- bei der Arbeitnehmerkammer Bremen
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Bericht 2009 Zur Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Lande Bremen Arbeitnehmerkammer Bremen 2 Herausgeber Arbeitnehmerkammer Bremen Bürgerstraße 1 28195 Bremen Telefon 0421· 36301-0 Telefax 0421·36301-89 [email protected] www.arbeitnehmerkammer.de Redaktion Dr. Peter Beier, Elke Heyduck, Martina Kedenburg, Volker Pusch, Gestaltung Designbüro Möhlenkamp, Bremen Marlis Schuldt, Jörg Möhlenkamp Druck Druckerei Wellmann, Bremen Abgeschlossen im Mai 2009 Inhalt 1 Einleitung – Schwerpunkte der Lageberichterstattung 2009 Teil 1: Resultate der Mitgliederbefragung 2 Einflüsse der Finanz- und Wirtschaftskrise auf die Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Bremen und Bremerhaven 2.1 Qualitative Studie zum Thema Finanz- und Wirtschaftskrise – Hintergrund der Untersuchung 2.2 Ursachen der Krise und Verantwortlichkeiten 2.3 Staatliche Kontrolle der Finanzmärkte 2.4 Auswirkungen der Finanzkrise: Annahmen und Befürchtungen 2.5 Einschätzung der staatlichen Maßnahmen zur Krisenbewältigung 2.6 Persönliche Betroffenheit 2.7 Krisenauswirkungen auf soziale Marktwirtschaft und demokratische Ordnung 2.8 Ausblick 2.9 Fazit 2.10 Wirkungen und Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise – Resultate der Mitgliederbefragung 2.11 Gründe der Finanz- und Wirtschaftskrise und Informationsquellen 2.12 Auswirkungen der Finanzkrise 2.13 Staatliche Gegenmaßnahmen 2.14 Einschätzungen zur gegenwärtigen Lage 2.15 Erwartungen 2.16 Schlussbemerkung Teil 2: Prof. Dr. Rudolf Hickel: Wirtschafts- und Finanzmarktkrise – Ursachen und Lehren. Plädoyer für einen regulierten Kapitalismus 3 Weltwirtschaft am Abgrund: Ein neuer Krisentyp? 3.1 Entfesselte Finanzmärkte: Ursachen und Folgen des Supergaus 3.1.1 Finanzmarktgetriebener Kapitalismus mit zu hohen Renditeansprüchen 3.1.2 Vom Elend der Produktinnovationen auf den Finanzmärkten: Alchemisten, Kasinospieler, toxische Produkte 3.2 Schritte zu einem und Eckwerte eines regulierten Kapitalismus 3.3 Wege zur Regulierung der Finanzmärkte 3.4 Monetäre und gesamtwirtschaftliche Steuerung 4 6 9 10 12 12 14 16 19 19 20 21 22 26 33 34 37 38 40 46 46 52 55 56 59 Resultate der Mitgliederbefragung 4 Einleitung 1 Schwerpunkte der Lageberichterstattung 2009 Die Wirtschaftskrise ist längst im Alltag der Bremerinnen und Bremer angelangt. Zur Zeit der Erstellung dieses Berichts sind über 15.000 Menschen im Land Bremen in Kurzarbeit. Sie müssen auf Lohn verzichten und vor allem müssen sie mit der großen Sorge leben, dass manche Unternehmen die Krise womöglich nicht überstehen. Mit Wucht ist die Finanz- in eine Wirtschaftskrise übergegangen und verursacht auf allen Ebenen Verwerfungen. Rettungspakete der öffentlichen Hand – finanziert durch die Steuerzahler – belasten die Haushalte auch in Zukunft. Insbesondere arme Bundesländer wie Bremen geraten durch die enormen zusätzlichen Staatsausgaben zusätzlich in die Bredouille. Ausgelöst wurde diese Krise im Kern durch unglaublich hohe Renditeerwartungen, die das verselbstständigte Finanzwesen geschürt hat. 25 Prozent Rendite? Worauf soll eine solche Erwartung fußen? In der Produktion können solche Zahlen nicht erreicht werden, gleichwohl geraten die Unternehmen unter Druck, weil sie den maßlosen Vorgaben und Wünschen der Finanzmärkte hinterhereifern müssen. Dass der Chef der Deutschen Bank in dieser Zeit erneut eine 25-prozentige Rendite verspricht, ist in hohem Maße verantwortungslos. Aber auch die Unternehmen sind selbst aktiv beteiligt. Wenn häufig ein Drittel der Gewinne nicht ins Unternehmen investiert wird, sondern auf den Finanzmärkten angelegt und mit risikoreichen Papieren verspekuliert wird, stricken die Unternehmen selbst mit an einem System, das am Ende die Produktion trifft. Leidtragende sind dann, wie wir jetzt überall sehen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir haben in diesem Lagebericht Prof. Dr. Rudolf Hickel, Leiter des von der Universität Bremen und der Arbeitnehmerkammer getragenen Instituts für Arbeit und Wirtschaft gebeten, einen Beitrag über die Zusammenhänge zwischen Finanz- und Wirtschaftskrise zu schreiben. Denn zuallererst muss die Krise verstanden werden, müssen Wechselwirkungen bekannt sein, damit es danach kein ›Weiter so‹ gibt. In den letzten Jahren wurde auf den Finanzmärkten dereguliert, was das Zeug hält – auch das macht dieser Beitrag deutlich. Jetzt ist es an der Zeit, die Politik als regulierende Instanz wiederzubeleben. Ob dies gelingt, wird auch vom öffentlichen Druck abhängen, der in der anstehenden Bundestagswahl (übrigens auch bei den Europawahlen, denn es handelt sich schließlich um eine internationale Krise) auf die Politiker und Politikerinnen ausgeübt wird. 5 Wir haben aus dem einfachen Grund, dass niemand sich den Folgen der Krise entziehen kann, diese auch ins Zentrum unserer Befragung gestellt. Im Rahmen unserer Lageberichterstattung, zu der uns das Gesetz über die Arbeitnehmerkammer auffordert, wollten wir von unseren Mitgliedern wissen, inwiefern sie von der Krise betroffen sind, wo sie die Ursachen vermuten und welche Änderungen ihrer Meinung nach anstehen. Sowohl in den qualitativen Interviews wie auch in der repräsentativen Befragung sind wir auf kluge Antworten gestoßen. Die Finanzmärkte dürfen nicht mehr versprechen, als die Realwirtschaft hergibt. Die Politik darf nicht diejenigen schützen, die die Krise verursacht haben und andere – zum Beispiel die Beschäftigten – ohne ›Rettungsschirm‹ im Regen stehen lassen. Kurzarbeit und Abwrackprämie sind zwei der großen politischen Gegenmaßnahmen. Am Ende werden sie nicht ausreichen. Vor allem muss die Politik erkennen, dass die massive Umverteilung zugunsten der Unternehmensgewinne und zulasten der Arbeitnehmereinkommen eine Schieflage hat entstehen lassen, die diese Krise auch politisch mitverschuldet hat. Deutschland – und auch die großen Bremer Unternehmen – sind in hohem Maße vom Export abhängig. Sie geraten deshalb jetzt erst recht unter Druck. Gleichzeitig wurde die Stärkung der Binnennachfrage vernachlässigt. Die Reallöhne der Arbeitnehmer sind erneut gesunken. Gleichzeitig haben die enorm gestiegenen Unternehmensgewinne diese dazu verleitet, ihr Geld auf den Finanzmärkten anzulegen, anstatt in die Beschäftigung, in die Löhne, in die Qualifizierung der Arbeitnehmer, in Innovation und Forschung zu investieren. Hier ist jetzt und für die Zukunft eine Umsteuerung vonnöten, die weit über die ebenfalls dringend erforderliche Regulierung der Finanzmärkte hinausgeht. Dr. Hans-L. Endl Hauptgeschäftsführer Hans Driemel Präsident 1 Teil Resultate der Mitgliederbefragung 2 Einflüsse der Finanz- und Wirtschaftskrise auf die Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Bremen und Bremerhaven 7 Vor etwa zwei Jahren werden sich viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Lande Bremen gewundert haben, wie häufig in den Zeitungen über die Armut amerikanischer Hypothekenschuldner zu lesen war. Viele mögen sich gefragt haben: ›Was geht mich das an? Warum muss ich über amerikanische Banken Bescheid wissen, die Gesellschaften gründen, deren einziger Zweck darin besteht, Kredite aufzunehmen, um damit Schuldtitel zu kaufen?‹ Leicht verwirrt lernte so manche(r), dass die englische Abkürzung ABS nicht etwa ›Anti-Blockier-System‹ heißt, sondern Asset Backed Security und mehr oder weniger kopfschüttelnd nahm man zur Kenntnis, dass sich Investmentbanker für ›masters of the universe‹ hielten und darüber dozierten, wie sie Risiken verbriefen, diese Risiken immer neu verpacken, um am Handel mit ihnen mordsmäßig zu verdienen. Vor zwei Jahren werden sich manche gedacht haben, dass es möglicherweise doch ganz wichtig sein könnte, einmal gründlich zu klären, was in dieser Finanzwelt eigentlich los ist, welche Sorte Geschäft dort betrieben wird und was dies alles mit unserem Lebensund Arbeitsalltag zu tun hat. Heute, im Frühjahr 2009, werden diese Fragen auf eine bestürzende Art und Weise beantwortet: Die Wertevernichtung im Finanzsektor, die als Subprime-Hypothekenkrise in den USA begann, hat vor Europa und Deutschland nicht haltgemacht. Renommierte Banken stehen auch bei uns vor dem Zusammenbruch, unvorstellbar hohe Vermögenswerte lösen sich über Nacht in Luft auf und so mancher Sparer wird um die sauer verdienten Rücklagen fürs Alter gebracht. Damit nicht genug: Die Finanzkrise erfasst inzwischen mit Wucht die Realwirtschaft und stellt die Existenz ganzer Standorte und damit die Lebens- und Einkommensgrundlagen der Beschäftigten in Frage. Der Staat bekämpft die Krise auf breiter Front, mit einem ›Rettungsschirm‹ für die Banken und mit massiven Konjunkturprogram- men – bislang jedoch wird die Talfahrt von Finanz- und Realwirtschaft durch keine dieser Maßnahmen aufgehalten. Berthold Huber, erster Vorsitzender der IG Metall, beschreibt das eingetretene Dilemma mit drastischen Worten: ›Wer Erklärungen für die tiefste Krise nach dem Zweiten Weltkrieg allein in den Exzessen der Finanzwirtschaft oder in der Überhitzung der Finanzmärkte sucht, wird zwar auf Symptome stoßen, nicht jedoch auf die Ursachen. Finanzmarkt-, Konjunktur- und Systemkrise greifen ineinander. Exorbitante Renditeerwartungen wurden zum Normalfall wirtschaftlicher Kalkulation erklärt. Die Finanzmärkte drängten real wirtschaftende Unternehmen in einen Wettlauf, den keiner gewinnen konnte, aber alle verlieren mussten. Auch staatliches Handeln ordnete sich den Verwertungskriterien des Kapitals unter. Die aktuelle Krise ist also eine tiefe Systemkrise der kapitalistischen Ökonomie. Mit anderen Worten: Das System hat einen Infarkt.‹1 Aus Hubers Diagnose ›Systeminfarkt‹ folgt ein politischer Schluss: Die von Vertreterinnen und Vertretern aller Parteien, aber auch von vielen Sachverständigen gern bemühte These, die deutsche Wirtschaft werde stärker aus der globalen Krise hervorgehen, als sie in sie eingetreten ist, wird ein frommer Wunsch bleiben, solange sie auf der Vorstellung beruht, man könne nach der Krise so weitermachen wie zuvor. Stimmt Hubers Diagnose, und dafür spricht Vieles, dann wird mittelund langfristig mehr erforderlich sein als ein bisschen Kosmetik am Marktradikalismus der vergangenen Dekade. 1 Huber, Berthold: Diagnose: Systeminfarkt. In: Financial Times Deutschland vom 6. April 2009, S. 24. 8 Resultate der Mitgliederbefragung Kurzfristig muss der Sozialstaat eine Antwort darauf finden, wie Hunderttausende bedrohter Arbeits- und Ausbildungsplätze zu halten sind, wie der auf breiter Front einsetzende Verlust von Einkommen für die Arbeitnehmer/innen aufzuhalten ist und wie der Verlust von Kompetenz an den Wirtschaftsstandorten unterbunden werden kann. Bleiben Antworten auf diese Fragen aus oder bleibt es beim Verweis auf die ›Selbstheilungskräfte des Marktes‹, dann ist ein sprunghafter Anstieg der Arbeitslosigkeit eine Folge der Entwicklung, die tief greifende Legitimationskrise des Sozialstaats möglicherweise eine andere. Vor diesem Hintergrund hat sich die Arbeitnehmerkammer Bremen dazu entschlossen, ihren diesjährigen Bericht zur Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Lande Bremen ganz diesem Thema zu widmen. Welche Befürchtungen und Gedanken löst die globale Finanz- und Wirtschaftskrise bei unseren Mitgliedern aus? Wird ihre konkrete materielle oder soziale Lage bereits durch die geschilderten Ereignisse berührt? Unsere Berichterstattung erfolgt dabei in drei Abschnitten: Wo liegen die Ursachen der Finanzkrise und wer trägt für die krisenhafte Entwicklung ökonomisch und politisch die Verantwortung? Wie werden die Chancen zu einer durchgreifenden staatlichen Kontrolle der Finanzwirtschaft eingeschätzt? Welche allgemeinen Auswirkungen der Finanzkrise sind für die nahe Zukunft zu befürchten? Welche staatlichen Gegenmaßnahmen sind bekannt und wie werden sie eingeschätzt? Wie stark sind die Befragten persönlich von der Krise betroffen? Hat sich die Finanz- und Wirtschaftskrise bereits zu einer Systemkrise weiterentwickelt? ¢ ¢ 1. In zwei Gruppendiskussionen und acht Einzelinterviews (geführt im Februar dieses Jahres) erörterte unser Kooperationspartner, das ›Konkret Marktforschungsinstitut Bremen‹, anhand eines gemeinsam mit der Kammer entwickelten Leitfadens mit Beschäftigten aus Bremen und Bremerhaven das Thema ›Finanzkrise‹. Die Befunde und Antworten der Interviewten fanden Eingang in eine qualitative Studie zur genannten Problematik. Folgende Fragen wurden diskutiert: 2 Nach dem Random-Verfahren. 2. Die Resultate der qualitativen Studie flossen anschließend in eine – erneut durch unseren Partner ›Konkret Marktforschung Bremen‹ angeleitete – repräsentative Mitgliederbefragung ein. Um zu validen Aussagen zu kommen, wurden 701 Personen telefonisch kontaktiert und interviewt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden per Zufall ausgewählt. Um Verzerrungen zu vermeiden, sind alle Ortsteile Bremens und Bremerhavens soziodemografisch quotiert berücksichtigt worden. Als zentrale Quelle dienten uns die Daten des Statistischen Landesamtes, die geschlechter-, alters-, qualifikations- und erwerbsspezifisch differenziert vorliegen.2 Der von ›Konkret Marktforschung Bremen‹ kon-zipierte und mit der Kammer abgestimmte Fragebogen enthielt offene und geschlossene Fragen zu folgenden Themenschwerpunkten: 9 ›Wissen‹ über die Krise, die Krisengründe und Informationsquellen; Auswirkungen der Krise auf die persönliche und die allgemeine Lage; Einschätzung der staatlichen Gegenmaßnahmen; allgemeine Einschätzungen zum Krisenverlauf; Einschätzung der zukünftigen Entwicklung. ¢ 3. In einem dritten, analytischen Teil setzt sich Prof. Dr. Rudolf Hickel, Leiter des Instituts für Arbeit und Wirtschaft an der Universität Bremen, aus wissenschaftlicher und politischer Sicht mit den Ursachen und Wirkungen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise auseinander. Er zieht eine erste Bilanz und widmet sich in besonderem Maße der Frage, welche politischen Konsequenzen zu ziehen wären und welche Regel- und Kontrollmechanismen neu entwickelt und durchgesetzt werden müssen, um die Krise zu überwinden und eine Wiederholung zu vermeiden – im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Eine letzte Vorbemerkung: Kenner der Lageberichte der Kammer werden in diesem Heft die sonst üblichen Ausführungen und Statistiken zur allgemeinen Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Lande Bremen (Erwerbstätigkeit, Lohnentwicklung, Leistungsbezug) vermissen. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf unser überarbeitetes Statistisches Taschenbuch 2009. Komplettiert wird die Lageberichterstattung auch künftig durch einen Bericht im Herbst über die sozial und wirtschaftlich prekären Milieus im Lande Bremen und die Auswirkungen von Armut und Ausgrenzung auf die Stadtgesellschaft. 2.1 Qualitative Studie zum Thema Finanz- und Wirtschaftskrise – Hintergrund der Untersuchung Unsere Untersuchung zum Thema Finanz- und Wirtschaftskrise ist, wie bereits ausgeführt, darauf gerichtet, von bremischen und Bremerhavenern Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen zu erfahren, inwiefern die Folgen der Krise bereits Teil ihrer Lebens- und Arbeitswirklichkeit geworden sind, mit welchen Befürchtungen und Hoffnungen sie in die Zukunft sehen und ob die ökonomische Krise aus ihrer Sicht in eine Krise des politischen Systems überzugehen droht. Diese Aufgabenstellung wurde in einem qualitativen Verfahren in zwei Gruppendiskussionen und acht Einzelinterviews bearbeitet. Die Diskussionen sowie die Einzelinterviews wurden von einer Moderatorin auf Grundlage eines themenorientierten Leitfadens geführt. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Stichprobe waren in Bremen oder Bremerhaven beschäftigt und zwischen 18 und 60 Jahre alt. Gewonnen wurden 12 Teilnehmer/innen für die jeweils zweistündigen Gruppendiskussionen, davon sechs Frauen mit unterschiedlichem Bildungsabschluss und Berufsprofil (Hauswirtschaftslehrling, Geschäftsführungsassistentin, wissenschaftliche Mitarbeiterin, studentische Hilfskraft, Sozialversicherungsfachangestellte, Zahnarzthelferin) im Alter zwischen 28 und 48 Jahren; sechs Männer mit unterschiedlichem Bildungsabschluss und Berufsprofil (Koch, Erzieher, kaufmännischer Sachbearbeiter, Elektriker, Lehrer, Heilerziehungspfleger) im Alter zwischen 28 und 48 Jahren. 10 Resultate der Mitgliederbefragung Für die einstündigen Einzelinterviews wurden 8 Teilnehmer/innen gewonnen, davon vier Frauen, jeweils zwei mit höherem und zwei mit niedrigerem Bildungsabschluss; vier Männer, jeweils zwei mit höherem und zwei mit niedrigerem Bildungsabschluss. Die Gruppendiskussionen wurden geführt, damit sich die Teilnehmer/innen in einer lebendigen Gesprächssituation wechselseitig Anregungen und Impulse geben und dadurch ein vergleichsweise breites Spektrum von Einschätzungen und Meinungen zur Geltung kommt. Die qualitativen Einzelinterviews sollten dagegen, unabhängig von jedem gruppendynamischen Prozess, individuell und intensiv auf Haltungen und Einschätzungen der Befragten eingehen, um tiefere Einsichten in die aufgeworfenen Themen zu gewinnen. Der nachfolgende Bericht gibt die zusammengefassten Resultate der Gruppen- und Einzelbefragungen wieder. Er konzentriert sich dabei auf die Positionen, die in beiden Befragungsformen größtes Einvernehmen unter den Befragten gefunden haben, unabhängig von Geschlecht, Alter, Beruf oder Bildungsniveau. Auf den Resultaten dieser Stichprobe baute die sich anschließende repräsentative Umfrage auf (vergleiche Kapitel 2.10 bis 2.16 dieses Berichts). Die Schlussfolgerungen dieser Studie werden, wo dies sinnvoll erscheint, mit Zitaten aus den Gruppen- und Einzeldiskussionen belegt. 2.2 Ursachen der Krise und Verantwortlichkeiten Ausnahmslos alle Gesprächsteilnehmer/innen haben sich ein Urteil über die Gründe der Finanz- und Wirtschaftskrise gebildet. Ihr bisheriger Verlauf ist in Grundzügen durchaus allen bekannt. Dennoch wird das Thema als komplex oder hintergründig wahrgenommen. Die tatsächliche Lage und Rolle der Banken wird nach wie vor als undurchsichtig erlebt, die Protagonisten der Finanzwirtschaft gäben wenig Einblick in ihre Geschäfte – sowohl für die Medien als auch für den Einzelnen sei es daher schwierig, zu einer präzisen Erklärung für die Gründe des Finanz-Dilemmas zu gelangen. Die Auffassung, dass Banker an ihrem eigenen Geschäft gescheitert sind, weil sie ›die Geister, die sie riefen‹, nicht mehr beherrschen konnten, ist stark vertreten. Grundsätzlich aber werden die Ursachen der Krise in den bedingungs- und rücksichtslos auf Gewinn getrimmten, hochspekulativen Geschäftsmodellen der Banken gesehen, die weitgehend unkontrolliert und ungeregelt abgelaufen seien: ›Fing an mit Immobilienkauderwelsch, dass viele Leute Häuser auf Pump und Kredit gekauft haben. (...) Wer genau die Finger im Spiel hat, ist für mich undurchsichtig.‹ ›Junge aufstrebende Menschen, die mit irrealem Geld handeln. Da geht es nur um Tagesgewinne. Das ufert irgendwann aus.‹ ›Höheres Management hat zu viel Entscheidungsgewalt, zum Beispiel Broker, Trader und so weiter. (...) Die haben keine Ahnung vom Geschäft und verzocken sich.‹ 11 Nahezu alle Gesprächsteilnehmer/innen teilen die Auffassung, dass die Überhitzung der Finanzmärkte auf den exzessiven Spekulationsgeschäften der Bankmanager beruht, die sich wiederum von einer unverantwortlichen Renditegier antreiben lassen. Die Bankmanager werden daher als die Hauptverantwortlichen für die Krise gesehen. In diesem Urteil wird kaum differenziert; die Teilnehmer/innen sprechen nicht von einigen wenigen Bankmanagern, sondern betonen, dass gerade die Leitfiguren des (internationalen) Bankenwesens ihre ›(...) Sorgfaltspflicht vernachlässigt‹ haben. Eine Minderheit der Befragten insistiert darauf, dass nicht nur die Banken, sondern auch große, international agierende Unternehmen in den Renditewettbewerb eingetreten sind. Auch Teile der Realwirtschaft hätten der Krise durch ihre völlig überzogenen Renditeziele Vorschub geleistet, so der Vorwurf. Eine deutliche Verantwortung für die Krise wird auch den politischen Eliten zugewiesen. Politiker aller Parteien seien durch ihre Mitarbeit in den Aufsichtsgremien der Banken aus erster Hand über die überzogenen Ziele der Kreditinstitute informiert gewesen, die Regierung habe durch ihr politisches Handeln oder durch ihre politische Zurückhaltung die Eskalation der Krise mit produziert. ›Viele Politiker/innen sind auch Vorsitzende. Sie wussten, was passiert. Haben mitgespielt, mitgewettet.‹ ›Die Politiker tragen eine Mitschuld. Sie sind in den Aufsichtsgremien. Sie haben sich keine Einblicke verschafft in die Unternehmen.‹ ›Die Regierung hat mitgespielt.‹ Die Mehrheit aller Befragten weist entschieden den Verdacht zurück, dass die Konsumentinnen und Konsumenten eine Mitschuld an der Krise trügen, weil auch sie – vermittels Kredit – über ihre Verhältnisse gelebt hätten. Sie werden stattdessen als Leidtragende der Krise gesehen, auch weil die Banken die materiellen Notlagen und das Vertrauen ins Bankenwesen für ihre Geschäftsinteressen missbraucht hätten. Insbesondere wird in diesem Zusammenhang der Vertrauensverlust gegenüber den Ratschlägen der Finanzberaterinnen und -berater beklagt. ›Es gibt viele Leute, die können sich nicht einmal alltägliche Sachen wie einen Fernseher leisten. Durch einfaches Kreditwesen werden diese Leute in die Bank getrieben.‹ ›Die Verbraucher sind nicht schuld, denn sie gehen davon aus, dass die Kredite okay sind.‹ ›Ich habe immer gedacht, dass man selber einen Kredit nur mit gewissen Sicherheiten bekommt.‹ Eine kleine Gruppe der Befragten insistiert allerdings darauf, dass ›menschliche Gier‹ ein Kennzeichen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung sei und nicht auf die Finanz- und Realwirtschaft beschränkt werden könne. Diese Untergruppe unterstellt der gesamten Gesellschaft daher eine Mitverantwortung am Zustandekommen der Krise, weil nur noch materieller Wohlstand als Erfolgskriterium Anerkennung finde. 12 Resultate der Mitgliederbefragung 2.3 Staatliche Kontrolle der Finanzmärkte Einig waren sich die Interviewten über eine dringend nötige starke Kontrolle der Finanzmärkte. Allerdings besteht Ratlosigkeit, wie und durch wen diese Kontrolle effektiv und effizient ausgeübt werden könnte. Auch in dieser Hinsicht wird die Vermutung laut (vergleiche Kapitel 2.2 dieses Berichts), dass Finanzmärkte und Bankgeschäfte zu undurchsichtig und komplex seien und sich damit jeder durchgreifenden Kontrolle entzögen. Skepsis herrscht auch gegenüber der Rolle, die in dieser Hinsicht die Politik oder der Staat spielen könnten. Zwar nehmen alle Befragten den Willen von Staat und Parteien zur Kenntnis, eine neue, geregelte ›Architektur der Finanzwelt‹ zu schaffen. Es besteht aber ein ganz prinzipieller Zweifel, ob die Politik mit dieser Aufgabe nicht überfordert ist – zumal sie selbst in das praktische Geschäft der Banken involviert sei. ›Die Politik kann nicht so schnell hinterher sein. Die können nicht in jede Bank reingucken.‹ ›Bedingt ist der Finanzmarkt kontrollierbar, zum Beispiel über Rahmengesetze, (...) ansonsten ist er zu verflochten.‹ ›Nein, der Finanzmarkt ist zu verflochten, (...) keine Behörde kann das kontrollieren.‹ ›Kontrolle zur Abschreckung sollte man versuchen. Ob das etwas bewirkt, ist eine ganz andere Frage.‹ In den Antworten kommt ein deutlicher Zweifel an den Absichten, vor allem aber an den Möglichkeiten einer rechtsstaatlichen Neugestaltung und Kontrolle des Bankengeschäfts zum Ausdruck. Mit Sicherheit ist dieser Zweifel nicht gleichzusetzen mit einem grundlegenden Skeptizismus gegenüber der ordnungspolitischen Kompetenz der staatlichen Organe. Immerhin aber hält man die ordnende und ausgleichende Zuständigkeit des Staates für die Finanzwirtschaft nicht mehr uneingeschränkt für gesichert. Angesichts der überragenden Bedeutung, die der Finanzsektor für die regionalen Standorte und damit für die Erwerbsmöglichkeiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat, könnte sich diese Einschätzung zu einer tieferen Skepsis gegenüber der politischen Stabilität der Verhältnisse ausweiten. Jedenfalls dann, wenn die Versuche des Staates, die Finanzwirtschaft aus der Krise zu führen, auf absehbare Zeit erfolglos bleiben. 2.4 Auswirkungen der Finanzkrise: Annahmen und Befürchtungen Allgemeine Wirtschaftsentwicklung Alle Gesprächsteilnehmer/innen gehen davon aus, dass die Finanzkrise vollständig auf die Realwirtschaft übergreifen wird. Ein Ende der Krise ist nach Meinung der Befragten nicht in Sicht. Im Gegenteil: Die Mehrzahl fürchtet, dass wir erst am Anfang zunehmender Unternehmenskonkurse und parallel zunehmender Massenarbeitslosigkeit stehen. ›Schockierend ist bereits heute der Konkurs etablierter Firmen.‹ ›Arbeitsplätze werden verloren gehen.‹ ›Viele werden auf der Strecke bleiben und entlassen. Vollbeschäftigung wird schwieriger, befristete Verträge werden zunehmen.‹ ›Kleinere Firmen werden wegbrechen und in Konkurs gehen. Gerade die werden die Leute nicht halten können.‹ 13 Arbeitslosigkeit und Leiharbeit Dass die Arbeitslosigkeit massiv ansteigen wird, ergibt sich aus dem von den Befragten skizzierten Krisenszenarium der Realwirtschaft. Wie sich die Arbeitslosigkeit entwickeln wird, darüber besteht Uneinigkeit. Viele befürchten einen Anstieg der Massenarbeitslosigkeit um zehn Prozent oder mehr. Mit Blick auf die Erwerbsarbeit denkt eine Mehrheit der Befragten bereits heute an die Zeit nach der Krise und erwartet nichts Gutes. So gehen die meisten von stark anwachsender Leiharbeit aus – langfristig gesehen sogar als dominierende Beschäftigungsform der Zukunft. Diese Einschätzung ist mit massiven Ängsten in Bezug auf eine dann zwangsläufig eintretende Unsicherheit der Beschäftigungsperspektive verbunden und mit einer starken Furcht vor Einkommens- und Wohlstandsverlusten. Generell wird die gegenwärtige Krise von den Befragten daher auch als ein Vorwand angesehen, den die Unternehmen in immer stärkerem Maße nutzen werden, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Leiharbeit als ›moderne Form‹ der Normalarbeit aufzuzwingen. ›Wer einen Festvertrag hat, der kann sich wahrscheinlich noch freuen. Bei Zeitverträgen und Neuverträgen wird es gewaltig nach unten gehen. Und wenn es nur 100 Euro mehr sind als bei Hartz IV, es findet sich immer einer, der das macht.‹ ›Das mit der Zeitarbeit wird weitergehen. (...) Und die Löhne werden so weit gedrückt, dass wir von unserem Geld eigentlich gar nicht mehr leben können.‹ ›Ich denke, dass mit der Zeitarbeit wird ein großes Modell werden. Das ist eigentlich Sklavenhandel.‹ Löhne und Gehälter Die Mehrheit der Befragten geht vor dem Hintergrund der Krise bei den fortbestehenden Arbeitsverträgen von stagnierenden Löhnen und Gehältern aus. Zudem wird die Befürchtung laut, dass Unternehmen – bei stagnierendem Stundenlohn – Wochenarbeitszeit reduzieren und entsprechend weniger Lohn oder Gehalt zahlen werden. ›Das Gehalt wird sinken, bei gleichem Stundenlohn. (...) Man arbeitet nur noch 35 statt 40 Stunden und kriegt dann entsprechend weniger Geld.‹ Alle Gesprächsteilnehmer/innen erwarten von den Unternehmen eine Fülle von Maßnahmen, um zur Krisenbewältigung Lohnkosten abzubauen. Dennoch hätten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer keinerlei Veranlassung, von sich aus in kommenden Tarifrunden Bescheidenheit zu üben. Die Befragten verweisen auf die in den vergangenen zwei Jahren massiv gestiegenen Lebenshaltungskosten und explizit auch auf den Gesichtspunkt der Einkommensgerechtigkeit. Angesichts der hohen Bonuszahlungen für Manager, aber auch der immer weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen Normal- und Spitzeneinkommen, werde deutlich, wie ungerecht Löhne und Gehälter verteilt seien und wie stark der Nachholbedarf im Bereich der Normaleinkommen sei. ›Alles steigt, aber nicht das Gehalt. Das Gehalt muss angepasst werden.‹ ›Die Forderungen sind nicht erst durch die Krise gekommen. (...) Sie (die Arbeitnehmer/innen) hatten nicht genug Steigerungen im Vergleich zu anderen Berufen oder zu Managern – da darf man ja gar nicht hingucken. Da kann man ja vor Neid erblassen.‹ 14 Resultate der Mitgliederbefragung Lebenshaltungskosten Trotz gegenteiliger Auffassungen der Fachleute glauben die Gesprächsteilnehmer/innen nicht daran, dass es in der Krise zu einem allgemeinen Verfall der Preise kommen werde. Man stellt sich vielmehr darauf ein, dass diese weiter steigen werden, differenziert dabei aber. Bei Benzin, Strom und Nahrungsmitteln, so nimmt man an, werden sich die Preise stabilisieren – mit einer Tendenz zum Günstigen, alles andere wird teuer bleiben oder teurer werden. ›Ja, die Preise steigen. Aber nicht mehr so steil wie vor der Wirtschaftskrise.‹ ›Beim täglichen Bedarf bleibt es im grünen Bereich. Sehe Tendenz ins Günstigere. Die Firmen versuchen, mit den Preisen runterzugehen. (...) Alles andere wird teuer bleiben.‹ 2.5 Einschätzung der staatlichen Maßnahmen zur Krisenbewältigung dergrund der Regierungsaktivitäten steht. Aus den Konjunkturprogrammen sind ihnen dagegen insbesondere die Abwrackprämie und die Kindergelderhöhung bekannt. Einige Teilnehmer/innen stellen den Sinn von Abwrackprämie und Kindergelderhöhung allerdings in Frage. So halten sie, mit Blick auf die gestiegenen Lebenshaltungskosten, die Zahlung eines einmaligen Zuschusses zum Kindergeld in Höhe von 100 Euro für völlig unzureichend. Auch bei der Abwrackprämie wird vermutet, dass sie letzten Endes zulasten der gegenwärtig günstigen Rabatte geht, die man beim Neuwagenkauf erzielen kann. Wünschen würden sich die Teilnehmer/innen dagegen Maßnahmen, die unmittelbar dem alltäglichen Konsum zugutekommen: ›Die müssten die Mehrwertsteuer senken.‹ ›Sozialabgaben und Steuern sollten gesenkt werden.‹ ›Den Einkaufsgutschein für Verbraucher. Hätte ich toll gefunden.‹ Unterstützung von Unternehmen Bekanntheitsgrad und allgemeine Bewertung der bekannten Maßnahmen Bei den Gesprächsteilnehmern und -teilnehmerinnen besteht kein umfassender Einblick in die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Finanz- und Konjunkturkrise. Ausmaße und Intentionen etwa des 500-Milliarden-Kreditund Bürgschaftsprogramms der Bundesregierung zur Unterstützung der Finanzwirtschaft (Bankenschutzschirm) sind nicht gründlich bekannt. Das Gleiche gilt für die beiden Konjunkturprogramme der Großen Koalition. Die Gesprächsteilnehmer/innen vermischen einzelne Maßnahmen der Hilfspakete miteinander und beschränken sich in den Diskussionen auf die wenigen, ihnen geläufigen Hilfen. Allen ist bewusst, dass die ›Bankenrettung‹ im For- Unabhängig von den konkreten Maßnahmen der Konjunkturprogramme sprechen sich die Gesprächsteilnehmer/innen mehrheitlich für eine Unterstützung von Unternehmen der Realwirtschaft aus, allerdings zu klaren Bedingungen. Oberste Priorität haben für sie Hilfen für solche Unternehmen, an deren Existenz ganze Standorte und damit die Lebens- und Arbeitsbedingungen einer großen Zahl von Beschäftigten hängt – in den Schlüsselunternehmen selbst und auch bei den Zulieferern: 15 ›Der Staat soll sich um Firmen kümmern, in denen viele Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen.‹ ›Wie bei Mercedes, wenn die Leute entlassen müssten. Das dürfte man nicht eskalieren lassen.‹ Besondere Bedeutung haben auch Hilfen für kleine und mittlere Unternehmen, weil sie das Kernangebot an Arbeitsplätzen stellen: ›Was ist mit den kleinen Handwerkern, was mit dem Mittelstand? Weil Maler Meier nur zehn Angestellte hat, (...) der muss Insolvenz anmelden.‹ ›Der Mittelstand, Märklin, Schiesser, die muss man einfach retten.‹ Dennoch ist für die Befragten die Klärung der Frage ausgesprochen wichtig, warum Unternehmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten sind und wer dafür die Verantwortung trägt. Eine Unternehmensförderung um jeden Preis lehnen die Gesprächsteilnehmer/innen ab. Aus ihrer Sicht ist vor jeder Unterstützung zu prüfen, inwiefern eine ökonomische Schieflage tatsächlich unverschuldetes Resultat der Finanzkrise ist oder ob die wirtschaftlichen Schwierigkeiten auf Fehlkalkulationen und Missmanagement zurückzuführen sind. In l etzterem Falle wäre aus Sicht der Teilnehmer/innen vor jeder staatlichen Intervention zu prüfen, ob die Verursacher der Schwierigkeiten zur Verantwortung gezogen werden können und ob eine realistische Aussicht auf die Weiterführung des Unternehmens besteht. Hilfe für die Banken Die enormen Mittel, die der Staat zur Rettung der Banken verbürgen und gegebenenfalls auch bereitstellen will, sind für die Gesprächsteilnehmer/innen kaum zu fassen. Allenthalben wird der offenkundige Widerspruch benannt, dass die Bundesregierung bis vor wenigen Monaten eine weitere Staatsverschuldung kategorisch abgelehnt hat und nun – quasi aus dem Stand – schuldenfinanzierte Hilfen für Finanzwirtschaft und Konjunktur in atemberaubender Höhe zur Verfügung stellt: Dies ist für die Befragten nicht nachvollziehbar. Die Gesprächsteilnehmer/innen gehen davon aus, dass sie selbst und viele nachfolgende Generationen letztlich für diese Staatsverschuldung aufkommen müssen, sei es durch Steuern und Abgaben oder in Form gekürzter Leistungen: ›Der Steuerzahler wahrscheinlich wieder!‹ ›Wir, unsere Kinder und Kindeskinder zahlen das.‹ Allerdings sind die Gesprächsteilnehmer/innen bislang weit davon entfernt, den benannten Widerspruch im staatlichen Handeln zu einem Skandal erster Ordnung zu stilisieren. Prinzipiell wird gegen die von der Bundesregierung und allen Parteien immer wieder betonte, übergeordnete Bedeutung des Finanzsektors nichts eingewandt. Die Notwendigkeit von Rettungsmaßnahmen wird daher auch nicht bestritten. Dennoch dürfte auch hier gelten: Die politischen Akteure haben – mit dem bloßen Verweis auf den ›normativen Zwang des Faktischen‹ – ihre Position zu Sinn und Zweck der Staatsverschuldung von einem Tag auf den anderen geändert und damit auch den behaupteten Grund für die Begrenzung der Verschuldung, nämlich den Schutz künftiger Generationen, aus dem Verkehr gezogen. Ein Grund, der seine Plausibilität insbesondere aus der fürsorglichen Funktion des Staates 16 Resultate der Mitgliederbefragung für die Gruppen seiner Bürgerinnen und Bürger bezieht, die ihre Interessen (noch) nicht selbstständig zu Gehör bringen können. Ob und wie lange dieser abrupte Wechsel im staatlichen Handeln glaubwürdig bleibt, ob die immense Neuverschuldung des Staates als ›notwendiges Übel‹ akzeptiert wird, hängt davon ab, ob die eingesetzten Mittel aus Sicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht dazu dienen, die Exzesse von ein paar verantwortungslosen Finanzjongleuren kosmetisch zu überdecken. Sollte dieser Eindruck entstehen, würde der Staat als eine Institution wahrgenommen, die quasi als ›Dienstleistungsagentur‹ für die Finanzwirtschaft agiert und nicht als ausgleichende Instanz zur Wahrung des Allgemeinwohls. Garantie privater Spareinlagen Alle Gesprächsteilnehmer/innen haben seinerzeit zur Kenntnis genommen, dass die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Merkel, in einer öffentlichen Erklärung die Sicherheit privater Spareinlagen garantiert hat. Illusionen machen sich die Teilnehmer/innen über diese Erklärung nicht. Bei allen herrscht die Ansicht vor, dass eine derartige Garantie nur derjenige gibt, der es offenbar nötig hat: ›Hätten alle ihr Geld abgehoben, wären der Markt und die Banken schnell zusammengebrochen. (...) Die Rede von Frau Dr. Merkel war wirtschaftspolitisch notwendig.‹ Zugleich wird die Glaubwürdigkeit der Garantieerklärung stark angezweifelt. Dies nicht so sehr deshalb, weil sich die durchaus vorhandene Skepsis gegenüber der Glaubwürdigkeit der Politik erneut Bahn bricht, ›Die Kanzlerin kann viel erzählen. (...) Frau Merkel ist nicht glaubwürdig.‹ sondern vielmehr, weil die Garantie nichts anderes als eine politische Absichtserklärung darstellt. Die Befragten sind sich einig, dass die Garantieerklärung rechtlich gesehen keinen materiellen Hintergrund hat, sondern Sicherheit stiften will, ohne den Adressaten der Erklärung ein (Rechts-)Mittel an die Hand zu geben, mit dem sie ihre Ansprüche im Zweifel gerichtlich durchsetzen können. 2.6 Persönliche Betroffenheit Die Gesprächsteilnehmer/innen sind nach eigener Auskunft bisher weitgehend von Krisenauswirkungen verschont geblieben. Nur vereinzelt wurden Verluste in Aktiengeschäften oder Zinsverluste im Versicherungsbereich eingeräumt. Aber selbst in diesen Fällen kam es nicht zu existenziellen Einbußen, weil nur geringe Beträge im Spiel waren. Alle haben aber Verwandte, Freunde oder Bekannte, die es bereits härter getroffen hat. Berichtet wird über Angehörige oder Freunde, die ersparte Mittel in Fonds angelegt hatten und bis zu zwei Drittel ihrer Anlagen verloren haben. Im Bekanntenkreis haben außerdem alle jemanden, der oder die seinen/ihren Arbeitsplatz infolge der Krise verloren hat oder deren befristete Verträge nicht verlängert wurden. Aus den Medien stammt die Information, dass insbesondere die LehmannPleite viele ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um ihre private Altersabsicherung gebracht hat. Insgesamt wird die gegenwärtige Situation atmosphärisch so beschrieben: ›Irgendwie ist das wie ein Damoklesschwert, das so über einem schwebt. Alle reden davon, aber bislang ist man selbst noch nicht berührt.‹ 17 Erspartes Überwiegend vertrauen die Gesprächsteilnehmer noch auf die als sicher eingestuften, einfachen Anlage- und Aufbewahrungsformen ihres Geldes, wie etwa das Sparbuch oder ein Festgeldkonto. Nur wenige Teilnehmer/innen erwarten hier für die Zukunft Verluste. Stattdessen vermutet man eher einen Rückgang der Sparzinsen und – was als schlimmer eingeschätzt wird – eine massive Inflationierung des Geldes durch die enorme Staatsverschuldung, die die individuelle Konsumtionskraft künftig massiv beschränken wird. ›Ich habe keine Angst. Das Sparbuch ist eine feste Anlage.‹ ›Ja, die Inflationsrate wird höher. Also muss man Angst um sein Erspartes haben.‹ Private Altersvorsorge Die Gesprächsteilnehmer/innen mit einer privaten Altersvorsorge nach zertifiziertem Riestermodell äußern keine Angst vor Wertverlusten ihrer Anlagen. Das weitaus gravierendere Problem wird unabhängig von der Finanzkrise darin gesehen, die Kürzungen bei der gesetzlichen Rente durch private Vorsorge auffangen zu können. Vor dem Hintergrund steigender Lebenshaltungskosten, rückläufiger Löhne und Gehälter sowie wachsender Arbeitsplatzunsicherheit wächst die Angst, den gewohnten Lebensstandard im Alter nicht einmal annähernd halten zu können. Immobilien Die Teilnehmer/innen, die Häuser oder Eigentumswohnungen besitzen, beklagen den gegenwärtigen Preisverfall ihres Besitzes, sind sich aber nicht sicher, ob dieser in direktem Zusammenhang zur Finanzkrise steht: ›Wir haben ein Mehrfamilienhaus. Das können wir unmöglich jetzt verkaufen.‹ ›Ich habe mein Haus verkauft und ein bisschen was verloren. Ich weiß nicht, ob das speziell an der Finanzkrise gelegen hat.‹ Konsumverhalten Alle Gesprächsteilnehmer/innen geben an – die Älteren dabei mit besonderem Nachdruck –, dass sie ihr Konsumverhalten in den vergangenen Jahren, ganz unabhängig von der Krise, grundlegend verändern mussten. Größere Anschaffungen oder Reisen konnten wegen der zunehmenden Steuer- und Abgabenbelastung und massiver Preissteigerungen oft gar nicht mehr oder nur in größeren zeitlichen Intervallen geschultert werden. ›Liegt nicht an der Finanzkrise. Haben jedes Jahr Urlaub gemacht, das ist vorbei. Geht nur noch alle drei Jahre.‹ ›Wir kommen noch hin. Wir können aber keine großen Sprünge machen, zum Beispiel essen gehen eingeschränkt.‹ Der Spardruck, der ohnehin bereits auf den Gesprächsteilnehmern und Gesprächsteilnehmerinnen liegt, wird durch die Krise verstärkt: In Bezug auf Anschaffungen oder das Eingehen finanzieller Verbindlichkeiten müsse man künftig noch größere Sorgfalt walten lassen. 18 Resultate der Mitgliederbefragung Wohlstand und Existenz Eine praktische Konsequenz haben nahezu alle Gesprächsteilnehmer/innen aus den bereits vor der Krise enger gewordenen Teilhabemöglichkeiten am Konsum gezogen: Alle stellen sich darauf ein und arrangieren sich damit, dass die persönliche, finanzielle Situation schwieriger geworden ist und zukünftig noch schwieriger werden könnte: Dennoch ist das Klima unter den Gesprächsteilnehmern und Gesprächsteilnehmerinnen nicht angstfrei, was Wohlstand und Existenzbedingungen in der Zukunft anbelangen. Zweifel kommen auf, ob man den kommenden Schwierigkeiten auf die Dauer begegnen kann und so sind erste Existenzängste deutlich auszumachen: ›Ja, ich bin ängstlich. Ich habe Angst, dass meine Wohnung entwertet wird.‹ ›Es geht uns nicht schlecht. Sind Mittelstand. Aber es bedeutet schon Entbehrung, zum Beispiel weniger Urlaub. Ist noch nicht dramatisch.‹ ›Kein Arbeitsplatz ist sicher. Man macht sich Gedanken, wie manches zu finanzieren ist.‹ ›Ich habe mir angewöhnt, meinen Lebensstandard runterzuschrauben.‹ ›Es sind auch Verlustängste. Ich mache mir Gedanken um meine Rente.‹ ›Dass ich mich einschränken muss, ist okay. Ich bin mit Einschränkungen aufgewachsen.‹ Ganz vereinzelt beginnen Teilnehmer/innen die Frage zu stellen, ob ihnen nicht doch bessere Lebensbedingungen zugänglich sind. Allerdings sehen sie dabei keine Chancen am hiesigen Standort, sondern denken darüber nach, ob sie ihre Lage durchgreifend durch Auswanderung verbessern können. Auch in diesen Haltungen zeigt sich erneut, dass die Teilnehmer/innen weit davon entfernt sind, die rechtlichen oder ethischen Ordnungsprinzipien der Gesellschaft infrage zu stellen. Alle haben inzwischen materielle Beschränkungen am eigenen Leibe erfahren – noch ganz getrennt von den drohenden Folgen der globalen Krise. Bei allen überwiegt bislang die Absicht, sich den Herausforderungen zu stellen und mit ihnen zurechtzukommen. Allerdings – die zur Bebilderung und Begründung der Krise so oft und gern breitgetretene Phrase einer Gesellschaft, die angeblich ›über ihre Verhältnisse gelebt‹ habe, erweist sich angesichts der zitierten Einschätzungen als ideologisch. Den Exzessen der Finanzwirtschaft auf der einen Seite entsprechen ganz offenkundig die Strategien zur Selbstbeschränkung und zum Rückbau der Konsumansprüche auf der anderen Seite. ›Wir haben schon mehrmals damit geliebäugelt, auszuwandern.‹ ›Ich habe viele Möglichkeiten, egal, wo ich hingehe auf unserem Planeten.‹ 19 2.7 Krisenauswirkungen auf soziale Marktwirtschaft und demokratische Ordnung Auf die Frage, ob die Finanz- und Wirtschaftskrise im Begriff steht, sich zu einer Krise des politischen Systems auszuweiten, konnten die Befragten keine einvernehmliche Antwort finden. Zwei Standpunkte dominierten die Gespräche: Eine Gruppe lehnte die These, dass die politische Stabilität des Gesellschaftssystems durch die Krise gefährdet sei, rundheraus ab. In dieser Gruppe herrschte die Meinung vor, dass die soziale und materielle Ordnung abhängig sei vom Engagement jeder/jedes Einzelnen. Die Befragten sehen sich in der Pflicht, selbst aktiv zu werden, nicht ›nur zu Hause zu sitzen und zu leiden‹, sondern alles in den eigenen Kräften stehende zu tun, um die gegenwärtige Depression zu überwinden. Die politische und marktwirtschaftliche Ordnung wurde von diesen Teilnehmern und Teilnehmerinnen als entscheidende Bedingung für den Erfolg derartiger Anstrengungen angesehen. Allerdings – diese Meinung hatte starke Züge eines ›Bekenntnisses‹, denn die Verfechter dieser Meinung haben sich bislang weder politisch noch sozial engagiert. Die andere Fraktion zeichnete sich durch einen enormen Rigorismus aus. Sie wies die Frage an sich zurück, weil ›nichts in die Krise geraten könne, das nicht mehr existiere‹. Diese Gruppe vertritt die Position, die demokratische Ordnung und die soziale Marktwirtschaft seien bereits ein Zerrbild ihrer selbst. Der Staat sei längst einseitiger Dienstleister wirtschaftlicher Interessen, die ihrerseits große Teile des gesellschaftlichen Lebens kontrollierten. Möglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger, auf dieses ›Machtkartell‹ Einfluss zu nehmen, wurden rundheraus bestritten. Im Resultat trafen sich die Protagonisten dieser Auffassung schließlich mit ihren Gegnern und Gegnerinnen: Auch sie zeichnen sich durch Abstinenz aus, was politisches und soziales Engagement anbelangt. 2.8 Ausblick In einem letzten Gesprächsdurchgang stellten die Teilnehmer/innen zumindest in einer Hinsicht wieder Einvernehmen her: Das Ende der Krise ist längst nicht erreicht. Niemand traute sich zu, eine umfassende Einschätzung über die Auswirkungen der Krise zu geben, über das hinausgehend, was Gegenstand der vorangegangenen Diskussionen war. Für die Hoffnung, dass irgendwann schon alles irgendwie wieder gut werde, fand man zwar kein handfestes Material, aber einen Trost: ›Wenn irgendwo ein Tief ist, wird es schon auch wieder ein Hoch geben!‹ 20 Resultate der Mitgliederbefragung 2.9 Fazit Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise ist allen Gesprächsteilnehmern und Gesprächsteilnehmerinnen ein Begriff. Alle haben sich – qualitativ sehr unterschiedliche – Gründe für das Zustandekommen der Depression zurechtgelegt. Der bisherige Verlauf der Krise ist allen Befragten bekannt. Die Teilnehmer/innen sehen die Verantwortung für die Krise eindeutig bei der Finanzwirtschaft und ihren Leitfiguren. Eine Mitverantwortung trägt aus Sicht der Befragten aber auch der Staat, der durch seine Maßnahmen oder durch unterlassene Interventionen die Ausbreitung der Krise begünstigt hat. Die Gesprächsteilnehmer/innen wünschen eine stärkere Regelung und Kontrolle des Banken- und Finanzsektors, bezweifeln aber zugleich, ob dies durchgreifend zu erreichen ist. Aus ihrer Sicht bleibt das Bankengeschäft undurchsichtig und hintergründig, so dass es seinen Protagonisten stets leichtfallen wird, sich externen Regelungen zu entziehen. Die Intervention des Staates zum Schutz der Finanz- und Realwirtschaft wird dennoch unter gewissen Bedingungen begrüßt. Von vorrangiger Bedeutung ist für die Befragten dabei die Rettung und Sicherung von Arbeitsplätzen, nicht nur bei den Großunternehmen, sondern vor allem auch im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen. Einvernehmen besteht allerdings in der Auffassung, dass jeder staatlichen Hilfe eine intensive Ursachenforschung über das Zustandekommen wirtschaftlicher Schieflagen vorausgehen müsse. In Fällen von Missmanagement und Fehlkalkulationen sind zunächst diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die die Verwerfungen verursacht haben. Wenig Illusionen machen sich die Befragten über die neuerliche, immense Staatsverschuldung zur Rettung der Banken und der Konjunktur. Nachfolgende Generationen werden für die neuen Lasten aufkommen müssen. Bislang wird dies von allen als Notwendigkeit akzeptiert. Die bisherigen, unmittelbar-persönlichen Folgen der Krise halten sich bei allen Befragten noch in Grenzen. Das teilweise distanzierte Verhalten der Gesprächsteilnehmer/innen zur Krise und ihren Auswirkungen lässt sich dadurch erklären, dass alle bereits eine schwierige wirtschaftliche Entwicklung durchgemacht haben, einschließlich massiver Verluste an Konsumtionskraft und Lebensqualität. Die Krise an sich verstärkt insofern nur ein bestehendes Klima, in dem Verzicht und Beschränkung zu Strategien ausgebaut wurden, um mit den Herausforderungen zurechtzukommen. Soweit Zukunftsängste um sich greifen, haben diese ihre Ursache häufig schon vor der Finanzkrise (Rentenunsicherheit, Arbeitslosigkeit, Leiharbeit, Spardruck), haben nun aber zumindest atmosphärisch durch die Wahrnehmung der sich entwickelnden Krisenphänomene an Nachdruck gewonnen. Bislang ist der Wille, den möglichen Herausforderungen der Krise individuell zu begegnen, ungebrochen. Dennoch mischt sich in den noch verhaltenen Optimismus zunehmend die Angst, dass man nicht ewig standhalten kann. Insofern kann angesichts der Urteile der Befragten gegenwärtig nicht die Rede davon sein, dass sie die Finanz- und Wirtschaftskrise zugleich als eine Gefährdung der sozialstaatlichen Stabilität erleben. Die Frage, ob es bei diesem Fazit bleiben kann, wenn die staatlichen Maßnahmen zur Überwindung der Krise weiterhin ins Leere laufen, ist ohne Spekulation nicht zu beantworten; insofern wird ihr keine Bedeutung beigemessen. 21 2.10 Wirkungen und Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise – Resultate der Mitgliederbefragung Auf Basis der Resultate der unter den Punkten 2.1 bis 2.9 dargestellten qualitativen Studie wurde vom 24. Februar 2009 bis zum 9. März 2009 eine repräsentative Meinungsumfrage bei insgesamt 701 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus Bremen und Bremerhaven durchgeführt. Ausgehend von den Einschätzungen, die wir in den Gruppen- und Einzeldiskussionen gewonnen hatten, fragten wir gezielt nach den Gründen der Krise; ihren allgemeinen sowie privaten Ursachen und Folgen; den Informationsquellen, aus denen Aufschluss über die Entwicklung der Krise gewonnen wird; den Einschätzungen zur staatlichen Krisenintervention; den Einschätzungen zur gegenwärtigen Lage; den Annahmen und Befürchtungen der zukünftigen Entwicklung. In den telefonischen Interviews wurde ein Fragebogen eingesetzt, der von der Arbeitnehmerkammer Bremen und dem Konkret Marktforschungsinstitut Bremen entwickelt worden war und der offene und geschlossene Fragen enthielt. Die 701 Personen, die an der Befragung teilnahmen, in Bremen oder Bremerhaven arbeiteten oder zuletzt gearbeitet hatten, wurden nach dem Random-Verfahren ermittelt. Zur Finanzkrise im engeren Sinne konnten N=679 der kontaktierten Personen einen relevanten Bezug herstellen. Sie wurden von uns daher intensiv befragt. Diese Gruppe setzte sich zusammen aus: Frauen Männer N=286 N=393 Bremen Bremerhaven N=585 N= 94 Erwerbstätige Vollzeit Teilzeit arbeitslos N=600 N=445 N=155 N= 79 ohne Schulabschluss Schulabschluss ohne betriebliche Ausbildung betriebliche Ausbildung Fachhochschulabschluss Hochschulabschluss N= 18 26 36 40 46 56 – 25 Jahre – 35 Jahre – 39 Jahre – 45 Jahre – 55 Jahre Jahre und älter Deutsche Ausländer/innen 6 N= 80 N=289 N=135 N=164 N=115 N= 85 N= 83 N= 90 N=228 N= 78 N= 650 N= 29 Migrationshintergrund N=135 kein Migrationshintergrund N=544 22 Resultate der Mitgliederbefragung 2.11 Gründe der Finanz- und Wirtschaftskrise und Informationsquellen Ein Resultat unserer Gruppen- und Einzeldiskussionen bestätigten die Teilnehmer/innen der Meinungsumfrage uneingeschränkt: An der Finanz- und Konjunkturkrise kommt man nicht mehr vorbei. 99,7 Prozent der Befragten, also 699 von insgesamt 701 ausgewählten Personen, hatten von der Krise gehört und sich mit ihr beschäftigt. Wohnort-, geschlechter- und altersübergreifend waren sich nahezu zwei Drittel dieser 699 Teilnehmer/innen darin einig, dass man seit Mitte/Ende des vergangenen Jahres von einer ausgeprägten Finanzkrise in Deutschland sprechen müsse (höchster Wert: 71 Prozent der Bremerhavener/innen, niedrigster Wert: 65 Prozent der befragten Männer). Rund ein Viertel der Befragten datiert den Beginn der Krise auf den Anfang des vergangenen Jahres oder auf einen früheren Zeitpunkt; bis zu 9 Prozent der Befragten geben an, dass man erst seit diesem Jahr von einer Finanzkrise sprechen könne. Abbildung 1: Seit wann spricht man aus Ihrer Sicht von dieser Finanzkrise? (Basis: Befragte, die von der Finanzkrise gehört haben / N=699) seit diesem Jahr seit Mitte/Ende letzten Jahres seit Anfang letzten Jahres vorher gesamt 9% 67% 19% 5% Bremen 10% 66% 20% 5% 71% 15% 6% 68% 15% 5% 65% 22% 5% 18–25 Jahre 10% 66% 19% 4% 26–35 Jahre 10% 66% 21% 36–39 Jahre 14% 67% 18% 40–45 Jahre 8% 61% 23% 7% 46–55 Jahre 9% 69% 17% 6% 56 Jahre und älter 6% 68% 21% 6% Bremerhaven 7% weiblich 11% männlich 8% 3% 1% 23 Abbildung 2: Wie informieren Sie sich über das Thema Finanzkrise? (Basis: Befragte, die von der Finanzkrise gehört haben / N=699) Fernsehen 90% Tageszeitung 75% Radio 50% Internet 46% Familie/Freunde/Bekannte 39% Kollegen 34% überreg. Zeitungen/Zeitschriften 28% sonstige 1% Das Fernsehen ist die Hauptinformationsquelle zum Thema Finanzkrise. 90 Prozent der Befragten beziehen ihr Wissen über die Entwicklung aus diesem Medium. Kaum weniger wichtig sind die Tageszeitungen. Drei von vier Befragten nutzen dieses Medium zur Information. Jede/r Zweite nutzt das Radio als Informationsquelle und bereits 46 Prozent beziehen ihre Informationen über die Krise aus dem Internet. Die Frage, wie es zur Finanzkrise gekommen ist, wird – unabhängig von Wohnort, Geschlecht, Nationalität, Alter, Beruf oder Qualifikation – von der Mehrheit der Teilnehmer/innen eindeutig mit dem Hinweis auf die in der Finanzwirtschaft vorherrschende Geschäftspraxis beantwortet. Bei den Banken allgemein, speziell bei den amerikanischen, bei den hohen Gewinnausschüttungen der Institute, bei ihren fehlgeschlagenen Spekulationsgeschäften, der von ihnen mitheraufbeschworenen Krise des amerikanischen Immobilienmarktes und den in der Folge zu verzeichnenden Einbrüchen im System werden die Hauptursachen für die Krise ausgemacht. Dies bestätigt all die Einschätzungen, die uns die Teilnehmer/innen der Gruppen- und Einzeldiskussionen vermittelten. 24 Resultate der Mitgliederbefragung Abbildung 3: Wie ist es aus Ihrer Sicht zur Finanzkrise gekommen? (Basis: Befragte, die von der Finanzkrise gehört haben / N=699) Banken allgemein 15% USA allgemein 10% Spekulation der Banken, verspekuliert 8% amerikanische Banken, Bankencrash 7% Immobilienkrise USA 6% Geldgier, Gier der Menschen 6% schlechte Politik 5% zu hohe Geldausschüttung durch die Banken 5% Bei der Frage nach der ökonomischen und politischen Verantwortung für die Krise weichen die Resultate der Telefonumfrage aber in einem Punkt deutlich von den Einschätzungen der Teilnehmer/innen der Gruppen- und Einzeldiskussionen ab. Zwar bestätigen die Umfrage-Teilnehmer/innen mit hohen Werten zwischen 1,4 und 2,4 auf einer 6er-Skala die Auffassung der Diskussionsteilnehmer/innen, dass Banken (MW=Mittelwert 1,4), Aufsichtsräte/Vorstände (MW 1,9), Staat und Politik (MW 2,0) sowie Großunternehmen (MW 2,4) die Hauptverantwortung für die Krise tragen. Auch besteht Einvernehmen darin, dass die Konsumenten und Konsumentinnen (MW 4,4) oder die kleinen und mittleren Unternehmen (MW 4,6) keine oder kaum Schuld für die Krise trifft. Aber – im Gegensatz zu den Resultaten der Gruppen- und Einzeldiskussionen ergibt sich aus der telefonischen Umfrage ein Trend (MW 3,5) zu der Auffassung, dass ein Verlust an Normen und Werten, der für die gesamte Gesellschaft bezeichnend ist, die Krise verursacht. In der repräsentativen Umfrage zeigt sich mithin eine durchaus signifikante Tendenz, die Verantwortung für die Krise nicht ausschließlich den Leitfiguren der Finanzindustrie und der Politik zuzuordnen, sondern sie in eine allgemeine Haltung zu verlagern, die – in Form allgemeinen Werteverlusts – von allen Gesellschaftsmitgliedern Besitz ergriffen haben soll. Im Rahmen der Telefonumfrage war nicht zu klären, warum die Befragten dieser Einschätzung zuneigen. Allerdings liegt die Annahme nicht allzu fern, dass sich in dieser Einschätzung Erklärungen spiegeln, die in den von den Teilnehmern und Teilnehmerinnen bevorzugten Massenmedien in den vergangenen Monaten immer wieder zum Tragen kamen: Dass ›wir alle über unsere Verhältnisse gelebt haben‹, dass ›eine neue Kultur des Miteinanders auf der Grundlage klassischer Tugenden und Werte‹ vonnöten sei, damit wir künftig vor 25 Krisen gefeit seien, sind bevorzugte Themen in der deutschen ›Talkshow-Szene‹ von Frank Plasberg bis Anne Will; finden sich als Versatzstücke aber auch in nahezu allen Statements der Politik. Da die Finanzkrise – wie die Befragten zu Recht angeben – ein hintergründiges, komplexes, oft auch undurchsichtiges Thema ist, das sich dem Alltagsverstand verschließt, kommt es sicher nicht von ungefähr, dass bei den Erklärungen für das Finanzdilemma viele doch auf Einfaches, Bekanntes, sprich: auf die Mängel und Unzulänglichkeiten der Menschennatur, zurückgreifen. Abbildung 4: Wer ist Ihrer Meinung nach verantwortlich für die Krise? (Basis: Befragte, die relevanten Bezug zur Finanzkrise herstellen können / N=679) Banken Aufsichtsräte/Vorstände Politik/Staat große Unternehmen Gesellschaft/gesellschaftliche Werte Werbung Verbraucher kleine und mittelständische Unternehmen 1 2 3 4 5 6 7 ist dafür auf jeden ist ganz und gar Fall verantwortlich nicht verantwortlich 26 Resultate der Mitgliederbefragung Da in den Gruppen- und Einzeldiskussionen massiv befürchtet wurde, dass die Finanzkrise einen zusätzlichen Anlass bieten wird, in Zukunft feste Arbeitsplätze in Leiharbeitsverhältnisse umzuwandeln, sind wir dieser Einschätzung in der Telefonumfrage nachgegangen, mit eindeutigem Resultat: 34 Prozent aller Befragten sind sich dieser Entwicklung sicher und insgesamt 78 Prozent gehen davon aus, dass der Ersatz von Festarbeitsplätzen durch Leiharbeitsplätze zumindest wahrscheinlich ist. Auf einer 6er-Skala erreicht die Position einen Mittelwert von 2,5. Gleiches gilt für die künftige, durch die Finanzkrise angetriebene Arbeitslosigkeit: Satte 92 Prozent aller Befragten gehen davon aus, dass die Arbeitslosigkeit spürbar zunehmen wird. Zum Zeitpunkt der Umfrage lag die Arbeitslosenquote in Deutschland bei 8,3 Prozent. Erwartet wird von den Befragten, dass diese Quote wieder deutlich über 10 Prozent ansteigt. 2.12 Auswirkungen der Finanzkrise Zu der Frage, wie sich die Krise bisher ausgewirkt hat und wie sie sich künftig auswirken wird, konnten insgesamt 679 Teilnehmer/innen einen relevanten Bezug herstellen. Auf einer 7er-Skala markierten die Befragten mit einem Mittelwert von 2,4 einen massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit, der nach ihrer Einschätzung künftig noch zunehmen wird (MW 2,0). Prekäre Arbeitsverhältnisse (Mini-Jobs, Leiharbeit) sind nach Auffassung der Teilnehmer/innen bereits stark angestiegen (MW 3,1) und werden weiter stark ansteigen (MW 2,7); ebenso die Leiharbeit: MW 3,1 für den gegenwärtigen starken Anstieg, MW 2,6 für die künftig erwartete Zunahme dieser Entwicklung. Auch ein weiteres Steigen der Lebenshaltungskosten wird vermutet – gegenwärtig MW 3,3, künftig MW 2,9; allein die absolute Höhe der Löhne und Gehälter scheint sich nach Ansicht der Befragten nicht signifikant zu verändern (MW 4,0). Dennoch sind nahezu alle der Auffassung, dass, unabhängig davon, die Einkommensschere weiter auseinandergehen wird. Abbildung 5: Wie hat sich die Krise bisher ausgewirkt/wird sich zukünftig auswirken? (Basis: Befragte, die relevanten Bezug zur Finanzkrise herstellen können / N=679) Arbeitslosigkeit Mini-Jobs Zeitarbeit Lebenshaltungskosten Löhne und Gehälter 1 2 3 stark angestiegen 4 5 7 bisher stark gesunken zukünftig 6 27 Abbildung 6: Sind Sie in beruflicher oder finanzieller (zum Beispiel Verluste bei Geldanlagen) Hinsicht bisher von der Finanzkrise betroffen? (Basis: Befragte, die relevanten Bezug zur Finanzkrise herstellen konnten / N=679) ja, beruflich ja, finanziell ja, beruflich und finanziell nein gesamt 9% 14% 11% 66% weiblich 7% 15% 9% 69% männlich 10% 14% 13% 64% mit Migrationshintergrund 9% 17% 16% 58% ohne Migrationshintergrund 9% 14% 10% 68% 18–25 Jahre 11% 9% 6% 74% 26–35 Jahre 7% 7% 11% 75% 36–39 Jahre 6% 18% 15% 61% 40–45 Jahre 11% 14% 21% 53% 46–55 Jahre 9% 15% 11% 65% 56 Jahre und älter 4% 26% 6% 64% Jede/r dritte Befragte (34 Prozent) gibt an, dass sie/er bereits heute beruflich und/oder finanziell durch die Finanzkrise geschädigt ist (Frauen: 31 Prozent, Männer: 37 Prozent). Die Arbeitslosen verbinden ihre Situation mit Abstand am stärksten mit der Krise: 59 Prozent sehen sich beruflich und finanziell als Opfer der Entwicklung. Ähnlich stark ist dieser Trend bei den 40- bis 45-Jährigen ausgeprägt (46 Prozent), gefolgt von den Befragten mit Migrationshintergrund (42 Prozent) und den Teilnehmern und Teilnehmerinnen ohne betriebliche Ausbildung (41 Prozent). Am wenigsten trifft die Finanzkrise bislang die Hochschulabsolventen (24 Prozent) sowie die Fachhochschulabsolventen (29 Prozent). 28 Resultate der Mitgliederbefragung Abbildung 7: Sind Sie in beruflicher oder finanzieller (zum Beispiel Verluste bei Geldanlagen) Hinsicht bisher von der Finanzkrise betroffen? (Basis: Befragte, die relevanten Bezug zur Finanzkrise herstellen konnten / N=679) ja, beruflich ja, finanziell ja, beruflich und finanziell nein erwerbstätig 9% 14% 9% 69% arbeitslos 9% 20% 30% 41% 15% 14% 60% 7% 11% 11% 71% Hochschulabschluss 6% 14% 4% 76% Schulabschluss ohne 8% betriebliche Ausbildung 18% 15% 60% betriebliche Ausbildung 11% Fachhochschulabschluss Im Gegensatz zu den Gruppen- und Einzeldiskussionen zeigt die Telefonumfrage deutlich, dass die Auswirkungen der Krise die materielle Lebenslage für einen großen Teil der Arbeitnehmer/innen massiv verschlechtert hat. Insbesondere die Generation der über 55-Jährigen gibt an, deutliche finanzielle Verluste erlitten zu haben. Dies wird auch näher spezifiziert. Von den 174 Befragten, die krisenbedingt finanzielle Einbußen beklagen, geben 39 Prozent Verluste bei Wertpapieren (Aktien, Aktienfonds), 37 Prozent beim Ersparten und immerhin noch 17 Prozent bei der privaten Altersvorsorge an. 29 Abbildung 8: Wo haben Sie bisher finanzielle Verluste erlitten? (Basis: Befragte, die finanziell betroffen sind / N=174) Erspartes (zum Beispiel Sparbuch) 37% private Altersvorsorge 17% Immobilienwert 14% Wertpapiere (zum Beispiel Aktien, Aktienfonds) 39% Lebensversicherung 12% Sonstiges 18% Von den 135 Befragten, die aus beruflicher Sicht einen Bezug zur Krise herstellen, werden als häufigste Krisenfolgen Kurzarbeit/Teilzeit (32 Prozent) und Arbeitslosigkeit (30 Prozent) genannt. 24 Prozent der Befragten, also rund ein Viertel, mussten auf Lohn und Gehalt verzichten. 30 Resultate der Mitgliederbefragung Abbildung 9: Wie hat sich die Finanzkrise bisher auf Ihre Lebensweise/Konsumverhalten ausgewirkt? (Basis: Befragte, die relevanten Bezug zur Finanzkrise herstellen konnten / N=679) ich achte stärker auf die Preise ich verhalte mich genauso wie vorher gesamt 43% 57% betriebliche Ausbildung 53% 47% Fachhochschulabschluss 30% 70% Hochschulabschluss 24% 76% Schulabschluss ohne betriebliche Ausbildung 65% 35% arbeitslos 72% 28% erwerbstätig 39% 61% Teilzeit 47% 53% Vollzeit 36% 64% Migrationshintergrund 58% 42% ohne Migrationshintergrund 39% 61% In den Gruppen- und Einzeldiskussionen zeigte sich eine deutliche Tendenz zu mehr Sparsamkeit und Preiskontrolle bei den Lebenshaltungskosten, ganz unabhängig von der Finanzkrise. Diese Tendenz haben wir in der Telefonumfrage eindeutig bestätigt gefunden. Zwar geben 43 Prozent aller Befragten an, dass sich die Finanzkrise auf ihre Lebensweise und ihr Konsumverhalten auswirkt, indem sie stärker auf die Preise achten, aber – auf genauere Nachfrage antworten mehr als zwei Drittel (69 Prozent) dieser Gruppe (290 Personen), dass sie sich auch schon vor der Krise preisbewusst verhielten und günstige Produkte einkauften. Besonders stark ist dieser Zusammenhang bei den Einkommensschwachen ausgeprägt. So geben 72 Prozent der Arbeitslosen an, dass die Krise ihr Konsumverhalten beschränkt, 77 Prozent dieser Gruppe fügen allerdings hinzu, dass sie auch schon vor der Krise auf günstige Produkte angewiesen waren. Ein ähnliches Verhältnis findet sich bei den Befragten ohne betrieblichen Abschluss: 65 Prozent fühlen sich durch die Krise in ihrem Konsumverhalten eingeschränkt, merken aber nach genauerer Nachfrage an, dass sie bereits zuvor dazu gezwungen waren, sparsam einzukaufen. 31 Abbildung 10: Haben Sie vor der Finanzkrise auch schon verstärkt auf Preise geachtet/günstigere Produkte gekauft? (Basis: Befragte, die stärker auf Preise achten / N=290) ja nein gesamt (N=290) 69% 31% betriebliche Ausbildung (N=154) 66% 34% Fachhochschulabschluss (N=41) 73% 27% Hochschulabschluss (N=39) 80% 21% 69% 31% arbeitslos (N=57) 77% 23% erwerbstätig (N=233) 67% 33% Teilzeit (N=73) 75% 25% Vollzeit (N=160) 64% 36% Schulabschluss ohne betriebliche Ausbildung (N=52) Eine Besonderheit ergibt sich dagegen in den Gruppen der Hochschul- und Fachhochschulabsolventen und -absolventinnen, die zu den Gutverdienenden zu zählen sein dürften. Mit 24 Prozent (Hochschule) beziehungsweise 30 Prozent (Fachhochschule) liegen sie bei der Frage, ob die Krise ihr Konsumverhalten negativ beeinflusse, deutlich unter dem Durchschnitt. Diejenigen aber, die sich von der Krise eingeschränkt fühlen, geben auf Nachfrage an, dass ihnen preisbewusstes Einkaufen (Hochschulabschluss: 80 Prozent, Fachhochschulabschluss: 73 Prozent) ohnehin selbstverständlich ist. 32 Resultate der Mitgliederbefragung Abbildung 11: Planen Sie für dieses Jahr noch größere Anschaffungen, zum Beispiel einen neuen Fernseher oder eine Waschmaschine? (Basis: Befragte, die relevanten Bezug zur Finanzkrise herstellen konnten / N=679) ja, das schließe ich nicht aus ich warte bis etwas kaputt geht nein, ich spare lieber nein, dazu fehlen mir die Mittel gesamt 25% 34% 21% 20% betriebliche Ausbildung 21% 42% 21% 16% Fachhochschulabschluss 27% 35% 19% 20% Hochschulabschluss 34% 28% 18% 20% 21% 18% 30% 31% arbeitslos 19% 23% 19% 39% erwerbstätig 26% 36% 21% 17% Teilzeit 22% 31% 25% 23% Vollzeit 27% 37% 20% 15% Migrationshintergrund 26% 22% 25% 27% kein Migrationshintergrund 25% 37% 20% 18% Schulabschluss ohne betriebliche Ausbildung Größere Neuanschaffungen planen für dieses Jahr nur 25 Prozent der von uns Befragten; 34 Prozent warten, bis etwas kaputt geht, 21 Prozent sparen lieber und 20 Prozent geben an, dass ihnen die Mittel für hohe Ausgaben ohnehin fehlen. Dass die Einkommensschwachen bevorzugt zur letztgenannten Gruppe zählen, bedarf sicher keiner näheren Erläuterung: 39 Prozent der Arbeitslosen, 31 Prozent der Befragten ohne betrieblichen Abschluss und 27 Prozent der Befragten mit Migrationshintergrund geben an, dass ihre finanziellen Spielräume ohnehin zu eng sind, um gegenwärtig größere Anschaffungen zu tätigen. Nur 7 Prozent aller Befragten gehen davon aus, dass die Finanzkrise ihren Höhepunkt bereits erreicht habe. 26 Prozent hoffen, dass sie Mitte 2009 ihren Höhepunkt erreicht, 42 Prozent nehmen an, dass es bis Ende 2009 dauern wird. 22 Prozent vermuten, dass erst im Verlauf des Jahres 2010 der Höhepunkt erreicht sein wird und 4 Prozent befürchten, dass die Krise erst zu einem späteren, nicht vorhersagbaren Zeitpunkt überwunden sein wird. 33 2.13 Staatliche Gegenmaßnahmen In den Gruppen- und Einzeldiskussionen deutete sich bereits an, dass es nicht gelungen ist, die staatlichen Gegenmaßnahmen zur Krisenbewältigung verständlich zu machen. Dieser Befund wird durch die Telefonumfrage bestätigt: Weitgehend unbegriffen sind Sinn und Funktionsweise des Kredit- und Bürgschaftsprogramms zur Stützung der Banken; auch aus den beiden Konjunkturprogrammen sind nur einzelne Maßnahmen bekannt. Das Verhältnis, in dem die beiden Maßnahmen stehen, wird nicht thematisiert, so dass wir davon ausgehen müssen, dass den Befragten die staatlichen Interventionsprogramme ebenso komplex und hintergründig vorkommen, wie die Ursachen der Finanzkrise selbst. Unter den Einzelmaßnahmen ist den Befragten (92 Prozent) insbesondere die Abwrackprämie bekannt. Allerdings ziehen nur 16 Prozent in Erwägung, sie für den Kauf eines neuen Autos in Anspruch zu nehmen. Dieses Resultat deckt sich damit, dass 75 Prozent aller Befragten angeben, gegenwärtig keine größeren Anschaffungen tätigen zu wollen (vergleiche Kapitel 2.12 dieses Berichts). 89 Prozent der Befragten sind die Kapitalhilfen für die Banken (Bankenschirm) bekannt; 85 Prozent haben von der geplanten Verstaatlichung der Hypo Real Estate und von der Möglichkeit von Teilverstaatlichungen gehört, 81 Prozent identifizieren die Konjunkturprogramme mit der Vorstellung von einer ›Kapitalhilfe für Unternehmen‹, 74 Prozent wissen um die Kindergelderhöhung im Konjunkturprogramm II und immerhin 68 Prozent erinnern sich an die Garantieerklärung der Kanzlerin für die Spareinlagen. Das Vertrauen darauf, die Politik könne mit diesen Maßnahmen die Krise beherrschen, ist jedoch begrenzt (MW 4,2 auf einer 6er-Skala). Nur 11 Prozent der Befragten sind sich absolut sicher, der Staat könne mit seinen Interventionen die Lage in den Griff bekommen, satte 42 Prozent hingegen zweifeln an den staatlichen Maßnahmen und schätzen deren Wirkung als wenig durchschlagskräftig ein. Auch hier bestätigt sich ein Trend, auf den wir bereits in den Gruppen- und Einzeldiskussionen stießen: Die Notwendigkeit staatlicher Interventionen wird nicht in Zweifel gezogen, aber – gegenüber der staatlichen Fähigkeit, der Krise Herr werden zu können, herrscht starker Zweifel. Es wäre sicher überzogen, anhand dieses Befundes bereits von einer tief greifenden Vertrauenskrise zu sprechen. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich eine deut-liche Mehrheit der Befragten zunehmend die Frage stellt, ob der Staat seine Rolle als Wahrer des Allgemeinwohls und als Instanz, die den gerechten Ausgleich der materiellen und sozialen Interessen aller gesellschaftlichen Gruppen herbeiführt, noch zufriedenstellend erfüllt. Auffassungen, die in die Richtung gehen, der Staat interpretiere seine Rolle mehr und mehr im Sinne einer einseitig an den Absichten der Finanz- und Realwirtschaft ausgerichteten ›Dienstleistungsinstanz‹, sind durchaus nachzuweisen (vergleiche auch Kapitel 2.5 dieses Berichts). 34 Resultate der Mitgliederbefragung 2.14 Einschätzungen zur gegenwärtigen Lage Dass die Auswirkungen der Finanzkrise bei einem erheblichen Teil der Bremer und Bremerhavener Bürgerinnen und Bürger angekommen sind, ihr Arbeits- und Privatleben beeinflussen, ist im Vorangegangenen gezeigt worden. Dies führt bei allen Befragten, unabhängig von Wohnort, Geschlecht, Beruf oder Alter zu einer starken Tendenz, Geld und Vermögen zusammenzuhalten und sparsam zu wirtschaften. Auf einer 6er-Skala erreicht dieser Vorsatz einen Wert von 2,7. Aber: Eine gewisse Unsicherheit, ob Geld und Ersparnisse bei den Banken sicher angelegt sind, ist spürbar. Fast die Hälfte aller Befragten gibt an, dass sie heute kein Geld mehr bei Banken anlegen würden. Den Standpunkt, dass die Finanzkrise in erster Linie Ausdruck der Gier von Banken und Managern sei, die ausschließlich ihren eigenen Vorteil im Auge haben, teilt mit über 90 Prozent die große Mehrheit aller Befragten. Eine vergleichbare Intention wird den ›kleinen Leuten‹ eher nicht zugeschrieben (über 50 Prozent). Dennoch stimmen über 40 Prozent der Auffassung zu, dass die Krise auch auf die ›Gier‹ derjenigen zurückzuführen sei, die ihr Leben mit Kredit und Schulden finanzieren. Anklänge an die Positionen der wenigen Teilnehmer/innen der Gruppen- und Einzeldiskussionen, die ›menschliche Gier‹ im Allgemeinen für die Krise verantwortlich machten und einen Werteverlust in der gesamten Gesellschaft beklagten, werden hier deutlich. Abbildung 12: Geben Sie bitte an, wie stark Sie dieser Aussage zustimmen: Ich lege mein Geld heute lieber nicht mehr bei der Bank an. (Basis: Befragte, die relevanten Bezug zur Finanzkrise herstellen konnten / N=679) gesamt erwerbstätig arbeitslos Vollzeit Teilzeit 1 = stimme voll und ganz zu 12% 11% 15% 11% 12% 2 = stimme voll zu 12% 11% 17% 9% 17% 3 = stimme zu 22% 22% 29% 23% 19% 4 = weiß nicht 14% 14% 13% 13% 16% 5 = stimme nicht zu 17% 17% 17% 18% 14% 6 = stimme überhaupt nicht zu 24% 26% 10% 27% 23% 35 Abbildung 13: Geben Sie bitte an, wie stark Sie dieser Aussage zustimmen: Die Krise ist Ausdruck der Gier der Banken und Unternehmensmanager, die ausschließlich auf den eigenen Profit bedacht sind. (Basis: Befragte, die relevanten Bezug zur Finanzkrise herstellen konnten / N=679) gesamt erwerbstätig arbeitslos Vollzeit Teilzeit 1 = stimme voll und ganz zu 61% 62% 57% 63% 59% 2 = stimme voll zu 23% 22% 24% 23% 21% 3 = stimme zu 10% 10% 10% 10% 10% 3% 4 = weiß nicht 5 = stimme nicht zu 6 = stimme überhaupt nicht zu 1% 2% 3% 4% 1% 2% 3% 2% 3% 1% 2% 7% 2% 1% Abbildung 14: Geben Sie bitte an, wie stark Sie dieser Aussage zustimmen: Die Krise ist Ausdruck der Gier der ›kleinen Leute‹, die durch Kredite auf Pump leben. (Basis: Befragte, die relevanten Bezug zur Finanzkrise herstellen konnten / N=679) gesamt 1 = stimme voll und ganz zu 8% erwerbstätig arbeitslos Vollzeit Teilzeit 7% 11% 6% 11% 2 = stimme voll zu 12% 13% 5% 14% 12% 3 = stimme zu 22% 21% 27% 21% 22% 4 = weiß nicht 16% 16% 22% 17% 12% 5 = stimme nicht zu 19% 19% 15% 19% 20% 6 = stimme überhaupt nicht zu 23% 24% 20% 24% 23% 36 Resultate der Mitgliederbefragung Demgegenüber sind nur 58 Prozent davon überzeugt, dass Banken und Unternehmen die Kosten der Finanzkrise auffangen werden. Die Enttäuschung darüber, dass die Verursacher der Finanzkrise nicht oder nur unzureichend haftbar und für ihre Überwindung verantwortlich gemacht werden, war in der Befragung spürbar. Die Befürchtung, dass die gesamte Gesellschaft die Kosten exzessiver, fehlgegangener Spekulationen einer dünnen Elite von Finanzjongleuren zu tragen haben wird, steht ebenso im Raum. Dass diese erwartete Entwicklung als zutiefst unsozial und ungerecht empfunden wird, bedarf sicher keiner weiteren Erklärung. Dass der Staat der Finanzindustrie strikte Regeln auferlegen und diese intensiv kontrollieren sollte, befürworten 88 Prozent aller Befragten. Allerdings – auch dieser Wunsch geht, wie schon unter Kapitel. 2.3 erörtert, einher mit dem wachsenden Zweifel in das Vermögen des Staates. 68 Prozent aller Befragten sind der Auffassung, die Finanzwirtschaft lasse sich nicht mehr effektiv kontrollieren. Auch hier also nimmt der Zweifel in die Fähigkeiten, möglicherweise auch in die Intentionen des Staates deutliche Konturen an. Vor dem Hintergrund ihrer gegenwärtigen materiellen Lage kommen 61 Prozent aller Befragten zu dem Schluss, dass ihnen weitere materielle Einschränkungen bei der Bewältigung der Finanzkrise überhaupt nicht, nicht oder eher nicht zuzumuten sind. Dennoch machen sich vergleichsweise wenige Illusionen über die Krisenbewältigungsstrategie: 88 Prozent der Befragten stimmen der Auffassung zu, dass letztlich doch wieder die Steuerzahler für die Lasten der Finanzkrise aufkommen müssen. Abbildung 15: Geben Sie bitte an, wie stark Sie dieser Aussage zustimmen: Letztlich wird der Steuerzahler für die Finanzkrise zahlen müssen. (Basis: Befragte, die relevanten Bezug zur Finanzkrise herstellen konnten / N=679) gesamt erwerbstätig arbeitslos Vollzeit Teilzeit 1 = stimme voll und ganz zu 54% 56% 41% 56% 56% 2 = stimme voll zu 20% 19% 25% 19% 19% 3 = stimme zu 14% 13% 18% 13% 14% 4 = weiß nicht 6% 5% 11% 5% 5% 5 = stimme nicht zu 4% 4% 5% 4% 6 = stimme überhaupt nicht zu 3% 3% 0% 2% 3% 3% 37 Abbildung 16: Geben Sie bitte an, wie stark Sie dieser Aussage zustimmen: Letztlich werden die Banken/Unternehmen für die Finanzkrise zahlen müssen. (Basis: Befragte, die relevanten Bezug zur Finanzkrise herstellen konnten / N=679) gesamt erwerbstätig arbeitslos Vollzeit Teilzeit 1 = stimme voll und ganz zu 18% 18% 14% 19% 16% 2 = stimme voll zu 18% 20% 10% 20% 17% 3 = stimme zu 22% 22% 23% 20% 25% 4 = weiß nicht 14% 14% 14% 14% 14% 5 = stimme nicht zu 15% 14% 25% 13% 17% 6 = stimme überhaupt nicht zu 14% 14% 14% 14% 12% 2.15 Erwartungen Die Finanzkrise beeinflusst die Einschätzungen über die allgemeine politische Entwicklung bislang nur wenig. Das Gros aller Befragten war sich im Dezember 2007 nicht sicher, wohin die Reise geht (47 Prozent); daran hatte sich im März 2009 nichts geändert. 50 Prozent waren sich über die Entwicklung der politischen Lage im Unklaren. Jede/r dritte Befragte schätzte die politische Entwicklung Ende 2007 negativ ein – auch daran hat sich nichts geändert. Optimistisch gestimmt waren 2007 20 Prozent der Befragten; dieser Wert ist heute schlechter: Nur 15 Prozent erwarten eine Wende zum Besseren. Deutlich gesunken sind dagegen die Hoffnungen auf eine positive wirtschaftliche Entwicklung. Im Dezember 2007 befürchteten 29 Prozent der von uns Befragten eine negative Entwicklung, im September 2008 waren es 32 Prozent und im März 2009 sahen satte 53 Prozent schwarz, was die wirtschaftliche Lage anbelangt. In Bezug auf die Einschätzung der Arbeitsplatzsicherheit ist wenig Veränderung zu verzeichnen: Dass der Arbeitsplatz sicher ist, meinten im Vorjahr 56 Prozent der Befragten, heute sind es 54 Prozent. Jede/r Dritte schätzt seinen Arbeitsplatz als labil ein (2008: 35 Prozent, 2009: 34 Prozent). Nur 12 Prozent der Befragten fürchten um ihren Arbeitsplatz (2008: 10 Prozent). Auch bei der persönlichen finanziellen Zukunft gerät nichts in Bewegung: Rund 41 Prozent der Befragten erwarten eine positive Entwicklung, rund 40 Prozent halten ihre finanzielle Lage für unsicher und etwa 21 Prozent gehen von einer negativen Entwicklung aus. Diese Erwartungen bestehen seit 2007 unverändert fort. Überraschend ist dieser Trend nicht, da das Gros aller Befragten sich darin einig war, dass ihre materielle Situation durch negative Einflüsse geprägt ist, die bereits vor Beginn der Krise Bedeutung bekamen. Optimistisch sehen die Befragten in einer Hinsicht in die Zukunft: Was ihre Gesundheit anbelangt, besteht bei den Befragten Zuversicht: Auf einer 5er-Skala erreichen ihre Einschätzungen einen Mittelwert von 2,4. Auch der hat sich, im Vergleich zum Vorjahr nicht verändert. 38 Resultate der Mitgliederbefragung 2.16 Schlussbemerkung Unsere Umfrage bestätigt in weiten Teilen die allgemeinen Resultate der Gruppen- und Einzeldiskussionen, die wir zu Beginn des Jahres zum Thema ›Ursachen und Wirkungen der Finanzkrise‹ geführt haben. Was ist nun als Fazit unseres Berichts festzuhalten? Ist die Krise im beruflichen und familiären Alltag der Bremer und Bremerhavener Arbeitnehmer/innen ›angekommen‹? Ja, ganz eindeutig. Verändert sie das gesellschaftliche Klima; wachsen Existenzängste und Zukunftssorgen? Ganz ohne Zweifel. Zwingt die Krise den Beschäftigten Verhaltensänderungen auf; beschneidet sie ihre Kaufkraft und ihre Möglichkeiten zur Teilnahme am gesellschaftlichen Konsum? Ja, auch dafür gibt es starke Indizien, wenngleich viele geltend machen, dass ihre materielle Lage schon vor der Krise alles andere als ›rosig‹ war. Wächst die Befürchtung, dass die Krise die Arbeitswelt tief greifend verändern wird? Eindeutig ja! Die Angst, dass die Krise das Transportmittel dafür wird, prekäre Beschäftigungsformen, insbesondere Leiharbeit, zur Normalform der Erwerbstätigkeit zu machen, ist mit Händen zu greifen. Werden die Ursachen der Krise von den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen durchschaut? Nein, die Finanzwirtschaft ist und bleibt für die erdrückende Mehrheit ein undurchschaubarer, hintergründiger Sektor mit Geschäftsmodellen. Die Befragten mutmaßen gar, dass nicht einmal die Fachleute deren Risiken durchschauen. Trauen die Befragten dem Staat ein erfolgreiches Krisenmanagement zu; sind sie der Auffassung, dass die getroffenen Maßnahmen zur Überwindung der Krise führen werden? Nein, eindeutig nicht? Ist damit der Systeminfarkt (vergleiche Seite 7) da? Ist die politische Stabilität aus Sicht der Arbeitnehmer/innen bedroht? Ist in ihren Augen die soziale Marktwirtschaft am Ende? Steht die ›Systemfrage‹ bereits im Raum? Nein, keineswegs. 39 Unübersehbar stellen sich viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Frage, wie eine Abkehr von einer Praxis ökonomischen Handelns gelingen kann, bei der es nur noch um ungezügeltes Streben nach hohen und höchsten Renditen geht. Diese Frage steht fast immer hinter der spürbaren, oft wütenden Empörung darüber, dass erneut die gesamte soziale Gemeinschaft einstehen muss für die unverantwortlichen Finanzexzesse einer Schicht von Bankern und Managern, die in ihrer Eigenwahrnehmung die gesellschaftliche Elite sind. Es empört, dass bislang kein Banker im juristischen Sinne zur Rechenschaft gezogen werden kann und stattdessen die Gesellschaft die Haftung für alle aus dubiosen Bankengeschäften entstandenen Schäden übernehmen muss. Dieser Sachverhalt wird von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht als Akt der Solidarität, sondern als Ungerechtigkeit, als etwas ›Asoziales‹ im Wortsinne begriffen. Dennoch führt all dies bislang nicht dazu, dass die Beschäftigten selbst nachdrücklich die Frage nach einem neuen, sinnvolleren wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Weg auf die Tagesordnung setzten. Dies ist ein weiteres Resultat unseres Berichts und gerade das sollte nachdenklich machen: Wenn an der Absichtserklärung der Politik etwas dran ist, es werde nach der Krise nicht so weitergehen wir zuvor, wenn tatsächlich in Zukunft mit rechtsstaatlichen Mitteln und Instrumenten dafür gesorgt werden soll, dass ›Finanzjongleure‹ nicht noch einmal unter Inkaufnahme von neuer Massenarbeitslosigkeit die Wirtschaft an den Abgrund führen, dann ist es Zeit, den Arbeitnehmern die dafür erforderlichen praktischen Belege und Maßnahmen zu präsentieren. All das, was Bund und Länder gegenwärtig als Krisenintervention betreiben, mögen notwendige Schritte sein – eine Antwort darauf, worin in Zukunft verantwortungsbewusstes wirtschafts- und gesellschaftspolitisches Handeln bestehen soll, das nicht die Renditen, sondern den Nutzen der Beschäftigten in den Vordergrund stellt, ist es – aus Sicht der Arbeitnehmer/innen – bislang jedenfalls nicht. 2 Teil 3 Prof. Dr. Rudolf Hickel Wirtschafts- und Finanzmarktkrise – Ursachen und Lehren: Plädoyer für einen regulierten Kapitalismus Weltwirtschaft am Abgrund: Ein neuer Krisentyp? Ein ›Capitalism reloaded‹ würde die alten Probleme potenzieren und neue Herausforderungen nicht bewältigen. 41 In der Studie zur Analyse der Weltwirtschaft (›World Economic Outlook‹) vom April 2009 wird durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) das bisher nicht gekannte und für möglich gehaltene Ausmaß der aktuellen Wirtschaftskrise abgeschätzt: Erstmals seit 60 Jahren schrumpft in diesem Jahr die Weltwirtschaft. Die Ökonometriker des IWF rechnen beim Bruttoinlandsprodukt 2009 mit einem Minus von 1,3 Prozent. Ob es im kommenden Jahr wieder aufwärts gehen wird, hänge maßgeblich von weltweiten Maßnahmen gesamtwirtschaftlichen Gegensteuerns ab. Wegen der Tiefe der aktuellen Weltwirtschaftskrise ließe sich erkennen: ›Das wird kein schneller Aufschwung, wie wir ihn nach anderen Wirtschaftskrisen beobachten konnten.‹1 Während in den letzten Jahren über das Ausmaß der Globalisierung heftig gestritten wurde, bestätigt diese Wirtschaftskrise gleichsam spiegelbildlich die weltweit vorangeschrittene Vernetzung des Wirtschaftens. Grundsätzlich kann sich in dieser Situation kein Land der Welt des Verlustes an gesamtwirtschaftlicher Produktion und damit auch an Arbeitsplätzen entziehen. Allerdings spiegelt sich in der Wirtschaftskrise die unterschiedliche Teilhabe von Ländergruppen an den ökonomischen Vorteilen der Globalisierung gleichsam verkehrt wider. Die reichen Länder, die besonders von der Globalisierung in den letzten Jahren profitiert haben, müssen jetzt auch hohe Wachstumsverluste hinnehmen. So stellt der IWF in seinem ›World Economic Outlook‹ zutreffend fest: ›Die sieben größten Industriestaaten werden den mit Abstand schärfsten Einbruch seit dem Zweiten Weltkrieg erleben.‹2 Auch die aufsteigenden Schwellenländer sind betroffen. Allerdings führen in China die Reduktion der zuvor sehr hohen Raten des Wirtschaftswachstums auf circa 8 Prozent und der damit verbundene Verlust von Arbeitsplätzen zu schweren Belastungen dieser Expansionsgesellschaft. Schließlich verschärft sich in den durch ökonomische Entwicklungsschwäche und Armut gekennzeichneten Entwicklungsländern die Lage katastrophal. Insgesamt ist mit dem weltweiten Einbruch der Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen der Welthandel zusammengebrochen. Während in den letzten Jahren der Welthandel mit einer doppelt so hohen Wachstumsrate (circa 8 Prozent) gegenüber circa 4 Prozent der Weltproduktion zugenommen hatte, ist dieser mit verheerenden Folgen für die Transportwirtschaft zusammengebrochen. Seit dem Höchststand im Herbst 2008 reduzierte sich der Welthandel bis Februar 2009 um knapp 20 Prozent. Als eine der Folgen der Globalisierung zeigt sich erstmals in dieser Deutlichkeit der konjunkturelle Gleichschritt der dominanten Industriestaaten. Durch diese Synchronisation des wirtschaftlichen Abschwungs in den Industriemetropolen fallen die in früheren Phasen einsetzbaren Länder als Konjunkturlokomotiven weg. Daraus ergibt sich eine neue wirtschaftspolitische Schlussfolgerung: Die globale, auf die wirtschaftsstarken Staaten konzentrierte Wirtschaftskrise verlangt eine international koordinierte Expansionspolitik. Protektionismus einiger ökonomisch dominanter Länder, die glauben, sich gegen die Internationalisierung nationale Vorteile durch das Aushungern anderer Länder schaffen zu können, verstärkt am Ende die Krise. Diese Lehre aus der aktuellen Wirtschaftskrise, nämlich nicht auf eine ›Beggar-my-Neighbour-policy‹, sondern auf internationale Koordination zu setzen, ist, wie zu zeigen sein wird, im Bereich einer fiskalischen Impulspolitik noch viel zu wenig begriffen worden. 1 Internationaler Währungsfonds, World Economic Outlook – Crises and Recovery, April 2009: http://www.imf.org/external/index.htm 2 Ebenda. 42 Wirtschafts- und Finanzmarktkrise Die Wucht des globalen Absturzes zu verstehen und andererseits nach einer Antikrisenstrategie zu suchen, verlangt nach einer ideologiefreien Analyse der Ursachen. Im Kern handelt es sich um eine Krise im Dreierpack: Eine tiefe Konjunkturkrise, die auch strukturelle Überkapazitäten beispielsweise in der Automobil- und Werftenindustrie offenlegt, trifft erstmals in dieser Deutlichkeit mit einer tief greifenden Krise der weltweiten Finanzmärkte zusammen. Dabei schaukeln sich die konjunkturelle und finanzmarktgetriebene Krise wechselseitig mit einer bedrohlichen Gesamtwirkung hoch. Oftmals wird bei der Bewertung der heutigen Rezession die 1929 entbrannte Weltwirtschaftskrise – die große Depression – herangezogen. Dieser Vergleich taugt wenig. Er ist eher Ausdruck der mangelnden Bereitschaft, die heutigen Krisenursachen empirisch zu beschreiben und analytisch zu erfassen. Sicherlich gibt es Parallelen, aber auch durch die vorangeschrittene Globalisierung ausgelöste systemische Unterschiede. Der große Postkeynesianer Axel Leijonhufvud betont deshalb zu Recht: Dies ist ›eine Rezession wie keine andere‹.3 Gegenüber der Weltwirtschaftskrise lassen sich durchaus Elemente eines neuen Krisentyps erkennen. Insbesondere der Zusammenbruch der Finanzmärkte ist nicht mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 zu vergleichen. Denn während damals eine klassische Börsenkrise, die die Produktionswirtschaft zusammenbrechen ließ, dominierte, sind es heute neue erfundene Finanzmarktprodukte, die sich als Schrott erwiesen und damit das gesamte Bankensystem in eine tiefe Vertrauenskrise gestürzt haben. 3 Leijonhufvud, Axel: Eine Rezession wie keine andere; in: Financial Times Deutschland vom 24. 2. 2009. Das Zusammenwirken stellt sich wie folgt dar: Der konjunkturelle Absturz ist vor allem in den großen Industriestaaten die Folge einer vorangegangenen aggressiven Strategie um Zuwachsgewinne auf den Weltmärkten. In den lange davon profitierenden Ländern hat sich der Typ einer extrem exportlastigen Wirtschaftsstruktur durchgesetzt. Was in der Expansionsphase nicht deutlich geworden ist: Damit haben die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen den Ländern massiv zugenommen. Außenwirtschaftliche Defizitländer stehen Überschussländern gegenüber. Gleichzeitig ist in den exportstarken Wirtschaften die Entwicklung der Binnenwirtschaft vernachlässigt worden. Der Zusammenbruch der Exporte infolge rückläufiger Nachfrage aus anderen Ländern traf auf eine in den letzten Jahren vergleichsweise unterentwickelte Nachfrage im Inland. Ein sich selbstverstärkender Prozess der gesamtwirtschaftlichen Schrumpfung war die Folge. Diese Erklärung des konjunkturellen Absturzes, der zugleich strukturelle Probleme aufgedeckt hat, trifft auch für Deutschland zu. Der Einbruch der Exporte von Gütern und Dienstleistungen von zuvor hohen Zuwachsraten (2007 noch 7,5 Prozent) auf Wachstumsverluste von 25 Prozent in den ersten Monaten 2009 stieß auf einen schon längere Jahre sogar leicht rückläufigen privaten Konsum. Auch der Staat hat durch die Rückführung der öffentlichen Investitionen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt die Binnenwirtschaft geschwächt und zugleich zu wenig zur infrastrukturellen Zukunftsvorsorge beigetragen. 2007 lag der Anteil der öffentlichen Investitionen am Bruttoinlandsprodukt mit 1,3 Prozent nur halb so hoch wie im Durchschnitt der Länder der Europäischen Union (EU). Bereits im Frühjahr 2008 zeichnete sich nach einem vergleichsweise schwachen Aufschwung die Schrumpfung der gesamtwirtschaftlichen Produktion mit Belastungen für die Arbeitsmärkte und öffentlichen 43 Arbeitnehmerentgelt, Unternehmens- und Vermögenseinkommen in Deutschland 1991 = 100 200 180 160 140 120 100 80 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 Quelle: Statistisches Bundesamt – Bruttoinlandsprodukt 2008. 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 Unternehmens- und Vermögenseinkommen Arbeitnehmerentgelt Haushalte ab. Vom Grundmuster her handelt es sich um die Bewegung auf einem klassischen Konjunkturzyklus. Überraschend ist jedoch die Tiefe des Abschwungs. Diese ist maßgeblich auf zwei Determinanten zurückzuführen: Zum einen handelt es sich um die durch die Liberalisierung und Globalisierung ermöglichte Expansion der Auslandsmärkte, von der Deutschland wegen seiner hohen internationalen Wettbewerbsfähigkeit besonders profitiert hat. Zum anderen ist die stagnierende, ja leicht rückläufige Entwicklung des privaten Konsums als wichtigstes Aggregat der Binnenwirtschaft auf eine massive Umverteilung zugunsten der Unternehmensund Vermögenseinkünfte sowie zulasten der Arbeitnehmereinkünfte zurückzuführen. Seit 2003 hat sich die Schere zwischen den Einkünften aus Kapital und den Einkommen aus Arbeit deutlich auseinanderentwickelt. Der Anteil der Arbeitnehmerentgelte am Volkseinkommen ist vom Spitzenwert mit 72,2 Prozent auf knapp 64 Prozent zurückgefallen. Im Rückgang der Lohnquote drückt sich eine Umverteilung zwischen den Einkommen aus Kapital und Arbeit aus. Moderate Lohnpolitik sollte auch der Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit dienen. Der Preis dafür waren Verteilungsverluste bei den Arbeitnehmereinkommen. Diese Schwächung der binnenwirtschaftlichen Nachfrage wurde durch eine restriktive Finanzpolitik zusammen mit Steuersenkungen zugunsten der Unternehmensgewinne verstärkt. Eine solche Form der Umverteilungspolitik ist das Ergebnis einer gezielten Strategie der Stärkung der einzelwirtschaftlichen Unternehmen ohne Berücksichtigung gesamtwirtschaftlicher Zusammenhänge. Aus ökonomischer Sicht wird dieses Konzept als Neoklassik bezeichnet und in der Politik mit dem Kampfbegriff Neoliberalismus belegt. Die aktuelle Krise rückt zwangsläufig die Kritik an dieser Politik des Abbaus sozialer und ökologischer Regulierungen der Märkte – also das Modell der Deregulierung – in den Mittelpunkt. 44 Wirtschafts- und Finanzmarktkrise Die Deregulierung sollte jedoch noch in einem ganz anderen Zusammenhang zu einer wichtigen Ursache der derzeitigen Weltwirtschaftskrise werden. Überlagert und zugleich beschleunigt wurden der gesamtwirtschaftliche Verlust an realisierter Produktion und an Arbeitsplätzen durch eine zuvor nicht für möglich gehaltene Finanzmarktkrise, die die Funktionsfähigkeit des Bankensystems massiv eingeschränkt und die bisher geltenden Regeln zur Geldpolitik außer Kraft gesetzt hat. Im nachfolgenden Abschnitt werden die Ursachen, die Instrumente und die Folgen der zusammengebrochenen Finanzmärkte mit dem Ziel beschrieben, kurz- und mittelfristige Wege zur Stabilisierung der der Wirtschaft dienenden Funktionen des Bankensystems zu beschreiben. An dieser Stelle gilt es die Erkenntnis festzuhalten: Der Zusammenbruch eines Großteils der Finanzmärkte ist einerseits Ergebnis einer gegenüber dem Weltsozialprodukt schneller wachsenden Suche nach rentablen Finanzanlagen. Im Zuge der Vermögenskonzentration, auch Folge der Einkommensumverteilung, geht es um die kurzfristige Erzielung von im Vergleich zur Produktionswirtschaft üppigeren Renditen – dies allerdings zum Preis von riskanten Spekulationen. Andererseits mussten dazu neue Finanzmarktprodukte geschaffen werden. Dabei stehen die sogenannten Derivate im Vordergrund. Nicht mehr der ökonomische Ursprungswert, etwa der Aktien und Rentenpapiere zählt, sondern davon mehrfach abgeleitete Indikatoren. Eine massenhaft erzeugte Finanzmarktinnovation ist das Verbriefungsgeschäft. Forderungen auch aus minderwertigen (subprime) Krediten sind zu Wertpapieren verpackt und dann weltweit gehandelt worden. Die die Kredite verbriefende Hypothekenbank verteilt dadurch ihre Risiken und reduzierte so das notwendige Eigenkapital. Heute erweisen sich diese Produktkreationen zusammen mit weiteren konstruierten Instrumenten mangels Werthaltigkeit als Schrott. Diese toxischen Produkte belasten vor allem die Bilanzen vieler Banken und zwingen zu Verluste treibenden Abschreibungen. Die Folgen dieser massenhaften Produktion von Giftmüll auf den Finanzmärkten, die am Ende auch die Produktionswirtschaft außerhalb der Finanzwelt schwer belasten, werden noch beschrieben. Hier gilt es festzuhalten, dass es sich bezogen auf die Rolle der Finanzmärkte um einen neuen Krisentyp handelt, der sich nicht unmittelbar mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 vergleichen lässt. Damals führten sich selbst verstärkende Spekulationen auf steigende Kursgewinne der Unternehmen mit neuen Produkten (Automobile, Telefonie, Filmproduktion) an der Börse zu einer Spekulationsblase, die platzen musste. Eigentümer dieser Aktien, auch die Banken, mussten hohe Vermögensverluste hinnehmen. Am Ende brach die von den Banken abhängige Produktionswirtschaft ein. Die Ursachen der heutigen Krise liegen jedoch in einer Schwerpunktverlagerung zu einem finanzmarktgetriebenen Kapitalismus mit völlig neuen, hochriskanten Spekulationsobjekten. Zu Recht ist die Rede vom Kasinokapitalismus, in dem die dienende Funktion des Bankensystems an Bedeutung verloren hat. Auch Unternehmen haben nicht sachinvestiv verwendete Gewinne an den Spieltischen des internationalen Kasinokapitalismus eingesetzt. Zugleich dominierten die Mega-Finanzinvestoren auch die gegenüberstehende Produktionswirtschaft durch das Diktat nicht aus der Wertschöpfungsperspektive ableitbarer, viel zu hoher Renditeansprüche. Eine entscheidende Ursache der explodierten Risiken aus der relativen Entkoppelung der 45 Finanzanlagen von der ökonomischen Wertschöpfung liegt in der Liberalisierung und Deregulierung der Finanzmärkte. Durch diese Entfesselung der Finanzmärkte hat die Politik die Schleusen für gesamtwirtschaftlich hoch riskante Finanzanlagen geöffnet und diese Fehlentwicklung auch zu verantworten. Jetzt lehrt die Wucht der aktuellen Krise: Das Finanzsystem ist das Nervensystem einer modernen Wirtschaft, jedoch auch extrem anfällig gegenüber einem sich schnell verbreitenden Vertrauens- und Akzeptanzverlust. Deshalb sind streng kontrollierte Regulierungen unverzichtbar. Finanzmärkte brauchen klare Spielregeln, die durch die Gier getriebene riskante Geschäfte einschränken, ja nicht zulassen. Entsprechend der Gleichzeitigkeit der Krise in einer globalisierten Welt sind internationale Abkommen zur Regulierung der Finanzmärkte, aber auch zur abgestimmten Finanzund Geldpolitik erforderlich. Nach der Vertrauenskrise der Banken, die die abhängige Produktionswirtschaft belastet, müssen kurzfristig unkonventionelle Maßnahmen wie die Teiloder Totalverstaatlichung von einzelnen Banken ebenso wie eine Politik der Geldschöpfung durch die Notenbanken ergriffen werden. Für die Stabilisierung des Wirtschaftens ist jedoch der Aufbau einer in sich stabilen Finanzarchitektur durch strenge Regeln entscheidend. Die materielle Gewalt der Wirtschaftskrise zeigt, dass die Politik der Entfesselung der Finanz-, Waren- und Arbeitsmärkte gescheitert ist. Eine ordnungspolitische Rückbesinnung auf die Nutzung der Marktkräfte innerhalb politisch klarer Spielregeln ist dringend erforderlich. Der neue Krisentyp verlangt eine entschiedene Ordnungspolitik. Gesamtwirtschaftliche Politik mit den fiskalischen, monetären und strukturbezogenen Instrumenten muss zusammen mit der Setzung kontrollierter Spielregeln durchgesetzt werden. Erste Ansätze in diese Richtung sind erkennbar. Ein Vorteil, so scherzte unlängst Robert Solow, Nobelpreisträger der Ökonomie, habe die Krise: Ökonomen beschäftigten sich wieder mehr mit der Konjunktur, ja überhaupt der Makroökonomik.4 Noch zögert die beratende Wirtschaftswissenschaft, sich diesen notwendigen Abschied vom neoklassisch-neoliberalen Paradigma einzugestehen. Dabei ist unstrittig, die ›Mainstream-Economics‹ haben sich in den letzten Jahren blamiert. Während die Deregulierungen nicht nur auf den Finanzmärkten ohne ausreichende Risikoanalyse durchgesetzt worden sind, zeigen sich jetzt deren verheerende Auswirkungen. Die Krisenrealität erzwingt, dass jetzt auch die angemessene Theorie dazu geschrieben wird. Erst auf dieser Grundlage kann die Kompetenz zur Wirtschaftsprognose zurückgewonnen werden. Denn die Vertrauenskrise der Banken mit sich verändernden Verhaltensweisen für die Produktionswirtschaft kommen in den ökonometrischen Prognosemodellen nicht vor. Deshalb taugen diese Mutmaßungen zur konjunkturellen Entwicklung nichts. Zu Ostern 2009 hat der Internationale Währungsfonds die Schrumpfung der deutschen Wirtschaft um 5 Prozent prognostiziert.5 Im April korrigierte die Bundesregierung ihre Prognose von -2,25 Prozent auf -6 Prozent. Diese 6 Prozent drohen zur unerschütterlichen Wahrheit mystifiziert zu werden. Die Treffsicherheit ist jedoch theoretisch wenig fundiert und damit ungewiss. Anstatt Prognosegenauigkeit zu suggerieren, ist es wichtig gegen den unbestreitbaren Schrumpfungstrend wirtschaftspolitisch gegenzusteuern. Denn durch eine aktive Politik gegen die Krise werden auch die Prognosen zur Makulatur. 4 Vgl. Storbeck, Olaf: Makroökonomie - Über die Tücken der Konjunkturpolitik. In: Handelsblatt vom 6.4. 2009. 5 Vorabberichterstattung über die Ergebnisse der Fortschreibung des „World Economic Outlook“ des IWF, der Ende April 2009 offiziell vorgelegt wurde; vgl. Spiegel-Online (http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,d ruck-618379,00.html) 46 Wirtschafts- und Finanzmarktkrise Vor allem aber gilt, gegen den Optimismus Selbstheilung vorzugehen. Die Bundesregierung hat keinen realistischen Grund dafür, dass sie in ihrem Wirtschaftsbericht vom April dieses Jahres hofft, 2010 würde es allmählich wieder aufwärtsgehen. Solche Weissagungen lenken vom Einsatz einer Antikrisenpolitik nur ab. Für zutreffende Prognosen, vor allem aber die Politik gegen die Krise, braucht es einer einigermaßen plausiblen Theorie. Nach der jahrelangen Ausblendung gesamtwirtschaftlicher Zusammenhänge und der Risikoanalyse ist die Arbeit an einem realistischen Ordnungsmodell mit einer effizienten Wirtschaft und einem handlungsfähigen Staat erforderlich. Die Frage, ob und wie der Kapitalismus überleben wird, hängt von einer mutigen Politik der Regulierung und damit einer Bändigung der Finanzmärkte ab. 3.1 Entfesselte Finanzmärkte: Ursachen und Folgen des Supergaus 3.1.1 Finanzmarktgetriebener Kapitalismus mit zu hohen Renditeansprüchen Im Fokus der Suche nach den Ursachen des neuen Krisentyps stehen die sich gegenüber der Produktion außerhalb der monetären Institutionen verselbstständigten und dominierenden Finanzmärkte. Das Gefüge der kapitalistischen Produktion hat sich seit Mitte der 1990er Jahre deutlich in Richtung Expansion der Geschäfte auf den Finanzmärkten verschoben. Vor allem wird durch die Macht der Finanzmärkte Einfluss auf die Renditeerwartungen der Produktionswirtschaft genommen. 6 Keynes, John Maynard: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes; Zehnte, verbesserte Auflage, Berlin 2006, S. 131. Vergleich zu Keynes Analyse des Spekulationskapitalismus: Hickel, Rudolf: Keynes wiederentdecken und weiterentwickeln: Theoretiker des Kasinokapitalismus; www.iaw.uni-bremen.de/rhickel Die heute oft genannten Zielgrößen von 15 oder 25 Prozent Gewinn nach Steuern, bezogen auf das eingesetzte Eigenkapital, werden den Unternehmen von den hoch konzentrierten Finanzmarktinstituten vorgegeben. Dies wird zur schweren Belastung für die Produktionswirtschaft. Anstatt die Renditen aus dem Potenzial einer längerfristigen Sicherung der Unternehmen mit gut bezahlten und damit motivierten Beschäftigten abzuleiten, dominiert der Druck durch viel zu hohe Renditeansprüche der Finanzinvestoren. Herausgebildet hat sich ein ›finanzmarktgetriebener Kapitalismus‹, den Helmut Schmidt mit Blick auf die Treibjagd nach schnellen, jedoch hoch riskanten Renditen vor allem auf den Vermögensmärkten als ›Raubtierkapitalismus‹ bezeichnet hat. Mit dem Trieb, schnell hohe Renditen zu erzielen, nehmen die Spekulationen atemraubend zu. Damit verfügt das System über ›keine solide Grundlage für eine vernünftige Berechnung‹6 mehr. Nachdem die die Produktion beherrschende und belastende Finanzsphäre zusammengebrochen war und die Weltwirtschaft in die Krise gestürzt ist, setzt sich die Erkenntnis durch, dass erst wieder durch eine Bändigung der Finanzmärkte und damit die Rückkehr zur dienenden Funktion der Banken der Pfad einer nachhaltigen Entwicklung eingeschlagen werden kann. Voraussetzung ist jedoch eine schonungslose Analyse der Ursachen und Instrumente, die zu diesem Supergau der Finanzmärkte geführt haben. Hier handelt es sich nicht um einen in der kapitalistischen Entwicklung üblichen Einbruch und schon gar nicht um ein singuläres Ereignis. So taugt der Hinweis, durch den Verzicht der Politik auf die Rettung der Lehman-Brothers-Investmentbank am 15. September 2008 sei letztlich die Krise verursacht worden, herzlich wenig. In diesem Zusammenbruch, den die Politik allerdings fälschlicherweise hingenommen hat, kulminiert eine lang angelegte Fehlentwicklung durch hoch riskante Finanzgeschäfte. 47 Entwicklung des weltweiten Anlagevermögens 200 180 160 140 120 100 80 60 40 20 0 Bruttosozialprodukt Anlagevermögen 1980 10 12 1990 22 43 2000 32 94 2001 32 92 2002 33 96 2003 37 117 2004 42 134 2005 45 142 2006 49 167 2007 55 196 Quelle: http://www.mckinsey.com/mgi/publications/fifth_annual_report_Executive_Summary.asp Die Illusion von Alchemisten, die glaubten, ein Stein, der golden bemalt wird, sei Gold wert, ist deutlich zu erkennen. Auch die Kritik, durch die expansive Geldpolitik von Alan Greenspan nach der geplatzten New-Economy-Blase seien die Finanzmärkte geflutet worden und deren Geschäfte mit billigen Krediten finanzierbar geworden, trifft nicht den Kern. Diese Ursachenzuweisung lenkt von der selbstzerstörerischen Dynamik der Finanzmärkte ab. Gesamtwirtschaftlich waren die Notenbanken gefordert, in dieser Krisenphase die Liquiditätslöcher zu stopfen. Auch die Europäische Notenbank hat zu Recht eine Politik der billigen Liquiditätsversorgung betrieben. Dass dieses makroökonomische Angebot Liquidität vor allem von Hypothekenbanken in den USA zur Vergabe von Hypothekenkrediten an einkommensschwache (›subprime‹) Privathaushalte missbraucht worden ist, kann der Geldpolitik nicht angelastet werden. Die Vertragsbedingungen, vor allem die Zinsgleitklauseln waren großteils dubios. Am Ende ging es diesen Banken darum, ihre Forderungen in hypothekenfundierte Wertpapiere zu bündeln. Wären in der Phase dieser expansiven Geldpolitik nach 2001 bereits die heute diskutierten Finanzmarktregulierungen realisiert worden, und etwa die Verbriefung von Krediten auf 80 Prozent beschlossen worden, dann wäre es zu diesem weltweiten Handel mit ›Subprime-Krediten‹ nicht gekommen. Damit zeigt sich, die Geldpolitik kann erst dann funktionieren, wenn alle Bankinstitute, über die die monetären Impulse gesteuert werden, strengen Regeln der Transparenz und der Risikominimierung für die Geschäfte auf den Finanzmärkten unterliegen. Der Zusammenbruch der Finanzmärkte und in der Folge die tiefe Vertrauenskrise der Banken sind Ausdruck einer bereits seit Mitte der 1990er Jahre erkennbaren Fehlentwicklung. Folgende Trends lassen sich zusammenfassen und Reformbedarfe formulieren: Das Weltfinanzsystem ist erheblich schneller gewachsen als die Weltwirtschaft. Nach einer Untersuchung der Deutschen Bundesbank beliefen sich die globalen Finanzaktiva (Bankaktiva, Schuldverschreibungen, Börsenkapitalisierung) Ende 2006 auf das Vierfache des Weltsozialprodukts.7 In einer McKinseyStudie wird belegt: Während sich von 1990 bis 2007 das weltweite Anlagevermögen von 43 auf 196 Billionen US-Dollar fast verfünftfacht hat, hat sich das Weltsozialprodukt von 22 auf 55 Billionen US-Dollar lediglich um 2,5 vervielfacht.8 7 Vgl. Monatsbericht der Deutschen Bundesbank: Neuere Entwicklungen im internationalen Finanzsystem, Juli 2008, S. 17. 8 http://www.mckinsey.com/mgi/publications/fifth_annaul_ report_Executive_Summary.asp 48 Wirtschafts- und Finanzmarktkrise Mit dieser relativen Entkoppelung der Finanzmärkte von der wertschöpfenden Produktionswirtschaft außerhalb der Finanzwelt hat sich ein am Ende nicht mehr beherrschbares Krisenpotenzial herausgebildet. Triebkraft war die Verlagerung von der Finanzierung der Wirtschaft ohne die monetären Institutionen hin zu lukrativen Geschäften auf den Finanzmärkten. Überschüssiges Vermögen und Einkommen, das nicht in die Finanzierung der Produktion eingesetzt wurde, ist auf die Finanzmärkte mit der Spekulation auf hohe Renditen geflossen. Der Preis dafür war allerdings ein explosives Verlustrisiko mit negativen Auswirkungen auf das Gesamtsystem. Lange Zeit wirkten die Finanzmärkte wie ein Staubsauger, der die Anleger in lukrative Anlagenversprechen sog. Durch den zusätzlichen Einsatz von Krediten vor allem in der Niedrigzinsphase sind die ursprünglichen Finanzmassen vervielfacht worden. Diese wachsende Dominanz der Finanzmärkte ist durchaus Ausdruck einer grundlegenden Veränderung der kapitalistischen Entwicklung. Wachsende Schwierigkeiten, in der Produktion längerfristig vergleichsweise hohe Gewinne bezogen auf das eingesetzte Kapital zu erzielen, verstärkten die Flucht auf die Finanzmärkte, die anspruchsvollere Renditen zumindest kurzfristig versprachen. Treibende Kraft wurden auch hier die Banken, die wegen der niedrigen Margen im klassischen Einlage- und Kreditgeschäft auf den Finanzmärkten mit hoch spekulativen Geschäften aktiv geworden sind. Mit diesem finanzmarktgetriebenen Kapitalismus rücken wegen der sprunghaften, seriös nicht kalkulierbaren Risiken, Spekulationen bei ökonomischen Entscheidungen in den Vorder- 9 Keynes, John Maynard: a.a. O., S. 135. 10 Vgl. Minsky, Hyman: Stabilizing an unstable Economy, New Haven / London Yale (University Press) 1986 sowie ders., John Maynard Keynes, Marburg 1990. grund. Wie gesagt, Spekulationen reduzieren die Kalkulierbarkeit. John Maynard Keynes hat in seiner ›Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes‹ 1936 die nicht mehr rational kalkulierbare Erwartungsbildung und daraus erwachsende Spekulationen weitsichtig betont. Mit der Veränderung der Rolle der Spekulationen erklärt er die Maserung des modernen Finanzkapitalismus: ›Spekulanten mögen unschädlich sein als Seifenblasen auf einem steten Strom der Unternehmenslust. Aber die Lage wird ernsthaft, wenn die Unternehmungslust die Seifenblase auf einem Strudel der Spekulation wird. Wenn die Kapitalentwicklung eines Landes das Nebenerzeugnis der Tätigkeit eines Spielsaals wird, wird die Arbeit voraussichtlich schlecht getan werden.‹9 Hyman Minsky, der die Theorie der Spekulationen und unsicheren Erwartungsbildung von J. M. Keynes weiterentwickelt hat, bestätigte die Aussage von Keynes: In der längerfristigen wachstumsstarken Entwicklung werden in zunehmendem Ausmaß Vermögenswerte spekulativ interessant und durch Kredite finanziert.10 In diesem kaum noch durch Gesetzmäßigkeiten zu erfassenden ›kaleidoskopischen Kapitalismus‹ entfernen sich die Vermögensgeschäfte in einer dafür geschaffenen Eigenwelt gegenüber der wertschöpfenden Produktion. Eine kleinste Änderung der Erwartungsbildung führt zur Krise, die sich bei reißenden Kreditketten als Dominoeffekt gleichsam über das gesamte Wirtschaftssystem ausbreitet. Viele der bei ihrer Einführung noch hoch gelobten Finanzinnovationen, die sich jetzt als Schrott erweisen, fügen sich in diese Erklärung gut ein. Bei der Analyse der Ursachen dieses Dominanzgewinns der Finanzmärkte hilft der Blick auf die Typen von Nachfragern und Anbietern nach Vermögenswerten. Damit wird deutlich, dass hier sehr unterschiedliche Triebkräfte wirken, aus denen sich zugleich der Reformbedarf ableiten lässt: 49 ¢ ¢ Ein wichtiger Grund der Expansion der Finanzanlagen liegt in den dramatisch gewachsenen außenwirtschaftlichen Ungleichgewichten ökonomisch bestimmender Länder. Während die Länder mit hohen Leistungsbilanzdefiziten – etwa die USA – für deren Finanzierung ausländisches Kapital benötigen, legen die Überschussländer einen Großteil ihrer Währungsreserven auf den Finanzmärkten an. So sind in China von 2002 bis Ende 2008 die Währungsreserven von 268 Millionen US-Dollar auf knapp zwei Billionen US-Dollar angestiegen. Nach Angaben der Notenbank Chinas sollen davon über 700 Milliarden USDollar in US-Staatsanleihen gehalten werden. Von den gigantischen Wertverlusten dieser Staatsanleihen infolge der Krise ist China jetzt betroffen. Viel zu wenig wird aktuell darüber diskutiert, die Expansion der Finanzmärkte durch den Abbau der Leistungsbilanzungleichgewichte in der Weltwirtschaft zu stoppen. Nach dieser bitteren Erfahrung wird auch verständlich, warum der Chef der Zentralbank Chinas die Ablösung der Vormachtstellung des US-Dollars durch eine übereinheitliche Leitwährung, die durch den Internationalen Währungsfonds gesteuert werden soll, fordert. Die Expansion der Finanzmarktgeschäfte ist auch auf die wachsende Zahl von Vermögenden zurückzuführen. Dazu zählen Großfamilien und Oligarchen, mittlerweile auch in aufsteigenden Ökonomien, wie Russland. Ziel ist es, durch lukrative Anlagen das Vermögen auch durch die dadurch fließenden Einkommen zu vermehren (Reproduktion der Vermögenden auf erweiteter Stufenleiter). Bei der Suche nach lukrativen Anlagen für Vermögende bieten sich die Finanzmärkte an. Banken und Megafonds übernehmen bei satten Provisionen die Vermittlung dieser Finanzierungsgeschäfte. Auch Vermögende mussten – allerdings von einem hohen Reichtumsniveau aus – im Zuge der Finanzmarktkrise deutliche Verluste bei ihren Anlagen hinnehmen. Um diese Fehlentwicklung zu bremsen, muss die ungezügelte Vermögensmehrung bei wachsender Armut mit verschiedenen Instrumenten gebremst werden. ¢ Auch die Unternehmen der Produktionswirtschaft haben zur Ausweitung der Finanzmarktgeschäfte beigetragen. Der Teil der Gewinne, der nicht in Sach- und Restrukturierungsinvestitionen sowie in andere Maßnahmen zur Stärkung des Unternehmens beispielsweise zum Abbau der Schulden geflossen ist, sondern auf den Finanzmärkten angelegt worden ist, hat zugenommen. Empirisch lässt sich zeigen, dass das Finanzvermögen der Kapitalgesellschaften (ohne Banken und Versicherungen) schneller als das Realvermögen, vor allem seit Mitte der 1990er Jahre, gestiegen ist. In Deutschland laufen die Gewinne und Investitionen seit dieser Zeit besonders stark auseinander. Während die Gewinne (Nettobetriebsüberschuss der gesamten Volkswirtschaft) vom Indexwert 100 in 1980 bis 2006 auf 400 gestiegen sind, haben sich die Investitionen der Unternehmen (Nettokapitalbildung der Unternehmen) nach einem Anstieg Mitte der 1990er Jahre auf den Indexwert um 300 bis 2006 praktisch auf den Index von 100 50 Wirtschafts- und Finanzmarktkrise ¢ in 1980 zurückgebildet. Der Einsatz von Unternehmensgewinnen an den Spieltischen des internationalen Kasinokapitalismus hat die Geschäfte auf den Finanzmärkten ebenfalls angetrieben. Damit rückt die moderate Lohnpolitik, die vor allem der Stärkung der internationalen Konkurrenzfähigkeit der Exportwirtschaft dienen sollte, in ein ganz anderes Licht. Wäre die Umverteilung zugunsten der Gewinneinkommen durch einen höheren Anteil der Arbeitseinkommen an der ökonomischen Wertschöpfung reduziert worden, hätte sich ein doppelter Effekt ergeben: Die Kaufkraft der Beschäftigten und damit die Binnenwirtschaft wären einerseits gestärkt und die Anlageaktivitäten auf den Finanzmärkten andererseits reduziert worden. Oftmals wird dieser Zusammenhang übersehen: Der per Umverteilung erzielte Gewinnvorsprung hat zusammen mit anderen Einflüssen die Überbewertung von Finanzanlagen vorangetrieben. Einige wichtige Banken, insbesondere einige Landesbanken, aber auch Privatbanken mit ihren Investmentbanking-Einrichtungen, wurden zu Triebkräften der Expansion der Finanzmärkte und damit der Überwertung der Finanzanlagen, die zu einer Reinigungskrise führen mussten. Die klassischen Geschäfte wie das Einlagen- und Kreditgeschäft reichten zur Erzielung einer hohen Kapitalrendite wegen unzureichender Margen nicht aus. Deshalb wurden hochspekulative Geschäfte auf den Finanzmärkten in großem Stil betrieben. Die Grundregeln für Bankgeschäfte – wie die ausreichende Risikovorsorge durch Eigenkapital – sind durch die Schaffung spezieller Zweckgesellschaften außer Kraft gesetzt worden. Viele Banken haben ihre dienende Funktion für die Unternehmen, die privaten Haushalte und den Staat zugunsten schnell erzielbarer, jedoch höchst riskanter Anlagegeschäfte auf den Finanzmärkten vernachlässigt. Viele, in die Bilanz hereingenommene Vermögensobjekte erweisen sich heute als toxische, vergiftete Produkte. Nachdem die Blase geplatzt ist, kommt es im Zuge der Wertberichtigungen beziehungsweise Abschreibungen zu Verlusten und am Ende sind Insolvenzen nicht mehr auszuschließen. Die tiefe Vertrauenskrise und die drohende Pleitenwelle im Bankenbereich zeigen deutlich, dass die Beherrschbarkeit der Finanzmärkte durch eine Redimensionierung der Banken auf ihre dienenden Funktionen erforderlich ist. 51 ¢ Schließlich haben die riesigen Pensionsfonds, aber auch die Versicherungsunternehmen, die Expansion der Finanzmärkte vorangetrieben. Versicherungen, die die Risiken im Alter auffangen sollen, waren gezwungen, ihre Beitragsüberschüsse auf den Finanzmärkten anzulegen. Zumindest in Deutschland sind durch die gesetzliche Regulierung der Versicherungsunternehmen schlimmste Exzesse verhindert worden. So ist es verboten, forderungsfundierte Wertpapiere in das Portfolio der Versicherungsunternehmen einzustellen. Direkt durch zugelassene Finanzanlagen und indirekt durch die Auswirkungen von allgemeinen Wertverlusten auf den Finanzmärkten sind jedoch Belastungen entstanden. Aus den Ursachen und Folgen der Finanzmarktkrise folgt die Notwendigkeit, die politisch initiierte Ablösung einer gesetzlichen Mindestsicherung gegen soziale Risiken zugunsten des Ausbaus der Eigenvorsorge auf den privaten Finanzmärkten zu überdenken. Die seinerzeit zur Begründung angeführte Unerschöpflichkeit im Prinzip krisenfreier Kapitalmärkte ist durch den aktuellen Absturz widerlegt worden. Immerhin hatte sich die Bundesregierung bei der Subventionierung der Eigenkapitalvorsorge im Rahmen der Riesterrente gegen den erbitterten Widerstand der Versicherungs- und Bankenwirtschaft durchgesetzt und hoch riskante Wertpapiere nicht als förderungswürdig anerkannt. Bei der Beschreibung der Anbieter und Nachfrager auf den Finanzmärkten zeigt sich, dass es sich hier um vermachte Märkte handelt, die durch Mega-Finanzinvestoren beherrscht werden. Aktiv sind: Private Equity- und Hedgefonds sowie die speziell zuständigen Investmentbanken und Großbanken, in Deutschland auch einige Landesbanken. Die Macht dieser Mega-Finanzinvestoren äußert sich unter anderem darin, dass sie die Renditeerwartungen an die Unternehmen formulieren und schlussendlich versuchen, diese durchzusetzen. Um für die Finanzmärkte attraktiv zu sein, wird den Produktionsunternehmen beispielsweise eine Mindestrendite von 15 oder 25 Prozent – Anteil der Nettogewinne am eingesetzten Eigenkapital – ohne Rücksicht auf die Substanz der Unternehmen vorgegeben. Zur Aufhebung dieser irrationalen Renditedominanz muss die Macht auf den Finanzmärkten gebändigt werden. Dazu gehören vor allem strenge Regulierungen, die Transparenz herstellen und Risiken einschränken. 52 Wirtschafts- und Finanzmarktkrise 3.1.2 Vom Elend der Produktinnovationen auf den Finanzmärkten: Alchemisten, Kasinospieler, toxische Produkte Damit die Finanzmärkte tatsächlich wie Staubsauger für wachsende Vermögensanlagen funktionieren, reichten die klassischen Produkte nicht aus. Geschaffen worden sind auf der Basis mathematischer Modelle – teils aber auch mit krimineller Energie – Produkte, die als Finanzmarktinnovationen hoch gelobt wurden. Entscheidend ist jedoch, dass diese neuen Finanzmarktprodukte ohne Gütetest und Kontrollen durch die Aufsichtsbehörden eingeführt worden sind. Es bedurfte erst der Finanzmarktkrise, um den Regulierungsbedarf sichtbar zu machen und durchzusetzen. Auf dem G-20-Gipfel in London ist am 2. April 2009 zu Recht der Grundsatz formuliert worden: Kein Finanzmarktprodukt und kein Anbieter darf ohne genaue Kontrolle und die Einhaltung von Regeln tätig werden. Gegenüber dem traditionell direkten Handel von Geld, Devisen, Aktien, festverzinslichen Wertpapieren, aber auch speziellen Waren wie Weizen oder Öl rücken sogenannte Derivate in den Mittelpunkt. Diese Derivate entkoppeln sich vom unmittelbaren Vermögenswert etwa einer Aktie, die sich auf die unternehmerische Wertschöpfung bezieht. Dabei werden Konstruktionen geschaffen, bei denen der Bezug zu einem mit der Produktion verbundenen Vermögenswert verloren geht. Der Grad der Abstraktheit ist hoch. Ein wichtiges Beispiel sind die Zertifikate. Hier wird nur noch auf die Veränderung eines Indexwertes für Aktien – etwa des DAXes – spekuliert. Sinkt der Index unter einen bei Vertragsabschluss festgelegten Prozentsatz, dann wird keine Rendite ausgeschüttet. Am Ende handelt es sich um ein reines Glücksspiel. Wie die vielen Prozesse, die gegen Anlageberater laufen, zeigen, ist der Kauf von Zertifikaten auch an nicht mit Finanzmarktgeschäften Vertraute wegen der hohen Provisionsgebühren massenhaft betrie- ben worden. Hier zeigt sich ein Grundproblem neuer Finanzmarktprodukte. Sie sind für den normalen Anleger undurchschaubar. Eine ausreichende Aufklärung durch den Anlageberater beziehungsweise durch Prospekte gab es kaum. Diese Informationsdefizite müssen durch strenge Regulierungen, vor allem Informationspflichten, geregelt werden. Erforderlich ist ein Anlage-TÜV, das heißt, die Risiken der Finanz-Produkte müssen erkennbar und nachvollziehbar sein. Die negativen Erfahrungen mit Zertifikaten lassen sich verallgemeinern. Auch die sogenannten Leerkäufe von Aktien gehören dazu: Geliehene Aktien werden mit dem Ziel verkauft, dass der spätere Rückkauf zu einem niedrigen Kurs erfolgt. Dieses Spekulationsgeschäft ist volkswirtschaftlich schädlich. Die ohnehin schwierige Signalfunktion der Preisbildung an den Börsen wird vollends außer Kraft gesetzt. Belastet werden die betroffenen Unternehmen durch die erfolgreiche Spekulation auf Kursverluste, die nichts mit der ökonomischen Substanz zu tun hat. Es gibt gute Gründe, dieses neue Spekulationsprodukt wegen der viel zu großen Risiken zu verbieten, zumindest jedoch streng zu kontrollieren. Erst in den letzten Jahren sind auch Unternehmen beziehungsweise Unternehmensteile als Vermögensobjekte auf den Finanzmärkten gehandelt worden. Dabei steht nicht die Substanzsicherung der Unternehmen, sondern eine schnell erzielte Rendite aus dem Kauf und späteren Weiterverkauf von filetierten Unternehmen im Vordergrund. Hier sind vor allem die Hedgefonds aktiv. Die Summe, die die Hedgefonds zum Kauf eines Unternehmens aufwenden müssen, wird im Durchschnitt zu drei Viertel per Kredit finanziert (Leverage Effekt). 53 Die Kosten für diese Kredite werden meistens den Unternehmen ang-lastet. Nach einer vergleichsweise kurzen Haltefrist, während der eine hohe Verwertung angestrebt wird, erfolgt ein Weiterverkauf. Viele Unternehmen werden durch diesen Handel schwer belastet, ja in die Insolvenz getrieben. Arbeitsplätze gehen verloren. Mittlerweile ist in der internationalen Debatte um eine funktionsfähige Finanzmarktarchitektur anerkannt, dass diese machtvollen Hedgefonds einer kontrollierten Regulierung unterzogen werden müssen. Allerdings konnte sich der G-20-Gipfel in London nur entschließen, ›bedeutsame‹ Hedgefonds der staatlichen Aufsicht zu unterstellen. Dadurch besteht die Gefahr der Umgehung der Kontrolle durch die Zersplitterung dieser Fonds bei derselben Eigentümerstruktur. Exkurs: Krisentriebkraft Kreditverbriefung Im Mittelpunkt der ideenreichen Schöpfung neuer Finanzmarktprodukte, die zur Krise geführt haben, steht die in unterschiedlichen Formen vorgenommene Verbriefung von Krediten. Den Anfang der Kette bildet die Vergabe eines Kredits. Die dadurch entstehende Forderung einer Bank wird zusammen mit anderen Forderungen zu einem Wertpapier gebündelt, das auf den Finanzmärkten gehandelt wird. Diese einfach gehaltene Verbriefung ist durch mehrfache Umpackungen verkompliziert worden. Entscheidend ist der Grundgedanke: Mit der Vergabe von Krediten werden handelbare Wertpapiere für die Anleger auf den Finanzmärkten geschaffen. Am Ende entscheidet sich die Werthaltigkeit solcher Papiere daran, ob der Kreditnehmer in der Lage ist, die Zinszahlungen zu bedienen. Ist das nicht (mehr) der Fall, wird das forderungsbegründete Wertpapier zur Makulatur. An diesem, in mehrfachen Stufen produzierten und am Ende vom eigentlichen Anlass der Kreditbeziehung immer weiter entfernten Wertpapier, lassen sich die schwerwiegenden Regulierungsmängel exemplarisch auch für andere Produkttypen aufzeigen. Nicht nur die Verbriefung von Hypothekenkrediten, sondern auch andere Kredite, vor allem auch Forderungen aus Kreditkarten, sind zu handelbaren Wertpapieren verpackt worden. An der aus den USA ins Ausland exportierten sogenannten Subprime-Hypothekenkrise wird der unterschiedliche Regulierungsbedarf erkennbar. Anfang der 1990er Jahre boten sich durch niedrige Hypothekenzinsen günstige Konditionen für die Kreditaufnahme. Die Finanzierung von Häusern auch durch einkommensschwache Familien war lukrativ. Im Zuge eines Immobilienbooms stiegen die Häuserpreise und suggerierten den Kreditnehmern wie Kreditgebern einen andauernd steigenden Vermögenswert. Eine Besonderheit am amerikanischen Immobilienmarkt war die freigiebige Kreditvergabe auf der Basis einer variablen Verzinsung (›Adjustable Rate Mortgage‹). Nach einer kurzen Phase extrem niedriger Zinssätze sprangen die Zinssätze durch die Koppelung an die Geld- und Kapitalmarktzinsen nach oben. Die billige Liquidität, die die Notenbank in den USA anbot, nutzte den Kreditnehmern nur in den ersten Jahren. Auf die vertraglich festgelegte spätere Verteuerung der Kredite wurde meist nicht explizit hingewiesen. Die Häuserpreise, die von 2000 bis 2006 um 170 Prozent stiegen, ließen die Vergabe von Immobilienkrediten auch im Segment der Einkommensschwachen (Subprime-Sektor) für die Banken lukrativ erscheinen. Daher wurde der Begriff der nachfolgenden ›Subprime-Krise‹ geprägt. Neben den in der späteren Phase höheren Zinsen und Vermögenszuwächsen 54 Wirtschafts- und Finanzmarktkrise über die steigenden Immobilienpreise brachten diese Geschäfte den Hypothekenbanken hohe Gebühren. In dieser optimistischen Konstellation wurde vonseiten der Hypothekenbanken auf eine genaue Kontrolle der Kreditwürdigkeit sowie einem ausreichenden Anteil an Eigenfinanzierung sträflich verzichtet. Eine Vielzahl von Hypothekenkrediten wurde schließlich zu handelbaren Wertpapieren verbrieft (›Mortgage Backed Securities‹). Damit konnte sich die Bank der sonst erforderlichen Unterlegung der Kredite mit zusätzlichem Eigenkapital entziehen. Entscheidend ist jedoch der Verkauf der mit den Hypothekenkrediten verbundenen Risiken an andere Finanzmarktinvestoren. Diese Weiterwälzung der Risiken erhöhte den Anreiz, auf die Bonität der ursprünglichen Kreditgeschäfte nicht mehr zu achten. Schließlich blieb es nicht bei dieser einfachen Verbriefung. Die Hypothekenkredite wurden mit anderen Krediten zu CDOs umgepackt (Collateralized Debt Obligations). Im neuen Bündel ist eine Abschichtung nach der Höhe der Zinsen und dem Ausfallrisiko in drei Tranchen vorgenommen worden. Dadurch entstand der Eindruck, bei den SubprimeKrediten handle es sich um eine sichere Anlage. Nach den Mehrfachverpackungen konnte die Werthaltigkeit des Papiers nicht einmal mehr von Insidern einigermaßen angemessen bewertet werden. Zum Teil kannten die Banker, die diese CDOs gekauft haben, nicht einmal die Risiken, hofften jedoch auf hohe Renditen. Diese systematischen Informationsdefizite über solche Finanzmarktprodukte versuchten Rating-Agenturen abzubauen. Ohne selbst das systemische Risiko zu erkennen, vergaben sie viel zu gute Noten. Auf dieser Basis kauften die Banken in Deutschland in der Erwartung auf sichere und hohe Renditen diese forderungsbesicherten, handelbaren Wertpapiere. Dazu wurden eigens Zweckgesellschaften (Special Purpose Verhicle) gegründet. Die Finanzierung erfolgte über den Verkauf von kurzfristigen Unternehmensanlei- hen (›Commercial Papers‹, CD). Die Folge war eine riskante Transformation von langfristigen Forderungen in kurzfristige Verbindlichkeiten bei diesen Zweckgesellschaften (›Conduits‹). Klar musste sein, wenn die CDs nicht mehr am Markt untergebracht werden können, bricht das Geschäftsmodell zusammen. Dazu ein Beispiel: Die Sächsische Landesbank gründete eine Zweckgesellschaft in den Docks von Dublin außerhalb der Bilanz und ohne Absicherung durch Eigenkapital sowie Liquidität. Mit dem Absturz der Immobilienpreise nach dem Bauboom in den USA, den steigenden variablen Zinsen, die durch die Kreditnehmer nicht mehr aufgebracht werden konnten sowie der allgemeinen Verschlechterung der konjunkturellen Lage spitzte sich die Krise 2007/2008 zu. Der Preis für die hoch gelobten neuen Wertpapiere sank ins Bodenlose – sie entpuppten sich als toxische Produkte in den Bilanzen vieler Banken. Massive Abschreibungen und dadurch steigende Verluste zwangen viele Banken in die Krise. Staatliche Rettungsmaßnahmen wurden notwendig. Die Banken, die bei der Konkurrenz einen hohen Bestand an toxischen Produkten vermuteten, verfielen in eine für die Gesamtwirtschaft tiefe Vertrauenskrise. In dem Ausmaß, in dem die kurzfristigen Ausleihungen am Interbankenmarkt zusammenbrachen, wurden die Übertragungskanäle der Geldpolitik durch die Notenbanken verstopft. Der Transport dieses dramatischen Werteverlustes infolge der geplatzten Blase pflanzte sich schnell auf die Produktionswirtschaft außerhalb der Finanzsphäre fort. Eine schwere Krise der Weltwirtschaft, die noch konjunkturell verstärkt wurde, ist das Ergebnis. 55 Heute ist klar, dass ohne eine Überwindung des Finanzmarktdebakels die Wirtschaftskrise nicht zu bewältigen sein wird. Dazu gehört zumindest die strenge Regulierung der hier beschriebenen CDO-Verbriefung. Aber auch die neu geschaffenen Wertpapiere auf der Basis der Versicherung von Krediten (Credit Default Swaps, CDS), deren Marktwert im Zuge geplatzter Kredite massiv abgestürzt ist, müssen in die kontrollierte Regulierung einbezogen werden. 3.2 Schritte zu einem und Eckwerte eines regulierten Kapitalismus Der hier beschriebene neue Krisentyp bedroht die Grundlagen des Wirtschaftens. Das Bankensystem ist in eine tiefe Vertrauenskrise geraten. Die Wert schöpfende Produktionswirtschaft außerhalb der Finanzwelt schrumpft, nicht zuletzt, weil durch die Finanzmarktkrise dringende Kredite durch die Banken nicht weitergegeben werden. Wegen der verstopften Übertragungskanäle versagt auch die traditionelle Geldpolitik. Der Abbau von Produktionskapazitäten und Arbeitsplätzen wird durch eine völlig unzureichende Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen vorangetrieben. Die hoch entwickelten Ökonomien produzieren derzeit massiv unter ihren Verhältnissen. Durch die mangelnde Nachfrage bewegt sich die Gesamtwirtschaft in einer Rationalitätsfalle. Von den einzelnen Unternehmen sind in dieser Situation mangels Nachfrage kapazitätserweiternde Investitionen nicht zu erwarten. Es bedarf eines gesamtwirtschaftlichen Impulses durch den Staat, der außerhalb des Marktwettbewerbs steht. Diese tiefe Krise ist letztlich die Folge der in den letzten Jahren entfesselten Märkte sowie des Verzichts auf die gesamtwirtschaftliche Steuerung. Waren- und Arbeitsmärkte, jedoch besonders radikal die Finanzmärkte, sind dereguliert worden. Auch die Umwelt ist unter dem Diktat einzelwirtschaftlicher Gewinnsteigerung als ›Gratispro- duktivkraft‹ belastet worden. Anstatt der versprochenen Wohlstandssteigerung sind dadurch die Grundlagen eines zukunftsfähigen Wirtschaftssystems wegreguliert worden. Die Wirtschafts- und Finanzmarktkrise macht eine Selbstverständlichkeit deutlich: Um die Effizienzvorteile moderner Wettbewerbsökonomien zu nutzen, müssen diese zielorientiert in einen kontrollierten Ordnungsrahmen eingebunden und gesamtwirtschaftlich gestärkt werden. Es gilt, die systemimmanente, selbstzerstörerische Tendenz der Marktentfesselung zugunsten einer geordneten Ausschöpfung der produktiven Dynamik des ökonomischen Wettbewerbs zu brechen. Die Mehrheit innerhalb der Wirtschaftswissenschaft, die auf die wohlstandssteigernde Wirkung deregulierter Märkte unter Verzicht auf die gesamtwirtschaftliche Steuerung gesetzt hat, ist gescheitert. Infolge einer breiten Empfehlung der Marktentfesselung an die Politik und in der Öffentlichkeit hat sie auch eine Mitverantwortung für die Krisen-entwicklung. Umso mehr steht sie jetzt in der Pflicht, an einem Ordnungskonzept mitzuarbeiten. Dabei kann auf wichtige, in den letzten Jahren verdrängte Analysen etwa im Rahmen des Ordoliberalismus, des Konzepts der sozialen Marktwirtschaft und Keynesianismus zurückgegriffen werden. Es geht um einen grundlegenden Paradigmenwechsel zu einer regulierenden Ordnungspolitik und sinnvollen Instrumenten der gesamtwirtschaftlichen Steuerung. Was theoretische und politische Diskurse nicht geschafft haben, erzwingt heute die Gewalt der Krise: einen fundamentalen Kurswechsel. Nur durch eine aktive Konjunkturpolitik, Regulierungen der Finanzmärkte, wie überhaupt durch die Wiederentdeckung der Gesamtwirtschaft, eröffnet sich ein Weg aus dieser Krise. Deutschland steht heute vor einer doppelten 56 Wirtschafts- und Finanzmarktkrise Aufgabe. Zu allererst müssen auch unkonventionelle Maßnahmen ergriffen werden – eine Symptomtherapie reicht sicherlich nicht aus. Dazu kommen muss eine auf die lange Frist angelegte ökonomische, soziale und ökologische Ordnung des Wirtschaftens. Nachfolgend werden die wichtigsten Maßnahmen – vor allem mit dem Ziel, aus der aktuellen Krise herauszukommen – auf unterschiedlichen Ebenen aufgezeigt. 3.3 Wege zur Regulierung der Finanzmärkte Im Angesicht der Finanzmarktkrise stellt sich eine doppelte Aufgabe: Ad hoc müssen Maßnahmen zur Wiederherstellung der Funktionen des Bankensystems durchgesetzt werden. Jedoch ist gleichzeitig der Aufbau einer stabilen Finanzmarktarchitektur anzustreben. Wie die Beschreibung der Dynamik des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus zeigte, haben die Finanzmärkte in den letzten Jahren die Dominanz über die Waren- und Arbeitsmärkte gewonnen. Aus dieser Hierarchisierung der Märkte leitet sich der Vorrang für die Sanierung der Finanzmärkte zusammen mit dem Bankensystem ab. Kurzfristige Maßnahmen Kurzfristig geht es darum, die für die Gesamtwirtschaft dringlichen Funktionen des Bankensystems wieder sicherzustellen. Der ›Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung (SoFFin)‹ mit einem Volumen von 480 Milliarden Euro greift aus verschiedenen Gründen nicht richtig. Neben den Mitteln für die Stärkung des Eigenkapitals der Banken sowie der Übernahme von toxischen Produkten werden die 400 Milliarden Euro an Bürgschaften zur Kreditvergabe auf dem kurzfristigen Interbankenmarkt kaum genutzt. Dies zeigt die Tiefe der Vertrauenskrise zwischen den Banken. Deshalb war es richtig, im ›Konjunkturprogramm II‹ 100 Milliarden Euro zur Förderung der Kreditnahme durch die Wirtschaft direkt zur Verfügung zu stellen. Zur Rettung systemischer Banken, deren Zusammenbruch weite Teile der Wirtschaft belasten würde, ist eine zeitlich befristete Teilverstaatlichung unvermeidbar. Als Ultima Ratio ist auch eine Vollverstaatlichung, wie bei der Hypo Real Estate, ökonomisch durchaus sinnvoll, denn die Kosten des Zusammenbruchs wären auf jeden Fall viel höher. Diese Sozialisierung der Verluste durch den Staat muss jedoch durch eine Sozialisierung der später zu erwartenden Gewinne ergänzt werden. Schließlich sollte ein Teil der durch die staatliche Kapitalbeteiligung zusätzlichen Aufsichtsratsmandate an die Belegschaft zum Ausbau der unternehmerischen Mitbestimmung weitergegeben werden. Da das Bankensystem erst wieder funktionieren kann, wenn aus den Bilanzen die toxischen Produkte, die zu Wertberichtigungen zwingen, herausgenommen werden, ist es sinnvoll, gekoppelt an die jeweils zu sanierende Bank eine Bad Bank anzudocken. Diese Bad Bank übernimmt mit staatlicher Unterstützung die Abwicklung dieser vergifteten Produkte in der Nähe zum jeweiligen Kreditinstitut. Insgesamt zwingt die Finanzmarktkrise zu derartigen unkonventionellen, vor Jahren unvorstellbaren Maßnahmen. Gerettet werden dürfen jedoch nur Banken mit systemischer Relevanz und mit einer ernsthaften Chance auf ein künftig tragfähiges Geschäftsmodell. Bei Banken, die diese beiden Kriterien nicht erfüllen, ist deren Abwicklung unvermeidbar. 57 Stabilisierung der Finanzmärkte durch dauerhafte Regulierungen Nach dem Zusammenbruch der Finanzmärkte infolge eines Verzichts auf ein ausreichendes Regulierungs- und Kontrollsystem müssen strenge Spielregeln aufgestellt werden. Es ist schon erstaunlich, wie in den letzten Jahren die ordoliberale Botschaft verdrängt worden ist: Regulierte Finanzmärkte sind die fundamentale Voraussetzung für eine funktionierende, wettbewerbliche Produktionswirtschaft. Deshalb müssen die hochriskanten und entwicklungsbestimmenden Finanzmärkte durch eine Redimensionierung gebändigt werden. Um es im Fußball-Jargon auszudrücken: Das Foul darf künftig nicht mehr als Spielregel zugelassen werden. Damit gewinnt vor allem auch die Geldpolitik ihre Wirksamkeit zurück. Die Bändigung der Finanzmärkte zielt auch darauf, die machtvolle Durchsetzung viel zu hoher Ansprüche auf Kapitalrenditen in der Unternehmenswirtschaft zu verhindern. Ein entschiedenes ›Raus aus dem Kasinokapitalismus‹ wirkt wie ein ökonomischer Befreiungsschlag. Eine kaum noch überschaubare Flut an Instrumenten zur Regulierung der Finanzmärkte wird derzeit diskutiert. An den beschriebenen, weltweit verbreiteten toxischen Finanzmarktprodukten, die im Rahmen der Verbriefung geschaffen wurden, sind bereits wichtige Hebel der Regulierung deutlich geworden: Ein ernsthaftes Risikomanagement ist bei der Kreditvergabe durch Finanzinstitute auf der Basis transparenter Verträge sicherzustellen. Die Weitergabe der unkontrollierbaren Risiken durch die Verbriefung muss massiv begrenzt werden. So sollten die Banken mindestens 20 Prozent der Kredite in der Bilanz behalten müssen, also nicht verbriefen dürfen. Das schafft den Anreiz, bei der Kreditvergabe auf die Bonität der Kreditnehmer zu achten. Ratingagenturen, die ihre objektive Informationspflicht verletzt haben, müssen entweder umgebaut oder aber die Informationspflicht geht auf staatliche Organe über. Die privatwirtschaftlich organisierten Ratingagenturen bewegen sich in einem folgenreichen Widerspruch. Sie benoten Unternehmen, während sie gleichzeitig höchst profitabel für diese als Investmentfinanzdienstleister tätigt werden. Ratingagenturen dürfen nur raten und nicht zugleich mit den zu benotenden Unternehmen Geschäfte betreiben. Zweckgesellschaften dürfen nicht mehr außerhalb der Bilanz geführt werden. Alle Geschäfte müssen entsprechend dem Risikoprofil mit Eigenkapital unterlegt werden. Managergehälter und Bonuszahlungen, die einen Anreiz für eine kurzfristige Orientierung zulasten der Zukunftsfähigkeit geschaffen haben, müssen deutlich begrenzt werden. Die Anlageberater, die beispielsweise reine Glückswetten in Form von Zertifikaten an ahnungslose Kunden vermittelt haben, müssen in Haftung genommen werden. Dabei nützt eine kundenstützende Beweislastumkehr, die die Banken in die Pflicht nimmt. 58 Resultate der Mitgliederbefragung Alle Finanzmarktprodukte müssen einem TÜV unterzogen werden. Dabei sind vor allem die versteckten Risiken in einer verständlichen Prospektbeschreibung offenzulegen. Dieser TÜV nützt auch den vielen Bankern, die in den letzten Jahren Produkte propagierten, deren Risiken sie selbst nicht kannten. Banken sollten wieder auf tragfähige Geschäftsmodelle redimensioniert werden. In diesem Zusammenhang fordert der Nobelpreisträger der Ökonomie, Edmund Phelps, in einem Brief an Großbritanniens Premierminister Gordon Brown anlässlich des G-20Treffens in London, die Investmentbanken aufzulösen, zumindest scharf von den jeweiligen Geschäftsbanken zu trennen (vergleichbar dem Glass-Steagall Act von 1933 in den USA).11 Gerade wegen der intensiven Globalisierung der Finanzmärkte müssen Regulierungen auch international vereinbart und kontrolliert werden. Voraussetzung dafür ist die Schaffung von Regulierungsinstrumenten in Deutschland sowie auf der Ebene der EU. Was die Internationalisierung betrifft, weisen die Beschlüsse des G-20-Gipfels (Treffen am 2. April 2009 in London) in die richtige Richtung. Sicherlich waren die Erwartungen an verbindliche Festlegungen höher. Aber erstmals haben sich zwanzig Staaten – zusammen mit Russland, China und Indien – auf konkrete Regeln verständigt. Die wichtigsten Ergebnisse lauten: Kein Markt, kein Produkt, keine bedeutende Finanzmarktinstitution soll künftig ohne Regulierung und Aufsicht bleiben. Erstmals werden Hedgefonds, leider nur die ›bedeutenden‹, 11 Vgl. Eberle, Matthias: Topökonomen fordern eine neue Finanzwelt. In: Handelsblatt vom 24.3.2009. einbezogen. Künftig sollten alle Fonds zur Vermeidung von Ausweichreaktionen einbezogen werden. Auch Managergehälter und Bonuszahlungen sollen weltweit geregelt werden. Allerdings ist nicht zu erkennen, wie diese Regulierung ausgestaltet und durchgesetzt wird. Auch weil insbesondere Steueroasen zur Abwicklung von Finanzmarktgeschäften genutzt worden sind, verdient der Beschluss, Staaten auf eine ›schwarze Liste‹ zu setzen, die die OECD-Standards für faire Besteuerung nicht einhalten, Anerkennung. Mittlerweile liegt auch eine ›graue Liste‹ vor. Hier sind Staaten wie Österreich, die Schweiz und Luxemburg verzeichnet, die trotz offizieller Zusagen diese Standards immer noch nicht gesetzlich verbindlich geregelt haben. Insgesamt lautet das Motto: Die Ära des Bankgeheimnisses ist vorbei und damit eine Hauptquelle der Steuerhinterziehung verstopft. Große Anerkennung verdient dieser Gipfel für die Reform des Internationalen Währungsfonds (IWF). China und Indien erhalten mehr Einfluss. Allerdings wächst dadurch nicht die erforderliche Chance für die Länder des Südens, an den Entscheidungen des IWF aktiv mitwirken zu können. Es werden jedoch die Mittel des Fonds für die von der Krise am stärksten betroffenen Staaten auf 750 Milliarden USDollar verdreifacht. Um den Welthandel zu stabilisieren, sind Garantien von 250 Milliarden US-Dollar geplant. Insgesamt wächst der Spielraum des IWF, besonders krisenbedrohten Entwicklungs- und Schwellenländern ohne die früheren ärgerlichen Auflagen zum Sozialabbau zu helfen. 59 Nicht auf der Tagesordnung stand die Bekämpfung der Ungleichgewichte zwischen den Überschuss- und Defizitländern. Hier gibt es einen dringlichen Nachholbedarf. Auch wurde über eine grundsätzliche Reform des Weltwährungssystems mit einem für Stabilität sorgenden Wechselkurssystem nicht verhandelt. Der chinesische Zentralbankgouverneur forderte in einem Aufsatz vom 23. März 2009, durchaus auf der Linie des chinesischen Ministerpräsidenten, wie gesagt, die Ablösung der Vormachtstellung der USA durch eine übereinheitliche Leitwährung, die von einer globalen Institution gemanagt werden sollte.12 Die Arbeit an diesem Weltwährungssystem mit einem modernden Wechselkurs-system à la Bretton Woods darf nicht auf die lange Bank geschoben werden. Um wenigstens die hochspekulativen Währungstrans-aktionen zu dämpfen, ist kurzfristig die Einführung einer Devisenumsatzsteuer (Tobin-Steuer) anzustreben. Vor allem aber hat der Gipfel bei der dringlichen Aufgabe, eine koordinierte expansive Finanzpolitik durchzusetzen, versagt. So hat Deutschland der Forderung des USPräsidenten sowie der japanischen Regierung nach einem weltweit abgestimmten Konjunkturimpuls widersprochen. Den einzelnen Ländern bleibt es überlassen, in welchem Umfang konjunkturpolitische Maßnahmen durchgesetzt werden. Dieser Verzicht auf eine gemeinsame Initiative zeigt, wie wenig die Tiefe dieser Globalisierungskrise in vielen Ländern begriffen worden ist. Die wichtigen Vereinbarungen dieses Gipfels sind nur vor dem Hintergrund der materiellen Gewalt der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise zu verstehen. Die Beschlüsse zu sichern und voranzutreiben sowie die nicht thematisierten Schwerpunkte schnell aufzunehmen, dazu bedarf es einer entschiedenen Fortsetzung dieser Gipfelarbeit. 3.4 Monetäre und gesamtwirtschaftliche Steuerung Erst durch die Wirtschafts- und Finanzmarktkrise, die maßgeblich auf den Abbau ordnender Regeln der Wettbewerbswirtschaften zurückgeht, sind die Gesamtwirtschaft und der Steuerungsbedarf wiederentdeckt worden. Wie es Keynes in seiner ›Allgemeinen Theorie‹ 1936 formulierte, das ›freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte‹, der ›kapitalistische Individualismus‹, bedarf der politischen Zügelung und makroökonomischen Leitung.13 Im Zuge der Angebotsdoktrin, die sich nur auf die Stärkung der Einzelwirtschaft von der Kostenseite her konzentrierte, ist die Geld- und Finanzpolitik verdrängt worden. Unkonventionelle, expansive Geldpolitik Die Geldpolitik wird jetzt zu völlig unkonventionellen Maßnahmen gezwungen. Der Grund liegt in der hartnäckigen Vertrauenskrise der Geschäftsbanken. Die Variation der Leitzinsen und damit die übliche Geldmengensteuerung der Notenbank werden kaum noch über das Bankensystem in die Wirtschaft transportiert. Daher ist die USA dazu übergangen, bei einem praktischen Nullzinssatz durch den Ankauf von Staats- und Unternehmensanleihen Geld zu schöpfen. Die Technik der Verteilung von Geld per Helikopter, die der Monetarist und Deregulierer Milton Friedman und der heutige US-Notenbankpräsident Ben Bernanke für Phasen der Depression beschrieben haben, werden heute immer wieder zitiert. Im Kern geht es darum, der Volkswirtschaft an den Banken vorbei Liquidität zuzuführen. 12 Ohne Verfasser: China schlägt eine neue Leitwährung vor. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.3.2009. 13 Vgl. Keynes, John Maynard: a.a.O., S. 320 f. 60 Wirtschafts- und Finanzmarktkrise Zur derzeitigen Geldschaffung durch den Kauf von Staats- und Unternehmensanleihen gibt es keine Alternative. Aktuell wird diese Politik wegen der später drohenden Inflationsgefahren kritisiert. Auf die unverantwortlich geschürten Inflationsängste gibt es zwei Antworten: Zum einen droht heute nicht eine Inflation, sondern die Gefahr einer Deflation, also des Preis- und Gewinnverfalls. Zum anderen hat die Notenbank genügend Möglichkeiten, die später drohende Inflationsgefahr zu bekämpfen. Vor allem die Europäische Zentralbank (EZB) lässt sich bei ihrer Geldpolitik mit den Instrumenten der Geldschöpfung viel zu stark von späteren Inflationsfolgen beeinflussen. Sie hält auch mit ihrer Zinspolitik am Vorrang der (vorauseilenden) Inflationsbekämpfung fest und setzt immer noch auf die traditionellen Übertragungskanäle ihrer Geldpolitik. Diese funktionieren aber angesichts der tiefen Vertrauenskrise des Bankensystems längst nicht mehr. Derzeit droht auch im Euroraum keine Inflationsgefahr. Vielmehr spekuliert die Wirtschaft auf weitere Preissenkungen, die am Ende zu Gewinneinbrüchen führen. Wenn sich die Deflation festsetzen sollte, dann wird die Wirtschaftskrise, wie das Beispiel Japan in den 1990er Jahren zeigt, viele Jahre andauern. Eine Geldpolitik, die dazu beitragen will, eine Deflation zu vermeiden, muss die Wirtschaft mit quasi kostenloser Liquidität fluten. Es geht um die Schaffung eines monetären Spielraums für die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. Wenn die Wirtschaft, unterstützt durch eine expansive Geld- und Finanzpolitik, wieder auf den Wachstumskurs einschwenken sollte, bleibt genug Zeit, mit den Instrumenten der Geldpolitik erfolgreich inflationstreibende Liquidität abzusaugen. Die Europäische Notenbank sollte daher im Gleichschritt mit den Notenbanken in den USA und Japan den Leitzins in die Nähe von null Prozent bringen. Die monetäre Steuerung erfolgt dann quantitativ über die Schaffung von Liquidität durch den Kauf von Wertpapieren. In die richtige Richtung weist die Diskussion im EZB-Rat, in dieser Ausnahmesituation den Kauf von Unternehmensanleihen direkt beim Herausgeber der Papiere, also beim Unternehmen oder aber indirekt über die Geschäftsbanken, zuzulassen. Fiskalische Steuerung Die monetäre Steuerung allein bleibt gesamtwirtschaftlich wirkungslos. Schließlich bewegt sich auch Deutschland in einer Liquiditätsfalle, das heißt, wegen der negativen Geschäftserwartungen finden die Geldanlagen nicht den direkten Weg in die Finanzierung der Produktion. Es fehlt an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage. Diese Nachfragelücke kann nur durch eine expansive Finanzpolitik durchbrochen werden. Dies lehrt auch die 1929er Weltwirtschaftskrise. Während Roosevelt mit seinem ›New Deal‹ die Wirtschaft stärkte, hat die Brüningsche Notverordnungspolitik in Deutschland die Krise massiv beschleunigt und damit sich selbst verstärkende Produktions- und Arbeitsplatzverluste ausgelöst.14 Heute ziehen vor allem die USA und Japan mit gigantischen öffentlichen Ausgabenprogrammen die richtige Lehre aus dieser Erfahrung mit der damaligen ›New-Deal‹-Politik. Der Staat muss eine sich vervielfachende Nachfrage durch die Finanzierung zukunftswichtiger Projekte generieren. 14 Christina Romer, Wirtschaftsberaterin des amerikanischen Präsidenten, hat in einer empirischen Studie den Erfolg der New-Deal-Politik nachgewiesen. Vgl. Romer, Christina: Lessons from the Great Depression for Economic Recovery in 2009 (März 2009); Download über www.handelsblatt.com/oekonomie 61 Dadurch ist ein doppelter ökonomischer Nutzen zu erreichen: Für jeden US-Dollar, der von der Regierung investiert wird, so Paul Krugman, wird über Multiplikatoren und Akzeleratoren das Bruttoinlandsprodukt um mindestens 1,50 Dollar vermehrt.15 Zugleich werden durch Zukunftsinvestitionen die Lebens- und Produktionsbedingungen künftiger Generationen verbessert. Durch diese beiden Aspekte rückt die Nutzung der Staatsverschuldung in positives Licht. Oftmals wird eingewendet, Konjunkturprogramme würden zu spät beziehungsweise überhaupt nicht wirken. In einer jüngeren Untersuchung haben zwei Ökonomen des Internationalen Währungsfonds beim Vergleich der Wirkungsweise von Konjunkturprogrammen festgestellt, dass in wichtigen Ländern der G7-Gruppe diese zu Wachstumsimpulsen geführt hätten. Jedoch wird der antizyklischen Finanzpolitik insgesamt kein Freibrief ausgestellt.16 Die Bundesregierung hat zwei Konjunkturprogramme vorgelegt. Hinzuzurechnen sind die Entlastungen durch die Wiedereinführung der Pendlerpauschale mit 7 Milliarden Euro in 2009 und 2010, die allerdings das Bundesverfassungsgericht erzwungen hat. Von den 50 Milliarden Euro des Konjunkturprogramms II sind in den Jahren 2009 und 2010 17,3 Milliarden Euro für öffentliche Investitionen vor allem in den Kommunen vorgesehen. Diese Entscheidung geht in die richtige Richtung. Durch die Kleinteiligkeit der Projekte etwa im Bereich der Schulsanierung kann am Ende auch die lokale Wirtschaft profitieren. Allerdings ist der Schritt zu halbherzig. Die drohende Deflation sollte durch ein Zukunftsinvestitionsprogramm von jährlich mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts – also pro Jahr 50 Milliarden Euro – gebannt werden. Ad-hoc-Maßnahmen zur Rettung stark vernetzter Unternehmen – wie etwa des Autobauers Opel samt der Zulieferindustrie – lassen sich gegenüber den Kosten einer Insolvenz durchaus rechtfertigen. Die Unterstützung der Unternehmen durch die Verlängerung des Kurzarbeitergelds, um Entlassungen zu verhindern, ist richtig. Unternehmen und Politik haben begriffen, dass die Beschäftigten für die künftige wirtschaftliche Entwicklung im Betrieb gehalten werden müssen. Dabei ist die Verbindung mit Qualifizierungsmaßnahmen besonders positiv hervorzuheben. Die gewonnene Zeit muss jedoch dazu genutzt werden, den Brückenschlag an das rettende Ufer auch zu schaffen. Schließlich müssen auch die Maßnahmen der Deregulierung der Arbeitsmärkte, die zu einer Zunahme der Zeit-/ Leiharbeit sowie prekärer Arbeitsverhältnisse geführt haben, dringend auf den Bedarf an Reregulierung hin überprüft werden. 15 Vgl. Krugmann, Paul: Das Konjunkturprogramm – Wie die amerikanische Regierung dazu beitragen kann, die Wirtschaft anzukurbeln: Bloß keine Angst vor großer Verschuldung. In: Frankfurter Rundschau vom 8.4.2009, S. 30–31. 16 Vgl. Leigh, Daniel/Stehn, Sven Jari: Fiscal and Monetary Policy During Downturns: Evidence from the G7, IMF-Working Paper Nr. 09/50 (März 2009); Download über www.handelsblatt.com/oekonomie 62 Wirtschafts- und Finanzmarktkrise Konjunkturprogramm in ein Zukunftsinvestitionsprogramm umbauen: 1. Die beiden Konjunkturpakete I und II: zu wenig ausgerichtet auf die Stärkung der öffentlichen Nachfrage und der Schaffung eines Beschäftigungsschirms. 2. Ein drittes Konjunkturprogramm: als Zukunftsinvestitionsprogramm erforderlich. Zu 1.: Die Konjunkturpakete I und II Finanzielle Auswirkungen des Konjunkturpakets I, der Wiederherstellung der Pendlerpauschale und des Konjunkturpakets II auf die öffentlichen Haushalte insgesamt in Mrd. Euro1 (2009 – 2010) Konjunkturpaket I 2009 2010 2009+2010 1. Erhöhung und Unterstützung von Investitionen 1,3 1,4 2,7 Erhöhung Verkehrsinvestitionen 1,0 1,0 2,0 Aufstockung Gemeinschaftsaufgabe regionale Wirtschaftsförderung 0,2 0,1 0,3 Aufstockung KfW-Programm energieeffizientes Bauen 0,0 0,2 0,3 weitere KfW-Programme, z.B. Kommunalkredit 0,1 0,1 0,1 2. steuerliche Entlastungen für private Haushalte 0,4 1,0 1,4 Kfz-Steuerbefreiung 2009/10 0,4 0,1 0,5 - 0,9 0,9 3. steuerliche Entlastungen für Unternehmen 2,2 4,7 6,9 degressive AfA 25% 1,9 4,3 6,3 erhöhte steuerliche Förderung für Handwerksdienstleistungen Sonderabschreibung KMU 0,2 0,4 0,6 4. Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit 0,3 0,5 0,8 Summe 4,2 7,6 11,8 Pendlerpauschale: (Folge der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts) 5,5 1,5 7,0 Zukunftsinvestitionen der öffentlichen Hand 9,0 8,3 17,3 Innovationsförderung des Bundes (ZIM) 0,5 0,5 0,9 Konjunkturpaket II Abwrackprämie 1,5 - 1,5 Förderung der Mobilitätsforschung 0,3 0,3 0,5 Beschäftigungssicherung 2,5 3,5 5,9 a) Sozialversicherungsbeiträge Kurzarbeit 1,1 1,1 2,1 b) Aktivierung und Qualifizierung 1,3 1,3 2,6 c) 5.000 zusätzliche Stellen Arbeitsagentur und Argen 0,1 0,1 0,2 1,0 1,0 Senkung der Einkommenssteuer 2,9 6,1 9,0 d) Stabilisierung Arbeitslosenversicherung bei 2,8% zweite Hälfte 2010 Senkung der Beitragssätze zur GKV (gesetzliche Krankenversicherung) 3,0 6,0 9,0 Familien: kinderbezogene Leistungen 2,0 0,4 2,4 a) Kinderbonus 1,8 - 1,8 b) Regelsätze für Kinder 0,2 0,4 0,6 Summe 21,6 24,9 46,5 Konjunkturpaket I + II + Pendlerpauschale Summe 31,3 34,0 65,3 1,3 1,4 - in % des BIP Für die Maßnahmen: Beschleunigung von Investitionen durch Vereinfachung des Vergaberechts, Kredit und Bürgschaftsprogramm, Ausweitung der bundesgedeckten Exportförderung, Breitbandstrategie der Bundesregierung, Neuregelung Kfz-Steuer ist noch keine Quantifizierung verfügbar. 1 Ohne makroökonomische Rückwirkungen. Quellen: Bundesregierung; Schätzung des IMK. 63 Zu 2.: Ein drittes Konjunkturprogramm als Zukunftsinvestitionsprogramm ist erforderlich 1. Die Krise fällt mit minus 6 Prozent tiefer als bisher in der Politik angenommen aus. Auch die Krise der Finanzmärkte/Banken hält an. Vor allem steigt die Arbeitslosigkeit. 2. Die bisherigen Programme sind unzureichend und setzen vor allem im Bereich der Abgabensenkung falsche Schwerpunkte. Laut OECD beträgt das Gesamtvolumen der beiden ersten Konjunkturprogramme im Durchschnitt 2008–2010 nur 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts pro Jahr (in den USA 5,6 Prozent, pro Jahr 1,8 Prozent). 3. Volumen, Struktur und Finanzierung des Zukunftsinvestitionsprogramms: n Volumen: 100 Milliarden Euro pro Jahr bis zunächst 2011. n Struktur: 75 Milliarden Euro in öffentliche Investitionen, in Sachausgaben und Personal und 25 Milliarden Euro in ein arbeitsmarktpolitisches Sonderprogramm. Danach sollen jährlich 50 Milliarden Euro dauerhaft in Arbeit, Bildung, Umwelt investiert werden. n Absicherung von 2 Millionen tarifabgesicherten Arbeitsplätzen. n Finanzierung: Verbesserung des Steuervollzugs; Finanztransaktionssteuer, Reform Erbschaft/Schenkungssteuer, Selbstfinanzierung, Aufnahme öffentlicher Kredite: Vorsorge für künftige Generationen. Zwei Bemerkungen: 1. Künftige Generationen profitieren von einem schuldenfinanzierten, öffentlichen Ausgabenprogramm, das in die Bildung, die Hochschulen, die Umwelt und die Stärkung einer modernen Wirtschaftsstruktur fließt. 2. Der Hinweis, es würde die Inflation beschleunigt, trifft nicht zu. Die deutsche Wirtschaft bewegt sich am Rande einer Deflation, das heißt, es fehlt an Nachfrage. Gäbe es eine Inflation, dann wäre wenigstens die Nachfrage größer als das Angebot. Die konjunkturpolitischen Maßnahmen für Bremen und Bremerhaven 1. Das Konjunkturpaket II des Bundes wird im Land Bremen mit dem Zukunftsinvestitionsprogramm 2009/2010 umgesetzt: Gesamtvolumen: 117,933 Millionen Euro, davon 25 Prozent Eigenfinanzierung aus dem Landeshaushalt Bremen. Die Komplementärfinanzierung erfolgt über die Aufnahme öffentlicher Kredite im Rahmen eines Nachtragshaushalts. Die Schwerpunkte sind: Einrichtungen der frühkindlichen Infrastruktur, Schulinfrastruktur (Gebäudesanierung und nutzerspezifische Maßnahmen), Hochschulen (Gebäudesanierung, Einrichtungen der Weiterbildung, Forschung), Krankenhäuser, Stadtbau (Lärmschutzmaßnahmen, Verbesserung der Verkehrssicherheit), Informationstechnologien, sonstige Infrastrukturinvestitionen (beispielsweise Hafenbahn, Weser-Anleger in der Innenstadt). 2. Bewertung: Das Zukunftsinvestitionsprogramm konzentriert sich auf öffentliche Investitionen zugunsten auch künftiger Generationen. Die Ziele sind: kurzfristige Realisierbarkeit, die Zusätzlichkeit und die längerfristige Nutzung. Durch die Kleinteiligkeit und eine breite Steuerung der Auftragsvergabe wird die lokale Wirtschaft (kleine und mittlere Unternehmen sowie Handwerk) gestärkt. Wegen dem zu erwartenden Arbeitsplatzabbau und der steigenden Arbeitslosigkeit sollte sich die Politik umgehend auch auf die Stärkung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen konzentrieren. Dazu gehört auch die Weiterbildung, wie sie im Rahmen der Verlängerung der Kurzarbeit festgeschrieben worden ist. In Bremen und Bremerhaven sollte die Politik Unternehmen, die wegen des Einbruchs der Nachfrage zum Erhalt der Arbeitsplätze beschäftigungspolitische Bündnisse abschließen müssen, unterstützen. Dazu gehören Mercedes-Benz, die Hafenbetriebe und die Stahlindustrie, aber auch die kleinen und mittleren Unternehmen. Die Aufbaubank sollte zusammen mit den Regionalbanken vor Ort dafür sorgen, dass Unternehmen zur Überwindung von Liquiditätsengpässen den Zugang zu den Kreditprogrammen erleichtert bekommen (KfW-Mittel in den Konjunkturprogrammen I + II sowie der Rettungsfonds für die Banken). 64 Wirtschafts- und Finanzmarktkrise Ein vorläufiges Fazit Nach dieser Krise, vor allem infolge deregulierter Finanzmärkte, darf nicht einfach zur Tagesordnung übergegangen werden. Die wirtschaftsschädlichen Spieltische im Kasinokapitalismus müssen geschlossen, das Wirtschaftssystem muss sozial und ökologisch gestaltet werden. Wer jetzt darauf spekuliert, nach der Überwindung der Krise mit extrem hohen steuerfinanzierten Staatsausgaben wieder in das alte Wirtschaftssystem zurückzukehren, der setzt auf die nächste, dann noch tiefere Krise. Ein ›Capitalism reloaded‹ würde die alten Probleme potenzieren und neue Herausforderungen nicht bewältigen. In der Tat, jede Krise bietet Chancen. Diese jedoch auch konstruktiv zu nutzen, verlangt die Revitalisierung einer gestaltenden Politik des Wirtschaftens unter gesamtwirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Maßgaben. Dazu gehört auch der Abbau von Marktmacht-Konzentrationen zugunsten eines funktionsfähigen Wettbewerbs. Bei der Suche nach dem Ordnungskonzept hilft die Botschaft, die John Maynard Keynes in der letzten Weltwirtschaftskrise formuliert hat: Bei den Regulierungen sowie der öffentlichen Investitionspolitik geht es nicht um die Etablierung eines ›autoritären Staatssystems‹.17 Vielmehr richten sich die Spielregeln gegen die selbstzerstörerischen Kräfte entfesselter Märkte. Es geht nicht um die Abschaffung des ›freien Spiels der wirtschaftlichen Kräfte‹, sondern darum, die ›Krankheit zu heilen und gleichzeitig Leistungsfähigkeit und Freiheit zu bewahren‹. Allerdings wäre ein ›Ersatzkapitalismus‹, den Joseph Stiglitz in den USA durch Obamas Art der Bankenrettung im Entstehen sieht, nicht die richtige Antwort.18 Der Staat darf nicht als Reparaturbetrieb im Dauereinsatz missbraucht werden. Vielmehr ist das Leitbild eines unter sozialen und ökologischen Zielen regulierten Kapitalismus in einer globalisierten Weltwirtschaft zu erarbeiten. Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft, die sich mit ihrer Theorie dominanter Marktliberalisierung unter Verzicht auf eine gesamtwirtschaftliche Steuerung blamiert hat, sollte jetzt die Chance nutzen und an dem Ordnungsmodell eines modernen, regulierten Kapitalismus mit enormem Forschungsinput mitarbeiten. 17 Vgl. Keynes, John Maynard: a.a.O., S. 321. 18 Vgl. Stiglitz, Joseph: Obamas Ersatzkapitalismus – Wie die amerikanischen Steuerzahler draufzahlen werden. In: Frankfurter Rundschau vom 8.4.2009, S. 29.