Wirtschaftsgeographie der Erde

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Wirtschaftsgeographie der Erde
PD Dr. J.M. Becker (3/2002)
Einige grundlegende Informationen zu einer
Wirtschaftsgeographie der Erde 1. Die Erde wird zu 71 % von Wasser und nur zu 29 % von Landflächen
bedeckt.
Diese Landflächen teilen sich - wie folgt - auf
• Eurasien 10 % (Europa und Asien)
• Amerika 8 % (Nord-, Mittel- und Südamerika)
• Afrika 6 %
• Antarktis 3 % und
• Australien 2 %.
An Landschaftszonen unterscheiden wir
• die Tropen (beiderseits des Äquators bis ca. zum 20. Breitengrad), bspw.
Vom Süden Floridas und der Mitte der Sahara bis zur Nordspitze Argentiniens, bis zum nördlichen Zipfel Australiens; Tropische Regenwälder (mit
hohen Temperaturen und hoher relativer Luftfeuchte), Savannen (periodisch
feuchte Gebiete) und die Monsunlandschaften (immerheiß mit starken
Sommerregen) gehören hierhin;
• die Subtropen (grob zwischen dem 20. und dem 40. Breitengrad); hier
herrscht in vielen Gebieten Trockenheit; Wüsten, Steppen und die Sommerund Winterregengebiete liegen hier;
• die gemäßigten Breiten (zw. dem 40. und dem 60. Breitengrad); Westeuropa, nördl. Teil der USA, Süden Kanadas und Rußlands, Nordchina und japan, Spitze Südamerikas und die Südhalbinsel Neuseelands; auf der
Nordhalbkugel liegt hier der Industriegürtel der Erde (Entwicklungsländer
liegen tendenziell eher in den Tropen und Subtropen);
• zu den subpolaren und den polaren Zonen (mit kurzen Sommern und
langen, kalten Wintern) gehören der Norden Kanadas und Skandinaviens,
Grönland, die nördl. Gebiete der GUS, insbesondere ganz Sibirien.
1
2. Die Erde wird zumeist historisch und sozialpolitisch aufgeteilt in die
• Erste Welt (die westlichen, marktwirtschaftlich orientierten
Industriestaaten),
• Zweite Welt (die verflossene Welt der planwirtschaftlichen,
„realsozialistischen“ Staaten),
• Dritte Welt/Entwicklungsländer (die armen, weniger/“unter“entwickelten
Staaten) und seit einiger Zeit in
• die Gruppe der Least Developed Countries (LDC), die die UNO mit 42
Ländern quantifiziert.
Diese Einteilungen sind sehr grob und bedürfen genauerer Differenzierungen
(z.B. hat es Schwellenländer, Ölexporteure etc. unter den
Entwicklungsländern).
Für die LDC haben sich in der Sozialwissenschaft folgende Kriterien
herausgebildet:
• Sehr niedriges Pro-Kopf-Einkommen,
• Hohe Defizite bei der Deckung der Grundbedürfnisse (Ernährung,
Erziehung, Gesundheit, Wasserversorgung),
• Unzureichende Infrastruktur im Lande,
• Überwiegende Produktion für den eigenen Bedarf (Subsistenzwirtschaft),
• sehr niedrige Produktivität in der Landwirtschaft und
• eine äußerst schwache Außenhandelsverflechtung.
Zu ergänzen wären auch hier Kriterien wie Verschuldung und deren
Konsequenzen, Einkommensstrukturen, Stadt-Land-Gefälle u.v.m.
Die Schaffung der Kategorie 4 (LDC) ist dem Fakt zuzuschreiben, dass die
Einkommenskluft zwischen den ärmsten und den reichsten Ländern der Erde
(im Gegensatz zum hiesigen Massenbewußtsein) weiter wächst. Viele Länder
sind heute derart verschuldet, dass sie innovations-, ja z.T. bewegungsunfähig
sind. Seit Jahren wird die Frage einer Entschuldung der LDC diskutiert.
Nur eingeschränkt sinnvoll erscheint die Rede von der „südlichen“ und der
„nördlichen Hemisphäre“ – diese sind nämlich in sich sehr heterogen: Bspw.
hat es auf der Südhalbkugel hochentwickelte Länder wie Australien und
Neuseeland, auch (strenggenommen) Singapur, auf der Nordhalbkugel
Armenhäuser wie Rumänien, Afghanistan etc.
Wie bereits im Zusammenhang mit der Europäischen Union bearbeitet, sind
die Kontinente in sich heterogen. Liegen in der EU zwischen der
2
ökonomischen Leistungsfähigkeit bspw. Luxemburgs, Österreichs, Deutschlands und Frankreichs auf der einen Seite, Griechenlands und Portugals auf der
anderen Seite Welten (von den KandidatInnen der Osterweiterung zu
schweigen), so ist die Wettbewerbsfähigkeit der Republik Südafrika nicht mit
der bspw. ihres Nachbarn Zimbabwe zu vergleichen. Das gleiche gilt auch für
die übrigen Kontinente.
Nicht nur die Kontinente, auch einzelne Länder sind in sich heterogen. Bereits im Zusammenhang mit dem europäischen Integrationsprozeß wurde auf
die großen Differenzen bspw. zwischen Süd- und Norditalien, zwischen Westund Ostdeutschland hingewiesen. In anderen Ländern finden wir zusätzlich
Differenzen zwischen Ethnien oder Hautfarben vor: So besteht das MillionenHeer der Armen und Marginalisierten bspw. in der Republik Südafrika nahezu
ausschließlich aus Schwarzen. Auch in den USA (FAZ vom 23.01.2001) sind
die Einkommensunterschiede Jahrzehnte nach Beendigung der Rassendiskriminierung frappierend: So liegt das Durchschnittseinkommen einer nichthispanischen weißen Familie bei 44.366 US-$, das einer schwarzen Familie bei
27.910 US-$. Die Beispiele wären nahezu beliebig fortsetzbar.
Die Ökonomie der Erde wird bestimmt vom
• unterschiedlichen Vorhandensein an Ressourcen (Rohstoffe, Energiequellen,
Klima, Arbeitskraft, Qualifikationsniveau, Kapital etc.),
• unterschiedlichen Anteil der einzelnen Wirtschaftssektoren (primärer,
sekundärer, tertiärer Sektor) an Erwerbsstruktur wie Zustandekommen des
Brutto-Inlands-Produkts (BIP) sowie
• von der Struktur des Wirtschaftssystems und von der Art der betriebenen
Wirtschaftspolitik;
• von der inneren sozialen und gesellschaftlichen Struktur einzelner Staaten
und Staatengruppen.
• Grundsätzlich determinierend für die globale Ökonomie ist die ungleiche
Verteilung des Reichtums auf der Erde.
• Sekundärwirkungen hat heute auch die Verschuldungssituation der
einzelnen Staaten.
3
3. Einzelne Staaten/Wirtschaftsbünde im ökonomischen Vergleich:
Region
BIP in Mrd. US-$
Japan
EWR
NAFTA
5.114
8.577
8.093
MERCOSUR 983
ASEAN
631
VR China
698
Indien
339
Bev. in Mio.
BIP/Kopf in US-$
125
378
384
202
418
1.206
929
40.847
22.694
21.065
4.869
1.508
578
364
(Quelle: H. Lindner: Internationale Wirtschaftsintegration, FH-RT 1999)
EWR = Europäischer Wirtschaftsraum = EU der 15 zuz. Schweiz, Norwegen und Island
NAFTA = North American Free Trade Agreement;
MERCOSUR = Mercado Común del Cono Sur/Mercado Comun do Sul
Sehr unterschiedlich stellt sich die Verflechtung einzelner Erdteile dar, hier
dargestellt anhand Intraregionaler Exporte 1985 – 1994 (Anteil in % des
gesamten Außenhandels der betr. Länder)
Nordamerika
Lateinamerika
Westeuropa
Transformationsländer (Osteur.)
Afrika
Mittlerer Osten
Asien
1985
39,3
14,1
65,4
48,6
5,0
7,4
40,4
1990
33,9
13,4
72,2
42,4
5,4
5,3
45,3
1995
36,0
20,8
68,9
18,9
10,0
8,0
50,9
(Quelle: Hummel/Menzel in Woyke, S. 358, und: Globale Trends 1998, S. 214, Datengrundlage: GATT/WTO)
Auffallend ist neben der hohen Handelsverflechtung Westeuropas vor allem
der Abfall der Transformationsländer Osteuropas nach der Auflösung des
Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW/COMECON) zu Beginn der
90er Jahre. Dies hat in den betroffenen Ländern teilweise gravierende Konsequenzen gezeitigt. Das bis dato ungekannte Aufklaffen einer sozialen
Schere, wachsende soziale Probleme, ein rapide sinkender Lebensstandard
(so sank bspw. in Russland die Lebenserwartung in den 90er Jahren um mehr
als 10 Prozent, stieg die Kindersterblichkeit erheblich ...) etc. Im Gros der
osteuropäischen Umbruchländer geht in diesen Jahren (so die FAZ am
9.11.2000) ein Drittel der Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren „weder
4
zur Schule noch zur Arbeit“. Die Konsequenzen für die
Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder in ein, zwei Jahrzehnten sind evident...
4. Die Bevölkerung der Erde liegt seit dem Herbst 1999 über 6 Mrd.
Menschen, wovon allein ein Drittel in den Ländern China und Indien lebt. 60
% der Weltbevölkerung leben in Asien.
Die Bevölkerungsentwicklung dient in einigen Theorien als Entwicklungsindikator. Die weniger entwickelten Länder verzeichnen ein relativ hohes
jährliches Bevölkerungswachstum (3. Welt = 3,3 %, LDC = 5,2 %), die sog.
entwickelten Länder ein teilweise sehr niedriges Wachstum, das zudem häufig nur durch die jeweilige Migrationsbevölkerung zustande kommt (bspw.
D: 0,5 %, F: 0,5 %).
Der Weltdurchschnitt beträgt derzeit 2,5 % Wachstum/Jahr.
5. Der Bildungs- und Ausbildungsstand ist in den Industrieländern in aller
Regel höher als in den Entwicklungsländern, wobei es auf beiden Seiten
große Ausnahmen bzw. interne Differenzierungen gibt (bspw. USA oder
Kuba). Das Schulsystem ist in den übrigen Ländern in vielen Fällen nicht
flächendeckend, fehlt vor allem in ländlichen Regionen. Kinderarbeit findet
sich insbesondere in landwirtschaftlichen Gebieten.
Dies hat Auswirkungen auf die Konkurrenzfähigkeit der Ökonomien der
betroffenen Länder (circulus vitiosus).
Die Verteilung von Reichtum und Armut verschlechtert sich derzeit, nach
einer kurzen Besserungsphase zu Beginn der 90er Jahre, wieder. Die Armut
stieg in Lateinamerika, Südasien, im subsaharischen Afrika, in Osteuropa
und in Zentralasien. Selbst wenn man die Armutsgrenze nur bei einem
Drittel des Durchschnittseinkommens des jeweiligen Landes ansetzt (in der
EU ist diese Grenze bei 50 % vom Durchschnittseinkommen definiert), dann
leben
• in Lateinamerika 51,5 % unterhalb der Armutsgrenze,
• im subsaharischen Afrika 50,5 %,
• in Südasien 40,2 %.
• In den Transformationsländern ist der Verarmungsprozeß z.T. noch im
Gange...
Zahlreiche Beispiele verdeutlichen die unterschiedlichen
Zugriffsmöglichkeiten auf die Ressourcen der Erde. So besitzen im derzeit
krisengeschüttelten Venezuela ein Prozent der Bevölkerung 60 Prozent des
5
kultivierbaren (!) Landes1. Beispiele aus weiteren Ländern wäre mühelos
anzufügen.
Zwei weitere Zahlen mögen das Ungleichgewicht auf der Erde noch weiter
verdeutlichen:
• die 200 reichsten Personen der Erde konnten ihr Vermögen zwischen
1994 und 1998 auf zusammen ca. 1.000.000.000.000 (1 Billion) US-$
verdoppeln;
• das Vermögen der drei Spitzenmilliardäre der Erde übersteigt heute das
Brutto-Sozial-Produkt (!) der LDC-Gruppe mit ihren über 600 Millionen
Einwohnern...2
Die Einkommenssituation ist auch innerhalb der ärmeren Länder von
größeren Disparitäten gekennzeichnet als in den reicheren. Die teilweise sehr
schlechte Ernährungssituation großer Bevölkerungsteile hat mittlerweile
direkte Konsequenzen für die geistige und körperliche Entwicklung der
Kinder und Jugendlichen. Und damit für die Zukunft auch der Ökonomien
dieser Länder.
6. Einen Maßstab der menschlichen Entwicklung zu erstellen, ist nicht
leicht. (Was ist Entwicklung und was nicht?...)
Das UN-Development Department hat dies Mitte der 90er Jahre versucht.
Und dabei einen „Index der menschlichen Entwicklung“ erstellt, der
• die Lebenserwartung
• den Bildungsgrad (Alphabetisierung und Schulbesuch) und
• das Pro-Kopf-Einkommen (nach der Kaufkraft, s.u. Schaubild)
berücksichtigt und damit die Lage genauer erfaßt als ein schlichter
Einkommensvergleich.
(Zu fragen bleibt natürlich weiterhin u.a.: Unter welchen Bedingungen werden Menschen alt, wie sind die Bildungschancen - sozial und regional – in
einem Land verteilt, wie ist das Einkommen verteilt, wie werden Minoritäten
behandelt etc....?)
7. Sonderbedingungen im Geflecht der Wirtschaftsgeographie der Erde
schreiben gewaltsame Konflikte, wobei hier global ein Wandel festzustellen
von internationalen hin zu intranationalen Konflikten.
1
2
Junge Welt vom 28.1.2002
Peter Wahl: Globalisierung von unten. In: Friedenspolitische Korrespondenz 4/2001.
6
Einige Beispiele zur Konfliktsituation insgesamt:
• Afrika hat in der Phase der „décolonisation“, der zumeist unblutigen Loslösung vom - vor allem - französischen Kolonialland, mit Umstellungsschwierigkeiten zu tun gehabt. Einzelne Entwicklungen verliefen auch
kriegerisch. So in Algerien. So in Mozambique.
• Lateinamerika hat in den 70er und 80er Jahren zunächst eine Phase von
Militärdiktaturen, anschließend das „verlorene Jahrzehnt“ erlebt, einschließlich Bürgerkriegen und Interventionen von außen (Grenada, El
Salvador, Nicaragua). Im vergangenen Jahr 2000 herrschte, so das Heidelberger Institut für Konfliktforschung (FAZ vom 27.12.2000), nur in Kolumbien Krieg. Mexiko mit Chiapas müßte hier ergänzt werden.
• In Europa hat die Teilung des Landes, der Bürgerkrieg wie auch die
NATO-Intervention gegen Jugoslawien dieses Schwellenland
entscheidend zurückgeworfen.
• Das Heidelberger Institut hat im Jahr 2000 in Afrika acht (so in Kongo,
Burundi, Angola, Guinea und Sudan), in Asien 40 Konflikte gezählt. Der
Konflikt zwischen Eritrea und Äthiopien wird von den Heidelberger Forschern als einziger offener zwischenstaatlicher Konflikt des Jahres 2000
aufgeführt. Des weiteren seien hier genannt die Ausflüsse der Spannungen
zwischen (den Atomwaffenmächten) Pakistan und Indien, der offene GUSKonflikt3 zwischen Russland und Tschetschenien, die Verfolgung der
kurdischen Bevölkerung in der Türkei, im Irak und Syrien, offene Kriege
in Sri Lanka und Afghanistan...
• Bürgerliche Demokratien haben, so die Heidelberger Konfliktforscher, seit
1945 keinen Krieg gegeneinander geführt. Und: Von 104 Kriegen, die, so
die WissenschaftlerInnen, zwischen 1945 und 1995 ausbrachen und geschlichtet wurden, brachen 66 nach einem Friedensschluß wieder aus (was
auf tiefere strukturelle Probleme schließen läßt). Der Sockel von 30 langandauernden Konflikten mit gewissen Eigendynamiken befindet sich in
Auseinandersetzungen wie in Nordirland, in Kurdistan, im Baskenland...
Diese Konflikte belasten die Volkswirtschaften vielfältig. Als Schlichter
sind neben der UNO und der OSZE4 häufig die USA aufgetreten.
Unklar ist derzeit, welchen Stellenwert innergesellschaftliche Verteilungskonflikte zwischen regulärer (= steuerzahlender) und informeller Ökonomie
(letztere bedeutet in verschiedenen Ländern der Erde bereits heute die einzige Möglichkeit zu überleben) sowie zwischen staatlichen Institutionen und
3
GUS = Gemeinschaft Unabhängiger Staaten: Armenien, Aserbeidschan, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan, Moldau,
Russland, Tadschikistan, Turkmenistan, Ukraine, Usbekistan und Weißrussland. 1991 in Minsk und Almaty gegründet.
4
OSZE = Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, 1975 in Helsinki als K(=Konferenz)SZE gegründet,
umfaßt heute alle 55 Staaten Europas.
7
dem kriminellen Sektor (bspw. Korruption, Drogenhandel und jegliche Art
von „Geldwäsche“ u.a.) einnehmen werden.5 Auch Auseinandersetzungen
zwischen Clans, Gangs, Privatarmeen etc. sind sehr unterschiedlich verteilt
auf der Erde.
8. In den Bereich der innergesellschaftlichen Konfliktfelder gehört insbesondere das Geschlechterverhältnis6, in dem weltweit große Unterschiede zu
konstatieren sind. Auch hier hat die UNO versucht, einen Index der Gleichstellung der Geschlechter zu erstellen.
Frauen werden in Entwicklungsländern bspw. in der Bildung benachteiligt,
sind im Alter sozial schlechter abgesichert (werden dabei signifikant älter),
werden – nicht nur in Entwicklungsländern – bei gleicher Arbeit schlechter
bezahlt, leider in unterschiedlicher Weise unter den Doppel- und DreifachBelastungen etc. (sh. Anhang).
9. Die Migration bleibt ein Problem unserer Tage. Die UNO schätzt, dass
laufend ca. 50 Millionen Menschen migrieren bzw. auf der Flucht sind. Dies
geschieht regional in höchst unterschiedlicher Weise (was bedeutet, dass wir
in Westeuropa immer nur einen kleinen Teil des Problems zur Kenntnis
nehmen).
Die wesentlichen Ursachen für Migration7 sieht die Forschung in folgenden
fünf Punkten:
• Zerfall der multikulturellen und -nationalen Imperien, zuletzt der Kolonialreiche Westeuropas und der Sowjetunion;
• Entstehung des modernen Weltwirtschaftssystems mit der industriellen
Produktionsweise, die immer weitere Teile der Erde durchdringt;
• Zunehmende Zerstörung der Umwelt (Überforderung natürlicher, nicht
erneuerbarer Ressourcen, steigender Lebensstandard in den entwickelten
Ländern, hohe Rüstungsausgaben, Emission von Schadstoffen etc.)
• Rapide Zunahme der Weltbevölkerung, und dies selektiv;
• „Erosion traditioneller Weltanschauungen, Werthaltungen und Lebensstile
sowohl aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Zerstörung der alten
5
Hiermit befaßt sich der Hamburger Sicherheitsforscher Peter Lock in diversen Publikationen. Der Autor spricht bspw. im
Kongo davon, dass nur noch 10 % der Ökonomie vom Steuersystem erfaßt werden. Lock weist – des weiteren - bspw. für
einzelne afrikanische Länder nach, dass die Korruptionskosten bereits so hoch sind, dass sich Investitionen nicht mehr
lohnen.
6
Diesem Thema widmet sich umfassend der Weltbevölkerungsbericht 2000, sh. Deutsche Stiftung Weltbevölkerung...
7
Nach: Peter J. Opitz in: Woyke, S. 248ff.
8
Lebensbedingungen, wie auch infolge neuer emanzipations- und konsumorientierter Lebensstile und –standards, wie sie sich in den westlichen
Industriestaaten entwickelten und über moderne Kommunikationsmittel
global vermittelt wurden“ (249).
Insbesondere die politische Trennung in Wirtschaftsflucht und Flucht vor
Kriegen, politischer Verfolgung etc. ist zu hinterfragen.
10. Besondere Beachtung im Geflecht einer Wirtschaftsgeographie der Erde
verdienen des weiteren folgende Aspekte:
L
10.1 Die Entwicklung der Ressourcen und ihre Verknappung (bei
Wasser, Luft, Brennstoffen (Brennholz!), Atomkraft etc.);
L
10.2 Ökologische Aspekte wie der Zusammenhang von Umwelt und
Entwicklung8, das Ozonloch, globale Erwärmung, die Überdüngung der
Erde...; ökologische Probleme werden in der sicherheitspolitischen
Forschung als dominanter Konfliktgrund der Zukunft genannt...
L
10.3. Die unterschiedlichen Lebens- und Konsumgewohnheiten der
Menschen auf der Erde und ihre Konsequenzen, so betreffend die Automobilisierung, die Ernährung, die „Produktion“ von Müll...
In der Konfliktforschung werden heute Verteilungskämpfe um den Reichtum der Erde als Konfliktgrund für 90 Prozent aller inter- wie intranationaler
Konflikte genannt. (Ressourcen sind Bestandteil des Reichtums der Erde,
und der vollkommen übermäßige bspw. Energieverbrauch einzelner Industrieländer - wie in erster Linie der USA - kann auf die Dauer konfliktträchtig sein, wenn es es nicht schon ist.) Konflikte jedoch behindern die
Ökonomie – ausgenommen wenige Bereiche...
11. Aktuelle weltwirtschaftliche Entwicklungen
Generell wird die Weltwirtschaft von uns als krisengefährdet eingeschätzt.
Zwar drohen derzeit keine kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen
den Groß- bzw. Supermächten, die Krisenpotentiale scheinen nach dem Sieg
der Marktwirtschaft in der Systemkonkurrenz eher „hausgemacht“.
8
Die FAZ veröffentlichte am 20.2.2001 den außerordentlich alarmierenden Beitrag „Seuchen, Hitzetote und versinkende
Inseln. (...) Folgen des Klimawandels bedrohen vor allem Entwicklungsländer“, sh. Anhang.
9
11.1 Unterschiedliches Wirtschaftswachstum kennzeichnet die Weltwirtschaft nach wie vor. Man lasse sich nicht täuschen von relativ großen Zuwachsraten einzelner Länder (und betrachte immer: von welchem Niveau aus
geschehen sie?) Generell finden wir in den reichen, entwickelten Ländern
zwar niedrige, aber recht konstante Wachstumsraten vor, in den Entwicklungsländern hingegen große Ungleichheiten und immer wieder
Rückschläge.9
11.2 Der ungeheure Zuwachs bei Wirtschaftskonzentrationen innerhalb des
vergangenen Jahrzehnts muss den Beweis als stabilisierender Faktor der
Weltwirtschaft erst noch antreten...
11.3 Neben dem bereits angesprochenen Problem der Verschuldung sowie
den Konsequenzen aus der neuartigen Finanz- und Kapitalströmen10 muss
auch die aktuelle Situation an den internationalen Börsen in die Beurteilung
der Lage der Weltwirtschaft einbezogen werden: Die Kurse haben sich bis
Mitte des Jahres 2000 in ungeahnte Höhen entwickelt, viel Geld ist in die
Börsen geflossen. Die Masse der Beobachter urteilt, dass auch die aktuellen
Kurse des Jahres 2002, ungeachtet der Verluste der vergangenen Jahre, nicht
viel zu tun haben mit dem realen Wert der betreffenden Unternehmen. D.h.
es ist mit weiteren crashes zu rechnen, mit einer ungekannten Vernichtung
von spekulativem Kapital, dabei auch Firmenzusammenbrüchen etc..
11.4 Einzelne Regionen sind gesondert zu betrachten, geht es um eine
Perspektiv-Beurteilung der Wirtschaftsgeographie der Erde.
1. Europa scheint, zumindest in seinem Westen, zu den relativ stabileren
politischen und ökonomischen Regionen zu gehören. Dem Westen drohen
u.U. Turbulenzen durch eine überstürzte Osterweiterung der EU. In Osteuropa sind die Folgen des Absturzes infolge der Auflösung des Rates für
Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und der Umstellung auf die
Marktwirtschaft in der Masse der Länder nach wie vor nicht überwunden.
Ungekannte soziale Disproportionen kennzeichnen fast jedes dieser Länder, was sozialpolitische Spannungen erzeugen kann. Insbesondere droht
in Russland (bei wieder fallendem Ölpreis) ein Haushaltsdefizit, das
innenpolitisch eine neue Krise auslösen kann.
9
Am Rande: Hier ist immer nur die Rede von quantitativem Wachstum; einen Blick auf qualitatives Wachstum, das die
Ressourcenfrage ebenso unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit betrachtet, wie sie die Zukunft der Arbeit in den Mittelpunkt
ihrer Politik stellt u.v.m, erlauben sich eh nur die reichen Länder.
10
Der Devisenhandel bspw. umfaßte in den 70er Jahren ein Tagesvolumen von ca. 15 Mrd. US-$. Heute ist dieser Handel
auf täglich über 2.000 Mrd. US-$ angestiegen. Insbesondere Einzelländer (also außerhalb des US-$ oder des EURO) sind
Spekulationen außerordentlich und weitgehend ungeschützt ausgesetzt.
10
2. Die USA und Kanada, wie auch Australien und Neuseeland, sind der Lage
der EU vergleichbar. Dem Wirtschaftsverbund NAFTA können indes
Probleme drohen bei einer Ausweitung der sozialen Krise in Mexiko. In
den USA speziell droht nach der Wahl Bushs aufgrund der zu erwartenden Austeritätspolitik ein Konjuktureinbruch; dieser könnte sozialpolitische Spannungen erzeugen, da das eh weniger begünstigte Drittel der
US-Gesellschaft auch in der vergangenen Phase nicht von der guten
Konjunktur profitiert hat, sondern eher mit schlechtbezahlten Jobs versorgt wurde. Die Konsequenzen der Ereignisse des September 2001 sind
bis heute in ihrer ganzen Tragweite noch nicht endgültig abzusehen.
3. Die Gefahr einer Schulden- und Währungskrise gilt auch für viele weitere
Staaten Lateinamerikas, was sich insbesondere bei der Größe Brasiliens
(165 Mio. Menschen) stark auswirken würde. In einigen Ländern hat die
Austeritätspolitik des vergangenen Jahrzehnts zu sozialen Spannungen
geführt; sie hat in einigen Ländern die Einkommensdifferenz zwischen
Arm und Reich verstärkt (sh. Anh.), hat die Massenarbeitslosigkeit erhöht
und auf die Konjunktur gedrückt. Das Problem Argentinien ist evident.
Die Entwicklung des MERCOSUR stagniert. Allerdings sind die
Perspektiven Lateinamerikas besser als zu Zeiten der Militärdiktaturen
und des „verlorenen Jahrzehnts“ (s.o.).
4. In Asien ist neben den bekannten „Tigerstaaten“ mit der VR China ein
relativer Hort der Stabilität anzutreffen. Infolge der noch wenig entwickelten Verflechtung in die Weltwirtschaft, infolge auch der niedrigen
Verschuldung des Landes (sh. Schaubild „Verschuldung der ADB-Staaten“ im Anhang), wurde in den 90er Jahren ein durchschnittliches jährliches Wachstum von über 10 Prozent erreicht – freilich (s.o.) von einem
recht niedrigen Niveau aus. Indonesien, Thailand und die Philippinen
hingegen sind hoffnungslos überschuldet und potentielle, z.T. offene, Krisenherde. Japans Wirtschaft stagniert seit Jahren und ist mit einer wachsenden Arbeitslosigkeit, gewaltigen Banken- und Firmenzusammenbrüchen, sozialen Spannungen ungeahnten Ausmaßes etc. konfrontiert.
Insgesamt ist Asien von großen Disproportionen gekennzeichnet.
5. Was in gleicher Weise für Afrika gilt. Afrika insgesamt ist gekennzeichnet
von den Spätfolgen des Kolonialismus und der décolonisation, im Süden
der Beendigung der Apartheid. In Nordafrika drohen vor ökonomischen
Krisen politische wie sozialpolitische Unsicherheiten. Ungeklärt ist,
inwieweit sich die algerischen Spannungen auf weitere Maghreb-Staaten
ausdehnen. Im mittleren Afrika finden sich viele der ärmsten Staaten der
Erde, die dringend einer Entschuldung bedürfen. Blutige Kriege und
11
Bürgerkriege verschlimmern die Lage überdies vielerorts. Im Süden des
Kontinents macht derzeit das „Modell“ Zimbabwe Schlagzeilen: Die
schwarze Bevölkerung ist, lange Jahre nach der Regierungsübernahme
durch schwarze Politiker, von der Arbeit „Ihrer“ Vertreter (Frauen spielen
fast keine Rolle) enttäuscht und geht nun gewaltsam an die „Lösung“ ihrer
misslichen Lebenslage. Beispielhaft ist dies in der Republik Südafrika
(RSA) (wie auch in Namibia), wo nun seit sieben Jahren eine rein
schwarze Regierung im Amt ist. Die Bildungs- wie die Bodenreform, die
Schaffung von Strukturen schwarzer Beteiligung insgesamt aber
stagnieren, im Gegenteil destabilisieren negative Auswirkungen des
Neoliberalismus (Arbeitslosigkeit, Deregulierung, Inflation etc.) das Land.
6. Ein Sonderproblem kommt für insbesondere Afrika hinzu: die Immunschwächekrankheit AIDS. In der potentiell leistungsfähigen RSA sind
heute ca. 12 % der Bevölkerung mit AIDS infiziert – nahezu ausschließlich Schwarze. 150.000 Menschen sterben 2001 in der RSA an AIDS,
330.000 erkranken, 800.000 infizieren sich neu. Die Lebenserwartung in
der RSA ist von 1990 (d.h. am Ende der Apartheid!) 63 Jahren auf 2000
56,5 Jahre gesunken. Die Konsequenzen für das Gesundheitssystem und
die wirtschaftlichen Perspektiven des Landes sind evident11 (bspw. weigern sich verschiedenen Unternehmen, Schwarze zur Ausbildung oder
auch nur Umschulung einzustellen – wegen deren geringer Lebenserwartung...).
12. Gibt es Auswege?
Thesen:
1. Vorab: Die Terroranschläge vom September 2001 haben die Erde nicht
verändert, sie haben allerdings die Sichtweise auf die Lage der Erde
teilweise geschärft.
2. Eine Entschuldung der ärmsten Staaten muß angegangen werden,
unbedingt aber – wo möglich - verbunden mit Anreizen zu
Strukturbildung und zu ökologischem Wirtschaften. Und nicht (jW v.
19.6.02) mit Zwängen zu neoliberaler Marktwirtschaft (Weltbank, IWF
etc.).
11
Sh. auch meinen Beitrag in der ZUS (Freiburg) am 1.2.01 (Quo vadis, Südafrika?). In der AIDS-Forschung werden
folgende Ursachen für die rasche Ausbreitung von AIDS gerade in Afrika genannt: Die große Zahl von Kriegen und
kriegerischen Auseinandersetzungen (und die damit verbundene hohe Mobilität der Soldaten); das Phänomen der
Wanderarbeiter, die zu (häufig infizierten) Prostituierten gehen; die Aufhebung der Apartheid (und die damit verbundene
verbesserte Mobilität der Menschen); die weitverbreitete Armut, der ein schlechtes Gesundheitssystem zur Seite steht,
schließlich die fortwährende Unterdrückung der Frauen, die Verhütungsmaßnahmen schwierig macht.
12
3. Die Entwicklungshilfe muß ernster genommen werden. Sie bringt mittelund langfristig etwas – für beide Seiten!!! (Mehr als spekulatives
Kapital!)
4. Der Devisenhandel und das nur spekulativ floatende Kapital müssen
besteuert (Tobin-Steuer) werden, das schafft Entwicklungsressourcen.
5. Weitere Quellen für eine intensivierte Entwicklungshilfe liegen – mehr
denn je - in der Abrüstung und bei der stärkeren (und einheitlichen!)
Besteuerung von Kapitaleinkünften.
6. Die politische und ökonomische Macht der Nationalstaaten schwindet
zugunsten von multilateral, erdweit agierenden Großkonzernen. Dem
kann nur multilateral und erdweit entgegnet werden.
7. Die internationalen Organisationen (UNO, aber auch die Weltbank, der
IWF, die WTO etc.) müssen demokratisiert werden – damit sie
einflußreicher werden und damit sich die Entwicklungsländer und die
Schwellenländer dort wiederfinden und sie ernst nehmen.
8. Wir müssen wirklich “fair” handeln: d.h.
a) für die Produkte der Entwicklungsländer einen fairen Preis zahlen und
b) unsere Märkte wirklich öffnen für deren Produkte!
Die Realität sieht ganz anders aus. Die „entwickelten“ Staaten geben (NZZ
v. 7.6.02) ein Vielfaches der Entwicklungshilfegelder aus für den Schutz
ihrer Märkte...
9. Das kann beginnen beim Einkaufen in “(Eine-)Welt-Läden” und reicht
bis zur Unterstützung autonomer, selbstverwalteter Unternehmen – gegen
den Einfluß des Auslandskapitals sowie gegen einheimische korrupte
Eliten in Entwicklungsländern.
Änderungen unserer Konsumgewohnheiten sind einbegriffen: So werden
bereits heute 36 % des erzeugten Getreides (FAZ v. 11.6.02) in der
Fleischproduktion verfüttert. Tendenz: Steigend.
10. Insgesamt sind alle Initiativen, die sich dem Prinzip der bloßen
Profitmaximierung entziehen, zu unterstützen, v.a. das
Genossenschaftswesen.
13
Dies sollte auch einher gehen mit einer Dezentralisierung vieler Strukturen,
um der “Krise der demokratischen Repräsentation” (Hardt/Negri: Empire –
Die neue Weltordnung) entgegenzuwirken.
PD Dr. J. M. Becker Tel und Fax: 0049/6421/23706
Friedrichstr. 2, D - 35037 Marburg FRG/RFA
e-mail: [email protected]
http://staff-www.uni-marburg.de/~becker1/
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