Mutter getrennt werden muss: Sie
projiziert ihren eigenen erlebten „Schwermut“, den die Mutter in Gesprächen bei ihr
auslöst, auf Tim. Zusätzlich verlassen sie ihre guten Gefühle, auf die sie sich bei ihrer Entscheidung gestützt hat. Sie ist genauso „…verunsichert…“ (Interview IV,
13/10) wie Tim. Dessen Unruhe nimmt sie zwar wahr, aber nur im Hinblick auf das
Verhalten der Mutter. Doch er, der seine Umgebung sehr sensibel wahrnimmt, reagiert auch auf die ihrige, ihm unbekannte Unsicherheit: „Der war (..) also ansprechbar sowieso nicht (.). Wenn man was (.) zu ihm gesagt hat, der hat überhaupt nich’
gehört und reagiert, aber der war sehr laut und sehr aggressiv, sehr wütend …“ (Interview IV, 12/1-3). Wieder wird hier seine kognitive Überlastung nicht berücksichtigt. Frau Hall zweifelt an der Richtigkeit ihrer Entscheidung: „Ich weiß noch, dass
ich dann da saß und gedacht hab’: ‚Oh scheiße, was hast ’n da entschieden?’“ (Interview IV, 12/17-18). Die Situation mit der Mutter, in der sie „…keine richtige Ansprechpartnerin…“ (Interview IV, 13/13-14) gefunden hat und mit Tim, der
„…auffällig hoch drei…“ (Interview IV, 13/15) gewesen ist, wird für sie unerträglich.
Sie wünscht sich dringend Hilfe und Unterstützung: „Und da (.) hab’ ich gedacht, es
wär’ jetzt eigentlich gut, wenn (..) die Psychologin da wär’…“ (Interview IV, 13/1920). Die Hilfe kommt – von unerwarteter Seite: von der „…sehr jungen…“ (Interview
IV, 12/34) Frau Sonntag:
„…Ich weiß, dass die Frau Sonntag sehr empathisch (.) war. Ob/ Also, der Tim
war (.) wahnsinnig anstrengend. (...) Und (.) die war wirklich (.) ähm (.) sehr
klar (.) in dem Moment. Ähm (.), is’ auf ’n Tim sehr eingegangen, hat aber
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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auch gemerkt, wo’s keinen Sinn macht und hat ihn dann auch in Ruhe lassen
können…“ (Interview IV, 12/15-21).
Frau Sonntag, die nach ihrem Erleben einfühlend auf Tim eingeht und ihm Struktur
und Orientierung bietet, ist ihr in der schwierigen Situation eine große Hilfe. Doch
aus der heutigen Perspektive entstehen Zweifel an ihrer eigenen Wahrnehmung,
gerade weil sie selbst alles „so furchtbar“ gefunden hat: „Und vielleicht hab’ ich daher auch gedacht, dass die Frau Sonntag das (.) mit Bravour gemacht hat, ’ne?“ (Interview IV, 13/23-24). Hier mischt sich heutige Kritik in das Erleben von damals.
Denn Frau Sonntag in ihrer sachlichen Art ist in der damaligen Situation als einzige
Person „…wirklich ruhig geblieben“ (Interview IV, 13/24) und hat die Situation im
Griff gehabt. Frau Hall hat sie damals deshalb für kompetent gehalten. Anlass zu
Zweifeln geben ihr jedoch spätere Situationen, in denen sie Frau Sonntag nicht unbedingt positiv erlebt: „Weil die kann ja auch ganz schön (..) und ähm kann auch oft
sehr subjektiv sein“ (Interview IV, 13/25-26). Dieser Hinweis gibt Aufschluss über
bevorstehende Probleme für Tim.
Frau Hall stellt fest:
„Und (.) ich weiß jetzt nur noch, dass ich sie da (.) bei dem Gespräch (.) klasse
fand. Und das hab’ ich dann auch dem Herrn Wertz zurückgemeldet, ne. Dass
der (..) dass die Aufnahme wider Erwarten dann doch relativ (.) glimpflich abgelaufen is’. Also, es war sehr anstrengend…“ (Interview IV, 12/23-26).
Trotz ihrer späteren negativen Erfahrungen mit Frau Sonntag, ist Frau Hall der Ansicht, dass sie damals, in dieser Situation, nicht nur für Tim, sondern auch für sie
selbst „…genau das Richtige“ (Interview IV, 13/28) gewesen ist.
Ein weiterer Aspekt am Tag der Aufnahme, an den sich Frau Hall heute noch erinnert, ist, „…dass die Mutter wahnsinnig viel Zeugs mitgebracht hat“ (Interview IV,
12/9-10). Andere Familienmitglieder oder andere Erzieherinnen nimmt sie in dieser
Situation nicht wahr. Sie glaubt sich zwar an Herrn Teichert erinnern zu können,
weiß aber nicht sicher, was er getan hat: „Der war ’n paar Mal mit drin und ’n paar
Mal hat er im Auto gewartet. Aber ob er da jetzt mit dabei war (..)? Ich weiß es nich’“
(Interview IV, 13/31-33). Als mögliche Hilfe oder Unterstützung sieht sie ihn rückblickend nicht: „Wobei das gar net so sehr viel verändert hätte…“ (Interview IV, 13/3334). Auch an andere Erzieherinnen kann sie sich nur sehr vage erinnern: „…Da war
irgendwann mal (.) oben, wo die Schlafräume sind, ’ne jüngere Erzieherin (.), aber
die hab’ ich jetzt net so wahrgenommen…“ (Interview IV, 12/31-33). Was um sie
herum geschieht, hat Frau Hall in der damaligen Situation nicht mehr mitbekommen.
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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Auch dieser Aspekt macht deutlich, unter welcher Anspannung Frau Hall gestanden
haben muss. Rückblickend zieht sie ihr Fazit:
„Was ich nur noch sagen kann, is’, dass ich mich dann doch (.) sehr gefreut
hab’, dass das Kinderdorf dann doch den Mut hatte zu sagen: ‚O.k., wir probie
ren’s doch mit ’m Tim’. Und am Anfang war’s ja sehr, sehr schwierig, wo ich
dann plötzlich umgekippt bin und gedacht hab’: ‚Oh Mist’“ (Interview, 22/
13-17).
„Ich hatte (..) äh man hat selten solche Aufnahmen … . Die laufen meistens doch
glatter ab (.). Aber das war (.) puh (.), ich hab’ da ganz schön geschwitzt. Aber sie
hat das gut (.) gemeistert“ (Interview IV, 12/28-30). An dieser Stelle wird nochmals
deutlich, dass Frau Hall noch heute für ihre damalige „Rettung“ durch Frau Sonntag
froh und dankbar ist. Nur die Hilfe von Frau Sonntag hat verhindert, dass Frau Hall
ihr eigenes „Gefühl“ damals wie auch heute nicht in Frage hat stellen müssen.
4.2.5. Zusammenfassung
Tim erlebt die Aufnahme ins Kinderdorf als ein massiv bedrohliches Lebensereignis,
das von Unsicherheit, Hilflosigkeit und Angst geprägt ist, und in dessen Prozess er
weder eingreifen kann, noch beteiligt wird. Tims Gefühle werden von Frau Hall nicht
wahrgenommen. Die Gründe für die Unterbringung außerhalb der Familie versteht
er bis heute nicht. Auch Frau Berger kann hier nicht zu einem Verständnis beitragen. Das Gefühl des „Nicht-gefragt-worden-seins“ wirkt bei Tim bis heute nach.
Frau Berger sieht Frau Halls Entscheidung zwar einerseits als ein schmerzhaftes
Ereignis, andererseits jedoch auch als Chance für Tim. Aus Frau Sonntags Perspektive gilt die Aufnahme Tims durch die bedrohliche häusliche Situation als Notaufnahme, während aus Frau Halls Sicht keine Eile geboten ist, da sie Tim in der
Tagestätte gut versorgt glaubt.
Die Aufnahme selbst gestaltet sich aus jeder Perspektive belastend und schwierig:
Während Tim die Situation aus Angst und Unsicherheit überlastet, überfordert Frau
Hall die durch die Mutter verursachte emotionsgeladene Atmosphäre und die Auffälligkeiten von Tim. Währenddessen begeben sich Frau Sonntag und Frau Berger in
erste Machtkämpfe: Aus der Perspektive Frau Bergers teilt sie Frau Sonntag ihre
Sorgen und Ängste um Tim mit, aus Frau Sonntags Sichtweise äußert Frau Berger
Zweifel an ihrer Kompetenz. Keine der Personen stellt eine Ansprechpartnerin für
Tim dar, die ihm Sicherheit und Orientierung bietet.
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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Eine sehr leidvolle Erfahrung ergibt sich für Tim, als Frau Sonntag und Frau Hall beschließen, ihn sich nicht von seiner Familie verabschieden zu lassen, um die aus ihrer Sicht sehr belastende Abschiedsszene zu beenden. Zu einer Verständigung zwischen Tim und seiner Familie trägt hier keiner der professionellen Helfer bei. So hat
Tim bis heute das Gefühl, seine Familie hätte ihn verlassen. Auch hier berücksichtigen Frau Hall und Frau Sonntag die Perspektive Tims nicht.
4.3.
Tims Leben im Kinderdorf
4.3.1. Die Perspektive des Kindes
Die erste Zeit im Kinderdorf erlebt Tim rückblickend als sehr hart und belastend. Er
aktiviert hier alle seine vorhandenen Ressourcen, um in seinem neuen Lebensfeld
irgendwie zurecht zu kommen. Nachdem ihm die Regeln und Strukturen im Haus
erklärt werden, verhält er sich in den ersten Wochen im Kinderdorf so, das er überleben kann: angepasst. Besonders die ungewöhnlich lange Kontaktsperre zu seiner
Familie trägt erheblich zu einem negativen Wohlbefinden bei: „Erst nach acht Wochen oder sechs Wochen durften die anrufen (…). Mh, war halt blöd, weil ich hab’
immer gefragt: ‚Wie viel Wochen noch?’“ (Interview I a, 8/10-11). Tim hat starkes
Heimweh und wartet sehnsüchtig auf seine Familie. Er lebt in der Ungewissheit,
wann und ob er seine Familie wiedersehen darf. Er fragt oft, doch bekommt von
Frau Sonntag und Frau Hall keine Antwort. Sich als Kind in ein neues Zuhause einzuleben und ein Heimatgefühl zu entwickeln, scheint unter diesen Umständen beinah unmöglich. Tim entwickelt die Strategie und die Hoffnung, schneller wieder
nach Hause zu kommen, wenn er sich „gut“ verhält: „…’Wenn ich ganz brav bin,
darf ich dann eher heim? (…) Ich muss ja nur 1 Jahr bleiben, wenn’s gut läuft’“
(Entwicklungsbericht 11/2001). Hier verweist Tim auf den ersten Hilfeplan, in dem
festgehalten wird, dass nach ca. einem Jahr seine Rückführung in die Familie angedacht ist. Frau Hall, wie auch Frau Sonntag unterstützen seine Hoffnung als Motivation für gutes Benehmen. So versucht er, die Regeln im Haus so gut es ihm möglich
ist, einzuhalten. Für Tim ein wahrer Kraftakt, wenn man bedenkt, dass er nie gelernt
hat, sich an Strukturen und Regeln im Alltag zu halten.
Auch das Gruppenleben ist ungewohnt für Tim. So heißt es im Entwicklungsbericht
(11/2001): „Immer wieder muss er aus seinem Zimmer zurückgeholt werden in die
Gruppe“. Tim besitzt nicht die Selbstsicherheit, auf die vielen neuen Kinder und Mitarbeiter zuzugehen und sucht Schutz und Geborgenheit in seinem Zimmer bei sei-
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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nen Sachen, die er von Zuhause mitgebracht hat. Tims Therapeutin nimmt zu dieser
Zeit eine „…Verschlimmerung seiner Tics…“ (Entwicklungsbericht 11/2001) wahr.
Zudem fällt in der Gruppe seine Unruhe vor allem beim Essen auf, ein Zeichen dafür, dass er Zuwendung braucht. Erst nach zwei Monaten finden laut Entwicklungsbericht vom 11/2001 erste Telefonate mit seinen Eltern und dem kleinen Bruder
statt. Nach weiteren drei Monaten darf die Mutter Tim endlich das erste Mal im Kinderdorf besuchen. Fünf Monate muss Tim folglich auf seine Familie warten.
Rückblickend sieht Tim weder damals noch heute für sich die Möglichkeit, sich im
Kinderdorf einzuleben und wohl zu fühlen: „[I.: Und (.) weißt Du noch wann Du gedacht hast: ‚O.k., jetzt hab’ ich mich ganz gut eingelebt (..), jetzt komm’ ich hier ganz
gut zurecht’?]. Eigentlich nie“ (Interview I a, 7/33-35). Im weiteren Verlauf des Interviews wird an dieser Stelle Tims Strategie ganz deutlich. Er geht dabei sehr raffiniert
vor. Er merkt, dass das, was er gesagt hat, interessant für mich ist, und ich mehr
darüber erfahren möchte. Erst blockt er ab: „Mh (..7..), das weiß ich halt net so“ (Interview I a, 7/39). Dann relativiert er seine negative Aussage mit dem Satz „So
schlecht eigentlich auch wieder net“ (Interview Ia, 7/41), um keine Stellung beziehen
zu müssen, die ihm zum Verhängnis werden könnte. Als er merkt, dass ich nicht locker lasse, gibt er meiner Frage ein Stück weit nach, ohne sich dabei festzulegen:
„Ja, wenn man halt denkt, dass man hier schlafen kann und (.) dass man Essen
kriegt und so“ (Interview I a, 8/1-2). So hofft er, dass ich mit seiner Antwort zufrieden
bin und nicht weiter nachbohre. Tim reduziert hier seine Ansprüche an ein Zuhause
auf die Befriedigung von Grundbedürfnissen, wobei hier wieder das „Essen“ von ihm
thematisiert wird. Indirekt äußert er damit aber auch, dass er sich außerhalb dessen
im Kinderdorf nicht wohl fühlt und ein erheblicher Teil fehlt, nämlich eine vertrauensvolle Basis zwischen ihm und den Erziehern.
Ein entscheidender Aspekt für Tims negatives Erleben im Kinderdorf ist dabei bis
heute sein Unverständnis darüber, warum er im Kinderdorf leben muss. Auch nach
dreieinhalb Jahren kann er nicht nachvollziehen, wieso er damals von seiner Familie
weg musste. Er möchte wissen, was mit ihm passiert, und „verstehen können“. Dieser Aspekt stellt für Tim eine Voraussetzung dar, um sich auf das Leben im Kinderdorf einlassen zu können. Auch Frau Hall versäumt es, ihm eine konkrete Antwort
zu geben. Erst im Laufe seiner Kinderdorfzeit werden ihm von Frau Sonntag mehrere Erklärungen geboten, die aber auch heute noch keine wirklichen Argumente für
ihn darstellen. Tim beschreibt eine davon so: „…Halt weil meine Eltern sich immer
streiten oder so (.). Aber das machen ja eigentlich fast jede Eltern“ (Interview I a,
6/9-10).
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Hier entsteht ein fataler Widerspruch für Tim: Die Motivation für ihn, dass ein positives Verhalten seinerseits zu einer baldigeren Rückführung in seine Familie beitragen könnte, ergibt keine Logik, wenn der Grund für seine Aufnahme ins Kinderdorf
der Streit der Eltern ist. Für ihn steht in diesem Moment fest, dass er trotz seiner
Bemühungen nicht mehr nach Hause zurückkehren wird. Problematisch wird es für
ihn, als nach einem Jahr Kinderdorfzeit seine eigentlich geplante Rückführung in die
Familie laut Hilfeplanfortschreibung vom 10/2002 durch einen Streit zwischen seiner
Mutter und Frau Sonntag verworfen und nach Aktenlage nie wieder angesprochen
wird. Bis heute lebt Tim in der Ungewissheit, wann er wieder nach Hause darf.
Eine weitere Erklärung, die ihm Frau Sonntag bietet, beschreibt Tim so: „Ähm, weil
(.) die Mama sich nich’ richtig kümmern kann“ (Interview I b, 2/22) und „…dass sie
nich’ so viel Geld hat“ (Interview I b, 3/5). Die Aussage Frau Sonntags, dass seine
Mutter überfordert ist und nicht viel Geld hat, erlebt Tim als klare Abwertung und Unterstellung an seine Mutter, dass nämlich nur sie daran schuld ist, dass er noch heute im Kinderdorf leben muss. Für Tim ist das ein Signal, wie sie über seine Mutter
denkt: „Ja weil, (..) ich glaub’ die Erzieher denken ähm (.), die Eltern sind halt
schlecht. (…) Weil ähm (..) weil manchmal sagen die ähm (.) die sind unfähig was
zu machen oder so“ (Interview I a, 8/20-24). Äußerst sensibel fasst er Aussagen der
Erzieher bezüglich seiner Eltern im Alltag auf: „Das merkt man auch irgendwie. (…)
Halt ähm (..) wie die das so hinstell’n“ (Interview I a, 8/26-28). Gleichzeitig bekommt
Tim auch mit, wie über die Eltern anderer Kinder gesprochen wird: „Auch zum Beispiel wo ich da war ham se über Nina ihre Eltern gelästert“ (Interview I b, 8/31). Zudem hat er Zweifel, ob ihre Aussagen über die Eltern immer der Wahrheit entsprechen. Auch das Jugendamt ist nach Tims Meinung nicht besser: „Die denken halt (.)
auch immer schlecht über meine Mama“ (Interview I a, 9/33).
Eine konkrete Situation beschreibt Tim so:
„Ja halt beim letzten (..) ähm Hilfeplangespräch (..) ham die halt so geredet
(..). [I.: Wie so geredet?] Ähm, da ham sie halt grad so getan, als wär’ sie halt
so (.) wie soll ich das sagen (..7..) psychisch gestört oder so ähnlich“ (Interview
I a, 9/39-43).
Tim erfährt, dass seine Mutter als wichtige Bezugspersonen für ihn nicht ernst genommen und abgewertet wird. Gleichzeitig wird ihr ihre Erziehungsfähigkeit entzogen. Im Gegensatz zu den ausgebildeten Erziehern sind die Eltern minderwertig.
Die Beziehung zu den Eltern wird nicht positiv gefördert und unterstützt. Tim folgert
daraus: „Dann denk’ ich (.) mh (.), dass die Erzieher denken: ‚Hauptsache das Kind
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
85
mag mich’“ (Interview I b, 8/33-34). Die Erzieher berücksichtigen in ihrem Umgang
mit den Eltern nicht, dass Tim trotz aller Schwierigkeiten und Streitigkeiten eine enge Bindung zu seiner Familie aufrechterhält, die für ihn eine herausragende Bedeutung hat. Aus Tims Augen betrachtet haben das Jugendamt und die Erzieher sein
Vertrauen verspielt. Tim drückt hier ganz klar aus: Wer mich mag, der muss auch
meine Familie mögen. Folgerichtig kann Tim sich daher auf keine Hilfe einlassen,
die von denjenigen Personen gestaltet wird, die seine Eltern nicht mögen.
Gleichzeitig belasten noch weitere Aspekte des Alltags im Kinderdorf eine vertrauensvolle Beziehung zwischen ihm und den Erziehern. Dabei werden auch erhebliche strukturelle und pädagogische Mängel des Kinderdorfs sichtbar:
Die materiellen Dinge, die Tim von Zuhause ins Kinderdorf mitbringt, wurden schon
mehrmals von mir thematisiert. Aber auch im Alltag ergibt sich hier ein Problem für
Tim. In der Interviewsituation erlebt er noch einmal die negative Reaktion der Erzieher auf seine vielen Kartons, mit denen er damals gekommen ist: „…Wir sind aber
zweimal gefahr’n, glaub’ ich und (...) und die sagen immer noch, weil ich so viel Sachen hab’, aber das stimmt eigentlich gar net“ (Interview I a, 7/1-3). Für ihn können
es gar nicht genug Bücher, CDs, Spielsachen und Kleidung sein. „Ja, aber das wurde ja in letzter Zeit eh alles wieder heim geschickt“ (Interview I a, 6/5). Dieses Heimschicken der Sachen wird von den Erziehern veranlasst, die der Meinung sind, es
wären zu viele. Aus dem Entzug seiner Sachen ergibt sich für Tim ein massives
Problem, da er über sie seine Identität definiert und sie ihm Sicherheit, Schutz und
Orientierung bieten. Gleichzeitig bezieht er über seine materiellen Sachen sein Heimatgefühl und die emotionale Zuwendung seiner Mutter, d.h. er kann sich nur mit
ihnen geborgen fühlen.
Zudem thematisiert Tim, dass die Erzieher ihr Wort nicht halten. Eine konkrete Situation beschreibt er so:
„…Letztens war’s beim Robert (.), ähm (.) der hat ja gesagt, ähm (.) er tut dann
ähm (..), wenn er halt was Schlechtes erfährt über uns, tut er halt nich’ gleich
sagen, ähm wir war’n das oder so, sondern (.) ähm fragt erstmal nach. Und (.)
letztens hat die Nadine mich gefragt, ähm ob der Robert mit mir gut Hausaufgaben macht. Dann hab’ ich g’sagt: ‚Ja’ (.). Und dann hat sie halt gesagt: ‚Und
der spielt immer mit seinem Handy ’rum.’ Und dann habe ich ‚Nein’ gesagt.
Und (.) die Nadine hat dann irgendwann dem Robert gesagt, dass ähm (..)
ähm ich hätte ihr gesagt, dass der Robert immer mit seinem Handy ’rumspielt
und dann hat der Robert halt mir gesagt, dass (.) dass ich das nich’ sagen soll
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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und so (..6..) [I.: Hmh (..6..). Und wer hat da welches Versprechen nich’ eingelöst?] Mh, ja der Robert. Und eigentlich auch ich, weil (.) der hat dann gesagt
ähm (.), ich soll ihn nich’ an den Pranger hängen und so“ (Interview I b, 8/429/11).
Hier werden interne Querelen der Mitarbeiter auf Tims Rücken ausgetragen. Zudem
wird die Hierarchie der Mitarbeiter sichtbar: Frau Sonntag, die als Hausleitung die
Arbeitseinstellung und -weise des Berufspraktikanten durch Tim kontrolliert, während sie nicht im Dienst ist. Schon die Situation, in der sie Informationen über Robert möchte und Tim aushorcht, ist ihm unbehaglich. Tim steckt in einem Loyalitätskonflikt zu jemandem, mit dem er sich ganz gut versteht und der sich um ihn kümmert. Tim erlebt, wie Frau Sonntag ihn vorschiebt, Wahrheiten verdreht für ihre eigenen Interessen und er selbst zum „Sündenbock“ gemacht wird. Auf der anderen
Seite ist Tim aber auch enttäuscht, dass Robert sein Wort nicht gehalten hat, da er
sich nicht erst bei ihm nach der Situation erkundigt hat, so wie Robert es gesagt hat.
Es stellen sich noch andere Probleme dar für Tim. So ist auch die Konstellation der
Kinder für Tim wenig attraktiv, was ihn einsam macht. So beschreibt er seinen
Rückzug aus dem Gruppenleben:
„Ja (.), eigentlich fühl’ ich mich net wohl, weil die einzigen Lebewesen in meinem
Zimmer sind die Blumen (..) außer mei Spinnen halt. Und (.) die wurden halt auch
umgeknickt bis auf eine (…). Und wahrscheinlich (..) verstümmeln alle“ (Interview I
b, 5/14-17). Tim ist auf der einen Seite einsam, auf der anderen Seite sucht er aber
auch das Alleinsein und wird dadurch wiederum zwangsläufig einsam. So würde er
schon gern mit jemanden sein Zimmer teilen, der vom Alter her zu ihm passt und
der ähnliche Interessen hat. Die bestehende Gruppenkonstellation bietet ihm dafür
jedoch zurzeit keine Möglichkeit. Die jüngeren Kinder findet er zu „klein“, weil sie
seine Sachen kaputt machen, die älteren Kinder sind alles Mädchen. Tim hat vor
drei Jahren einen gleichaltrigen Freund gehabt, der sich mit ihm gemeinsam ein
Zimmer geteilt hat und wie ein Bruder für ihn gewesen ist. Dieser musste aber nach
einem Jahr das Kinderdorf verlassen. Seither gibt es niemanden mehr im Haus, der
für Tim als Gefährte, im Hinblick auf sein Alter und seine Interessen in Frage
kommt.
Auch das alltägliche Gruppenleben birgt für ihn Probleme. Tim beklagt mangelnde
Individualität, es sind ihm zu viele Menschen im Haus, um sich wohl zu fühlen:
„…Irgendwie fühlt man sich hier in so ’ner Massenproduktion. Irgendwie wie so ’n
Hühnerstall oder so“ (Interview I b, 5/29-31). Er fühlt sich im Kinderdorf nicht als In-
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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dividuum wahrgenommen und unbedeutend in der Masse der Kinder. Gleichzeitig
wird der Alltag der Gruppe aus Tims Sicht zu monoton gestaltet und bietet zu wenig
Abwechslung und Anregung. In der Gruppe erlebt er keinen persönlichen Entfaltungsspielraum, ihm ist unwohl mit so vielen Menschen, Kindern wie auch Erziehern, in seiner Umgebung, die er sich nicht ausgesucht hat und in die er nicht hineingeboren wurde. Auch der Umgangston ist ihm zu rüde, als dass er sich damit
wohl und geborgen fühlen könnte. Gleichzeitig hat er das Gefühl, alles falsch zu
machen.
Zusätzlich stellen die Dienstzeiten der Erzieher eine Belastung für Tim dar: „Dass
halt ähm (.) viele Erwachsene kommen und geh’n, das halt einer mal Nachtdienst
hat und die anderen geh’n“ (Interview I b, 3/16-17). Für Tim ist es schwierig, sich mit
den Dienstzeiten der Erzieher zu arrangieren. Jeden Tag sind mehrere Erzieher im
Dienst, die im Laufe des Tages wechseln, auf die er sich immer neu einstellen muss
und die ihn eigentlich auch gar nicht kennen, „…nur von der äh wie heißt das noch
mal (…) Akte her…“ (Interview I b, 5/29). Die vielen Erzieher gemeinsam im Dienst
irritieren Tim: „Wenn’s halt nur zwei Erzieher gäbe und die würden halt hier arbeiten“
(Interview I b, 3/24). Je ein Erzieher für einen Tag als fester Ansprechpartner würde
ihm völlig ausreichen.
Auch bei den Besuchskontakten entstehen Probleme, weil sich Tim und seine Mutter an einen strikten Plan mit genauen Anweisungen halten müssen:
„Ja, is’ halt voll blöd und (.) wir soll’n in die Bücherei und ähm (.) ’n Ausweis
machen lassen (.) und die war halt schon zu und dann hab’ ich halt/ hat meine
Mama gesagt: ‚Die is’ zu und da gibt’s noch ’ne andere.’ Aber da kostet’s pro
Buch ein Euro und dann hat sie halt gesagt: ‚Nee, das Geld tu’ ich lieber net
ausgeben’ und dann/ die hat ja extra noch Rücksicht genommen (.) und die
ähm (.)/ dann sind wir halt irgendwo anders (.) in so ’n Buchladen und ham halt
geguckt und dann sind wir halt heim und dann hat die Nadine gesagt: ‚Ihr habt
Euch nicht daran gehalten’“ (Interview I b, 9/17-24).
Als Konsequenz dieser Situation sind nach Tims Aussage die Besuchskontakte von
dreimal im Monat auf ein- oder zweimal gekürzt worden. Dies erlebt er als sehr ungerecht. Er wirft dem Jugendamt vor, seine Versprechen nicht zu halten. Tim versteht das Handeln und die Einschränkung der Besuchskontakte durch Frau Sonntag
und Frau Hall nicht. Seine Mutter und er bemühen sich seiner Meinung nach, die
Aufträge des Kinderdorfes auszuführen. Seine Mutter meint es gut, handelt verantwortungsvoll und wird dafür bestraft. Tim zieht hieraus seine Schlüsse: „Das kann
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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auch gar nich’ so genau auf die Uhrzeit und so klappen“ (Interview I b, 9/31). Tim
glaubt, dass für ihn und seine Mutter gar nicht die Möglichkeit besteht, alles richtig
zu machen, weil sie unvorhergesehene Umstände nicht miteinplanen können. Daher
kann es eigentlich nur schief gehen. So erlebt Tim, dass ihnen eher Schwierigkeiten
bereitet werden, die die begrenzte gemeinsame Zeit belasten, als das sie positiv unterstützt wird. Die Beziehung zur Mutter wird hier von Frau Sonntag und Frau Hall
nicht gefördert, sondern systematisch gekappt: „Der elterliche Einfluss wird als Gefahr für die Erziehungsarbeit betrachtet. Manche Mitarbeiter versuchen daher alles
Mögliche, um Einmischungen der Eltern zu verhindern. In den Bemühungen mögliche störende Einflüsse der Eltern auszuschalten, versuchen Heime recht kontrollierend Einfluss auf die Eltern zu nehmen, dies geschieht oftmals in ritualisierender
Weise, d.h. der Ablauf der Besuche wird sehr rigide gehandhabt“ (IGFH 2002, 95).
Aus Tims Erleben haben Frau Sonntag und Frau Hall hier massiv an Glaubwürdigkeit eingebüsst. Er vertraut ihnen nicht mehr. Denn an anderer Stelle des Interviews
räumt Tim ein, dass er auch „manchmal“ das Gefühl hat, dass sich seine Mutter
nicht um ihn kümmern kann:
„Mh (…) eigentlich ähm zum Beispiel wenn der Lars halt ähm nich’ hört (..)
dann. (…) Manchmal macht er nich’ das, was er machen soll (..). (…) Mh (…)
ähm (..) dann schimpft die Mama und (.) dann muss er manchmal ins Bett oder
irgendwas anderes und das macht er dann halt auch nich’“ (Interview I b, 2/2936).
D.h. es gibt so viele Streitereien in der Familie, dass seine Mutter sich immer nur mit
einem Kind beschäftigen kann. Hier benutzt Tim aus Selbstschutz seinen kleinen
Bruder. Er spricht von Lars und meint vermutlich sich selbst. Dies lässt vermuten,
dass sich Tim immer wieder gezwungen sieht, Stellung für seine Mutter zu beziehen
und zu versuchen, alles zu vertuschen, damit seine Mutter nicht wieder ins Kreuzfeuer gerät.
Zurzeit hat Tim keinen Besuchskontakt zur Mutter: „Weil daheim wieder irgendwas
nich’ gelaufen is’…“ (Interview I a, 9/1). In den letzten acht Monaten ist Tim nicht
mehr nach Hause gefahren, weil die Eltern sich nun endgültig getrennt haben (siehe
3.3. Hintergründe zu Tims Familiensituation). Nach Aktenlage sind daraufhin die
Besuchskontakte zwischen Mutter und Sohn vom Jugendamt und vom Kinderdorf
zur Abklärung der Situation vorerst eingestellt worden.
Die Beziehung zwischen sich selbst und seiner Mutter sieht Tim jedoch heute im
Vergleich zu früher als verändert an, was er aber nicht in Worte fassen kann: „Mh
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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(.), ich weiß halt nich’, was es is’, aber ich merk’s“ (Interview I a, 9/14). Nachdem
laut den Entwicklungsberichten die Geschwister zu den Besuchskontakten nicht
mehr mitgekommen sind, haben Tim und seine Mutter die Gelegenheit gehabt, Zeit
alleine miteinander zu verbringen. Zudem bezieht sich dadurch die Zuneigung der
Mutter auch nicht mehr so stark auf materielle Dinge.
Tim vermisst seine Geschwister sehr und hätte gerne engeren Kontakt zu ihnen: „Ja
(..) und ähm (..) eigentlich weiß ich gar nich’ mehr so recht, wie alt der jetzt is’. [I.:
Der Lars?] Ja. Und meine Schwester auch net“ (Interview I a, 3/13-16). So hat Tim
zwar sporadisch Kontakt mit seinem kleinen Bruder, doch nicht zu seiner Schwester, die mittlerweile auch in einem anderen Kinderdorf lebt. Tim traut sich nicht, das
Thema „Schwester“ bei den Erziehern anzusprechen. So bleibt nur die Mutter, über
die er versucht, den Kontakt zu seiner Schwester aufrechtzuerhalten: „Ich hab’ halt
meine Mama gefragt, wie’s der Sabine geht und so“ (Interview I a, 9/26-27).
Zusätzlich tragen auch die äußeren Gegebenheiten des Kinderdorfs nicht zu Tims
Wohlbefinden bei. Er äußert Zweifel, dass das Kinderdorf eine „gute“ Familie ersetzen kann. Im Vergleich zu einer „guten“ Familie beschreibt er:
„Ja, und ähm dass das Kinderdorf nich’ so viel Geld hat, is’ auch voll blöd (..).
[I.: Was hätteste denn gerne?] Ja, das kann man eigentlich gar net (..). Ähm ja
also vielleicht ’ne (..) für’s ganze Haus ’n besseren Computer. Oder (.) wenn
alle wollen ’ne X-Box oder so. Weiß ich nich’“ (Interview I b, 4/38-42).
Dass Tim sich nicht wohl fühlt, nachdem er jahrelang mit seinem Computer und
Computerspielen verbracht hat, liegt auf der Hand. Allerdings kann sein Wunsch
auch damit zusammenhängen, dass in der Schule erstens viel mit Computern gearbeitet wird und zweitens andere Gleichaltrige Computer und ähnliches zu Hause
haben. So kann Tim wieder nicht mitreden und fühlt sich ausgegrenzt.
Im Vergleich „seines Gruppenhauses“ mit den anderen Häusern im Kinderdorf fühlt
Tim sich auch nicht wohl: „…Mh ja net mit so ’nem (..) alten/ halt so ’ner alten Einrichtung irgendwie (.). Da hat man schon kein Bock ’reinzugeh’n irgendwie. Weiß
nich’ (..). Und hier geht auch viel mehr kaputt irgendwie“ (Interview I b, 4/30-32). Tim
empfindet das Haus als keine besonders ansprechende Umgebung für sich selbst,
in der er sich entfalten kann. Problem ist natürlich, dass sich dieser Aspekt auch auf
das Verhalten der Kinder gegenüber den Einrichtungsgegenständen auswirkt. So
wird auf eine unattraktive Umgebung auch entsprechend reagiert, d.h. es wird nicht
besonders rücksichtsvoll damit umgegangen.
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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Seit „…’nem bestimmten Zeitpunkt…“ (Interview I b, 6/3) stellen die Erzieher für Tim
keine Ansprechpartner mehr dar:
„Weil halt (..4..) ähm (.) es kam halt mal so, dass ähm (.) manchmal wird halt
immer das Zimmer ausgemistet und so, ja? (…) Und (.) ja, und da lagen halt
(.) fast ’n halber Meter hoher Stapel, wo ich halt in regelmäßigen Zeitspannen
was Gutes gemalt hab’. Hab’ ich mindestens ’n Jahr dafür gebraucht (.) Halt
für manche Zeichnungen sogar ’n ganzen Monat. Wollt’ ich meiner Mama
schenken, ja? Und die wollt’s aufhängen und alles wurde weggeschmissen (..).
(…) Und drei gute Autos hab’ ich auch gemalt, hat ewig lang gedauert und die
hatt’ ich halt auf dem Schreibtisch. Die wurden auch weggeschmissen (..). (…)
Das wurde halt als (.) Müll bezeichnet. (…) Und daran denk’ ich halt immer,
wenn ich was anfang’ zu malen (..). Kaum greif’ ich zu dem Stift, denk’ ich daran und hab’ dann schon gar keinen Bock mehr was zu malen. Weil (.) wahrscheinlich wird doch eh alles weggeschmissen. (…) Früher hab’ ich auch so
ganz viele Geschichten geschrieben (..) und nachdem wurde mein Geschichtenbuch auch weggeschmissen“ (Interview I b, 6/8-42).
Dieser drastische Eingriff in seine Privatsphäre wird von Tim als ganz erheblicher
Vertrauensbruch empfunden: „Halt mehr (…), halt jetzt sind die Erzieher für mich
nur Menschen, die mir was sagen und das mach’ ich halt. Mehr sind die nich’ mehr
für mich“ (Interview I b, 6/33-34). Gerade die Zeichnungen, die als Geschenk für seine Mutter gedacht sind, werden als Müll bezeichnet und eigenmächtig von den Erziehern weggeschmissen. Tim stellt die Erzieher zur Rede und bekommt als Antwort: „‚Ja, räum’ halt besser auf!’“ (Interview I b, 7/15). Seitdem mag Tim weder eine
seiner Lieblingsbeschäftigungen ausführen, noch gilt sein Zimmer weiterhin als Ort
der Sicherheit. Der massive Vertrauensbruch hat zur Folge, dass Tim nur noch das
macht, was von ihm verlangt wird, damit er keine Strafen bekommt. Das ist noch die
einzige Orientierung, die ihm die Erzieher bieten. Wenn ihm die angedrohten Sanktionen egal sind, macht er das dann eben nicht. Danach richtet Tim sein Verhalten
im Alltag aus, z. B. auch seinen Verhaltensplan.
Gleichzeitig finden seitdem auch keine Gespräche mehr zwischen Tim und den Erziehern statt, und zwar von Tims Seite: „Ja, wenn sie halt immer so sich anhör’n, als
würden sie ’n langes Gespräch anfangen, so ‚wie geht’s ’n Dir?’, dann sag’ ich halt
immer: ‚Gut’ (..). Dann hör’n sie halt auf“ (Interview I b, 4/6-8). Tim will nur noch seine Ruhe und will mit allen und allem nichts mehr zu tun haben. Auf der einen Seite
sitzt er seine Zeit im Kinderdorf ab, auf der anderen Seite ist er perspektivlos und
hat keinen inneren eigenen Antrieb, selbst zu versuchen, die Situation zu verändern
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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und für sich und sein Leben zu kämpfen. Er nimmt die Dinge so hin wie sie sind.
Tim hat resigniert und den Glauben daran, dass sich sein Leben zum Besseren
wenden könnte, verloren.
4.3.2. Die Perspektive der Mutter
Die Kontaktsperre von acht Wochen erlebt Frau Berger rückblickend als eine lange
Trennung von Tim, mit der sie sich damals sehr schlecht arrangieren kann. Nach ihrer Erinnerung darf sie in dieser Zeit nicht im Kinderdorf anrufen und sich nach ihrem Sohn erkundigen. Laut Entwicklungsbericht vom 11/2001 hat sie jedoch alle
zwei Wochen angerufen und mit einem der Erzieher über Tims Befinden gesprochen. Nach den acht Wochen bemüht sie sich um Kontakt zu Tim: „Ja, dann hab’
ich ang’rufen und g’schrieben und er hat zurück g’schrieben (.). Und (…) ja dann
kam es dann zum (..) Hilfeplangespräch. Ja und dann wurde dann die (..) Besuche
und das Zeug g’regelt“ (Interview II, 12/37-39). In erster Linie geht es ihr in den Gesprächen um die Regelung der Besuchskontakte zu ihrem Sohn.
Den Kontakt zum Kinderdorf herzustellen erlebt Frau Berger so:
„Ja, ich hab’ dann immer nachgefracht (..) ähm (.) wo die Frau Sonntag eben
is’ und (..) ham dann (..) beim Hilfeplangespräch dann ausg’macht, welchen
Tach ich anruf’ (.) und mich halt eben unterhalt’ (.) mit den Erziehern oder (.)
mit ’m Tim halt sprechen kann“ (Interview II, 13/6-9).
Nach ihrem Erleben dauert es relativ lang, bis Kontinuität in die Telefonkontakte zu
Tim und in die Besuche im Kinderdorf kommt. Schon hier werden erste Schwierigkeiten deutlich. Durch den Schichtdienst ist Frau Bergers Ansprechpartnerin des
Hauses Frau Sonntag nicht im Dienst, wenn sie anruft: „Ja, das Blöde is’ halt, weil
eben so viele da war’n (.), hat keiner von den ander’n was gewusst (.). Vielleicht
wurd’s net ausgerichtet…“ (Interview II, 13/20-22). Frau Berger möchte klare Antworten, bekommt sie aber nicht, weil ihr Anliegen durch die vielen Mitarbeiter im
Kinderdorfalltag „untergeht“. Nach Aktenlage dauerte es fünf Monate bis zum ersten
Hilfeplangespräch. Dort wird laut Hilfeplanfortschreibung vom 12/2001 festgehalten,
dass Frau Berger einmal monatlich gemeinsame Unternehmungen vom Kinderdorf
aus mit Tim starten kann.
Wie Tim sich in der ersten Zeit im Kinderdorf fühlt erlebt sie so:
„…Ich kann mir schon vorstell’n, dass das schwer gewesen (..). Und (...) der
war dann am Anfang auch allein im Zimmer. (...) Und dann später is’ dann (..)
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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äh ’n Bub dann zu ihm g’kommen und (..) mit dem hat er sich net (...) gut verstanden oder (.) der hat halt immer was ang’stellt und (.) hat’s dann auf’n Tim
g’schoben und (…) dann (..) war’n halt immer Missverständnisse da“ (Interview
II, 13/27-33)
Tims Mutter hat zwar nicht mit ihrem Sohn darüber gesprochen, und er hat es auch
nicht konkret thematisiert, jedoch hat sie gemerkt, „…dass es ihm net gut ’gange is’“
(Interview II, 13/36-37). Und zwar „an der Sprache (.) oder an die Briefe oder an der
Schrift (.) oder (..) wie er halt eben (.) redet mit mir“ (Interview II, 13/39-40). Ihrer
Ansicht nach ist Thomas ein Auslöser für Tims Unwohlsein gewesen, weil sich Tim
mit ihm ein Zimmer geteilt und es häufig Streitigkeiten gegeben hat. Doch ihre mütterliche Einfühlung täuscht sie. Thomas ist wie ein Bruder für Tim gewesen, den er
noch heute vermisst. Dass ihr Sohn heimatlos geworden ist, starkes Heimweh nach
seiner Familie und nach seinem gewohnten Umfeld hat, sieht sie nicht. Frau Berger
weiß bis heute nicht, warum sich Tim nicht wohl fühlt: „…Vielleicht weil er mich zu
wenig sieht oder (..) mh (…) ich weiß auch net“ (Interview II, 13/42-43). Auch sie
sieht ihn zu selten, als dass sie ihn noch kennt. Schon hier deutet sie Zweifel an der
Besuchsregelung an.
Das Ziel der Hilfe für Tim beschreibt sie so:
„Ja, das (…) der Tim mit sich zurecht kommt (.), mit den Kindern … und (..) in
der Schule sich zurecht findet (.), dass er net ausg’schlossen wird (.). Ja und
(..) dass er eben die Regeln macht, was er vom Haus machen muss“ (Interview II, 12/41-13/3).
Nach Frau Bergers Erleben beinhaltet der Hilfeplan in erster Linie das Ziel, dass
sich Tim besser zurecht findet und Regeln einhält. Hier thematisiert sie Ziele, die sie
sich selbst für Tim wünscht, die aber so nicht im Hilfeplan festgehalten werden. Hier
werden Zweifel geweckt, ob sie den Hilfeplan über die Besuchsregelung hinaus‚ wo
„…das Zeug g’regelt’“ (Interview II, 12/39) wird, wirklich verständlich erklärt bekommen hat. Für Frau Berger ist die Regelung der Besuche der wichtigste Aspekt der
Hilfeplanung. Dieses Erleben rührt aus ihrer negativen Erfahrung mit dem Kinderdorf und deren Gestalten der Kontakte:
„Ja, ich hab’ halt dann ausg’macht mit denen (..), dass ich dann einmal im Monat halt komm’ und mach’ was mit den Kindern (…). Und da (.) war’n dann
immer (.)/ fast immer and’re Erzieher da gewesen“ (Interview II, 13/16-18).
Frau Berger spricht hier eine für sie problematisch erlebte Situation mit Frau Sonntag an, die diese Besuchsregelung zur Folge hat, deren Gestaltung ihr im Gedächt-
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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nis geblieben ist und auch in der außerplanmäßigen Hilfeplanfortschreibung vom
10/2002 festgehalten wird. Kurz vor dem Hilfeplangespräch, an dem laut Hilfeplanfortschreibung vom 06/2002 die Rückführung von Tim zu ihr geplant werden soll,
werden bei Frau Berger Zweifel an der Kompetenz der Erzieher laut, da Heimfahrten zu ihr als Konsequenz für Tims Verhalten eingesetzt werden. Sie erlebt diese
Konsequenz als willkürliche Verbote der Erzieher, vor allem von Frau Sonntag, die
ihr und Tim schaden. Durch die Probleme am Anfang der Kinderdorfzeit hat sie
Angst, dass Tim ihr weggenommen wird. Da sie sich selbst nicht zur Wehr setzen
kann, wendet sie sich an Tims Therapeutin, die ihre Sorge als begründet ansieht
und sich mit dem Kinderdorf in Verbindung setzt. Das Hilfesuchen an offizieller Stelle wird Frau Berger, ohne sich selbst vorher mit dem Kinderdorf in Verbindung zu
setzen, als persönlicher Angriff auf Frau Sonntag ausgelegt: Frau Berger sei nicht in
der Lage, Tim zu vermitteln „…dass es in Ordnung ist, dass Tim da [im Kinderdorf;
d. Verf.] ist“ (Hilfeplanfortschreibung 10/2002). Laut Aktenlage heißt es: „Um das
Vertrauen von Frau Berger für die Einrichtung zu wecken und den Erziehungsstil
von Frau Sonntag kennen zu lernen…“ (Hilfeplanfortschreibung, ebd.), soll sie Tim
im Kinderdorf besuchen und mit ihm gemeinsam dort den Tag verbringen. Tim erhält einen Verstärkerplan, der klarstellen soll, „…dass Konsequenzen nicht willkürlich vom Kinderdorf durchgeführt werden, sondern dass sie natürliche Folge eines
negativen Verhaltens sind“ (Hilfeplanfortschreibung, ebd.). Gestaltet wird der Besuch im Kinderdorf letztendlich so, das Frau Berger den Erziehern Arbeit abnimmt:
„Sie beschäftigt sich mit Tim oder der ganzen Gruppe“ (Entwicklungsbericht
07/2003). Frau Berger erlebt diese Besuche als wenig hilfreich, um Vertrauen in
Frau Sonntags Erziehung zu entwickeln, da diese an den Besuchstagen selten im
Dienst ist. Und noch ein Aspekt ist für sie sehr belastend: Die geplante Rückführung
wird vom Kinderdorf verworfen und nie mehr thematisiert. So heißt es im Entwicklungsbericht (ebd.): „Um Tim emotional zu entlasten, schlagen wir vor, mindestens
die Heimfahrt im August auszusetzen und die Auswirkungen gezielt zu beobachten“.
Das Aussetzen der Besuchskontakte erlebt Frau Berger als Sanktion für ihre Auflehnung gegenüber dem Kinderdorf. Daher sagt sie nichts mehr, und die Situation
entspannt sich wieder, auch in Bezug auf ihre Besuchskontakte zu Tim.
Frau Berger erlebt die weitere Besuchsregelung so:
„Beim Hilfeplangespräch (..) wurd’ mit der Frau Hall ausg’macht äh (.) dass ich
Tim äh (.) dreimal im Monat (.) seh’n kann (.) also sprich (.) er kann zweimal
was aussuch’n, was wir unternehmen. (…) Und (.) ich dann einmal. Und einmal am Wochenend’, dass er zu mir kommt. (..) Da ham sie auch g’fragt, ob
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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ich das machen kann, da hab’ ich g’sacht: ‚Ja’. Und (.) da war aber das noch
nich’ mit meiner Tochter, wie (.) die eben (.) Besuchsdinger sind. (...) Und da
hab’ ich g’sacht: ‚Ja, wenn was is’, dann kann ich’s ja mitteil’n’“ (Interview II,
14/18-27).
Frau Berger erlebt hier Frau Hall, die sich für sie einsetzt und die den Kontakt zu
Tim intensiviert. Da für sie klar ist, dass Frau Hall die Entscheidungen fällt, orientiert
sie sich an dem, was Frau Hall sagt. Doch Frau Berger weist an dieser Stelle auch
schon auf unvorhergesehene Ereignisse und Schwierigkeiten in der Familie hin, die
sie so beschreibt: „Weil ich erst umgezogen bin und (…) da ham die dann die Besuche dann weil ich mich von meinem Lebensgefährten getrennt hab’ (..) die Besuche
dann eingestellt“ (Interview II, 14/5-7). Nach ihrem Erleben ist der hauptsächliche
Grund für die Einstellung der Besuchskontakte ihre endgültige Trennung von Herrn
Teichert. Gleichzeitig entsteht mit der Auflösung der gemeinsamen Wohnung für sie
eine schwierige Wohnungssituation. Zusätzlich erlebt sie auch hier die gleiche Situation mit Herrn Teichert, wie damals mit Tims Vater: „Ja, der Herr Teichert is’ halt
immer ’komme ohne mein Wissen und wollt’ halt den Tim immer hol’n. (…) Ja und
dann gab’s da immer Schwierigkeiten“ (Interview II, 14/13-16). Wieder weiß sie sich
nicht anders zu helfen, als Herrn Teichert des sexuellen Missbrauchs zu beschuldigen, diesmal an ihrer Tochter Sabine (vgl. Hilfeplanfortschreibung 02/2004). Zur Abklärung der Situation mit Herrn Teichert werden die Besuche zu Tim vorerst gestoppt. Diesmal erlebt Frau Berger keinen Erfolg: Sabine wird in einem Kinderdorf
untergebracht, Lars lebt seitdem bei Herrn Teichert, und Tim darf sie nur unter Auflagen sehen:
„Ja, dann ham sie g’sacht, ich soll (.) ’ne Beratungsstelle aufsuchen. Das wiederum hab’ ich g’macht (..) und hab’ denen das g’sacht, weil sie g’sagt ham,
ich soll denen mitteilen, wann der erste Termin is’ und äh wann ich da war und
wie das Gespräch war. Dann (.) könnt’ ich eben meinen Sohn seh’n. (…) Und
das hab’ ich dann g’macht (..). Und dann hat’s geheißen: ‚Ja, das genügt net’“
(Interview II, 14/29-36).
Frau Berger bemüht sich, die Auflagen des Jugendamtes und des Kinderdorfs, d.h.
selbst eine Therapie zu machen, zu erfüllen, um Tim sehen zu dürfen. Sie erlebt jedoch die Abweisung, dass das, was sie tut, nicht ausreicht. Aber sie gibt dennoch
nicht auf:
„Ja (.) und dann hat die Frau von der Beratungsstell’ die ähm Frau Hall
ang’rufen. Und (.) dann hat die Frau Hall zu der Frau g’sacht (..), dass ich die
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Besuche so starten kann, wie sie sie eben im Hilfeplan festg’halten hat. Und (.)
äh da hab’ ich dann wieder ang’rufen und hab’ nachg’fragt, und da hat dann
die Frau Sonntag zu mir g’sacht, ich (..) soll die Mitarbeiter net belästigen (.)
zwecks Besuchsanfrage und so und so (…). Ja dann (.) hab’ ich wieder die
Frau Hall ang’rufen und die hat g’sacht ich soll den Herrn Wertz anruf’, ich
soll’s mit dem ausmachen, und der wiederum hat mich abgewimmelt und hat
g’sacht, ich soll’s mit ’m Haus ausmachen“ (Interview II, 14/38-15/3).
Sie versucht, den Kontakt zu Tim wieder herzustellen und erlebt dabei viel Ablehnung. Immer wieder wird sie an andere Stellen verwiesen, die sich wiederum nicht
verantwortlich fühlen. An Frau Sonntag, die sich durch sie belästigt fühlt, führt kein
Weg vorbei.
So gestaltet sich auch der erste Besuchskontakt nach sieben Monaten im November 2004 schon im Vorfeld zwischen Frau Berger und Frau Sonntag sehr schwierig:
„Ja, die Frau Sonntag hat dann nur g’sacht: ‚Wir seh’n uns dann am (..) 20..’
Das war alles. Sie war ja dann (.) im Urlaub gewesen, keine Ahnung, die hat
da net g’sacht, ob ich kommen soll, ob ich den Tim sehen äh (..) darf oder
was. Gar nix“ (Interview II, 15/5-8).
Für sie ist nicht klar, wann und ob sie ihren Sohn sehen kann oder nicht. Auf der einen Seite will sie Tim gern besuchen, auf der anderen Seite hat sie Sorge, wieder
etwas falsch zu machen. Frau Berger erlebt Frau Sonntag nicht als Vertrauensperson, sondern als diejenige, die über ihre Besuchsregelung bestimmt: „Ja, den Tag
vorher hat mich (.) die Frau Sonntag ang’rufen [I.: Aber eingeplant war das nich’?]
Nee, eingeplant war ja mei Tochter“ (Interview II, 15/11-13). Hier werden erhebliche
Machtunterschiede zwischen Frau Berger und Frau Sonntag deutlich: Frau Sonntag,
die willkürlich über die Besuche von Frau Berger zu ihrem Sohn verfügt und Frau
Berger, deren Kontakt zu ihrem Sohn abhängig vom „Wohlwollen“ Frau Sonntags
ist. Frau Berger versteht Frau Sonntags Handeln nicht, doch sie fügt sich trotzdem,
da sie einerseits Tim nicht so häufig sieht und ihr unklar ist, wann sie ihn das nächste Mal besuchen „darf“ und andererseits weil sie Sorge hat, wie es ihr ausgelegt
wird, wenn sie ihre Chance, Tim zu besuchen, nicht wahrnimmt. Daher sagt sie den
Besuch bei ihrer Tochter ab. Frau Berger fühlt sich von Frau Sonntag nicht als Mutter ihres Sohnes angenommen. Eine feste und vertrauensvolle Ansprechpartnerin
sieht sie in Frau Sonntag „bis jetzt noch nich’“(Interview II, 13/20). Auch die Beziehung zu Frau Hall hat unter dem „Hin und her“ der Besuchskontakte gelitten: „Mh
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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(..4..), es geht“ (Interview II, 12/26). Im Vergleich zum Kinderdorf ihrer Tochter bestärkt sie dies in ihren Zweifeln:
„Also wenn ich das anschau’ (.) wo mei Tochter is’ und vergleich’ des mit (.)
dem Heim vom Tim (..), is’ es scho’ ’n großer Unterschied (…). Es gehört halt
(...) mehr gemacht“ (Interview II, 12/1-3).
Frau Berger wünscht sich für sich und Tim mehr Angebote „…mit den Eltern zusammen (.) und mit den Kindern“ (Interview II, 12/5) zur Unterstützung der MutterKind-Beziehung:
„Ähm, die ham zwar auch viel ähm (.) wie sacht man Mitarbeiter? (…) Und (..)
da is’ einer für mei Tochter zuständig, der ähm (..) mit mir redet. Und ähm (…)
mehr Angebote für die Kinder, mit Tieren zum Beispiel oder vor ’m Hilfeplangespräch so ’n (..) Elterntreffen. Man hat halt g’merkt man g’hört dazu. Und
danach (..) ham wir dann Kaffee getrunken und noch geredet. Mh (…), naja
und hier kenn’ ich bloß eins, wo immer alle Jahr’ is’, wo halt die ganzen Eltern
zusammen sind und das is’ Weihnachten“ (Interview II, 12/10-17).
Die vielen Mitarbeiter, die ihr keine Auskunft geben, irritieren sie. Zudem fehlt ihr
das Gefühl, trotz aller Schwierigkeiten mit Tim in der Vergangenheit, mit ihren Sorgen und Ängsten ernst genommen zu werden. Das einzige, was ihrer Meinung nach
klappt, sind die Telefonkontakte zu Tim: „Mh, ja manchmal sind sie net da (..), aber
sonst klappt’s“ (Interview II, 13/11). Gleichzeitig äußert sie Kritik, dass der Kontakt
zwischen Tim und seiner Schwester vom Kinderdorf nicht genügend gefördert wird.
Hier zeigt sich, dass sich die Beziehung zwischen ihr und Tim gebessert hat. Mutter
und Sohn reden über Tims Wunsch, Kontakt zu seiner Schwester aufzunehmen:
„Doch er möchte schon, weil (…) damals ich ihn mal besucht hab’ (..), da gab er mir
extra Briefpapier mit (.) ähm von Diddl und (.) extra eins wo halt (.) ähm riecht. (...)
Und hat halt g’sacht, ich soll an die Sabine schreiben und (...) das Papier dann benutzen“ (Interview II, 15/28-33). Kontakt zwischen Tim, Herrn Teichert und Lars besteht nach ihrer Sicht nicht. Dass Tim aber doch zumindest sporadischen Kontakt zu
ihnen hat, wird ihr als Mutter vom Kinderdorf nicht mitgeteilt.
Rückblickend auf dreieinhalb Jahre Erfahrung mit dem Kinderdorf resümiert sie:
„Na, ich hab’ halt immer (..) versucht mitzumachen, wie’s halt ging“ (Interview II,
12/23). Frau Berger hat nach ihrem Erleben ihr Möglichstes getan, um die Ansprüche des Kinderdorfs zu verwirklichen und mitzuarbeiten, damit es Tim besser geht.
Trotzdem würde sie gern mehr gemeinsam mit Tim machen. Sie hat jedoch den Eindruck, dass man sie nicht lässt.
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
97
Tim hat sich nach ihrem Erleben im Laufe seiner Kinderdorfzeit verändert. Schon im
Vergleich auf die körperliche Konstitution von früher bis heute stellt sie fest: „Und im
Gegensatz zu jetzt, wenn ich (.) das Bild jetzt anschau’, dann kann ich mir das gar
net vorstell’n“ (Interview II, 2/11-12). Durch seine Appetitlosigkeit hat Tim sehr stark
abgenommen. Auch die „Tics“ haben sich verbessert: „Wenn man halt genau hinschaut, dann (.) hat er’s jetzt noch (..). Aber früher war’s schlimmer“ (Interview II,
8/5-6). Zudem fühlt sich Tim nach ihrer Ansicht im Vergleich zu der ersten Zeit heute
im Kinderdorf wohl: „Jetzt (..) kann ich sagen, dass es ihm gut geht (…). Das merkt
man auch. Er hat zwar immer/ er sieht mich halt net so oft, aber (..) es geht ihm gut“
(Interview II, 14/2-3). Frau Berger ist sich sicher, dass es Tim trotz der momentanen
Besuchsregelung im Kinderdorf gut geht. Sie interpretiert dies aus Tims Verhalten,
dass er sich nicht mehr beklagt, sondern sich so weit es geht den Regeln des Hauses und des Kinderdorfs angepasst hat. Und noch ein Aspekt wird deutlich: Sie
würde Tim zwar gerne öfters sehen, doch gleichzeitig ist sie auch stolz auf ihn:
„…Und (…) im Gegensatz früher und jetzt (.) hat er sich schon (.) gut gemacht“ (Interview II, 3/22-23).
4.3.3. Die Perspektive der Erzieherin
Die Eingewöhnungszeit von Tim in das Kinderdorf und in die Gruppe erlebt Frau
Sonntag rückblickend als „schwierig“ (Interview III, 3/14). Einerseits, weil für Tim alles neu und fremd ist und er sich in seinem neuen Umfeld und in seiner neuen
Schule orientieren muss, andererseits, und hier liegt ihrer heutigen Meinung nach
der Hauptgrund, weil „…die Mutter diese Unterbringung nich’ wirklich akzeptiert hat“
(Interview III, 9/26-27).
Mit der Kontaktsperre zu seiner Mutter hat sich Tim nach ihrem damaligen Erleben
arrangiert, obwohl er „…die Mama eigentlich vermisst“ (Interview III, 10/42) hat. Dies
erklärt sie sich selbst so: Am Anfang sieht Tim, dass die meisten der anderen Kinder
in der Gruppe auch „…keinen Kontakt zu ihren Eltern hatten…“ (Interview III, 10/2324) und er sich daher gedacht haben muss, „…das is’ so“ (Interview III, 10/25).
Gleichzeitig hat er sich aber „wahrscheinlich auch net getraut nachzufragen“ (Interview III, 10/25). Erst nachdem „…er dann so gemerkt hat, die ersten Besuche von
Eltern rollen an (..), hat er dann schon mal gefragt: ‚Wann kommt die Mama?’“ (Interview III, 10/28-29).
In der Zeit der Kontaktsperre, mit der Frau Berger ihrer Ansicht nach „…ganz große
Probleme…“ (Interview III, 12/27) hat, erlebt auch Frau Sonntag schon die ersten
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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Probleme. Obwohl sie feststellt, dass sich die Mutter an die Regeln hält und „…sie
... ja dann mit den (.) Erziehern telefonieren [durfte]“ (Interview III, 10/10), empfinden
Frau Sonntag und die anderen Erzieher diese Telefonate als erhebliche Belastung
in ihrem Arbeitsalltag. Frau Sonntag beschreibt dies so:
„…Das [war] für alle Beteiligten immer eher anstrengend. Weil es ging immer
nur darum (…), man hat sich so ’n bisschen ausgehorcht gefühlt: ‚Wie geht’s
dem Tim?’ Hat man dann gesagt, er hat grad ’nen Schnupfen, hat man g’sacht
gekriegt, welches Medikament da in der Kiste wär’. Das wär’ doch so wichtig,
dass man ihm das gibt. Und wenn er Bauchweh hat, braucht er die Wärmflasche und jenes“ (Interview III, 10/12-17).
Das Interesse der Mutter an Tim und ihre Art der emotionalen Zuneigung versteht
Frau Sonntag als Kleinigkeit des Alltags und erlebt deren Besprechung, „…für was,
wo man selber nich’ so den Sinn drin g’sehen hat“ (Interview III, 12/11-12), als mühsam und anstrengend. Es vermittelt ihr das Gefühl von Kontrolle. Frau Berger wird
hier noch als zusätzliche Last im ohnehin schon anstrengenden Gruppenalltag empfunden. Auch Tim wird zunehmend schwieriger: Nach seiner anfänglichen Anpassung rutscht er nach „…zwei drei Wochen…“ (Interview III, 8/8) wieder in seine „alten Verhaltensmuster“, die Frau Sonntag so beschreibt: „So‚ ich lang’ alles an, ich (.)
zappel viel, ich red’ sehr viel’“ (Interview III, 8/9-10).
Mit der Beendigung der Kontaktsperre fangen aus Frau Sonntags heutiger Perspektive erst die richtigen Probleme an: „Weil (..), ja sie wollte immer wissen, wie’s dem
Tim geht, wann sie zu Besuch kommen kann, ob wir alles richtig machen und so
weiter“ (Interview III, 12/21-22). Frau Sonntag schildert, wie Frau Berger „am Anfang
… manchmal auch (.) dreimal in der Woche viermal“ (Interview III, 12/25) angerufen
hat, „…einfach nur damit sie halt angerufen hat…“ (Interview III, 12/26). Sie fühlt
sich von Frau Berger belästigt und in ihrer Arbeit stark kontrolliert: „Und man hat
sich da eigentlich ganz schnell so ’n bisschen kontrolliert gefühlt“ (Interview III,
10/19-20). Auch Tim fragt nach den bevorstehenden Besuchskontakten. Rückblickend stellt sie heute fest, dass das lange Warten auf seine Mutter „…ihn teilweise,
denk’ ich auch (..), vielleicht an manchen Tagen aggressiver gestimmt [hat], als man
ihn gebraucht hätte, wenn wenn da (.) schneller ’ne Klarheit da gewesen wär’“ (Interview III, 10/36-38). Doch selbst als sie erkennt, dass sich die lange Trennung der
Mutter negativ auf Tim auswirkt, wartet sie damals ab und schiebt die Verantwortung auf äußere Umstände.
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
99
Dies schildert Frau Sonntag so:
„Und da konnt’n wir ihm eigentlich nie ’ne ordentliche Auskunft geben, weil ich
immer g’sacht hab’, ich möchte das gern in Rücksprache (.) mit der Frau
Schmitt und dem Herrn Wertz machen (.) und die Hausgespräche sind ja immer nur im Rhythmus von zwei Wochen und aus meiner Sicht musste er da
schon sehr lang warten und war da auch sehr geduldig“ (Interview III,10/2934).
Zwar stellt sie fest, dass die Zeit des Wartens auch für Tim sehr lang gewesen ist,
doch handelt sie in der damaligen Situation nicht. Obwohl sie weiß, dass die Kontaktsperre vom Zeitraum her erfüllt ist und auch Tim den dringenden Wunsch äußert, seine Mutter zu sehen, wird die Kontaktsperre nach Frau Sonntags heutiger
Ansicht zum Wohle des Kindes „…extrem verlängert…“ (Interview III, 9/36). Dies
beschreibt sie so: „Im Nachhinein würd’ ich sagen, da hat jeder unbewusst diese (.)
diese Kontaktsperre verlängert, weil man gemerkt hat, es tut dem Tim nicht gut“ (Interview III, 10/1-3). Ihr Eindruck bezieht sich an dieser Stelle auf die Telefonate zwischen Mutter und Sohn: „…Wenn’s der Mama gut ging, ging’s ihm auch gut und
wenn’ der Mama schlecht ging, da hat er so seine Stimmungen angepasst“ (Interview III, 11/7-9). Frau Sonntag glaubt, Tim spiegelt hier die Gefühlswelt der Mutter
wider, die gegen die Kinderdorfarbeit und gegen sie persönlich gerichtet ist. Sie interpretiert Tims Heimweh und Sehnsucht nach der Mutter so, dass er sich „…sehr
stark verantwortlich [fühlt], für des, was die Mama macht oder was da mit der Mutter
passiert“ (Interview III, 11/1-2). Tims zunehmend aggressives Verhalten und seine,
sich mit der Zeit steigernde Unruhe wird von Frau Sonntag als Symptom für das
kontrollierende und bedrängende Verhalten seiner Mutter gewertet: „Und das hat
der Tim alles mitgekriegt und das hat ihn irgendwo fürchterlich unruhig gemacht…“
(Interview III, 9/31-32). Nach Aktenlage dauert dieser Prozess fünf Monate lang.
Obwohl Frau Sonntag eigene Fehler einräumt, dass „…eigentlich die Aktivere die
Mutter“ (Interview III, 12/19) gewesen ist und sie selbst keinen Versuch gemacht
hat, Kontakt mit ihr aufzunehmen, fügt sie hinzu:
„Wirklich geplant war das nicht. Also, die Mutter hätte Ende Oktober dann (.)
kommen können, dann konnte sie irgendwie net (.), aus welchen Gründen
auch immer, da kann ich mich jetzt nimmer mehr dran erinnern. Und dann (.)
war’s aber so, dass sie auch fürchterlich Boykott gelaufen is’ gegen diese ganzen Kinderdorfregeln und dann hat der Tim kurz vor Weihnachten die Mutter
eigentlich das erste Mal wieder g’sehn“ (Interview III, 9/39-10/1).
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
100
An dieser Stelle des Interviews widerspricht sie sich deutlich, nachdem sie anfangs
ihre eigene Untätigkeit feststellt, dass von Seiten des Kinderdorfs, insbesondere von
ihr als Tims Bezugserzieherin keine Bereitschaft kommt, mit der Mutter Kontakt aufzunehmen. In Bezug auf die Regeln hat Frau Berger in Frau Sonntags Augen insoweit die Regeln des Kinderdorfs verletzt, als dass sie mehr als einmal in der Woche
im Kinderdorf angerufen hat, egal aus welchem Anliegen. Diese Regel ist gültig,
auch für die Vereinbarung des ersten Besuchskontakts. Nach Frau Sonntags Erleben muss das „nicht-angepasste“ Verhalten der Mutter sanktioniert werden. Frau
Sonntag macht dies auf dem „unbewussten“ Weg, sie lässt Frau Berger im Unklaren:
„Aber wirklich ausgesprochen der Frau Berger gegenüber (..) oder es auch
wirklich begründet, hat’s keiner. Also, es sind einfach viele Wochen ins Land
gezogen, bis man mal gemerkt hat (.): ‚Hoppla (.), da müssten wir auch als
Einrichtung mal wieder auf die Mutter zugeh’n und müssten sagen, jetzt darf
sie ihn besuchen’“ (Interview III, 10/3-7).
Frau Sonntags Strategie ist es, die Belastung „Mutter“ so weit wie möglich aus ihrem Alltag zu verdrängen und sie so lange von ihrem Sohn und dem Kinderdorf
fernzuhalten, dass es irgendwann schwierig wird, das eigene Verhalten zu rechtfertigen. Kurz vor Ablauf eines halben Jahres, nach dem ein schon im Vorfeld festgelegtes Hilfeplangespräch stattfinden soll, hält sie den Zeitpunkt zur Kooperation angebracht. Hier räumt sie zwar eigene Versäumnisse ein, doch schiebt sie das Kinderdorf als Einrichtung vor. Als Hausleitung und als Bezugserzieherin von Tim war
und ist sie für die Kontakte zwischen Mutter und Kinderdorf verantwortlich. Das ungleiche Machtverhältnis zwischen ihr und Frau Berger wird abermals sichtbar: Frau
Sonntag entscheidet, wann sie erlaubt, dass die Mutter ihren Sohn besuchen „darf“.
Auch die ersten Besuchskontakte der Mutter im Kinderdorf erlebt Frau Sonntag als
starke Belastung: „Die ersten Kontakte mit der Mutter, wenn sie hier (.) zum Kaffee
trinken da war oder den Nachmittag verbracht hat, war’n eigentlich immer sehr anstrengend, weil man genau gemerkt hat, (.) sie kann das net wirklich akzeptier’n“
(Interview III, 11/20-23). Frau Sonntag empfindet die Sorgen der Mutter als lästig.
Besonders deutlich macht dies diese Passage des Interviews: „‚Ja und (.) wenn er
jetzt heut’ abend in die Badewanne geht, tun Sie dann auch das Fettölbad ’rein?’
und bla. (.) (...) Also, sicherlich is’ so ’n Fettölbad was ganz Tolles, aber halt net jeden Samstag“ (Interview III, 12/9-13).
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
101
Diese Situationen entstehen ihrer Ansicht nach aus der inneren Haltung Frau Bergers zur Heimunterbringung Tims. So glaubt Frau Sonntag, dass Frau Berger wenig
Kooperation zeigt und Zweifel an ihrer Arbeit hat, weil sie Tims Aufnahme damals
„…zwar dem Jugendamt gegenüber akzeptiert [hat], weil sie wusste: ‚Da gibt’s wohl
kein’ anderen Ausweg’ (.), aber so gefühlsmäßig net“ (Interview III, 9/27-29). Diese
Annahme begründet Frau Sonntag so:
„Also, sie hat mich (..) als Person dann auch ’ne Zeit lang ganz massiv in Frage gestellt. Hat mir auch (.) den einen oder anderen Therapeuten an den Hals
gehetzt (..), der dann mal prüfen sollte, ob die im Kinderdorf ihre Arbeit richtig
machen. (.) Und ich denk’, ich war für die Frau Berger schon lange Zeit so dieser Prellbock, der ‚Ja’ gesagt hat zum Tim; ich hätt’ ja auch ‚Nein’ sagen können. Also in ihrem Kopf war oft so (..), denk’ ich mal, so dieser Gedanke:
‚Wenn die Frau Sonntag ‚nein’ gesagt hätt’, wär’ der Tim vielleicht noch bei
mir’. Obwohl des ja an sich schizophren is’, er wär’ trotzdem weggekommen.
Aber … das hat die Zusammenarbeit wirklich erschwert (.), weil (.) sie alles
beobachtet hat, was wir gemacht ham. Alles auch so hinterfragt hat und dann
auch (lächelt bis *) oft so gute Ratschläge dabei hatte * (Interview III, 11/2537).
Frau Sonntag fühlt sich massiv in ihrer Persönlichkeit angegriffen, als Frau Berger
über Dritte ihr pädagogisches Handeln mit Tim und ihre Haltung gegenüber der Mutter in Frage stellt. Sie sieht sich in der Position, dass plötzlich sie diejenige ist, die
sich vor anderen Menschen rechtfertigen muss, obwohl doch Frau Berger nicht in
der Lage ist, Tim zu erziehen. Frau Berger wird für sie gefährlich: Sie muss ihre
Stellung als Hausleitung verteidigen. Um sich nicht selber zu belasten und nach eigenen Fehlern und Versäumnissen in ihrer Arbeit suchen zu müssen, geht Frau
Sonntag in die Defensive. Ein extremes Konkurrenzgefühl zwischen ihr und Frau
Berger entsteht. Trotz ihrer eigenen Feststellung, dass ihre Erklärung für das Handeln der Mutter „schizophren“ ist, hält Frau Sonntag an ihrer Meinung fest. In diesem Kontext von „Zusammenarbeit“ zu sprechen, ist ein Hinweis für ihre Auffassung
von Elternarbeit, die sie im Verlauf des Interviews immer wieder verdeutlicht: Ihre
Elternarbeit ist auf den erzieherischen Aspekt der Mutter ausgerichtet. So besteht
ihre Arbeit ihrer Ansicht nach darin, die Mutter zu belehren, wie sie ihren Sohn erziehen soll, „…dass man ihr erzählt, was (.) wär’ wichtig für den Tim“ (Interview III,
15/7f) und nicht darin, „…einen Prozess in Gang zu setzen, an dem Eltern aktiv Beteiligte sind“ (IGFH 2002, 28). Frau Sonntag selbst sieht sich als Entscheidungsträgerin des Kinderdorfs. Dies wird im Verlauf des Interviews häufig von ihr mit einem
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
102
„Wir-Gefühl“ mit dem Kinderdorfleiter und der Psychologin, teilweise auch mit Frau
Hall ausgedrückt.
Die Mutter, so Frau Sonntags Ansicht, hat ausschließlich den Anweisungen und
Entscheidungen, die sie als Stellvertretung des Kinderdorfs und des Jugendamtes
für richtig hält, Folge zu leisten:
„Ja, wir ham ja/ zum Beispiel wir hatten ja (.) dann (.) gleich zu Anfang ’n Termin bei der Kinderärztin. Und dann hab’ ich ihr die ganze Medikamentenkiste
gezeigt und dann hat sie gemeint: ‚Also bis auf das Asthmaspray und das Amphetamin (.) kriegt er jetzt erstmal gar nix und wir gucken mal, was das Kind
wirklich hat.’ (..) Diese Botschaft hab’ ich dann halt an die Frau Berger weiter
gegeben, weil sie immer wissen wollte, wo die Kiste is’. Und damit ging der
Ärger eigentlich (.) erst richtig los. Weil (.) damit hat sie sich so (..) mh als Mutter in Frage gestellt, g’sehen auch. Ja (..) weil ich denk’, vieles is’ in ihrer Erziehung über die Pflege und über Medikamente gegangen (.) und die waren
plötzlich nimmer da. Und jetzt sind and’re Leute da, die sich um den Tim kümmern“ (Interview III, 11/40-12/7).
Hier schildert Frau Sonntag klar die Problematik der Situation: So heißt es auch im
Entwicklungsbericht vom 11/2001: „Tim scheint viel Zuwendung über Krankheiten
bzw. Materielles bekommen zu haben“. Obwohl sie die Erklärung für die Angst und
Sorgen der Mutter selbst in Worte fasst, erkennt sie deren Bedeutung nicht; zu einer
Änderung ihrer negativen Haltung der Mutter gegenüber trägt sie jedenfalls nicht
bei. Frau Sonntag erlebt, wie auch der Kinderpsychologe ihr die Ängste der Mutter
schildert: „Und da hat er eben nur mal g’sacht, dass sie (.) äh Angst hat, wir würden
ihr den Tim entfremden. (..) Und das war so ihre größte Sorge“ (Interview III, 12/3234). Trotzdem hält sie an ihrer Strategie fest:
„Und ich denk’, so ’ne Heimunterbringung entfremdet auch erstmal den Eltern
die Kinder, das is’ scho’ richtig. (.) Nur hat sie das halt (.) so absolut auf sich
bezogen und hatte halt wirklich Angst, wir würden in der Erziehung auch ganz
große Fehler machen“ (Interview III, 12/34-37).
Für Frau Sonntag ist es völlig normal, dass den Eltern erstmal ihre Kinder entfremdet werden. Warum Tims Mutter sich deshalb persönlich angegriffen fühlt, kann sie
bis heute nicht nachvollziehen. Ein klärendes Gespräch mit Frau Berger sucht sie
dennoch trotzdem nicht. Der im Raum stehende Vorwurf, dass sie selbst nur über
mangelnde Erziehungskompetenz im Umgang mit Tim verfügt, wird nur indirekt gelöst. So schildert Frau Sonntag: „…Wir ham’s dann so gelöst, dass das mal in einem
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
103
Hilfeplangespräch angesprochen wurde, dass sie sehr unzufrieden wirkt mit uns’rer
Arbeit und so weiter“ (Interview III, 12/40-42). In der Praxis bietet sie Frau Berger
an, „…jedes zweite Wochenende einmal zum Basteln…“ (Interview III, 13/2) zu
kommen: „Da hatt’ ich dann auch Dienst. (.) Das hat in der Elternarbeit insofern was
gebracht, dass sie gesehen hat, wie arbeite ich mit den Kindern (.). Dass sie sich
’nen Bild von mir machen konnte, dass sie aber auch geseh’n hat, wie lebt der Tim
eigentlich und damit is’ die Frau Berger dann ruhiger geworden“ (Interview III, 13/27). Frau Sonntag hat erreicht, was sie gewollt hat, ohne sich direkt mit Frau Berger
auseinander setzten zu müssen: Tim bleibt im Kinderdorf. Die Mutter schweigt und
ist „ruhig“.
Den weiteren Verlauf der Besuchskontakte zwischen Tim und seiner Mutter erlebt
sie so:
„Ja, dann is’ die Mutter regelmäßig zu Besuch gekommen. Erst mal alle vier
Wochen … und (.) da ham wir dann gemerkt, dass das aber a weng6 schwierig
is’ so mit Regeln einhalten und (..) was halt alles so wichtig wär’ für den Tim
(…) Und dann ham wir dann in verschiedenen Jugendamtsgesprächen eben
geklärt (.), immer wieder stufenweise geklärt, wie der Tim nach Hause kann,
unter welchen Bedingungen, mit Verhaltensplänen gekoppelt und so weiter“
(Interview III, 3/11-18).
Stark eingebunden von ihr wird die Mutter damals in Tims Verhaltenspläne, „…weil
wir lange Zeit gedacht haben, (..) die Heimfahrten sind dem Tim so wichtig, das wir
das Verhalten dran koppeln könnte (.). Bis wir dann gemerkt ham, das macht ihn eigentlich noch unruhiger als er überhaupt scho’ is’“ (Interview III, 13/14-17). Tim kann
sich mit dem Einhalten seines Verhaltensplans zusätzliche Heimfahrten „verdienen“.
Die Beteiligung der Mutter an den Verhaltensplänen kommt zustande, nachdem
Frau Sonntag laut Hilfeplanfortschreibung vom 10/2002 dazu angehalten worden ist,
mit ihr den Verhaltensplan von Tim zu erstellen. Grund dafür sind Frau Bergers Beschwerden gegen Frau Sonntags Erziehungsmethoden, da sie die Besuchskontakte
als Erziehungsmittel für Tim einsetzt. Dieser Verhaltensplan wird ein halbes Jahr
später wieder abgeschafft, weil er bei Tim nicht die gewünschte Wirkung erzielt. So
heißt es auch im Entwicklungsbericht: „Obwohl Tim immer äußert, er wolle zu Mama, zeigt er keine starke Freude und seine Punkte reichen oft nicht“ (07/2003).
6
Anmerkung d. Verf.: „a weng“ = fränkischer Dialekt, bedeutet „ein wenig“
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
104
Danach wird die Mutter an keiner weiteren Entscheidung von Frau Sonntag beteiligt,
obwohl sie das alleinige Sorgerecht trägt:
„…Richtig miteinbezogen im Sinne von, dass sie als Mutter was entschieden
hat, war sie dann eigentlich wirklich nich’ mehr. (…) …Aber eigentlich ham wir
das mit dem Tim gemeinsam entschieden und ham’s der Mama berichtet. (…)
Aber eigentlich war’n die Entscheidungen unsere“ (Interview III, 13/22-31).
Auch heute noch trifft sie die Entscheidungen hauptsächlich selbst: „Also, ich denk’,
oft kriegt sie’s einfach erstmal nur in Form von Information erzählt“ (Interview III,
13/11-12). Frau Sonntag begründet ihre Vorgehensweise mit dem Verhalten der
Mutter innerhalb der Hilfeplangespräche:
„Aber da kam auch nie irgendwie (..), dass ihr das alles net passt. Also in so
Hilfeplangesprächen sitzt sie dann auch oft drin und hört sich das Ganze an
und nickt das ab (.) und dann fällt ihr, wenn das Hilfeplangespräch ’rum is’, ein,
was ihr nich’ gefällt“ (Interview III, 13/33-36).
Frau Sonntag nimmt das Schweigen von Frau Berger als Einverständniserklärung
der getroffenen Entscheidungen an. Sie ist der Meinung, dass der Mutter genug
Möglichkeiten eingeräumt werden, ihre Meinung zu vertreten. Von Anfang an hat
Frau Sonntag den Verdacht, dass Tims Mutter selbst nichts für ihre Kinder tut, keine
Anstrengung oder Bereitschaft zur Mitarbeit zeigt. Bestärkt wird dieser Eindruck
durch die Auflösung der Familie:
„Also (.) es war ja so, das vor’m (..) halben, dreiviertel Jahr der Verdacht auf
den Herrn Teichert gefallen is’, er hätt’ die Sabine sexuell missbraucht (..). Und
(.) da hat sich ja dann ihre Mutter das erste Mal gegen die Frau Berger g’stellt
und hat g’meint: ‚Das is’ nich’ so’ (.). Und die hilft ihr auch jetzt im Haushalt
nich’ mehr und dann is’ schlagartig diese komplette Familie auseinander
gebrochen“ (Interview III, 5/9-14).
Der Zusammenbruch der Familie überzeugt Frau Sonntag, dass Frau Berger komplett überfordert gewesen ist, weil „…die Sabine jetzt auch in ’nem Kinderdorf
lebt…“ (Interview III, 3/24) und Herr Teichert „…ja jetzt den Lars gekriegt [hat] für
das kommende Schuljahr“ (Interview III, 5/17). Ohne Herrn Teichert und ihre Mutter
erlebt sie Frau Berger selbst mit den kleinsten, einfachsten Dingen des Alltags überfordert:
„Weil sie bräucht’ wirklich jemanden, der ihr im Leben sagt: ‚Und jetzt geh’ mal
auf des Amt’, und: ‚Jetzt mach mal dies und jetzt mach mal jenes’, damit sie
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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erstmal (.) so die kleinen Dinge im Alltag geregelt kriegen könnte“ (Interview III, 14/29-32).
Auch Frau Bergers eigenes Verhalten trägt zu ihrer Überzeugung bei. Frau Sonntag
fällt auf, „…dass mit jedem Kind, das aus der Familie ’raus gekommen is’, es der
Frau Berger eigentlich besser geht“ (Interview III,3/40-4/1). Obwohl sie nicht sicher
weiß, „ob’s ihr wirklich besser geht…“ (Interview III,4/2) erlebt Frau Sonntag sie
ganz anders: „…Sie is’ einfach viel flotter gekleidet (.), sie wirkt viel fröhlicher (.), sie
erzählt auch einfach mal ganz normale Dinge aus ihrem Leben (.), … und man hat
den Eindruck, dass sie (.) dieses ‚nicht Erziehen müssen’ also eher befreit“ (Interview III, 4/3-7).
Gleichzeitig erlebt Frau Sonntag positive Veränderungen für Tim, da er „…es immer
sehr ungerecht empfunden [hat], dass er als ältester Junge (.) ähm (.) als einziges
aus der Familie ’raus kam“ (Interview III, 3/21-22). Jetzt nachdem die Geschwister
auch nicht mehr bei der Mutter leben, glaubt Frau Sonntag, dass Tim das „…jetzt
eigentlich gut [findet]“ (Interview III, 3/25), dass er nicht mehr als einziges Kind außerhalb seiner Familie lebt. Zudem hört sie darin auch eigene Kritik von Tim an seiner Mutter: „Also, er sacht selber immer: ‚Das is’ zwar traurig für die Mama, … aber
gut für die Sabine’ (Interview III, 3/25-26). Dies beschreibt sie so:
„…Seitdem erleb’ ich den Tim sehr entspannt. Und da (.) kam auch (.) anstelle
von Bestürzung eher so: ‚Jetzt hat die Mama gar kein Kind mehr, das is’ sehr
traurig, aber es is’ gerecht’. Und seitdem hab’ ich so das Gefühl, er entspannt
sich da auch und kann … sich auch viel besser auf’s Kinderdorf einlassen als
die (.) vergangene Zeit. Also, er hat es immer so für sich akzeptiert (.), aber
wenn dann die Mutter so an ihm ’rum (.) gezogen hat oder er halt gemerkt hat,
sie sucht sich so ihr soziales Netz, mit dem sie (..) äh immer wieder versucht,
den Tim heimzuholen, das hat ihn halt sehr unruhig gemacht (.). Mh (.), aber
das (.) fällt jetzt also weg“ (Interview III, 3/30-40).
Auch an dieser Stelle werden zwei unterschiedliche Aspekte deutlich: Einerseits erlebt Frau Sonntag zwar, dass Tim seine Mutter auch heute noch vermisst, doch
stellt sie auch Schuldgefühle gegenüber seiner Mutter fest und dass Tim „…auch
deswegen oft gar keine Ruhe“(Interview III, 11/4) findet. Diese Schuldgefühle entstehen ihrer Ansicht nach daraus, dass Tim sich für seine Mutter verantwortlich
fühlt: „Und er gibt sich da auch schon auch Anteile dran, dass die Mama so is’“ (Interview III, 21/10-11). Den Grund hierfür sieht sie für Tim darin, dass er im Kinderdorf ist und ihr von dort „…ja nich’ wirklich helfen [kann]“ (Interview III, 21/4). Zudem
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hat er sich auch lange Zeit Sorgen um seine Familie gemacht, gerade in der Zeit, in
der sie auseinander bricht. Diese Sorgen interpretiert sie als Schuldgefühle und Verantwortungsgefühl gegenüber der Mutter: „…‚Wird die Beziehung (.) halten zum
Herrn Teichert oder nich?’ und ‚Warum macht sie das so?’“ (Interview III, 21/9-10).
Andererseits erlebt sie Tims Stimmungsschwankungen bei Telefonaten oder Besuchen mit der Mutter auch „…nix mehr so extrem“ (Interview III, 11/12). Sie sieht diese Veränderung sehr positiv: „…Erst jetzt fängt er so langsam an (.) auch zu gucken: ‚Und wie geht’s mir als Tim?’“ (Interview III, 11/6-7).
Der Wunsch der Mutter, „…dass sie den Tim dreimal im Monat sehen kann“ (Interview III, 14/38-39) wird abgelehnt, da die Erfüllung als Belohnung gedacht gewesen
ist, „…wenn sie was für sich tut, sprich ’ne Psychotherapie oder was. Weil man einfach immer wieder sieht, ihr geht’s schlecht“ (Interview III, 14/41-43). So heißt es
auch in der Hilfeplanfortschreibung, „…das Frau Berger unbedingt etwas für sich tun
müsse, um das seelische Wohlbefinden ihres Sohnes nicht weiter zu gefährden“
(10/2004). Es wird festgelegt, „…dass der Tim erstmal hier is’ und die Mutter zu Besuch kommen kann (..), wenn sie möchte. Also Heimfahrten kriegt der Tim jetzt keine mehr“ (Interview III, 3/19-21). Hier wird ein massiver Widerspruch Frau Sonntags
sichtbar: Im Bezug auf die Überforderung der Mutter schildert sie, dass es der Mutter besser geht und sie dieses „Nicht erziehen müssen“ befreit. In Bezug auf Tim
aber erlebt sie, dass es der Mutter schlecht geht und sich das wiederum auf Tim
auswirkt. Auch an vielen weiteren Stellen des Interviews liegt die Vermutung nahe,
dass Frau Sonntag das Verhalten der Mutter immer so deutet, dass es für ihre eigene Argumentation passt: Dass sie sich selbst und anderen immer wieder bestätigt,
dass die Mutter schlecht für Tim ist. Sie rechtfertigt damit ihr Handeln, dass sie den
Kontakt von Tim zu Frau Berger unterbindet: Nachdem Frau Berger „dem Wunsch
... ja nich’ nachgekommen [is’]“ (Interview III, 14/43), ist es ihrer Ansicht nach schon
viel und ein Entgegenkommen ihrerseits, „wenn sie einmal im Monat kommt…“ (Interview III, 15/2-3).
Gleichzeitig ist es nach Frau Sonntags Aussage aber immer ein Ziel gewesen,
„…dass die Mutter die Erziehung vom Tim wieder in die Hand nehmen kann“ (Interview III, 14/2-3). Doch an eine Rückführung zur Mutter glaubt sie selbst nicht. Und
die Mutter ist ihrer Meinung nach selbst schuld:
„Es is’ jetzt nur leider so, dass (.) dieses Ziel, die Mutter tut was für sich, für ihre eigene Psyche, damit sie auch (.) dem Tim oder auch den ander’n Geschwistern helfen kann (.) ähm da fehlt’s so an der Umsetzung bei ihr“ (Interview III, 14/5-8).
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Aus Frau Sonntags Sicht tut Frau Berger nichts dafür, die notwendigen Vorraussetzungen dafür zu schaffen, dass ihr Sohn wieder zu ihr könnte. Besonders nachdem
„…die beiden anderen Kinder von der Frau Berger weg sind“ (Interview III, 14/20)
stellt sich für sie selbst diese Frage nicht mehr. Falls das Jugendamt noch heute
dieses Ziel verfolgt, ist sie der Meinung, dass „…da jetzt auch schleunigst was passier’n [müsste], dass diese Rückführung auch greifen könnte, weil die braucht ja
auch immer Vorbereitung“ (Interview III, 14/21-23). Doch auch in dieser Situation
Frau Berger im Umgang mit Tim Unterstützung anzubieten, sieht sie selbst nur auf
dem „indirekten“ Weg, da so viel zu tun wäre, dass „…es … eigentlich den Rahmen“
(Interview III, 14/28-29) sprengen würde. Für sie kommt dies nur „…in Form einer
Erziehungsberatung…“ (Interview III, 15/7) in Frage: „…Aber das tun wir ja auch die
ganze Zeit“ (Interview III, 15/8). Frau Berger im direkten Umgang mit Tim zu unterstützen, macht für sie nicht viel Sinn: „…Ich denk’, das is’ schwierig, sie im Umgang
mit dem Tim zu stützen, weil er in unser’m Umfeld ganz anders reagiert, als wenn er
mit der Mama alleine is’“ (Interview III, 15/3-5). Auch heute noch ist Frau Berger mit
Tim überfordert. Nach Frau Sonntags Ansicht treten demnach auch die Schwierigkeiten immer nur dann auf, wenn Tim zu Hause oder allein mit der Mutter unterwegs
ist, wo sie niemand unterstützen kann. Zusätzlich ist sie folgender Meinung:
„…Wenn die Frau Berger zu Besuch is’, dann gibt’s da keine größeren Auseinandersetzungen“ (Interview III, 15/5-6). Daher braucht sie Frau Berger in dieser Situation auch nicht zu unterstützen. Hier wird deutlich sichtbar, dass die Rückführung
zur Mutter von Anfang an nie als ein ernsthaftes Ziel von ihr verfolgt wird, da die
Vorbereitung sonst schon mit Tims Eintritt ins Kinderdorf hätte erfolgen müssen.
Frau Sonntag gibt dies offen zu: „…Also das is’ eigentlich ’n Ziel, das kann das Kinderdorf nich’ verwirklichen, aber das war ’n Ziel, was das Jugendamt hatte“ (Interview III, 14/11-12). Von Beginn an ist ihr klar, dass es das Jugendamt zu überzeugen gilt, dass die Mutter nicht gut für Tim ist. Trotzdem steht das Ziel noch mit im
Hilfeplan, ihrer Meinung nach aber nur, „…um die Frau Berger auch (..) für die Mitarbeit zu motivier’n…“ (Interview III, 14/17-18).
Nachdem die Mutter nur noch einmal im Monat zu Besuch kommt, verändern sich
auch die Telefonate: „Jetzt (.) die drei Jahre, wo er da is’ (.), ruft sie zwar immer
noch an ihren (.) Telefontagen regelmäßig an, aber ich denk’, das is’ mehr zur Gewohnheit geworden“ (Interview III, 12/23-25). Heute erlebt sie Tim, der sich mehr
von seiner Mutter löst:
„Also wenn die Mama dann anruft, (.) … dann kann’s auch mal sein, dass er
sagt, er guckt grad Fernseh’n, er legt jetzt auf. Oder (..) er merkt dann
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
108
manchmal gar net mehr so bewusst, dass die Mama jetzt vielleicht grad jammert“ (Interview III, 11/12-16).
Ihrer Ansicht nach kann Tim heute der Mutter auch mal zeigen, wenn er keine Lust
hat, mit ihr zu sprechen. Doch dies geht ihr noch nicht weit genug: „Wenn sie wirklich bewusst hier zu Besuch is’, dann widerspricht er ihr ja net“ (Interview III, 21/2223). Dies begründet sie damit, dass Tim immer erst abwartet, was seine Mutter an
den Besuchstagen mit ihm unternehmen will: „Er (.) er sagt ja dann auch oft net mal,
was er sich wünscht für den Tag (.), weil er erstmal wartet, was kommt von der Mama“ (Interview III, 21/23-24). So stellt sie fest: „…Aus dieser Schiene muss er noch
’raus (Interview III, 21/26). An dieser Stelle des Interviews wird klar deutlich, dass
Frau Sonntag gegenüber Tims Mutter eine klare feindselige Haltung hat. Diese Einstellung Frau Sonntags kennzeichnet Dührsen (1977) durch ein sog. „Double-Bind“:
„Heimarbeiter wollen Einfluss auf die Eltern nehmen, gleichzeitig kommt jedoch ihre
Einstellung, nämlich daß die Eltern ‚versagt’ haben, zum Tragen. Ihre innere Einstellung gegenüber den Eltern ist … - ohne dies selbst zu wissen – aggressiv, anschuldigend und ggf. sogar feindselig; dies komme in ihren Überlegungen, Handlungen
und ihrem Verhalten zum Ausdruck“ (IGFH 2002, 95).
Das wichtigste Ziel der Hilfe für Tim beschreibt Frau Sonntag so: „Mit dieser Hilfe
sollte erreicht werden, dass der Tim seine schulischen Leistungen (..) wirklich auch
mal zeigen kann“ (Interview III, 13/41-42). Frau Sonntag thematisiert hier ihr eigenes
Ziel, das sie mit Tim erreichen will. Nach Aktenlage werden in der Hilfeplanfortschreibung vom 01/2004 erstmals schulische Leistungen als Ziel formuliert: „Tim hat
ein gutes intellektuelles Potential, das jedoch sehr viel an Unterstützung und Förderung benötigt“. Doch Frau Sonntags Ehrgeiz ist größer als Tims. So heißt es dort
weiter: „Tim sollte mehr Ehrgeiz entwickeln, um demzufolge dann auch eine höhere
Schullaufbahn ergreifen zu können“ (Hilfeplanfortschreibung, ebd.). Frau Sonntag
hat zum Ziel, dass Tim einen höheren Schulabschluss als die Hauptschule absolviert. So erfolgt auch als erstes Tun, das Frau Sonntag einen Tag nach Tims Aufnahme tätigt, die Schulanmeldung „…bewusst in der Grundschule, obwohl in der
Akte drinstand, er is’ in der ‚E-Schule’. Und dann hab’ ich das am nächsten Tag geklärt, dass wir das gerne (.) probier’n möchten (.), ihn doch ganz normal Regel zu
beschul’n. (…) Also (..) das ging auch ganz reibungslos“ (Interview III, 3/5-9). Doch
so problemlos, wie Frau Sonntag es sich wünscht, ging und geht es nicht. So heißt
es im Entwicklungsbericht vom 11/2001: „Probleme bereiten ihm Proben, wo er überwiegend versagt. Bei den Hausaufgaben gibt er sich viel Mühe, wenn eine Erzieherin neben ihm sitzt. Ohne direkte Aufmerksamkeit fällt es ihm schwer Leistungs-
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
109
bereitschaft zu zeigen. Seine Konzentration ist schwach“. Ein halbes Jahr später
wird die schulische Situation kritischer: Laut Entwicklungsbericht vom 06/2002
„…häufen sich Verhaltensprobleme, die die Klasse aufwiegeln und den Unterricht
massiv stören“. Im Sommer 2003 wechselt Tim von der Grund- in die Hauptschule.
Auch dort wird die Situation für ihn nicht besser: „Sein letztes Zeugnis war sehr
schlecht“ (Entwicklungsbericht 01/2004). Als Grund für seine fehlende Mitarbeit wird
die Mutter angegeben: „An manchen Tagen, auch vor und nach Besuchen der Mutter, wirkte er verstört oder deprimiert, so dass kein geordnetes Arbeiten möglich
war“ (Entwicklungsbericht, ebd.). Frau Sonntag berücksichtigt Tims Aufmerksamkeitsstörung dabei nicht, sie verfolgt ihr striktes Ziel: „Die Hausaufgabenkontrolle
wurde verschärft, die Lernzeit streng ritualisiert und konsequente Begleitung eingeführt“ (vgl. Entwicklungsbericht, ebd.).
Als weiteres Ziel ihrer Arbeit mit Tim nennt Frau Sonntag folgendes: „Äh, das Verhalten vom Tim sollte beeinflusst werden, also so dass er (.) gesellschaftstauglicher
(.) wird…“ (Interview III, 14/1-2). Mit „gesellschaftstauglich“ meint Frau Sonntag vermutlich das Ziel der Hilfe „Tim braucht einen klar strukturierten Rahmen mit festen
Regeln“ (Hilfeplanfortschreibung 12/2001).
Tims Beziehung zu seinem leiblichen Vater misst sie keine besonders große Bedeutung zu, aber doch Tims Wunsch, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Nach ihrem Erleben entsteht die Frage nach seinen Wurzeln erst, „…nachdem der Tim dann gemerkt hat, die Familie fängt jetzt langsam das Bröckeln an…“ (Interview III, 5/27-28).
Zudem begründet sie diesen Wunsch durch Tims Alter: „…Der Tim is’ ja jetzt auch
schon dreizehn (.), jetzt kommt dann öfter mal so die Frage, wo komm’ ich eigentlich
her und wer bin ich“ (Interview III, 5/28-30). Trotzdem sieht Frau Sonntag dem Kontakt selbst mit Besorgnis und Unsicherheit entgegen: „…Wenn wir jetzt Kontakt zum
Vater aufnehmen und er war dann wirklich der Täter an sich (.),. weiß man nich’,
was dann beim Tim alles hochkommt…“ (Interview III, 5/36-38). Nachdem sie erlebt,
dass Tim Frau Hall fragt, „…ob er mit dem Papa Kontakt aufnehmen kann“ (Interview III, 5/31) und „…von Seiten des Jugendamtes abgesichert [ist], dass er das
gerne machen kann“ (Interview III, 5/38-39), ist es ihr ganz wichtig, sich nochmals
zusätzlich abzusichern: „…Dann ham wir das auch gekoppelt mit ’ner heilpädagogischen Hilfe, weil (.) mein Gedanke so war, dass er dann wahrscheinlich jemanden
bräucht’, der ihn da unterstützt“ (Interview III, 5/41-43). Falls irgendwas schief geht,
möchte sie nicht diejenige sein, die dafür die Verantwortung trägt. „Kann auch sein,
dass es gut läuft (.). (…) Aber den Tag X abzuwarten, ob’s gut läuft, das war mir
dann zu riskant“ (Interview III, 6/2-4). Hier wird ein Aspekt sehr deutlich: Das, was
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
110
Frau Sonntag bei Frau Berger selbst als „Stützsystem“ deklariert, um die eigene
Überforderung zu verbergen, sucht Frau Sonntag auch für sich selbst.
Den Kontakt zu Herrn Teichert und Tims Bruder Lars erlebt Frau Sonntag so:
„Ja, also der Herr Teichert ruft regelmäßig an. Der war jetzt auch letzten Sonntag zu Besuch (..). Ähm (.), ab März/April dieses Jahres hatten wir kein Besuch
(.) gewünscht vom Herrn Teichert, weil wir erstmal abwarten wollten, wie das
mit dem sexuellen Missbrauch an der Schwester is’ (.). Nachdem sich das net
bestätigt hat (.), kam der Herr Teichert dann letzten Sonntag (.) mit dem Lars
zu Besuch (..). Angeblich hätte der Lars den Besuch eingefordert“ (Interview
III, 9/6-12).
Auch hier wird wieder klar die Machtdemonstration von Frau Sonntag in ihrer Erzählweise deutlich: „Wir“ wünschen keinen Kontakt. Herr Teichert, der „…die letzten
(..) acht/neun Jahre in dieser Familie auch als Vaterersatz für den Tim mit drin“ (Interview III, 9/3-4) gewesen ist, wird ohne das Wissen der Mutter eingeladen. Die
Beziehung zwischen Tim und seinem kleinen Bruder zweifelt Frau Sonntag an. Sie
glaubt, dass Herr Teichert den Sohn als Alibi benutzt, um Tim öfter zu sehen. Einerseits will sie nicht an Lars’ Besuchswunsch glauben, andererseits wird wieder die
negative Grundhaltung im Hinblick auf Tims Beziehungen deutlich: „…Da steht ja
auch erstmal nix im Weg, weil das sind ja auch Halbgeschwister“ (Interview III, 9/1213). Hier räumt Frau Sonntag klar ihre Möglichkeit ein, die Besuchskontakte unter
den Geschwistern zu verbieten, falls sie der Meinung ist, der Kontakt wäre nicht gut.
Den Kontakt zu Herrn Teichert beschreibt sie so:
„…Da hatt’ ich jetzt net den Eindruck, dass es dem Tim net recht is’. Er redet
da zwar net viel drüber (.) oder wenn man’s wissen will, muss man’s ihm
schon richtig aus der Nase zieh’n (.), aber er hat sich an dem (.) Tag gefreut
und als ich g’sacht hab’, der Herr Teichert (.) möcht’ gern öfter kommen, kam
auch kein ‚Nein’“ (Interview III, 9/18-22).
Tims Schweigen wird von ihr als Bestätigung gedeutet. Im weiteren Verlauf des Interviews schildert sie selbst, dass Tim regelmäßig Kontakt zu Herrn Teichert will:
„Jetzt steht an (.), dass er möchte’, dass der Herr Teichert ihn öfter besucht“ (Interview III, 19/38).
Im Mitarbeiterteam erlebt Frau Sonntag häufige Konflikte mit und wegen Tim, der
auch „…immer wieder mal in Hausgesprächen aufs Tablett [kommt] als schwieriges
Kind im Haus (.), weil er sehr (.) äh sehr personenabhängig reagiert“ (Interview III,
15/11-13), d.h. „…seine Provokationen (…) dem einen oder anderen mehr oder we-
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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niger zeigt“ (Interview III, 15/15-16). Damit meint Frau Sonntag, dass Tim sich bei
den einzelnen Mitarbeitern jeweils anders verhält, je nachdem wie viel
„…bodenständigen Kontakt“ (Interview III, 15/29) sie ihm bieten. Sie selbst erlebt ihre eigene Beziehung zu Tim als tragfähig, da sie mit ihm reden kann: „…Wirklich
über sich oder das was ihn wirklich beschäftigt reden, da macht er ’n ganz großen
Unterschied. Da überlegt er sich schon vorher ganz genau, wem er das erzählt“ (Interview III, 8/12-14). Allerdings widerspricht sie sich hier mehrmals im Verlauf des
Interviews: „Also so im Nachhinein ham wir uns da nie drüber unterhalten“ (Interview
III, 8/18-19). Ihrer Ansicht nach haben die anderen Erzieher mit ihrer Meinung über
Tim Unrecht. Denn sie kann mit ihm umgehen: „Wobei er … aus meiner Sicht, immer noch ’n sehr ruhiger Junge is’, wenn man mit ihm vernünftig redet. Auch sehr
einsichtig“ (Interview III, 16/23-24) Hier wird eines sehr deutlich: Schwierige Situationen entstehen aus ihrer Sicht ausschließlich aus Tims Fehlverhalten, und die Beziehung basiert auf der Einsichtigkeit Tims und seines Verhaltens.
Gleichzeitig werden hier Spannungen zwischen den einzelnen Mitarbeitern sichtbar,
die aus einem unterschiedlichen Umgang mit Tim resultieren. Frau Sonntag stellt
fest, dass Tim „…bestimmten Menschen einfach zu schwierig [ist] und man gucken
muss, (..) kann man den Tim halten?“ (Interview III, 16/9-10). Nach Frau Sonntags
Erleben wird Tim auch „…immer mal wieder…“ (Interview III, 16/8) mit Abschiebeüberlegungen oder -drohungen konfrontiert. Dies rechtfertigt sie damit, dass er,
wenn „…er sich dann mein’twegen am Treppengeländer abgeseilt hat und
geschrie’n hat: ‚Ich bring Euch alle um’ oder so’“(Interview III, 16/20-21), das dann
„…natürlich auch in schwierigen Momenten ganz unpädagogisch menschlich dann
auch mal g’sacht kriegt“ (Interview III, 16/28-29). Frau Sonntag schildert hier Situationen, in denen die Abhängigkeit Tims von den Erziehern ausgenutzt und als Angstwerkzeug benutzt wird. Die hier sichtbare Überforderung und Hilflosigkeit der Erzieher gegenüber Tim kann Frau Sonntag nachvollziehen: „Und das is’ natürlich
erstmal für den diensthabenden Erzieher sehr, sehr (..) anstrengend und auch beängstigend“ (Interview III, 16/22-23).
Aber sie sieht hier auch Handlungsbedarf, allerdings nur bei den anderen: „Und da
sind die Erwachsenen auch gefordert, wie bieten sie ihm ihre Beziehung an, damit
er da überhaupt mit einsteigen kann“ (Interview III, 15/29-30). Ihre Strategie dafür
schildert sie so: „Und dass er dann über die Handlungsebene an die Erwachsenen
’rankommt, das er (.) einfach auch (.) über den Sachbezug ’n Bezug zu den Erwachsenen kriegt. Weil nur über die Beziehungsebene (.), das reicht beim Tim,
denk’ ich, net aus“ (Interview III, 16/37-40). Beziehungsarbeit läuft bei Tim nach
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
112
Frau Sonntags Ansicht über materielle Belohnung. Das Einhalten von Regeln und
gutes Verhalten wird belohnt, schlechtes wird bestraft. Dieser Aspekt, verbunden mit
ihrem autoritärem Erziehungsstil und ihrer Forderung nach Disziplin und Folgsamkeit, lässt den Schluss zu, dass sich Tim Frau Sonntags Regeln anpasst, um für
sich einen eigenen Vorteil zu erzielen und so weit wie möglich Sanktionen aus dem
Weg zu gehen: „Man kann dieses Verhalten … auch als Scheinanpassung beschreiben“ (Freigang & Wolf 2001, 49). Frau Sonntag gewinnt so den Eindruck,
dass ihre Erziehung bei Tim fruchtet und auf einer tragfähigen Beziehung basiert: Er
hat „…eigentlich (..) zu ganz wenigen Leuten im Team wirklich Kontakt“ (Interview
III, 15/28-29). Sobald Frau Sonntag nicht anwesend ist, steuert Tim sein Verhalten
dagegen anders und richtet es nach den Erwartungen, aber auch nach den Stärken
und Schwächen der einzelnen Erzieher aus. Fühlt er sich dann in deren Beziehung
zu ihm unsicher, wird er seiner Rolle als schwieriges Kind gerecht und sucht sich
darin Bestätigung. Und noch etwas wird ersichtlich: Frau Sonntag tritt in die Fußstapfen der Mutter und verstärkt Tims Verhalten, emotionale Zuwendung nur über
Materielles beziehen zu können.
Gleichzeitig glaubt und befürchtet Frau Sonntag, dass die derzeitige Teamkonstellation Tims Verhalten in der Pubertät nicht tragen wird:
„Und wir hatten jetzt zum Beispiel letzte Woche wieder ’n äh (.) Hausgespräch
(.), da hat dann die Frau Schmitt mal in ’nem Nebensatz gesagt: ‚Der (..) also
der Tim ist hier Zuhause, bis er achtzehn is’, aber die (.) Erwachsenen müssen
anfangen, ’ne Beziehung zu ihm aufzubau’n’. Ansonsten wird das Zuhause
sehr schwierig und auch gefährdet sein, weil er ja (.) sehr personenbezogen
reagiert“ (Interview III, 15/16-21).
Auch die Psychologin des Kinderdorfs bestärkt ihre Befürchtung: „Also, gefährdet im
Sinne (.) dessen, wenn er keine Beziehung zum Team hat, das ihn dann in der Pubertät in schwierigen Zeiten vielleicht auch tragen soll, (…) mh dann wird’s schwierig“ (Interview III, 15/31-33). Die Beziehung zum Team sind die vorrangigen Voraussetzungen für Tims Verbleib im Kinderdorf, nicht nur für Frau Sonntag, sondern
auch für die Psychologin, da sie beide Schwierigkeiten in der Pubertät als vorprogrammiert ansehen. Wieder wird an dieser Stelle des Interviews die Defizitorientierung des Kinderdorfs am Verhalten des Kindes sichtbar, obwohl, wie auch selbst kritisiert, die Einstellung der Erzieher zu Tim schuld ist. So gibt es auch in der Vergangenheit „…in einer Zeit, wo der Tim (..) ich sag mal (.) erziehungsschwieriger war als
heute“ (Interview III, 18/2-3), immer mal wieder Diskussionen, ob Tim im Kinderdorf
bleiben kann oder ob er in eine andere Einrichtung muss. Damals wird auch Tho-
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
113
mas, Tims Zimmergefährte und Freund aufgrund seiner „Erziehungsschwierigkeit“ in
eine andere Einrichtung verlegt. Dass Thomas hat gehen müssen, hat Tim Angst
gemacht, wie Frau Sonntag rückblickend feststellt:
„Da hat er mich zum Beispiel auch mal g’fragt: ‚Und, bin ich dann der Nächste?’ (..) Weil er g’sehn hat, wie/ wie schnell es gehen kann, wenn Einrichtungen zusammen arbeiten, dass ein Kind dann auch wirklich die Einrichtung
wechselt, und das hat ihn eher überrascht. (.) Oder auch irgendwo ’nen Stück
weit betroffen gemacht“ (Interview III, 18/4-9).
Die Abschiebung von Thomas, eines „schwierigen“ Kindes, wird hier von Frau Sonntag klar legitimiert und als „professionelle Zusammenarbeit der Einrichtungen“ beschrieben. Dass die eigene Überforderung, das eigene Scheitern und die institutionellen Strukturen des Kinderdorfs, die wenig Individualität der Kinder zulassen,
maßgeblich an der sogenannten „Erziehungsschwierigkeit“ beteiligt sind, kommt
weder ihr, noch dem Heimleiter sowie der Psychologin in den Sinn, obwohl auch sie
die Auswirkungen auf Tim erleben: „Und ich denk’, das hat er noch ganz gut im
Kopf. Das (.) ähm das (.)/ er bezieht dann oft so sein Verhalten auf das vom Thomas … und überlegt sich, was passiert denn dann jetzt mit mir“ (Interview III, 18/1114). „…Ich denk’, das is’ so seine große Angst, dass er hier irgendwann geh’n
muss“ (Interview III, 16/25-26).
So versucht sie, Tim die Angst zu nehmen und zu signalisieren, dass Thomas’ Abschiebung nicht allein in seinem alltäglichen, sondern in seinem „kranken“ Verhalten
begründet war:
„…Ich hab’ immer so die Hoffnung, dass er merkt (.) ähm, dass dass viele Dinge, die (.) manchmal auch einfach schief laufen im Alltag, (.) so alltäglich sind,
dass sein Zuhause erstmal net gefährdet is’. Also da müsst’ er da drüben
scho’ irgendwas Größeres (.) wirklich auch anstell’n. (…) Und dann versuch’
ich ihm auch immer zu erklären, dass es auch ’n Stück weit in der Krankheitsgeschichte vom Thomas begründet war. (…) Aber Kinder seh’n ja erstmal nur
das Verhalten. Und das Verhalten vom Thomas war ja schon (..) auffällig, so
dass jeder g’sehen hat, is’ in der Gruppe eigentlich nich’ machbar“ (Interview
III, 18/16-26).
Doch hier bewirkt sie das Gegenteil: Eine Verlegung für Tim kommt nur dann nicht
in Frage, wenn er sich benimmt und „gut“ verhält. Und Thomas, der für Tim wie ein
Bruder war, wird genauso wie seine Mutter als „krank“ erklärt. Zudem wird auch Tim
nach Frau Sonntags Erleben von Anderen selbst als „beziehungsgestört“ bezeich-
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
114
net. So wird ihm indirekt mit einer Abschiebung gedroht, wenn er „Größeres“ anstellt. Daher erlebt sie, dass Tim auch heute noch Angst hat: „...Das macht ihn auch
unsicher, ... dass an seinem Zuhause immer wieder gerüttelt wird“ (Interview III,
16/14-16). Mittlerweile erkennt Frau Sonntag selbst, dass Tim sich im Kinderdorf so
nicht zuhause fühlen kann und dass eine Verlegung in eine andere Einrichtung für
seine Entwicklung nicht förderlich wäre: „…Ich denk’, es ging ihm besser, wenn er
das nich’ wüsste“ (Interview III, 16/18). Auch Herrn Wertz und Frau Schmitt versucht
sie weitgehend davon abzubringen: „Das würd’ ihm auch erstmal net helfen. … Ich
denk’, dass (.) da der Herr Wertz und auch die Frau Schmitt mittlerweile schon ’ne
klarere Haltung haben“ (Interview III, 15/42-16/5). Einerseits hofft Frau Sonntag
zwar, dass es nicht zu einer Verlegung von Tim kommt, andererseits hat sie aber
auch Zweifel daran, falls keine Veränderung bei Tim sowie den anderen Erziehern
eintritt: „Also auszuschließen is’ es nicht“ (Interview III, 15/41). Ein Aspekt wird hier
ganz deutlich: Ohne ihre starke Bindung zu Tim würde sie einer Abschiebung zustimmen, mit dem Alibi, ihm weiterhelfen zu wollen. Nur weil Frau Sonntag bisher
um Tim gekämpft hat, auch innerhalb der Gruppe und im Kinderdorf, kann oder darf
Tim bleiben. Bei Thomas dagegen hält sie die Verlegung für angemessen. Auch Tim
weiß, dass er ohne sie nicht mehr im Kinderdorf wäre. An dieser Stelle kommt Frau
Sonntag wieder eine hohe Machtposition zu, Tim dagegen eine Position der absoluten Abhängigkeit. Er ist zwangsläufig genötigt, ihr zu gefallen, will er im Kinderdorf
bleiben.
Tims heutige Situation innerhalb der Gruppe zu den anderen Kindern sieht Frau
Sonntag im Vergleich zu Tims Anfangszeit im Kinderdorf, als er eher ein „…Mittendrin-Kind“ (Interview III, 17/30) war und „…mit jedem so spiel’n“ (Interview III, 17/31)
konnte, problematischer:
„Äh, heut is’ er einer der Ältesten im Haus. Ich denk’, das gibt ihm ’ne ganz
andere Position. Einmal ’ne Position von Macht, die mir selber net so gut
g’fällt, weil er dann auf die Jüngeren auch wirklich mal Macht ausübt. So im
Sinne von: ‚Wenn Du net mit mir spielst, mach’ ich Dir irgendwas kaputt’ oder
so. (…) Weil die drei Großen zusammen, das funktioniert ganz schwierig, da
zieht er sich dann auch oft lieber (.) ’raus, bevor er zu irgend jemanden klar
Stellung bezieh’n muss“ (Interview III, 17/23-40).
Ihrer Ansicht nach versucht Tim Kontakte über Macht aufzubauen. Im Spiel mit den
jüngeren Kindern der Gruppe nutzt er seine Position als Stärkerer aus, bei den Älteren erlebt sie Tim oft in einem Loyalitätskonflikt, den er schon von klein auf kennt.
Tim spiegelt hier die Beziehungen wider, die er gelernt hat. Er nimmt die Angebote
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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der Erwachsenen in seinem Umfeld an, auch die von Frau Sonntag. Obwohl ihr die
Ausübung von Macht selbst nicht gefällt, hinterfragt sie diese nicht, sondern erklärt:
„‚Wirklich Kontakt knüpfen im Haus, is’ auch schwierig’. Er hat ja dann (.) in Anführungszeichen nur die Kleineren“ (Interview III, 17/34-35).
Engere Freundschaften erlebt Frau Sonntag nur innerhalb des Kinderdorfs: „Zu
wem er ganz (.) gute Kontakte hatte, war der Thomas…“ (Interview III, 17/32) und
„im Moment hat er ganz gute Kontakte zu ’nem Jungen aus Haus X“ (Interview III,
18/30). Obwohl dieser Junge vier Jahre jünger ist als Tim, verstehen die beiden sich
ihrer Meinung nach sehr gut. Und es gibt noch jemanden, dem Tim treu zur Seite
steht: „Dann hat er (…) die ganze Zeit Kontakt zu Nadine g’habt“ (Interview III,
18/31-32). Nadine ist ein Mädchen, das bis Oktober im Kinderdorf gelebt hat. Mit ihr
hat Tim nach Frau Sonntags Ansicht seit März dieses Jahres eine Freundschaft
aufgebaut, die sie beide auch sehr in der Öffentlichkeit betont haben. Trotz ihres
Auszugs ist der Kontakt zu Nadine weiterhin sehr wichtig für Tim. Frau Sonntag verwundert diese Freundschaft:
„Das beißt sich so ’n bisschen mit der Tatsache, dass der Tim eigentlich (..)
beziehungsgeschwächt is’ oder auch keine Beziehung halten kann oder will
oder möchte oder wie auch immer. Es sieht dann ja immer auch jeder anders.
(…) Und ich denk’, wenn man mal davon ausgeht, dass er in Anführungszeichen ’n Junge is’, der schlecht Beziehungen knüpft, (..) dann (.) is’ die Zeitspanne von März bis November schon sehr lange (..). Weil das is’ ja eigentlich
net sehr alterstypisch“ (Interview III, 18/35-19/3).
Da sie erlebt, dass Tim früher mit anderen hat spielen und Beziehung mit Nadine,
Thomas und dem Jungen aus Haus X hat halten können, äußert Frau Sonntag
Zweifel an dieser Feststellung. Sie glaubt, dass seine „Beziehungsschwäche“ entstanden ist, „…weil jeder den Tim mit ander’n Augen sieht. Er kriegt’s auch öfters
eingeredet, dass er das wäre“ (Interview III, 19/5-6). Frau Sonntag erkennt, dass einerseits sein noch kindliches Spielverhalten den Umgang mit Gleichaltrigen erschwert und andererseits wieder auf die Hilflosigkeit der Erzieher zurückzuführen
ist, die ihm dies in schwierigen Situationen einreden. So folgert sie:
„Wirklich beziehungsunfähig würd’ ich ihn nich’ (.) nennen, … er überlegt sich
vorher ganz genau, zu wem er Kontakt haben will. Er is’ dann eher so das
Kind, das sagt: ‚Ich hab’ lieber zwei gute Freunde und die hab’ ich’, anstatt von
zwanzig losen Kontakten’“ (Interview III, 19/19-22).
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Frau Sonntag erkennt, dass es Tim hier klar an Konstanz und Sicherheit in den Beziehungen fehlt. Tim, dem „Beziehungsunfähigkeit“ vorgeworfen wird, sucht sich die
Menschen, mit denen er eine Beziehung eingehen will, nach seinen Vorstellungen
und Wünschen aus und geht dabei sehr kritisch vor. Dieses Verhalten von Tim erscheint mir sehr reif für sein Alter und steht im Widerspruch zu dem, was ihm eingeredet wird.
Gleichzeitig glaubt Frau Sonntag, dass Tim „…ganz große Verlustängste…“ (Interview III, 19/15) hat,
„…wenn man mal sieht, wie viele Menschen in seinem Leben gegangen sind,
schon bevor er im Kinderdorf war, (.) dann war’n das eigentlich ’ne ganze
Menge. Und ich denk’ (.), er hatte auch immer Angst Beziehungen aufzubau’n,
weil die könnten ja wieder kaputt geh’n“ (Interview III, 19/15-19).
So erlebt Tim nach Frau Sonntags Schilderung seit seiner Aufnahme einen ganzen
Teamwechsel. Menschen, die ihm alle für kurze Zeit etwas zu sagen gehabt haben
und die alle wieder gegangen sind:
„Er hatte ’ne Beziehung, aber ob die enger war, kann ich gar net sagen. (..) Ich
denk’, er war aufgrund dessen, dass er noch nich’ in der Pubertät war, einfach
leichter zu händeln. (..) Und da hatte man dann (.) ’ne and’re Beziehung zu
ihm. Aber ob das jetzt besser oder schlechter is’, kann ich net sagen. Ich weiß
auch nich’, ob er wirklich jemanden vermisst“ (Interview III, 17/11-15).
Frau Sonntag weiß nicht, ob sich der Wechsel im Team negativ auf Tim ausgewirkt
hat, und es interessiert sie auch nicht: „Das (..) is’ auch ’n Thema (…), das hab’ ich
mit ihm so noch nie besprochen. Aber so dass er mal bewusst fragt nach irgend jemanden aus dem alten Team, is’ eigentlich nich’“ (Interview III, 17/17-19). Gespräche zwischen ihr und Tim finden nur statt, wenn Tim auf sie zugeht. Ein Versäumnis, wenn sie im Verlauf des Interviews selbst beschreibt, dass „…man’s ihm schon
richtig aus der Nase zieh’n [muss]“ (Interview III, 9/20). Nachdem sie sich hier allerdings widerspricht und feststellt, dass Tim eine Beziehung zum letzten Team hatte
und auch zum heutigen Team hat, entstehen Zweifel an ihrer vorherigen Aussage,
dass die anderen Erzieher keine Beziehung anbieten. Da Frau Sonntag auf der einen Seite Tim systematisch seinen Bezugspersonen zu entfremden scheint und auf
der anderen Seite ihm selbst mangelndes Beziehungsvermögen zuschreibt, liegt die
Vermutung nahe, dass sie eine intensive Beziehung Tims zu den anderen Erziehern
im Alltag nicht unbedingt unterstützen wird. Denn nur Beziehungen, die nicht unmittelbar ihre Bindung zu Tim bedrohen, werden erhalten und von ihr gefördert.
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Die Beziehung zwischen Tim und Frau Hall erlebt Frau Sonntag „…unterschiedlich“
(Interview III, 19/27):
„Am Anfang war das Jugendamt einfach ’ne Institution für den Tim, die ihn
hierher gebracht hat ins Kinderdorf (...). Und (.) die ham halt einfach entschieden. (…) …Mittlerweile fängt er auch an und schreibt Briefchen an die Frau
Hall, wenn’s dann d’rum geht Entscheidungen zu treffen, so wie ‚Ich möcht’
meinen Vater sprechen’ oder so“ (Interview III, 19/27-36).
Frau Sonntag sieht in der Beziehung zum Jugendamt heute große Fortschritte. Das
Jugendamt als reine Entscheidungsinstanz und die damit verbundene Angst, unerwartet vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden, empfindet Tim nach ihrer Ansicht nicht mehr. So schildert sie, dass Tim mittlerweile Wünsche äußern kann, die
von Frau Hall ernst genommen und umgesetzt werden und dass er selbständiger im
Umgang mit ihr wird: „So nach dem Motto: ‚Ich ruf’ mal die Frau Hall an’ und die
sagt dann: ‚Ja, kann ein/ zwei Wochen dauern, aber ich ruf’ Dich zurück’, (.) ähm
wird das eigentlich immer besser“ (Interview III, 19/41-43).
Auch in den Hilfeplangesprächen stellt Frau Sonntag Veränderungen bei Tim fest:
„Und er merkt halt auch in den Hilfeplänen, es geht nich’ nur um die Mutter,
sondern es geht auch um ihn. (.) Und des (.) des bekräftigt diese Situation
schon auch. Und ich denk’, er hat scho’ lang nich’ mehr nur noch im Kopf, das
Jugendamt is’ das, das mich da (.) ’rausgeholt hat, sondern (.) mittlerweile
sieht er’s auch (..) ,wenn er’s auch nich’ immer in Worte fasst, aber er sieht’s
dann auch scho’ als Hilfe“ (Interview III, 20/2-7).
Diese Aussage Frau Sonntags widerspricht ihrer zuvor eigenen Darstellung der
Dominanz des Themas „Mutter“ in den Gesprächen, deutlich erkennbar auch im Interviewverlauf. So behandelt gerade der letzte Hilfeplan die „Regelung des Umgangs“ (Hilfeplanfortschreibung 10/2004) zur Mutter, der sich über sich zwei Seiten
erstreckt. Tim und seine Wünsche werden darin jedoch nur in einem Absatz thematisiert. Frau Sonntags Annahme, dass Tim das Jugendamt und das Kinderdorf als
Hilfe betrachtet, entnimmt sie seinen Äußerungen:
„Er hat neulich dann zum Beispiel mal wieder g’sacht: ‚Wenn ich noch zuhause
wär’, wär’ ich bestimmt noch in der E-Schule’ (..). Und ich denk’, so zieht er
seine Schlüsse (.), was für ihn besser is’ und was für ihn vielleicht nich’ so gut
is“ (Interview III, 20/9-13).
Frau Sonntag interpretiert hier Tims Aussage im Hinblick auf ihr eigenes Ziel und
reduziert auch seine Ansprüche an eine Hilfe auf schulische Leistungen.
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4.3.4. Die Perspektive des Jugendamts
Die erste Zeit von Tim im Kinderdorf erlebt Frau Hall als sehr problematisch, da es
ihm „…sehr schwer gefallen is’, sich aufs Kinderdorf einzulassen“ (Interview IV,
5/13). Den Grund hierfür vermutet sie in dem Verhalten der Muter, die „…riesige
Probleme damit hatte, dass der Tim wegkommt von ihr“ (Interview IV, 5/14-15) und
der es anfangs nicht möglich war, dass sie „…sich entsprechend (.) abgrenzt…“ (Interview IV, 5/30). Dies beschreibt sie z.B. so:
„Dass die Mutter nich’ damit einverstanden war, dass er das und das T-Shirt
angezogen hat oder dass er ähm (..) äh die Behandlung bekommen hat, wenn
er krank war, dass er zu dem Arzt geht und solche Sachen“ (Interview IV,
19/19-21).
Frau Hall erlebt hier, wie sich die Mutter in „…so Kleinigkeiten“ (Interview IV, 19/11)
des Alltags einmischt und versucht, Frau Sonntag vorzuschreiben, was sie tun soll:
„Also, die hat sich am Anfang ganz stark drüber aufgeregt, dass das Kinderdorf ihr
irgendwelche Infos nich’ gegeben hat, aber wenn man genau hingeguckt hat, war’n
das solche Sachen, ’ne?“ (Interview IV, 19/15-17). Dies bestärkt sie in ihrem eigenen Ziel des Hilfeplans, das sie selbst so beschreibt: „…Also (..) ich denke so deutlich hab’ ich’s sicher nich’ (.) in den Hilfeplan ’reingeschrieben, aber was ganz wichtig war is’, dass man den Jungen (.) vor der Mutter schützt“ (Interview IV, 13/41-43).
Zum einen thematisiert Frau Hall hier ihre eigene rechtliche Angreifbarkeit in Entscheidungen: „…Weil (.) man is’ ja da auch sehr angreifbar“ (Interview IV, 14/16),
die sie mit ihrer Funktion als Vertreterin des Jugendamtes und deren Aufgaben und
Leistungen verbindet (siehe Kapitel 1.2. Rechtliche Grundlagen) und über die sie
Rechenschaft ablegen muss; zum anderen glaubt sie, dass sich das negative Verhalten der Mutter massiv auf Tim auswirkt: „Also die hatt’ da immer sehr vieles mit
äh (.) verwickelt und verwurschtelt und (.) was eigentlich so auf der Erwachsenenebene hätte geklärt werden müssen, hat sie sehr viel über den Tim ausgetragen“
(Interview IV, 5/30-33). Ihrer Ansicht nach redet sie Tim damals ein, „…dass sie selber gar nich’ möchte, dass er im Heim is’“ (Interview IV, 5/23). Dies beschreibt sie
so:
„Der war immer sehr abhängig, also wenn’s der Mutter schlecht gegangen is’,
dann is’ es dem Tim auch schlecht gegangen, wenn’s der Mutter besser ging,
is’ es dem Tim auch besser gegangen. (…) Also das war so ’n Seismograph,
der hat so alle Stimmungen immer aufgenommen. Ähm (.), das hieß halt in der
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
119
Zeit auch, dass er sich gar nich’ auf sich konzentrieren konnte, weil er immer
so beschäftigt war mit seiner Mutter“ (Interview IV, 6/15-22).
Frau Hall schildert an dieser Stelle, wie sensibel Tim auf seine Mutter eingeht. Sie
widerspricht sich hier selbst, einerseits mit ihrem im Vorfeld beschriebenen Gefühl,
dass sie keine Beziehung zwischen Mutter und Sohn hat spüren können, andererseits jedoch mit der eigenen Feststellung, dass Tim Empfindungen mit seiner Mutter
teilt und zulässt. Gleichzeitig erlebt Frau Hall diese Situation nicht selbst, sondern
entnimmt sie dem Entwicklungsbericht des Kinderdorfs. So heißt es dort: „Tim fällt
bei Gesprächen mit seiner Mutter in einen klagenden, leisen Sprechton“ (Entwicklungsbericht 06/2002). Das Fazit wird so formuliert: „Tims Entwicklung hängt eng
zusammen mit dem Befinden der Mutter“ (Entwicklungsbericht, ebd.). Frau Hall übernimmt hier ausschließlich die Perspektive des Kinderdorfs.
Gespräche sollen Klarheit schaffen:
„…Wir hatten sehr viele Gespräche mit der Frau Berger (…) und ham ihr dann
auch versucht klar zu machen, dass sich der Tim solange nich’ einlassen wird,
(.) bis er nich’ von seiner Mutter das Signal bekommt: ‚Es is’ in Ordnung, dass
Du da bist’“ (Interview IV, 6/7-10).
Außerdem wird dort vereinbart, „…wann sie (.) den Tim anrufen kann, wann sie ihn
sehen kann…“ (Interview IV, 5/40-41). Jedoch sieht sie auch darin keine Erfolge:
Die Mutter hat sich „…an keine An/ Absprachen halten wollen“ (Interview IV, 5/3839) und Tim hat sich bei den Streitigkeiten Frau Sonntags und Frau Bergers “…sehr
solidarisch mit der Mutter“ (Interview IV, 6/4) erklärt. Doch Frau Hall bemerkt damals
auch, dass Tim immer mehr „…da (..) sehr (..) so zwischen den Fronten“ (Interview
IV, 5/42) gestanden hat. So schildert sie:
„Es war so ähm konfrontativ zwischen Mutter und Frau Sonntag, also war ’ne
große Konkurrenz. Die Frau Berger hatte wirklich Angst, dass die Frau Sonntag so ihre Position einnimmt, dass die Frau Sonntag jetzt die Mutter wird“ (Interview IV, 6/1-4).
Frau Hall erlebt, wie Frau Sonntag und Frau Berger sich in einen Kampf um Tim begeben. Frau Berger auf der einen Seite, die „…die Frau Sonntag als Riesenkonkurrentin gesehen [hat] und die ... auf so ’ne ganz (.) emotionale Ebene gegangen
[is’]…“ (Interview IV, 18/19-21), auf der anderen Seite Frau Sonntag, die ihrer eigenen Vermutung nach „…da auch ähm (..4..) so ’n bisschen Macht (.) spielchen gespielt hat“ (Interview IV, 19/24). Für Tim sieht sie diese Zeit als hochproblematisch
an: Er „…war aber absolut überfordert mit seiner Rolle, der hatte sehr starkes
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
120
Heimweh, wollte immer nach Hause…“ (Interview IV, 5/34-35). Von Anfang an erlebt
sie die stereotypen Fragen Tims: „‚Wann darf ich wieder heim (.), wann darf ich wieder heim?’“ (Interview IV, 15/4-5). Außerdem kommen in dieser Zeit viele Hilferufe
von Frau Sonntag bei ihr an: „…Am Anfang hatt’ ich auch sehr viele Gespräche mit
(.) der (.) Hausleiterin Frau Sonntag…“ (Interview IV, 5/28-29), die „…ganz oft angerufen hat und (.) mir stundenlang Storys erzählt hat ...“ (Interview IV, 20/22). An
dieser Stelle entstehen bei ihr Zweifel an der anfänglich geglaubten Kompetenz
Frau Sonntags: „…Wo ich dann auch immer gedacht hab’, die Frau Sonntag is’ überfordert. Die Frau Sonntag braucht hier Anleitung“ (Interview IV, 18/4-5). Frau Hall
fühlt sich durch diese Hilflosigkeit selbst überlastet. Sie hat das Gefühl, dass hier interne Kinderdorfprobleme auf sie abgewälzt werden, weil ihrer Meinung nach das
Zusammenwirken der einzelnen Fachkräfte im Kinderdorf nicht funktioniert: „Ich hab’
gesagt, ich kann ja die Leute (.) vom Kinderdorf net anleiten, das is’ net mein Job“
(Interview IV, 20/31-32). Sie wünscht sich eine Entlastung: „Ich hab’ ja da auch mal
mit der Frau Schmitt gesprochen, ob sie als Psychologin da nich’ (.) was tun
kann…“ (Interview IV, 17/37-39). Doch Frau Schmitt bietet ihr keine Hilfe und beruft
sich auf den ihrigen im Vorfeld genannten Einwand zur Aufnahme Tims: „‚Die Frau
braucht ’ne intensive Elternarbeit, die können wir nich’ leisten’“ (Interview IV, 17/4243).
So versucht Frau Hall weiterhin eigene Unterstützung für Frau Sonntag anzubieten,
weil sie merkt, „…dass die Frau Sonntag absolut schwimmt…“ (Interview IV, 20/33).
Sie tut dies einerseits aus Mitleid mit Frau Sonntag, die von dem Kinderdorfleiter
und der Psychologin mit der problematischen Mutter allein gelassen wird und als
Einzige im Kinderdorf „guten Willen“ in der Arbeit mit Tim für sie selbst erkennbar
werden lässt: „…Also die ackert wirklich“ (Interview IV, 21/8), andererseits aber
auch aus Dankbarkeit für Frau Sonntags Unterstützung in der schwierigen Aufnahmesituation. Doch Frau Hall ist irgendwann gezwungen zu handeln, denn auch ihr
werden die ständigen Gespräche und Telefonate im eigenen Arbeitsalltag zu viel:
„Und dann hab’ ich zur Frau Sonntag gesagt, irgendwann mal (..): ‚Das is’
ganz klar auch Ihre Entscheidung (.). Wie Sie das, also mit dem Umgang, ich
geb’ Ihnen meine Empfehlung, ich sag Ihnen das so wie ich es sehe, aber entscheiden können Sie das letztendlich selber…’“ (Interview IV, 18/10-14).
Um sich selbst zu entlasten, macht sie Frau Sonntag klar, dass sie letztendlich
selbst entscheiden muss, was Tim in der jeweiligen Situation mit der Mutter gut tut.
Damit überträgt sie Frau Sonntag die volle Entscheidungsgewalt über den Umgang
zwischen Mutter und Sohn, obwohl sie weiß, dass Frau Sonntag auch „sehr subjek-
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
121
tiv“ sein kann, und sie selbst „Machtspielchen“ vermutet. Im weiteren Verlauf des Interviews rechtfertigt Frau Hall diese anfänglichen Machtspiele Frau Sonntags immer
wieder: „Aber ich denk’, weil’s wirklich sehr, sehr schwierig war (.) und weil sie keine
andere Möglichkeit gesehen hat, ’ne“ (Interview IV, 19/27-28). Gleichzeitig betont
sie in diesen Stellen die Schwierigkeit der Mutter: „…Die Frau (..) Sonntag, die hatte
viel Ärger mit der Berger“ (Interview IV, 18/18), oder die Mutter, die immer
„…versucht hat, so die Leute für sich (.) arbeiten zu lassen“ (Interview IV, 7/16-17),
etc. Die Rechtfertigung für Frau Sonntags Handeln ist auch eine Rechtfertigung für
ihr eigenes „Nicht-Handeln“: Ihre Entscheidung, Tim im Kinderdorf unterzubringen,
wird immer mehr zum Desaster. Hier liegt die Vermutung nahe, dass sie so lange,
wie sie Tims Ab- und Auflehnung als Antwort auf das Einwirken der Mutter interpretiert, Frau Sonntags unprofessionelles Handeln vor sich selbst rechtfertigen kann.
Kann sie das Handeln Frau Sonntags nicht mehr rechtfertigen, müsste sie selbst
Schritte einleiten. Das hieße für sie auch, ihre eigene Entscheidung zu hinterfragen,
für die sie lang gekämpft hat, und vor sich selbst und vor allem vor ihren Kollegen
eine Fehlentscheidung eingestehen zu müssen. Wie schon im Vorfeld von mir thematisiert wird im Verlauf des Interviews zudem Frau Halls Strategie sichtbar, dass
sie sich und ihre Arbeit gerne absichert: „…Ich hab’ das sicherlich so nich’ ’reingeschrieben…“ (Interview IV, 14/15). Deswegen stellt sie gern Vermutungen an, ohne
sich festzulegen „…Is’ jetzt aber nur ’n Verdacht…“ (Interview IV, 19/22) oder
„…dann ging das, glaub’ ich, auch besser“ (Interview IV, 19/39). Hier kann vermutet
werden, dass sie zusätzlich aufgrund ihres Alleingangs in der Entscheidung für das
Kinderdorf in die Kritik geraten würde.
Als Lösung wird festgelegt, dass Tim seine Mutter nicht mehr besucht, sondern
„…dass die Frau Berger in die Einrichtung kommt, den Tim dort besucht, das sie
den Tim in seinem Umfeld sieht, dass sie in seinem Umfeld was mit ihm macht und
dass sie dann teilnimmt einfach (.) am Leben im Kinderdorf“ (Interview IV, 19/3033). Die Situation entspannt sich. Frau Hall vermutet heute, dass Frau Sonntag
doch „…’ne Anleitung … oder ’ne Supervision…“ (Interview IV, 18/6-7) bekommen
hat, ist sich jedoch nicht sicher. Auch aus ihrer heutigen Perspektive stellt sie mehrmals fest, dass der Umgang mit der Frau Berger „…jetzt wirklich besser geworden
is’, dass die Frau Sonntag da vielleicht auch ’nen bisschen professioneller jetzt mit
umgeht“ (Interview IV, 18/23-24) und dass „…die jetzt wirklich viel sicherer geworden [is’] in ihrem Tun (..)“ (Interview IV, 20/34). Frau Hall glaubt, dass die neue Besuchsregelung Frau Berger als auch Frau Sonntag geholfen hat:
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
122
„Und ich glaub’, das war für die Frau Berger (.) ’ne gute Sache. Und da (.)
war’n dann, glaub’ ich, die Elterngespräche auch anders, ham ’ne andere
Qualität bekommen. Die Frau Berger hat sich ernster genommen gefühlt als
Mutter und ich glaub’, die Frau Sonntag hat sich als Erzieherin auch (.) oder
als Hausleiterin auch ernster genommen gefühlt (..) und dann ging das, glaub’
ich, auch besser“ (Interview IV, 19/35-40).
An dieser Stelle kommt zum Ausdruck, dass mehr ihr Wunsch ihre Ansicht beeinflusst als Tatsachen. Sie ist nicht sicher, ob sich die Situation wirklich entspannt hat.
Ihren Glauben bezieht sie aus der Beschreibung von Tims Verhalten, das sie dem
Entwicklungsbericht entnimmt: „Tim fühlt sich im Kinderdorf wohl“ (Entwicklungsbericht 07/2003). Sie selbst erlebt dies damals so:
„…Da ging’s (.) mit ihm besser (.) im Heim und da hat er sich dann (.) wirklich
auch einlassen können. Die Erzieherinnen ham (..) haben mit ihm arbeiten
können, sind an ihn rangekommen (.), er hat schulisch auch (..) Fortschritte
gemacht (.) und war insgesamt klarer (...) erreichbarer, ’ne?“ (Interview IV,
6/25-28).
Tim kommt plötzlich im Kinderdorf zurecht, anstatt sich dagegen aufzulehnen. Veränderung in Tims Einstellung gegenüber dem Kinderdorf erlebt Frau Hall immer im
Bezug auf die Heimfahrten zur Mutter. Dies beschreibt sie so:
„Und ähm (.), schwierig war es dann auch immer, wenn er Kontakt hatte mit
der Mutter, weil da die Mutter auch (.) ’n sehr (..) undurchsichtigen Lebenswandel hatte und es war auch nich’ so genau klar (.), was jetzt wirklich gelaufen is’. Ich denk’, dass der Tim viele Erfahrungen gemacht hat an den Wochenenden (.) und ähm (.) die ihn (…) irgendwie wieder zurückgeworfen haben
so in seiner Entwicklung“ (Interview IV, 7/3-10).
Auch dieser Eindruck entsteht aus dem vorletzten Entwicklungsbericht, in dem es
heißt: „Nach den Heimfahrtswochenenden wirkt Tim auffallend verschlossen und
bedrückt“ (Entwicklungsbericht 07/2003). Auch diesen Aspekt hinterfragt sie nicht;
er bestätigt ihre eigenen Vermutungen bezüglich der Mutter. Nach Aktenlage wird
daher im August 2003 von ihr und Frau Sonntag das Heimfahrtswochenende für
Tim ausgesetzt.
Im März 2004 entsteht eine neuer Konflikt in der Familie, aufgrund dessen ein
„…Umgangsstopp (.) erwirkt…“ (Interview IV, 7/10) wird, allerdings auf „Freiwilligkeit“ der Mutter und nicht beim Gericht: „…Jetzt hat sie ja behauptet, dass die Tochter Sabine (..) äh vom Stiefvater missbraucht worden is’, also das is’ immer so ’n
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
123
Thema“ (Interview IV, 8/11-13). Der Verdacht wird nicht bestätigt. Die Folge: „Der
Lars lebt beim Vater, die Sabine is’ im Heim, die Mutter is’ im Moment (.) ohne Kinder“ (Interview IV, 15/37-38). Frau Hall glaubt, dass für die Mutter „…immer (.) irgendwie ’n sexueller Missbrauch schuld war…“ (Interview IV, 8/16), wenn „…was
schief geht auf der Welt…“ (Interview IV, 8/15) und folgert daraus, dass Frau Berger
ausschließlich darauf schaut, „…was bei ihren Kindern schief läuft und was müssen
die Kinder ändern, was muss man da anders machen, aber (.) dass sie selber große
Anteile hat, sieht sie bis jetzt noch nicht“ (Interview IV, 15/20).
Frau Hall schildert, dass daher im letzten Hilfeplangespräch im 09/2004 eine Auflage zur Besuchsregelung festgelegt wird: „…Sie muss eine (.) Therapie machen“ (Interview IV, 15/12-13), bevor Tim sie zu Hause besuchen kann. So heißt es auch in
der Hilfeplanfortschreibung: „Es wurde deutlich gemacht, dass Frau Berger im
Rahmen ihrer Mitwirkungspflicht an dem Gelingen der Maßnahme aktiv dazu beitragen muss, psychisch stabil zu werden“ (10/2204). Frau Hall erlebt daraufhin, dass
die Mutter wieder „…nur zur Erziehungsberatungsstelle…“ (Interview IV, 15/13-14)
geht. Für sie ein Hinweis, dass sie sich nicht helfen lassen will: „Und (.) sie macht’s
nicht“ (Interview IV, 15/19).
Die aktuelle Besuchsregelung schildert Frau Hall daher so, „…dass die Mutter ihn
jetzt drei Mal im Monat im Kinderdorf besuchen kann (.), um dann mit dem Tim (..)
so seine Dinge zu machen, die er gern machen möchte“ (Interview IV, 7/20-22).
Frau Hall beschreibt, dass dabei jeweils ein gemeinsamer Plan erstellt wird, der den
Umgang zwischen Mutter und Sohn regeln soll und „…dass sie dann quasi so ’ne
Arbeitsanleitung hat, wie sie sich zu verhalten hat (.), die Frau Berger…“ (Interview
IV, 18/36-37). Auch hier rechtfertigt sie dieses Handeln allein mit dem Verhalten der
Mutter: Dass Frau Berger zwar „immer…“ (Interview IV, 19/3) in alle Entscheidungen einbezogen wird, doch trotzdem „…so vieles umsonst [ist], was man mit ihr bespricht“ (Interview IV, 18/34).
Die aktuelle Situation für Tim im Kinderdorf beschreibt sie aus ihrer Sicht so:
„…Mittlerweile hat der Tim glaub’ ich für sich doch auch (.) die guten Seiten
entdecken können. Er (..) hatte sehr viel Verantwortung übernommen für seine
Mutter, auch für deren Krankheiten, für deren (..) äh Stimmungsschwankungen, ’ne. (...) Ich denke, das hat sich jetzt gelegt (..). Liegt wohl auch daran,
dass er jetzt in der Pubertät is’, (.) dass er sich sowieso jetzt so ’n bisschen
abgrenzen (lacht bis *) muss von der Mutter * “(Interview IV, 6/10-24).
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
124
Seitdem Tim im Kinderdorf ist, erlebt sie keine großen Veränderungen in der Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Auch heute noch fehlt ihr eine „…klare Ansprache
zwischen Mutter und Sohn…“ (Interview IV, 10/20-21). Sie hat immer noch das Gefühl, dass die Mutter Tim nicht „…wirklich wahrnimmt…“ (Interview IV, 10/22) und
dass Tim „…da auch Schwierigkeiten mit [hat], so seine Mutter wirklich wahrzunehmen…“ (Interview IV, 10/23-24). Allerdings glaubt sie, dass es Tim im Laufe der Zeit
ein Stück weit geschafft hat, sich von der Mutter zu entfernen und sich nicht mehr so
schnell beeinflussen zu lassen. Momentan erlebt sie Tim so, als würde er sich mittlerweile im Kinderdorf ganz wohl fühlen: „…Ich glaub’, dass (.) es (.) jetzt für ihn in
Ordnung is’, wie’s is’“ (Interview IV, 7/28). Bestärkt wird sie in ihrer Meinung dadurch, dass Tim kein großes Interesse mehr daran zeigt und es „…grad nich’ mehr
so schlimm…“ (Interview IV, 7/25) ist für ihn, nicht nach Hause fahren zu dürfen,
seitdem seine Geschwister auch nicht mehr dort leben: „Ähm (.), schwierig war es
für den Tim auch immer (..) sich im Heim (.) oder sich aufs Heim einzulassen, weil
seine beiden anderen Geschwister noch zu Hause waren“ (Interview IV, 6/40-42).
Nach einer „…Phantasie…“ (Interview IV, 7/3) Frau Halls zufolge, hat sich Tim immer als „…das ungeliebte Kind…“ (Interview IV, 7/1) der Familie gefühlt, weil er derjenige gewesen ist, der aus der Familie hat gehen müssen und daher glaubt, dass
er die Schwierigkeiten in der Familie verursacht hat: „…Vielleicht hat er sich auch
viel (.) Schuld aufgeladen, denn er muss ja gehen“ (Interview IV, 7/1-2). Hier ist zu
vermuten, dass Frau Hall ihre eigenen Schuldgefühle auf Tim projiziert, die Frau
Berger bei ihr selbst auslöst und die sie mehrmals im Verlauf des Interviews thematisiert: „…Ich hatte so das Gefühl, ich bin hier wirklich die Böse…“ (Interview IV,
13/4-5). Frau Hall sieht es als „…Chance für ’n Tim…“ (Interview, IV 7/34), weil er
nun sieht, dass es nicht nur an ihm liegt. Sie glaubt, „…dass er [sich] da einfach …
so ’n bisschen lossprechen kann von Schuldgefühlen oder von Verantwortungsgefühlen (.) der Mutter gegenüber“ (Interview IV, 7/36-37). An dieser Stelle überträgt
Frau Hall ihre eben geschilderte Phantasie in die Realität. Tims positive Entwicklung
bezüglich der Ablösung von der Mutter geschieht allerdings ihrer Ansicht nach nicht
aus einer inneren Überzeugung heraus, sondern beruht eher auf der natürlichen
Entwicklung der Pubertät. Daraus folgert Frau Hall, dass er in seiner Haltung noch
nicht stabil ist: „…Ich denk’, das kippt, das fällt (..) oder kippt immer noch mit dem
Zustand der Mutter“ (Interview IV, 6/30-31).
Tims schulische Leistungen beschreibt sie so:
„…Ja mit der Schule, also es gab da auch immer Auf und Ab’s. (…) Ähm, mal
war er wirklich (.)/ also er is’ ja jetzt in der Regelschule, (…) das war ja auch
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
125
am Anfang nich’ klar, ob er in der Regelschule bleiben kann oder ob er auf die
E-Schule soll“ (Interview IV, 7/39-43).
Frau Hall erlebt Tim mit sehr viel Potential und Ressourcen, den man gut fördern
und unterstützen kann, „…wenn man raus hat (..) ähm, wie’s geht…“ (Interview IV,
8/2) mit ihm. Sie glaubt, dass er einen sehr starken Willen hat und dass er „…auch
ganz gut äh (.) stur sein…“ (Interview IV, 8/5) kann, wenn er etwas nicht will:
„…Dann kommt man schlecht an ihn ran“ (Interview IV, 8/7). Dies schlägt sich auch
in seinem Verhalten und in den schulischen Leistungen nieder. Auch hier ist zu vermuten, dass sie seine Sturheit in Gesprächen mit ihm selbst erlebt hat. Frau Hall ist
der Überzeugung, dass Tim ein Umfeld braucht, das ihm Sicherheit und Kontinuität
bietet. Ansonsten fällt er ihrer Ansicht nach ziemlich schnell wieder in alte Verhaltensmuster zurück: „Drum braucht er halt auch Leute, die wirklich (..) sehr ähm (.)
klar sind und sehr konsequent“ (Interview IV, 8/33). Wieder rechtfertigt sie hier Frau
Sonntags Handeln; das „Konsequente“ und „Klare“ überwiegt im Verhältnis zu den
„Machtspielen“ und dem „Subjektiven“.
Insgesamt betrachtet erlebt Frau Hall Tim als einen Jungen, „…der (..) sehr davon
profitiert, wenn er weiß: ‚Das sind Menschen (.), die meinen ’s ernst mit mir (.) ähm
(..) und die haben Regeln aufgestellt, die gelten heute, die gelten morgen, die sind
einfach (.) gültig, ne? Und (.) die sind verlässlich (..), die sind erreichbar … für mich’“
(Interview IV,8/21-26). Für sie ist es sehr wichtig, dass Tim Unterstützung darin bekommt, das Thema „Missbrauch“ aufzuarbeiten, „…das … die Mutter ihm, denk’ ich,
sehr stark so in den Kopf gesetzt [hat]“ (Interview IV, 8/10-11). Nach Aktenlage allerdings hat Tim genau aus diesem Grunde seit Anfang 2000 eine Therapie bekommen, die Ende 2003 erfolgreich beendet wird. Warum sie nach wie vor dieser
Meinung ist, kann hier nicht geklärt werden.
Eine enge Beziehung zwischen Tim und Herrn Teichert erlebt Frau Hall nicht: „…Ich
hatte nich’ das Gefühl, dass es so furchtbar wichtig für ihn war“ (Interview IV, 20/1516). Ein wichtiges Anliegen hingegen erscheint ihr für ihn „…so die Frage nach dem
leiblichen Vater“ (Interview IV, 20/8), da Tim sie deshalb im Jugendamt besucht. Sie
versucht daraufhin, ihr möglichstes bei der Mutter zu erreichen: „Und da hat sich die
Mutter ja lange Zeit bedeckt gehalten … und hat jetzt aber doch (.) nach zähem
Ringen die Adresse ’rausgerückt…“ (Interview IV, 20/8-9). Doch Frau Hall bleibt
nicht am Ball: „…Ich weiß jetzt nich’, was er da jetzt gemacht hat damit“ (Interview
IV, 20/14).
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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An ihrer Einstellung zu einer Rückführung Tims zur Mutter hat sich bis heute nichts
geändert: „Ich kann’s mir nich’ vorstellen“ (Interview IV, 14/30). Gleichzeitig beschreibt sie, dass Tim jedoch ihre Meinung nicht kennt:
„Also das (..) so deutlich weiß er’s nich’, weil das natürlich knallhart is’ für so ’n
Jungen. Und das is’ ja jetzt auch nur meine Einschätzung, ’ne? (...) Es kann
natürlich sein, dass die Frau Berger irgendwann doch (.) ähm bereit is’ (.), sich
therapieren zu lassen. Also im Moment seh’ ich keine Bereitschaft bei ihr (.),
dass sich wirklich so viel verändert bei ihr, dass sie stabil genug is’ (.), um den
Tim zu erziehen oder den Tim zu sich zu nehmen. Und im Moment seh’ ich
das ganz weit weg“ (Interview IV, 14/34-41).
Trotz Frau Halls Kenntnis über Tims Probleme, in der Unklarheit und Ungewissheit
zu leben, wann und ob er wieder nach Hause darf, gibt sie ihm keine genaue und
definitive Antwort. Aus Frau Halls eigenem Erleben hat die Mutter auf Anfragen
Tims „…die Schuld immer (.) dem Jugendamt gegeben: ‚Wenn das Jugendamt es
erlaubt.’ Und (lacht bis *) wann erlaubt es das Jugendamt? *“ (Interview IV, 15/5-7).
Die Verantwortung für das „Nicht-nach-Hause-dürfen“ Tims möchte Frau Hall nicht
übernehmen, obwohl laut Entwicklungsbericht des Kinderdorfs schon ein Jahr nach
Tims Aufnahme vom Kinderdorf darauf hingewiesen wird, dass „…für Tim die ungeklärte Situation irritierend ist. (…) Er kennt kein Ziel und keine Perspektive der Maßnahme“ (Entwicklungsbericht 06/2002). Im Interviewverlauf jedoch liegt der Schlüsselsatz an anderer Stelle: „…Is’ ja jetzt auch nur meine Einschätzung…“ (Interview
IV, 14/35). Frau Hall zeigt wieder deutlich, dass sie keine Stellung beziehen will, um
sich selbst nicht angreifbar zu machen. So fügt sie hinzu: „Das machen wir wirklich
nur in den Fällen, wo ganz klar is’ (.), das Zuhause is’ derart (.) zerstört oder zerstörend (.), da wird man nichts mehr richten können“ (Interview IV, 15/33-35). Frau Hall
hat ihre Hoffnung verloren, dass sich die Mutter jemals ändern will und wird. Aus eigenen Interessen, getarnt als Rücksichtsnahme bleibt sie Tim bis heute eine Antwort schuldig. Zudem wird sie ihren eigenen Ansprüchen auf Tims Bezugspersonen
nicht gerecht. Sie fordert für ihn „verlässliche Leute“, sie selbst in der Funktion eines
Hilfearrangeurs stellt jedoch auch keine zuverlässige Person für ihn dar.
Von den anderen Erziehern der Gruppe bekommt Frau Hall damals wie auch heute
„überhaupt nichts“ mit. In der Interviewsituation fragt sie: „Wer is ’n das Team jetzt?“
(Interview IV, 16/31). Frau Hall weiß nicht, wer die übrigen Erzieher sind, die für Tim
ebenso unmittelbare Bezugspersonen darstellen. Bei ihren Telefonaten mit der
Gruppe erlebt sie häufig „…’ne andere Erzieherin…“ (Interview IV, 17/4) am Apparat, die ihr aber meist hat keine Antwort geben können und auf Frau Sonntag ver-
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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wiesen hat. Daraus zieht Frau Hall den Schluss, dass der „…Schwerpunkt…“ (Interview IV, 17/5) an Entscheidungen bei Frau Sonntag liegt. Sie empfindet die Erzieherinnen als unselbständig: „…Ich hab’ eigentlich als Ansprechpartnerin, als kompetente Ansprechpartnerin, nur die Frau Sonntag“ (Interview IV, 17/17-18). Im Verlauf
des Interviews macht sie jedoch eine Einschränkung: „Aber was jetzt bei den Erziehern läuft, da (.) da kann ich überhaupt nichts sagen durch das Hilfeplangespräch“
(Interview IV, 16/39-41). An dieser Stelle wird ganz deutlich, dass sich ihre Annahmen und Eindrücke über Tim und seine Mutter nur auf der Basis der Entwicklungsberichte und der Hilfeplangespräche mit Frau Sonntag beziehen. Die Entwicklungsberichte vom Kinderdorf erlebt sie in der Darstellung von Tim und seiner Situation
meist deckungsgleich mit ihrer eigenen Wahrnehmung und ihrem eigenen Erleben:
„Ich denk’, zum größten Teil schon (..). (...) Es gibt sicherlich Nuancen, aber das
lässt sich ja nie vermeiden, ’ne?“ (Interview IV, 17/25-32). Sie ist sich dem Problem
der Übernahme von subjektiven Gedanken des Kinderdorfs jedoch durchaus bewusst: „Wobei ich sagen muss, das was im Entwicklungsbericht steht, das wird ja so
auch wieder im Hilfeplangespräch erzählt…“ (Interview IV, 17/25-27). Die Frage
nach ihren eigenen Nachforschungen zu Tims Gruppenleben und -beziehungen zu
Erziehern und Kindern bleibt offen. Sie kennt nur Frau Sonntag, Herrn Wertz und
Frau Schmitt, die in den Hilfeplangesprächen dabei sind: „Vom Herrn Wertz krieg’
ich kaum was mit (.), das meiste macht die Frau Sonntag und die Frau Schmitt interveniert dann ab und zu mal“ (Interview IV, 16/36-38). Sie bemängelt hier die Rolle
des Kinderdorfleiters, der sich nach ihrem Erleben immer sehr zurückzieht, während
Frau Schmitt „…wahnsinnig viel Macht [hat]…“ (Interview IV, 20/36). So hat sie das
Gefühl, „…auf der Ebene stimmt’s nich’“ (Interview IV, 16/38-39).
Dies beschreibt sie so:
„…Also ich hab’ manchmal das Gefühl, dass ich so (.) am meisten da machen
muss in den Gesprächen und da (.) wünsch’ ich mir so (..), weil ich ja doch den
wenigsten Einblick hab’, ’ne. Den meisten Einblick hat doch die Frau Sonntag,
die macht sehr viel, also die ackert wirklich. Aber ich find’, der (.) Herr Wertz
oder die Frau Schmitt (…) obwohl die Frau Schmitt sagt auch (lacht bis *) genug. (…) Und dann denk’ ich immer: ‚Eigentlich is’ es Job vom Herrn Wertz, da
jetzt ’nen bisschen mehr zu intervenieren’, und ich glaub’, das würde mir mehr
helfen“ (Interview IV, 21/5-15).
An dieser Stelle werden die negativen Erfahrungen ganz deutlich, die sie mit Herrn
Wertz und Frau Schmitt verbindet: Auf der einen Seite steht Herr Wertz, „…der eigentlich der Leiter is’…“ (Interview IV, 20/37) und den sie gern als Ansprechpartner
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
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in schwierigen Situationen mit der Mutter und Frau Sonntag hätte, und auf der anderen Seite steht Frau Schmitt, deren Aussagen ihr zu „…weltfremd…“ (Interview IV,
21/13) sind, die sie nicht „…gut integrieren“ (Interview IV, 21/13) kann. Frau Hall hat
immer das Gefühl, dass sie Herrn Wertz’ und Frau Schmitts Arbeit im Kinderdorf
leistet, vor allem im Hinblick auf die Elternarbeit mit Tims Mutter: „…Also Elternarbeit in dem Sinne, denk’ ich, wird wenig gemacht“ (Interview IV, 17/37). Es erschwert die Situation in ihrer Arbeit mit Tim in doppelter Hinsicht: Zum einen hat sie
nicht den Einblick in den Alltag der Gruppe und kann damit auch wenig Bezug zu
alltäglichen Situationen mit Frau Sonntag, Frau Berger und Tim herstellen, andererseits vermittelt niemand sonst in den äußerst problembehafteten Situationen zwischen Frau Sonntag und Frau Berger. Frau Hall vermisst hier Professionalität. Dieser Aspekt macht sie „…manchmal unsicher“ (Interview IV, 20/41) in den Gesprächen, wobei ihr auch heute nur Frau Sonntag zu Hilfe kommt, „…durch ihre Art, einfach so das Praktische, das Tatkräftige, ’ne?“ (Interview IV, 22/20). Auch an dieser
Stelle wird die Abhängigkeit Frau Halls auf die Person Frau Sonntag sichtbar, die
sie dazu veranlasst, ihre Zweifel über Frau Sonntags subjektive Ansichten und Motive beiseite zu drängen. Daher ist ihr zum Abschluss des Interviews besonders wichtig nochmals festzuhalten, dass es besonders Frau Sonntag zu verdanken ist,
„…dass er da nich’ wieder ’n Beziehungsabbruch hatte…“ (Interview IV 22/22) und
dass sie trotz aller Probleme und Hindernisse mit der Mutter an Tim
„…festgehalten…“ (Interview IV, 22/27) hat.
4.3.5. Zusammenfassung
Tims erste Zeit im Kinderdorf erleben alle Beteiligten gleichermaßen problematisch:
Tims anfängliche Anpassung an die Regeln der Gruppe resultiert aus einer schweren Lebenskrise, verursacht durch seine Neuorientierung im neuen Lebensumfeld.
Mit zunehmender Sicherheit fällt er aus Frau Sonntags Perspektive wieder in seine
alten Verhaltensmuster zurück. Während Tims eigenes Wohlbefinden unter der
fünfmonatigen Kontaktsperre zu seiner Familie leidet, nehmen Frau Sonntag und
Frau Hall Tims zunehmende Erziehungsschwierigkeit nur in Verbindung mit Frau
Berger wahr, aus deren Verhalten sich ihrer beider Meinung nach die Ablehnung
Tims bedingt.
Aus Frau Bergers Sicht wiederum wird ihr Tim entfremdet. Ein Konkurrenzkampf
zwischen Frau Berger und Frau Sonntag beginnt, in den sich auch Frau Hall verwickelt sieht. Immer empfindlichere Konsequenzen und Beschränkungen in den Be-
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
129
suchskontakten zwischen Mutter und Sohn zieht der Kampf nach sich, bis hin zum
Verwerfen des Plans der Rückführung in die Familie. Wolf (1999a, 119) kennzeichnet das Vorgehen Frau Sonntags so: „All das, was bisher war und als schlecht galt,
sollte in einem harten und klaren Schnitt abgetrennt werden, ein neues, besseres,
ordentliches Leben soll beginnen, und nichts aus der mißlungenen Vergangenheit
soll in dieses neue Leben hinausragen“.
Frau Hall bleibt ausschließlich den Eindrücken Frau Sonntags durch die Entwicklungsberichte und Hilfeplangespräche verhaftet. Sie kann so keine Lösungsstrategien für den Kinderdorfalltag entwickeln. Sie richtet ihren Fokus weiterhin auf die
Mutter.
Aus Tims Sicht ein großer Vertrauensbruch. Seine anfänglichen Bemühungen sind
umsonst, denn die Rückführung wird nicht mehr thematisiert, auch wenn sie weiterhin als Motivation für Tim und seine Mutter von Frau Hall im Hilfeplan festgeschrieben bleibt. Der Wunsch des Kinderdorfs an Frau Hall, hier eine eindeutige Zielklärung vorzunehmen, bleibt aus eigenen Interessen unberücksichtigt.
Außer Tim selbst nimmt keine andere Perspektive die Vertrauensbrüche, die wenige
Kontinuität und Stabilität in den Beziehungen sowie fehlende Aufmerksamkeit, Zuneigung und Liebe wahr. Tim thematisiert sogar Eingriffe in seine Persönlichkeitsrechte und mangelnde Individualität in der Gruppe als ursächlich für sein fehlendes
Wohlbefinden. Frau Sonntag hingegen nimmt nur die Ohnmachtsgefühle der anderen Erzieher wahr, die mit Abschiebeüberlegungen und -drohungen reagieren.
Frau Sonntag würde Tim gerne im Kinderdorf behalten und setzt sich auch gegenüber ihren Kollegen dafür ein. Dass sie an Tim festhält, hat für ihn selbst zur Folge,
dass sämtliche Beziehungen sehr belastet werden.
Die Probleme zwischen Tim und den Mitarbeitern und Kindern der Gruppe sieht
Frau Berger schon, jedoch schweigt sie. Sie ist froh über das veränderte Verhältnis
zu ihrem Sohn. Ihre Beziehung ist nun frei von Konflikten. Während Tim resigniert,
glaubt seine Mutter, ein allmähliches Wohlbefinden ihres Sohnes im Kinderdorf zu
erkennen. Ebenso schließen Frau Hall und Frau Sonntag auf eine positive Veränderung und auf Tims allmähliches Hineinwachsen in die Regeln und in die Struktur der
Kinderdorfgruppe.
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
4.4.
130
Tims Zukunftspläne und –wünsche
4.4.1. Die Perspektive des Kindes
Tims Zukunftswünsche für das Kinderdorfleben sind sehr vielfältig und beziehen
sich vor allem auf die Befriedigung von Grundbedürfnissen eines jeden Menschen:
„Ähm (.) als erstes fang’ wir mal früh’s an, die Glocke (..). Ähm die Erzieher
können sich die Mühe machen, in jedes Zimmer zu geh’n und ‚Essen’ (.) rufen.
Dann ähm (.) alle Kleinen ins andere Haus. Ähm (..) und dann (.) ähm wie viel
Wünsche? (.) [I.: Alle.] So viele? [I.: Ja (.), so dass es Dir gut geht (.).] O.k.
ähm (..), mehr Raum für mich (.) und ähm (.) und vielleicht, dass ich ungefähr
weiß, wie lang ich hier bleib’ oder so. Und von den Erziehern noch ähm (.)
nich’ jemand der motzt (..4..) und halt jemand der freundlich is’“ (Interview I b,
8/16-25).
Überrascht zeigt sich Tim an dieser Stelle, dass er so viele Wünsche haben darf.
Dies deutet an, dass er es nicht gewohnt ist, nach seinen Wünschen gefragt zu
werden. Explizite Wünsche an die Erzieher formuliert er so:
„Ähm puh (.), dass sie nich’ so streng sind, mehr erlauben und (..) halt, dass
sie auch an was denken, die sagen immer, wir soll’n an alles denken (.). Und
ähm Versprechen halten, obwohl die’s manchmal auch nich’ ähm halten (.)
und ähm (.) nicht schlecht über die ähm (.) Eltern denken, (..) reden“ (Interview
I b, 8/27-30).
Tim wünscht sich mehr persönliche Ansprache von den Erziehern und dringend
konkrete und notwendige Zukunftsperspektiven für sich und sein Leben, damit seine
Ungewissheit ein Ende hat. Gleichzeitig braucht er sehr viele Veränderungen in seinem Umfeld, um sich wohlzufühlen: In der Gruppe wünscht er sich mehr persönlichen Entfaltungsspielraum und weniger Erzieher. Der Umgangston im Haus sollte
sich ändern und „freundlich“ sein, damit er sich wohl und geborgen fühlen kann.
Gleichzeitig wünscht er sich mehr Anerkennung und lobende Worte. Tim wünscht
sich einen Ort, der kleiner, überschaubarer und intimer ist und in dem er verständnis- und respektvoll behandelt wird. Wichtig ist ihm, dass die Erzieher ihr Wort halten, dass sie das, was sie von Tim erwarten, selbst vorleben, sich um ihn kümmern
und ihm Orientierung anbieten.
Zudem wünscht sich Tim von Frau Hall und Frau Sonntag ein größeres Vertrauen in
die Fähigkeiten seiner Mutter, „…dass es der Mama überlassen wird“ (Interview I b,
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
131
9/37-38). Gerade für die Gestaltung der Besuchskontakte wünscht sich Tim in der
gemeinsamen Zeit mit seiner Mutter mehr Freiraum und Selbständigkeit, dass ihm
und der Mutter mehr zugetraut und dies auch anerkannt wird. Er möchte, dass sie
beide als ernstzunehmende Gesprächspartner behandelt werden.
Ebenso perspektivlos wie seine Unterbringung im Kinderdorf sieht Tim seine Zukunft für sich selbst: „[I.: Wenn Du jetzt mal so in Deine Zukunft blickst, was siehst’n
da?] (..) Mh nix“ (Interview I a, 10/18-19). Wo er gern leben würde, wenn er alt genug wäre, weiß er auch nicht genau: „[I.: Wenn Du jetzt 16 wärst (…) und die Wahl
hättest auszuziehen (.) oder auch nich’ auszuziehen, was würdeste denn da machen?] Mh (..9..) na ja (.), wahrscheinlich auszieh’n“ (Interview I a, 10/15-17). Tim
überlegt hier lange, um ein Antwort für sich zu finden. Es bieten sich keine Alternativen und keine Heimat mehr an. Im wahrsten Sinne des Wortes sieht Tim hier „alt“
(Interview I a, 10/21) aus. Im Endeffekt weiß er, dass er nicht ewig im Kinderdorf
bleiben kann, aber wo er dann hin soll, weiß er auch nicht. Nach Hause zu seiner
Familie zurückzukehren ist für ihn ausgeschlossen: Seitdem Sabine und Lars auch
nicht mehr bei der Mutter leben, existiert sein Zuhause mit den Eltern und vor allem
den Geschwistern nicht mehr.
Für seine berufliche Zukunft kann er sich etwas mit „Technik“ oder mit „Tieren“ vorstellen. Aber auch hier hat er keine festen Ziele oder Pläne und ist sich unsicher,
was ihm gefallen könnte. Resigniert stellt er fest: „Ich weiß nich’, vielleicht hängt der
[gemeint ist er selbst; d. Verf.] am Bettelstab oder (.) ähm (..) keine Ahnung“ (Interview I a, 10/23-24). Zukunftsideen, die er bisher gehabt hat, hat er nach seinem Erleben bis jetzt nicht verwirklichen können. Illusionen macht er sich keine mehr: „Ja,
aber wahrscheinlich geht’s doch eh nich’ in Erfüllung“ (Interview I a, 10/ 26-27). Tim
hat in seinem Leben und mit seinem Leben resigniert. Doch er hat trotzdem Wünsche und Träume: „Mh (…) ’n Haus, ’n Haustier, ’n großes Auto (..) und (undeutlich
gesprochen bis *) halt net grad ein Euro fünfzig * pro Monat“ (Interview I a, 10/2930). Tim hat gelernt, sich nicht auf das Wort anderer Menschen zu verlassen. So
steht er sich selbst am nächsten, verlässt sich nur noch auf sich selbst und geht als
Einzelkämpfer durch die Welt. Ein Haustier als lebendiges Wesen, um das er sich
kümmern kann, reicht in seinem Haus vollkommen aus, um ihm Zuneigung zu geben und ihm die Einsamkeit zu nehmen. So ist er nicht vollkommen allein, wird aber
auch nicht enttäuscht. Trotz all den leidvollen Erfahrungen in seiner Kindheit, die
ihm nie wirklich die Möglichkeit geboten hat, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen,
schlummert dennoch eine kleine Hoffnung in ihm: „…Vielleicht kommt ja mal irgend
jemand“ (Interview I a, 10/36).
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
132
Abschließend zieht er sein Fazit im Rückblick auf sein bisheriges Leben. Dabei ist
ihm nur ein Aspekt wichtig, was gut für ihn gewesen wäre: „Mh (..) halt dass nich’ so
viel passiert wär’“ (Interview I b, 9/42).
4.4.2. Die Perspektive der Mutter
Der größte Wunsch der Mutter für Tim und auch für sich selber ist, dass Tim und
Sabine irgendwann wieder bei ihr leben können: „Dass er wieder bei mir is’ (..). Und
die Sabine dann (.) auch wieder bald da is’“ (Interview II, 16/1-2). Der jüngere Sohn
Lars, der seit einem halben Jahr bei seinem leiblichen Vater Herrn Teichert lebt,
wird in diesen Wunsch nicht miteinbezogen. Sie möchte keinerlei Kontakt mehr zu
ihrem ehemaligen Lebensgefährten haben, somit hat sie auch mit ihrem kleinen
Sohn abgeschlossen.
Als Veränderungen für Tim im Kinderdorf wünscht sie sich mehr Kontakt zwischen
ihren beiden Kindern: „Dass er vielleicht (..) ähm (…) die Sabine auch mal b’suchen
darf (.) oder ihr schreiben darf (.). Oder sie zum Beispiel anruf’n darf, wenn sie Geburtstag hat“ (Interview II, 16/6-8). Auch hier wird deutlich, dass die Bindung und der
Zusammenhalt der Familie aus ihrer Sicht nur noch zwischen ihr, Tim und Sabine
bestehen.
Ihre eigene Rolle, selbst für Veränderungen beizutragen und bessere Vorraussetzungen in ihren Lebensumständen für eine Rückkehr Tims zu schaffen, ist ihr
durchaus bewusst: „Na ja, wenn ich mal (…) oder wenn die mich anruf’n würden (.)
und dann sagen würden, ich könnt’ den Tim jetzt heimhol’n (..), dass ich in der Zeit
alles in Ordnung g’macht hab’“ (Interview II, 16/13-15). Ihre Einschätzung über die
eigene Person ist sehr ehrlich: „[ I.: Könnten Sie denn auch was dafür tun, dass der
Tim nach Hause kann?] Mh (..). Könnt’ und wollt’ ich, aber (.) tu’ ich net“ (Interview
II, 16/9-11). Hier wird deutlich, dass sie nicht nur die Schuld auf andere schiebt, sondern auch klar bei sich sucht und erkennt. Ihr mangelt es nicht an Können und auch
nicht an Willen, etwas zu verändern. Sie hat nur keine Ideen, wie sie es machen
soll. Sie braucht für sich, genauso wie Tim, ein „Zeichen“ vom Kinderdorf und Frau
Hall: eine zukünftige Perspektive, Orientierung und Unterstützung auf dem Weg, die
Kraft aufzubringen und sich an die Arbeit zu machen, mit einem deutlichen Ziel vor
Augen, für das sich ihr Bemühen lohnt.
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
133
4.4.3. Die Perspektive der Erzieherin
Eigene Wünsche für Tim beschreibt Frau Sonntag so:
„…Also ich würd’ mir schon wünschen, dass er den Schulabschluss zu Ende
bringt (..). Vielleicht, dass er das auch mit dem qualifizierten Hauptschulabschluss zu Ende bringt. (...) Also ich hätt’ schon die Hoffnung (.), dass das mit
dem Schulabschluss klappt und dass er ’n Beruf findet, der ihm dann auch
Spaß macht. Also weil in so ’ner (.) Kolpingbildungsstätte oder so könnt’ ich
ihn mir nich’ vorstell’n. (.) Aber (.) das (.) heißt auch und das hat er in den letzten Wochen auch gemerkt, dass er da auch was für sich tun muss“ (Interview
III, 20/17-32).
Frau Sonntags größter Wunsch für Tim ist, wie bereits bei den Zielen des Hilfeplans,
auf den schulischen Bereich fokussiert. Sie verfolgt genaue Ziele und Pläne für ihn
und seine berufliche Zukunft und glaubt, dass er das „hinkriegen kann“, wenn er
sich anstrengt. So schildert sie, dass er „so kleine Alltagsaufgaben…“ (Interview III,
20/22-23) noch nicht alleine bewältigen kann, die jedoch mit ihm eingeübt werden:
„…Wir fangen dann jetzt auch scho’ an, dass er (.) dass er einfach für (.) für
gewisse Dinge auch einsteh’n muss. Zum Beispiel: ‚Wenn Du ’ne Briefmarke
willst, dann fahr’ in die Stadt’ und ‚Wenn Du die Post nich’ findest, musst Du
sie halt suchen’“ (Interview III, 20/19-22).
Auch an dieser Stelle des Interviews wird deutlich, dass Frau Sonntag auch die Unterstützung und Förderung von Tim eher als eine Art von Anleitung versteht als von
Begleitung. Ihrer Meinung nach muss Tim für seine berufliche Zukunft dringend
selbständiger werden, „…weil nächstes Jahr soll er ja dann das erste Mal zum Beispiel Praktikum machen…“ (Interview III, 20/23-24). Eigene Initiative von Tim für seine Zukunft erlebt sie hierbei nicht:
„…Er kann zwar noch nich’ hundertprozent sagen, was er machen will (.), aber
wenn man ihm ’n Vorschlag macht, kann er hundertprozent sagen, was er
nich’ will. Und das is’ scho’ mal schön (.), weil dadurch grenzt sich das ein“ (Interview III, 20/24-27).
In Bezug auf seine Mutter wünscht sie sich für Tim „…dass er’s schafft, sich noch
weiter von der Mutter abzunabeln“ (Interview III, 20/36-37). Für Frau Sonntag hat
sich Tim noch nicht weit genug von der Mutter entfernt, als dass er sich positiv entwickeln könnte. Zudem sollte er noch mehr an sich denken und nicht immer nur an
die Mutter: „Aber er macht sich zumindest auf ’n Weg, dass er merkt: ‚Und mich (.)
als Tim gibt’s auch noch’“ (Interview III, 20/39-40).
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
134
Außerdem wünscht sie sich, „dass er irgendwann dann mal (..) auch zu Besuch hingeh’n kann, ohne Schuldgefühle zu haben“ (Interview III, 20/37-38), und sich nicht
mehr dafür verantwortlich fühlt, wenn es seiner Mutter schlecht geht. Hier sieht sie
noch viel Arbeit für ihn: „Aber des (.) kann schon noch ’n langer Weg sein, denk’ ich“
(Interview III, 20/38-39). Auch wenn sie feststellt, dass die Mutter „nach wie vor sehr
wichtig“ in seinem Leben sein wird, hofft sie, „…dass wenn er mal das Kinderdorf irgendwann verlässt, sich nich’ mehr (..) auf die Schiene einlässt: ‚Und ich mach’ alles, was meine Mama will’“ (Interview III, 21/14-15). Frau Sonntag möchte, dass
Tim, solange es möglich ist, im Kinderdorf wohnen bleibt und nicht vor seinem 16.
Lebensjahr nach Hause zurückkehrt. Doch auch dann glaubt sie, dass Tim ein
„…Mamasöhnchen“ (Interview III, 21/20) bleiben würde. Ihr großes Ziel ist es daher,
die vollständige Ablösung Tims von seiner Mutter zu erreichen: „Weil aus dieser
Schiene sind wir ja noch nich’ hundertprozent heraußen. (…) Aber im Moment hat er
ganz gute Anzeichen dazu, dass er das auch hinkriegt“ (Interview III, 21/17-27).
Frau Sonntag glaubt, dass Tim sich wünscht, dass seine Mutter mehr für sich unternehmen sollte, damit es ihm besser geht, „…weil er einfach merkt, die Mama is’
auch oft so der Dreh- und Angelpunkt für uns im Kinderdorf, was so Entscheidungen
betrifft“ (Interview III, 21/31-33), und er gleichzeitig auch sieht, dass von Frau Berger
selbst „…ganz wenig kommt“ (Interview III, 21/38). Auf der anderen Seite sieht sie
Tims Wunsch darin: „…Ich denk’, er hat scho’ den Wunsch nach Hause geh’n…“
(Interview III, 21/34--35), doch auch hier merkt Tim ihrer Ansicht nach, „…dass da
ganz viel (.) äh von der Mama kommen muss“ (Interview III, 21/35-36).
Den für Tim sehnlichsten Wunsch kennt Frau Sonntag genau: „Vielleicht nich’, dass
die Familie komplett in Ordnung kommt. (…) Aber das er manchmal (.) so den
Traum hat, bei der Mama zu leben, das glaub’ ich schon“ (Interview III, 21/39-43).
4.4.4. Die Perspektive des Jugendamts
Für Tims zukünftige Perspektive wünscht sich Frau Hall, dass Tim sich „…wirklich
ähm (…) so weit von seiner Mutter distanzieren kann und aus dieser Solidarität
rausgeht, das er für sich einfach lernt (..) ähm sich um sich zu kümmern“ (Interview
IV, 21/21-23). Im Interviewverlauf betont Frau Hall an dieser Stelle, dass er sich ihrer Meinung nach nicht emotional von seiner Mutter lösen soll, sondern dass er sich
von den Aufgaben wie Schuld, Missbrauch und was er sonst von seiner Mutter
„…übergestülpt…“ (Interview IV, 21/26) bekommt, unabhängig machen und befreien
kann: Dass er nicht mehr „…das Gefühl [hat], er muss jetzt ganz viel tun, dass es
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
135
seiner Mama wieder besser geht“ (Interview IV, 21/42-43). Nach ihrem Erleben hat
Tim genug „…wirklich (.) gute Ressourcen“ (Interview IV, 21/29), um sich ohne seine Mutter positiv zu entwickeln. Auch hier wird wieder ihr eigener Widerspruch deutlich: Zum einen soll er sich nicht emotional lösen, zum andern thematisiert sie im
Vorfeld, dass sie nie eine intensive Beziehung hat spüren können.
Zudem wünscht Frau Hall ihm „…’n guten Schulabschluss…“ (Interview IV, 21/31),
damit er die Möglichkeit hat „…’ne gute Ausbildung…“ (Interview IV, 21/32) zu machen. Diese Wünsche verbindet sie mit dem Kinderdorf. Ihrer Ansicht nach kann es
ihm nur dort gelingen, diese Ziele zu verwirklichen: „Und (..) ich wünsch’ mir wirklich,
dass es ihm gelingt, das er sich aufs Kinderdorf einlassen kann“ (Interview IV,
21/32-33). Dafür ist es ihrem Erleben nach wichtig und notwendig, dass er aufhört
zu fragen, wann er nach Hause kann: „Und dass er (.) ähm (.) weg kommt von dem
Gedanken: ‚Ich muss zu meiner Mutter’ oder ‚Mein Glück liegt nur bei meiner Mutter’“ (Interview IV, 21/34-35). Frau Hall glaubt, dass dies „…kein guter Ansatz für
ihn“ (Interview IV, 21/36) wäre:
„Ich mein, wenn der Tim mal 16 is’ (.) und sagt: ‚Ich will nach Hause zur Mutter’ äh (.), wir werden ihm das nich’ verbieten, ’ne? Dann (.) soll er gehen. (…)
Hm, weil (..) es dann sowieso kein Sinn mehr macht, ’ne? Wenn er dann immer noch so drauf is’, er will unbedingt zur Mutter, dann wird er sich auch aufs
Kinderdorf nimmer einlassen können (.). Aber mein Plan wär’ schon, dass er
bis zur Verselbstständigung dort bleibt“ (Interview IV, 15/25-32).
An dieser Stelle des Interviews wird sichtbar, dass Tim ihrer Meinung nach dringend
Verantwortung für sich selbst übernehmen und selbständig werden muss. Zudem
legt sie klar fest, dass es für Tim nur die eine Zukunftsperspektive gibt und die heißt
Kinderdorf. Sie ist definitiv entschlossen, daran festzuhalten. Gleichzeitig lässt sich
aufgrund der Vorgeschichte vermuten, dass es Frau Hall mit der Zeit überdrüssig
geworden ist, Tim und seine Mutter ständig überzeugen zu müssen, was gut für seine Entwicklung ist und was nicht. Sollte er sich in knappen zwei Jahren immer noch
nicht auf das ihrige Hilfearrangement, d.h. das Kinderdorf eingelassen haben, gibt
sie ihn auf. Aufgrund dieser Aussagen und Ansichten erscheint ihr letztgenannter
Wunsch für Tim wenig aussichtsreich. Dieser lautet so: „Dass er glücklich wird und
’ne nette Frau findet und schöne Kinder kriegt“ (Interview IV, 22/6-7).
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
136
4.4.5. Zusammenfassung
Tims Wünsche wirken wie ein Hilfeschrei, um endlich von seinen Mitmenschen
wahrgenommen zu werden. Er sucht nach Stabilität, nach Sicherheit in den Beziehungen, nach zukünftigen Perspektiven und wünscht sich mehr Verständnis, Respekt und mehr Selbständigkeit. Den vordringlichen Wunsch Tims nach Kontakt zu
seiner Familie nimmt nur seine Mutter wahr. Gerade hier wünscht sich Tim die von
Frau Sonntag und Frau Hall so ausdrücklich eingeforderte Selbständigkeit.
Tim und seine Mutter benötigen explizite Zukunftsperspektiven hinsichtlich der Hilfemaßnahme. Sie sind jedoch nach Frau Sonntags und Frau Halls Ansicht im Helfersystem nicht gleichberechtigt. Eigene Zielvorstellungen sind sie nicht bereit, offen
für Tim darzulegen. Tim und Frau Berger wünschen sich Klarheit, für Frau Sonntag
und Frau Hall besteht diese, ohne dass es ihnen bewusst ist: So erkennt Frau Sonntag als Ziel der Hilfe die bestmögliche schulische Unterstützung, Frau Halls Ziel der
Hilfe besteht in dem Schutz vor der Mutter. Beide wünschen eine weitere Ablösung
von der Mutter. Immer wieder zwingen sie Tim durch neue Teilziele dazu, Stellung
für seine Mutter zu beziehen. Gerade die ständige Loyalität und die Erwartungen,
die sie mit dieser Forderung bei Tim auslösen, haben ihn selbst überfordert. Von
seinen Mitmenschen enttäuscht und getäuscht, braucht er nun keinen Menschen
mehr.
Während Frau Hall und Frau Sonntag große Ziele für seine schulische und berufliche Zukunft planen, kennt Tim kein Ziel mehr, er hat resigniert. Eigene Interessen
lassen hier einen Perspektivenwechsel auf Tim nicht zu.
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
4.5.
137
Resümee
Alle vier Perspektiven stellen Tims Leben dar und doch weisen sie viele Unterschiedlichkeiten auf: Tim, der selbst auf so viele schmerzhafte Erfahrungen zurückblickt, dass er sich wünscht „…halt dass nich’ so viel passiert wär“ (Interview I b,
9/42); Frau Berger, die ihren Sohn rückblickend immer „anders“ als andere Kinder
wahrnimmt; Frau Sonntag, die ihr pädagogisches Handeln in Bezug auf den Normalitätsanspruch des Kinderdorfs wahrnimmt und Frau Hall, die den „Fall Tim“ im Hinblick auf den Erfolg ihrer Entscheidung für die Unterbringung im Kinderdorf betrachtet. Wie schon eingangs formuliert, soll hier nicht die Richtigkeit der Wahrnehmungen überprüft werden. Jede einzelne Sichtweise stellt die jeweils eigene erlebte
Wirklichkeit auf Tims Leben im Heim dar, entsprechend der je individuellen Erfahrung.
Dennoch möchte ich, ebenso wie K. Wolf (1999a) in seiner Untersuchung über unterschiedliche Wahrnehmungen von Normalitätsentwürfen eines Kindes und der Institutionen Jugendamt und Heimerziehung, nicht an dieser Stelle stehen bleiben
(vgl. Wolf 1999a, 124). Da Tim sein Leben erheblich anders wahrnimmt als sein
Umfeld, erscheint es mir notwendig, zwischen den zwei grundlegenden Sichtweisen
zu unterscheiden:
Aus der einen Perspektive entsteht der Zwang im Zuge der Professionalität, eigenes
pädagogisches Handeln zu hinterfragen, da sich die Erzieher und das Jugendamt
jeweils vor sich, der Gesellschaft und auch den Kindern rechtfertigen müssen. Sie
tragen Verantwortung für die von ihnen geleistete Hilfe (vgl. Wolf 1999a, ebd.). Aus
der anderen Perspektive sind da Kinder, die diesen Entscheidungen ausgeliefert
sind. So verlangt die Lebensweltorientierung eigentlich
„... ein Handeln, das im erziehenden Umgang, in der Beratung, in der Begleitung und in der Kooperation orientiert ist an der Eigensinnigkeit der Problemsicht der AdressatInnen im Lebensfeld, am ganzheitlichen Zusammenhang
von Problemverständnis und Lösungsressourcen, an den in der Lebenswelt
verfügbaren Ressourcen und Kompetenzen“ (Thiersch 1993, 22).
Die in Tims Lebenswelt verfügbaren Kompetenzen und Ressourcen werden jedoch
von Beginn an in der Sichtweise von Frau Hall und Frau Sonntag nicht berücksichtigt. Sie orientieren sich ausschließlich an den Defiziten. Für sie rückt die Mutter als
„Symptomträgerin“ des Familiensystems zunehmend in den Mittelpunkt der Hilfe.
Stattdessen sollte vielmehr „die Familie … als eine Einheit betrachtet [werden], in
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
138
der die einzelnen Mitglieder durch Interaktion und Kommunikation miteinander ‚vernetzt’ sind. (…) Bestimmte personenspezifische Probleme … werden somit nicht
mehr ausschließlich als ein individuelles Problem begriffen, sondern in ihrem systematischen Kontext betrachtet …“ (Schneewind 1998, 132).
Obwohl Frau Sonntag wie auch Frau Hall zwar ein positives Element der MutterKind-Beziehung, die Zuneigungsbekundung über materielle Überversorgung, benennen und als beziehungsfördernd erkennen, wählen sie den destruktiven Weg
und zollen diesem Aspekt keine Bedeutung zu. Die materielle Versorgung müsste
jedoch hier Ansatzpunkt ihrer Intervention sein. Unter diesen Umständen ist eine
konstruktive Unterstützung für eine tragfähige Beziehung zwischen Tim und seiner
Mutter nicht möglich.
Zusätzlich werden alle Beziehungen Tims durch Frau Sonntags feindselige Haltung
besonders der Mutter gegenüber sowie durch Sanktionen und Einschränkungen erheblich belastet. Ein Aspekt, den Frau Hall als Außenstehende zwar registriert, aber
dennoch nicht beanstandet. Eine partnerschaftliche Kooperation mit den Eltern als
Qualitätsmerkmal für Erziehungshilfe, auf deren Basis die Eltern trotz aller Schwierigkeiten als respektvolle Persönlichkeiten mit einer weiterhin wichtigen und bedeutungsvollen Bindung für die Kinder anerkannt und angenommen werden, wird vom
Kinderdorf wie auch vom Jugendamt insgesamt vernachlässigt. Die Institutionen Jugendamt und Kinderdorf versagen hier in ihrem Auftrag.
„Die Unterbringung in einem Heim sollte ein gezieltes Angebot sein, das dem Heranwachsenden über den mit dem Wechsel seiner Umwelt verbundenen Statuswandel eine Umorientierung ermöglicht, eine Wende zum Besseren“ (Freigang
1986, 196). Tim schildert aus seiner Sicht die typischen, auch aus anderen Veröffentlichungen bekannten Mängel institutioneller Strukturen von Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen, die ihn durch das Fehlen der wichtigen Eigenschaften der Primärgruppe wie Stabilität, Kontinuität, Geborgenheit, Liebe und Anerkennung daran
hindern, sich zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit entwickeln zu können (siehe 1.3. Das Heim als Sozialisationsinstanz):
Leben mit Rollenträgern anstelle dauerhafter Bezugspersonen
Zwangsgemeinschaft auf Zeit
Gefühl des „Nicht-gefragt-worden-seins“
Wechsel der Mitarbeiter im Schichtdienst
Hohe Fluktuation von Mitarbeitern und Kindern
Tim – ein Leben zwischen Familie, Heim und Jugendamt
139
Das Abschieben von „schwierigen“ Kindern (vgl. Freigang & Wolf 2001, 60ff).
Die Liste könnte man meines Erachtens noch länger fortsetzen. Die strukturellen
Mängel der Gruppe des Kinderdorfs gleichen sich für Tim nicht durch tragfähige Beziehungen aus. Die Erzieher lassen nicht nur mangelnde Erziehungskompetenz erkennen, sondern auch einen menschlichen Umgang mit Tim vermissen. Zugleich
sollte die Basis der Erziehungskonzepte einen einheitlichen und wertschätzenden
Erziehungsstil beinhalten. Tim sieht sich mit sehr unterschiedlichen Erziehungsstilen
konfrontiert, die ihm keine Orientierung bieten und ihn somit in seiner positiven Entwicklung beeinträchtigen.
Frau Sonntag versucht die Gruppe durch ihren stark autoritären Erziehungsstil zu
führen, der teilweise zurückweisend wirkt, mit starker Machtausübung und Kontrolle
einhergeht und ausschließlich auf die Beseitigung von Tims Defiziten ausgerichtet
ist. Die anderen Gruppenerzieher, die ebenfalls unter diesem Führungsstil arbeiten,
wirken meist unsicher. Sie scheuen daher die Konfrontation mit Tim und gehen ihm
meist aus dem Weg. Das Kinderdorf als Lernfeld zerstört eher vorhandene Ressourcen und Strategien zur Problembewältigung, als dass es sie stärkt und schützt.
In allen komplexen Bereichen, die in der Heimerziehung zu finden sind, wie z.B. Alltag, Beziehungen, Elternarbeit, Strukturen, Erziehungsstile und –ziele häufen sich in
diesem Fall Orientierungslosigkeit und Unsicherheiten. Günstige Entwicklungsbedingungen, sowie die Möglichkeit einer „Wende zum Besseren“ für Tim im Kinderdorf sind nicht zu erkennen. Auch hier versagen beide Institutionen und sind über
ihre eigenen Interessen hinaus blind für Tims Leiden. Auch K. Wolf (1999a) hat in
seiner Untersuchung eine beinah vollständige Blindheit der Institutionen gegenüber
dem Leiden des Kindes, ein unterkomplexes Erziehungskonzept und eine feindselige Haltung gegenüber den Eltern festgestellt (vgl. Wolf 1999a, 125f). So kann ich in
diesem Fall seine Annahme bestätigen, dass ein solcher Lebensverlauf eines Kindes im Heim nicht nur in Ostdeutschland zu finden ist.
Im letzten Kapitel möchte ich kurz meine eigenen Erfahrungen während des Forschungsprozesses schildern. Hierbei werde ich auf die Vor- und Nachteile meiner
eigenen Doppelrolle, einerseits als Forscherin und andererseits als Erzieherin der
Gruppe, eingehen.
Exkurs: eigene Rolle
140
5. Exkurs: eigene Rolle
Meine eigene Objektivität in der Durchführung und Auswertung der Interviews hat
sicherlich unter meinen eigenen Erfahrungen im Kinderdorf gelitten. Diesen Erlebnissen und Beziehungen der letzten sechs Jahre in einer wissenschaftlichen Arbeit
gerecht zu werden, ist nicht einfach. Im Verlaufe der Interviewdurchführung und
–auswertung ergaben sich für mich teilweise erhebliche Schwierigkeiten durch meine Doppelrolle, gleichzeitig Erzieherin im Kinderdorf und Forscherin zu sein. Bei einigen Aussagen meiner Interviewpartner ist es mir nicht immer gelungen, objektiv in
meinen Fragen und Reaktionen zu bleiben:
So empfand ich die Darstellung von Tim selbst als besondere emotionale Belastung.
Darauf, dass er meine schon in der Vergangenheit wahrgenommenen Defizite in der
pädagogischen Arbeit des Kinderdorfs in so großem Maße bestätigen würde, war
ich nicht vorbereitet, vor allem im Hinblick auf die Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte. So war und bin ich von seinen Aussagen tief betroffen. Innerhalb dieser Gesprächsverläufe wechselte ich deshalb mehrmals die Rolle der Forscherin und die
Rolle der Erzieherin, da ich selbst seine Aussagen nicht kommentarlos übergehen
konnte und ihn durch meine für ihn ungewohnte Rolle nicht noch zusätzlich belasten
wollte.
In der Interviewsituation mit Frau Berger war nicht nur ihr anfängliches Misstrauen
gegenüber meiner Rolle, sondern auch ihre Verzweiflung im Laufe des Interviews
eine sehr große Herausforderung für mich.
Im Gesprächsverlauf mit Frau Sonntag war ich von ihren Aussagen bezüglich ihres
Umgangs mit Tim und der Selbstverständlichkeit ihrer Darstellungsweise teilweise
irritiert, teilweise schockiert. Diese Stellen des Interviews sind deutlich zu erkennen.
Zudem bin ich im Interview mit Frau Hall teilweise meinen Interessen bezüglich der
Organisationsstrukturen des Kinderdorfs nachgegangen, ohne es selbst in der Situation zu bemerken.
In der Auswertungsphase der Interviews ergaben sich für mich erhebliche Probleme. Durch meine gleichzeitige Tätigkeit im Kinderdorf während der Erstellung dieser
Arbeit fehlte mir öfters die Distanz zum Kinderdorfalltag, um meine Auswertungen
objektiv vorzunehmen. Andererseits litt aber auch meine pädagogische Arbeit mit
den Kindern und Jugendlichen und die ihnen gebührende Aufmerksamkeit unter der
wissenschaftlichen Arbeit, da ich häufig gedanklich intensiv beschäftigt war. Zudem
entstand für mich persönlich das Problem, dass ich mich in dieser Zeit fast ausschließlich mit der Kinderdorfarbeit befasste. Dies stellte sich für mich in Bezug auf
Exkurs: eigene Rolle
141
die Kinder und ihre Sorgen und Nöte als emotional sehr belastend und in manch einer Situation als eigene Grenzerfahrung heraus.
Doch die Nähe zu Tim und seinem Leben im Kinderdorf hat auch viele positive Seiten. So habe ich im Nachhinein gemeinsam mit Tim noch viele Gespräche führen
können, in denen wir sein Leben nochmals thematisierten. Hierbei entstand auch
das Titelbild dieser Arbeit. Das Bild spiegelt nochmals sehr deutlich Tims Gefühle
der Bedrohung vor der Heimaufnahme wider und seine innere Zerstörung danach.
Gleichzeitig hat sich mir die Möglichkeit geboten, zumindest einige seiner aufgezeigten Wünsche und Bedürfnisse aufzugreifen und zu verändern. So habe ich während
meiner Dienstzeit die Essensglocke abgeschafft und achte noch mehr als früher auf
individuelle Ansprache. Zudem bemühe ich mich sehr darum, einige meiner Kolleginnen für die Sichtweise Tims zu sensibilisieren und die Auffälligkeiten der Kinder
in der Kinderdorfgruppe auch als „Spiegel“ ihres eigenen Handelns darzustellen.
Gleichzeitig setze ich mich sehr für eine partnerschaftliche Elternarbeit ein und biete
bei den Kontakten Hilfestellung in Form von Beratung und Begleitung. Dadurch ist
es mir gelungen, ein besseres Verständnis für Tim und seine Mutter zu erreichen
und ihn gemeinsam ein Stück weit aus seiner Isolation herauszuholen.
Dem Leben von Tim in all seinen Dimensionen im Rahmen dieser Arbeit gerecht zu
werden, ist nicht leicht. Daher möchte ich mich hier den Worten von M. Yourcenar
anschließen:
„Wie könnte ein wissenschaftlicher Ausdruck ein Leben erklären? Er erklärt
nicht einmal eine Tatsache; er bezeichnet sie nur, und zwar jedes Mal auf die
gleiche Art; und doch gibt es nie und nirgends zwei gleiche Tatsachen - weder
in zwei verschiedenen Leben noch aller Voraussicht nach in einem einzigen
Leben“ (zit. n. Kelle 1997, 192).
Dennoch hoffe ich, dass ich mit dieser Arbeit das Leben eines Kindes im Heim aus
den unterschiedlichen Perspektiven transparenter machen konnte. Parallel sollen
aber auch Spannungsmomente des Alltags, die für Tim aus den verschiedenen Persönlichkeiten und Sichtweisen begründet sind, erkennbar werden.
Literaturverzeichnis
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Schlussbetrachtung
Die Heimerziehung entwickelte sich durch die Forderung nach Professionalisierung,
Dezentralisierung und Deinstitutionalisierung in öffentlichen Institutionen, die aus
der Konkurrenz von Pflegefamiliensystem und Anstaltserziehung wachsen musste
und sich in diesem Spannungsfeld immer wieder in modifizierter Weise etabliert hat.
Das heutige Kinder- und Jugendhilfesystem stellt sich sehr differenziert dar. Die unterschiedlichen Hilfeangebote stehen gleichberechtigt nebeneinander und orientieren sich vermehrt an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen. Erziehung und
Sozialisation müssen dem Kindeswohl angemessen sein. Die Heimerziehung ist eine der Formen der stationären Kinder- und Jugendhilfe und unterlag und unterliegt
noch immer stetem konzeptionellem Wandel. Gleichzeitig ist es nicht möglich, von
der Heimerziehung per se zu sprechen. Die Heimerziehung wurde vielmehr in unterschiedlichster Form und mit verschiedenen Schwerpunkten umgesetzt. Das
Heimerziehungsarrangement der Gruppen in einem Zentralheim soll eine Primärgruppe auf Zeit oder dauerhaft innerhalb eines institutionellen Rahmens ersetzen.
Es gilt, den Kindern und Jugendlichen das notwendige Umfeld der Primärgruppe für
eine positive Entwicklung zu schaffen. Doch gerade aus den institutionellen Strukturen ergeben sich hier erschwerte Sozialisationsbedingungen mit hohen Risikofaktoren für die betroffenen Kinder und Jugendlichen. Der Erfolg hängt maßgeblich davon ab, inwieweit die strukturellen Mängel durch Qualität und Reflexion ausgeglichen werden können.
Diese Einzelfallstudie beschäftigt sich mit der Biographie eines Kindes in solch einem Arrangement der Heimerziehung. Ziel der Interviews war es, Erkenntnisse und
Zusammenhänge über das Leben eines konkreten Kindes im Heim aus unterschiedlichen Perspektiven zu gewinnen. Mit Hilfe von Stehgreiferzählungen und offenen
Themenkomplexen wurden Einblicke in die erlebte Wirklichkeit von einem Kind, der
Mutter, der Erzieherin und der zuständigen Jugendamtsmitarbeiterin rekonstruiert.
Im vorletzten Kapitel habe ich die eigene erlebte Wirklichkeit des Kindes in Bezug
auf das Erleben der unmittelbar beteiligten Erwachsenen gesetzt.
Der Exkurs widmet sich meiner eigenen Rolle im Hinblick auf Vor- und Nachteile im
Verhältnis auf Nähe und Distanz zu meiner Forschungsarbeit. Erkennbar wurde,
dass die Nähe ein durchaus positives Element ist, um zu einer praktischen Umsetzung eines Perspektivenwechsels beizutragen.
Literaturverzeichnis
143
Zusammenfassend lässt sich feststellen:
Tim erzählt die Geschichte eines Kindes, das über lange Zeit von den Erwachsenen
immer wieder getäuscht und enttäuscht wird. Wenn von Anfang an eigene Interessen und Wahrnehmungen hinterfragt worden wären, hätte eine Maßnahme für Tim
erfolgreicher verlaufen und ihm eventuell einige leidvolle und schmerzhafte Erfahrungen ersparen können.
Zurückkommend auf meine anfangs beschriebenen Thesen (siehe Einleitung), lässt
sich meiner Meinung nach die in dieser Arbeit beschriebene Hilfe zur Erziehung als
nicht gelungen bezeichnen:
Die an der Erziehung beteiligten Personen nehmen nur ihren jeweiligen Ausschnitt
von Lebenswirklichkeit wahr und stellen kaum Bezüge zu anderen Wirklichkeitsentwürfen her. Zum anderen zeigt sich, dass gerade auch im alltäglichen Zusammenleben mit Tim Situationen entstehen, in denen ein Perspektivenwechsel, Fachkompetenz und darauf basierend reflektiertes Handeln gefordert sind. Dies setzt allerdings Einfühlungsvermögen und Sensibilität der beteiligten Erwachsenen voraus,
damit für Tim ein Klima geschaffen werden kann, auf dessen Basis er Rückhalt, Unterstützung und Hilfe erfährt, und es ihm ermöglicht wird, als Mensch mit all seinen
Bedürfnissen, Stärken und Schwächen einen Platz im Zusammenleben der Gruppe
einzunehmen. Im Hinblick auf seine Mutter ist eine engagierte, intensive und vor allem wertschätzende Elternarbeit für eine gelingende Hilfe entscheidend.
Wichtig bleibt meines Erachtens für das Kinderdorf und das Jugendamt, gerade die
Sicht der Kinder im Hinblick auf die Aufgaben der Erziehung im Heim zu berücksichtigen, um ihnen ein Lebensfeld zu ermöglichen, das sie von ihren Problemen entlastet und um eine „Hilfe“ auch Hilfe werden zu lassen. Hierfür sind dringende Veränderungen notwendig. So möchte ich mich in diesem Fall den Worten von H.
Thiersch (1986, 6) anschließen: „Das so schwierige Geschäft der Heimerziehung
[kann] nur vorangebracht werden ... durch den Mut zur Selbstkritik, die sich - im Interesse der so verzweiflungsvoll verfahrenen Schicksale der der Heimerziehung überantworteten Kinder - selbst nicht schont“.
Abschließen möchte ich mit einem Wunsch für Tim: Ich wünsche ihm von Herzen,
dass nicht nur „vielleicht“, sondern ganz sicher und möglichst bald „…ja mal irgend
jemand [kommt]“ (Interview I a, 10/36).
Literaturverzeichnis
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Material
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Kinderdorf: Rundbrief, 2/1984
Konzeption des Kinderdorfs 2001
Hausleitbild der Gruppe 2005
ASD-Aktenvermerk 05/1997
ASD-Aktenvermerk 07/2000
ASD-Aktenvermerk 09/2000
ASD-Aktenvermerk 11/2000
ASD-Aktenvermerk 03/2001
ASD-Aktenvermerk 05/2001
ASD-Aktenvermerk 09/2001
ASD-Abschlussbericht 09/2001
Sonderpäd. Gutachten zur Einschulung 05/1997
Hilfeplan 09/2001
Hilfeplanfortschreibung 12/2001
Hilfeplanfortschreibung 06/2002
Hilfeplanfortschreibung 10/2002
Hilfeplanfortschreibung 01/2003
Hilfeplanfortschreibung 07/2003
Hilfeplanfortschreibung 01/2004
Hilfeplanfortschreibung 10/2004
Entwicklungsbericht der E-Schule 09/1998
Entwicklungsbericht Anamnesebogen Kinderdorf 10/2001
Entwicklungsbericht Kinderdorf 11/2001
Entwicklungsbericht Kinderdorf 11/2001
Entwicklungsbericht Kinderdorf 06/2002
Entwicklungsbericht Kinderdorf 07/2003
Entwicklungsbericht Kinderdorf 01/2004
147
Anhang
Anhang
Interview I a
Interview I b
Interview II
Interview III
Interview IV
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Erklärung
Hiermit versichere ich, dass ich die Arbeit selbständig verfasst und keine weiteren als die von mir angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe.
Würzburg, den 02.05.2005
Kristina Radix