Manfred Riße Abendmahl der Mörder Kannibalen – Mythos und

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Manfred Riße Abendmahl der Mörder Kannibalen – Mythos und
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Manfred Riße
Abendmahl der Mörder
Kannibalen – Mythos und Wirklichkeit
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Manfred Riße
Abendmahl der Mörder
Kannibalen – Mythos und Wirklichkeit
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Kannibalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
Der Kannibalismus und seine Spielarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
Kannibalismus im Tierreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
Anthropophagie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
Mythos und Fantasy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
Blutsymbolik und Blutrituale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
Vampire, Hexen und Zigeuner: Mythosfiguren ritueller
Anthropophagie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
Realitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
Hungerkannibalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
Tierfraß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
Kannibalismus und Verbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
Serienmörder mit kannibalischen Trieben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
Rituelle Praktiken und Grausamkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
Weimarer Republik – Hochkonjunktur für kannibalische
Serienmörder? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
Der »Kannibale von Rotenburg« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Ein beispielloser Fall in der deutschen Rechtsgeschichte . . . . . . . 79
Schlacht- und Machtfantasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Die Darstellung des Verbrechens im ersten Strafprozess . . . . . . . 87
Das Urteil, die Aufhebung des Urteils, die Rechtsfolgen . . . . . . . 97
Der zweite Strafprozess, Revisionsverhandlung in
Frankfurt/Main . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
Vorläufig letzter Akt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
Chronologie des Verbrechens und seiner Folgen . . . . . . . . . . . . . 113
Der »Kannibale« und seine Persönlichkeitsrechte –
ein Nebenschauplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
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6 | Inhaltsverzeichnis
Gerichtsmedizinische Aspekte im Umfeld von
Kannibalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
Penisamputation und Entmannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
Der Verblutungstod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
Exkurs: Tötungsdelikte und Kannibalismus im
Dunkelfeld des Verbrechens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
»Tötung auf Verlangen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
Der Wunsch, getötet zu werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
Verbluten auf Verlangen – »Eine Art des Weinens« . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
Leichenzerstückelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
Kannibalismus: Eine Pornografie des Grauens . . . . . . . . 163
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
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Vorwort
»Wer den Körper des anderen auffrisst, ist immer von der Sehnsucht erfüllt, von des Anderen Seele Besitz zu ergreifen – der Körper als Metapher,
das Subjekt als Objekt der Begierde.«1
Alexander Schuller führt das Thema Kannibalismus zum Ursprung allen Seins zurück. Demnach sind sämtliche Ursprungsmythen kannibalisch, auch die jüdisch-christliche Schöpfungsgeschichte, und auch die Mythen der griechischen Götterwelt.
Letztgenannte scheinen von Kannibalismus geradezu beherrscht zu
sein, denn in der griechischen Mythologie ist die Genealogie der
Götter von einem kannibalischen Konflikt zwischen Vätern und
Söhnen gekennzeichnet. Dieser Konflikt wird in seinem Verlauf
vom Himmel auf die Erde verlegt, wo er sich weiter fortsetzt. Somit
wird durch die Schöpfungsmythen auch die Religion in die irdische
Daseinsgeschichte mit Leben, Sterben und Tod miteinbezogen.
Im Zentrum vieler Religionen und Kulturgemeinschaften stehen neben Gebeten auch rituelle Opferhandlungen. Damit verbunden ist häufig das Schlachten eines hierfür auserkorenen Opfers,
das Erlebnis des Todes und das Opfermahl. In der Religionsgemeinschaft der Christen existiert kein Opferkult, Christus hat sich
selbst geopfert. Jedoch findet in der Vorstellung der katholischen
Heilslehre eine (Ver-)Wandlung statt. Christus lebt weiter in denen,
die ihn im Ritus des Abendmahls verspeisen. Wer im Messopfer sein
Fleisch isst und sein Blut trinkt, besitzt das ewige Leben. Nach der
allerdings nicht unumstrittenen Transsubstantiationslehre2, die
schon im Mittelalter zur Kirchenspaltung führte, handelt es sich
hierbei keineswegs nur um eine symbolische Verwandlung, bei der
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8 | Vorwort
Fleisch und Blut durch Brot und Wein ersetzt werden, sondern im
Sinn der Eucharistiefeier* um eine Realpräsenz des Leibes Christi.
In diesem Sinn verschmelzen Gegensätze und Bedeutungen. Kannibalisches Handeln wird zu einer Einheit: »Friß und Werde«, so
der Titel von Alexander Schuller’s Aufsatz. Kannibalismus beinhaltet eine Metamorphose, die Verwandlung von Totem in Lebendiges.
Der Kannibalismus-Diskurs durchzieht aber nicht nur Mythen
und Religionen, sondern findet auf nahezu allen Ebenen unserer
Existenz statt, sowohl im tierischen als auch im menschlichen
Bereich. Somit ist Kannibalismus auch Gegenstand zahlreicher
Wissenschaften, wie etwa der Anthropologie, der Ethnologie, der
Psychologie oder der Religionswissenschaften. Auch die Kriminalwissenschaften und die Gerichtliche Medizin beschäftigen sich mit
diesem Thema, in der Regel in Verbindung mit jeweils aktuellen
Verbrechen. Und so, wie das Verbrechen dem Menschen eigen ist, so
ist verbrecherischer Kannibalismus mit Töten und Schlachten ein
Phänomen menschlicher Natur und, auch wenn es merkwürdig
klingen mag, menschlicher Kreativität. Verbrecherischer Kannibalismus ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst.
Abscheu und Faszination begleiten dieses Thema. Es ist eine
seltsame, ambivalente Faszination, eine Mischung aus Ekel, Abscheu, Angst und Widerwillen auf der einen, Sensationslust, Neugier und magischer Anziehung auf der anderen Seite.
Am 3. Dezember 2003 begann vor der 6. Strafkammer des Landgerichts Kassel der spektakuläre Prozess gegen den zur Tatzeit im
Jahr 2001 41 Jahre alten Computertechniker A. M. – besser bekannt
als der »Kannibale von Rotenburg«. Detailliert schildert dieser in
der Hauptverhandlung die vor laufender Kamera festgehaltene
Tötung und Schlachtung des 43-jährigen Berliner Ingenieurs J. B.
»Man kann es fast mit dem Abendmahl vergleichen«, so seine
Worte vor dem entsetzten Publikum. Hass, Glück und Wut auf sich
selbst habe er gleichzeitig empfunden.
Abscheu und Faszination begleiteten auch diesen konkreten
* Abendmahl im Rahmen eines christlichen Gottesdienstes
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Vorwort | 9
Fall, der zur Entstehung des vorliegenden Buches wesentlich beigetragen hat. Dementsprechend wird dieser Fall in den Vordergrund
gestellt, wobei die Wiedergabe allerdings weder aus der Sicht eines
Verteidigers noch aus der Sicht eines Anklägers erfolgt. Der Fall soll
vielmehr aus der Sicht des mit dieser Strafsache betrauten gerichtsmedizinischen Sachverständigen erörtert werden. Damit, und insbesondere auch durch eine objektive Berichterstattung und Darstellung des Falls sowie der unumstößlichen Fakten, wird dem
Vorwurf der Sensationslüsternheit jegliche Basis entzogen. In diesem Sinn werden die Aussagen des »Kannibalen von Rotenburg«
zum Teil ungekürzt und wortgetreu wiedergeben, was einigen Lesern vermutlich »starke Nerven« abverlangen wird.
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Kannibalismus
Der Kannibalismus und seine Spielarten
Der Versuch, das Thema Kannibalismus in einen historischen Rahmen zu pressen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Zu
vielschichtig ist dieses Thema und zu vielseitig ist die Bedeutung
des Begriffs, der zunächst lediglich auf das Anthropophage – das
Essen bzw. Fressen von Menschen – fixiert war. Bereits der Versuch
einer Einteilung in verschiedene Kannibalismusformen stößt auf
Schwierigkeiten und ist stark von der jeweiligen Sichtweise des
Betrachters abhängig. Insofern sollen im Folgenden »lediglich« verschiedene Spielarten des Kannibalismus näher beleuchtet werden,
wobei auch hier eine subjektive Komponente, nämlich die Sichtweise des Rechtsmediziners, zum Tragen kommt. Einen besonderen
rechtsmedizinischen Schwerpunkt bildet hierbei der Zusammenhang von Kannibalismus und Verbrechen.
Vermutlich schon seit Urzeiten zeigt der Mensch mehr oder weniger instinktive Verhaltensmuster, die mit der Thematik Kannibalismus in Verbindung gebracht werden können. So lässt sich beispielsweise ein Zusammenhang zwischen küssen, beißen, saugen
und kannibalischen Fantasien bei Eltern und ihren Kleinkindern
sowie bei Sexualpartnern herleiten. Auch sprechen Mütter und
Väter gern von ihrem »eigenen Fleisch und Blut«. Kannibalisch
wird es insbesondere, wenn jemand einen anderen Menschen
»zum Fressen gern« hat. Dieser Ausdruck impliziert quasi die
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zumindest gedankliche Einverleibung des Anderen. Eine andere
Art von Einverleibung lehrt die katholische Heilslehre. Im Ritus
des Abendmahls wird Christus verspeist und lebt hierdurch in
denen weiter, die ihn verspeisen. Sein Fleisch essen und sein Blut
trinken verspricht das ewige Leben. Hostie und Wein werden
somit zu Fleisch und Blut, und das Abendmahl ist gleichsam
Ausdruck größter Liebe zu Gott. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass das Zerbeißen oder Zerkauen der Hostie zwar nicht
verboten, aber auch nicht üblich ist. Provokanterweise müsste
sich hier die Frage anschließen, ob auch Vegetarier in ihrem
Selbstverständnis an dieser liturgischen Zeremonie teilnehmen
dürfen.
Zurück zu realem Kannibalismus und mythischen Vorstellungen
in der Historie des Menschen. Sicherlich ist es unmöglich, aus
Mythen Rückschlüsse auf historische Vorgänge und Ereignisse zu
ziehen, dennoch ist das Phänomen des realen Kannibalismus, für
den sich die unterschiedlichsten Motive (so auch Verbrechen) finden lassen, weit älteren Ursprungs als der Terminus Kannibalismus selbst. Die Diskussion um vorgeschichtliche Beweise für
Kannibalismus wird divergent geführt. Jedoch finden sich zumindest Hinweise für bereits prähistorische kannibalische Praktiken.
Oftmals waren es nur Reste menschlicher Gebeine an ehemaligen
Feuerstellen, die Anlass zur Spekulation gaben, hier hätten womöglich Kannibalenmahlzeiten stattgefunden. Mehr als Spekulationen sind jedoch scheinbar nicht verblieben, denn, so die
Berliner Archäologin Heidi Peter-Röcher, »entscheidend für die
Beurteilung der Quellen zum Kannibalismus ist, ob Augenzeugen für das
Essen von Menschen existieren«. Ansonsten müsse davon ausgegangen werden, dass »die Berichterstatter Missverständnissen erlagen, die
Wirklichkeit ihrem Vorwissen entsprechend sahen und außerdem voneinander abschrieben«.3 Selbst Ritz- oder Schabspuren an Knochen, die
auf kannibalisches Verhalten hindeuten, erklärt die Archäologin
mit mehrstufigen Bestattungsritualen, bei denen die Knochen der
Toten entfleischt worden waren. Teilweise seien Knochen aber
nicht nur der Entwesung ausgesetzt, sondern zur Entfleischung
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auch Karnivoren* vorgesetzt worden, nachdem die Leichen zerhackt worden waren, um den Fleischfressern die Arbeit zu erleichtern. So sind sowohl Fraßspuren als auch Schnitt-, Schlag- und
Hackspuren an den Überresten zu erklären. Auch Überreste von
Brandbestattungen wurden gern als Relikte kannibalischer Mahlzeiten gedeutet. Dieses Kannibalismus-Modell manifestierte sich
nach Peter-Röcher seit etwa der Mitte des vorletzten Jahrhunderts
mit der Veröffentlichung der Funde aus der »Höhle von Chauvaux«
in Belgien. Diese Funde wurden als Überreste von Kannibalenmahlzeiten gewertet.4
Historisch gesehen, zieht sich das Thema Kannibalismus durch
alle Zeiträume, angefangen von mythologischen Vorstellungen in
der Antike, etwa in den Mythen griechischer Götterwelten, bis hin
zu Berichten aus der sogenannten Neuzeit. In den Berichten des
griechischen Historikers und Ethnologen Herodot (etwa 485–425
v. Chr.) finden sich Beschreibungen von Sitten barbarischer Sippen
und Fabelvölker, die ihre eigenen Angehörigen oder Fremde schlachten und in rohem Zustand oder gekocht verzehren. Auch in den
Vorstellungen späterer Zeitgenossen sowie in Reiseberichten tauchen bis in die Neuzeit die verschiedensten Varianten von Endound Exokannibalismus auf, ohne dass direkte Ohren- bzw. Augenzeugen benannt werden. Unter Exokannibalismus wird in diesem
Zusammenhang beispielsweise das Verspeisen von Feinden verstanden, während sich Endokannibalismus zum Beispiel auf das rituelle
Verzehren verstorbener Mitglieder des eigenen Clans bezieht.
Der Begriff Kannibalismus soll auf den italienischen Seefahrer
Christoph Kolumbus (1451–1506) zurückgehen, der im Jahr 1492
bei der Suche nach dem kürzesten Seeweg nach Asien irrtümlicherweise in der Karibik gelandet war. Dort soll er den Stammesnamen
der »Karaiben« fälschlicherweise als »Kaniben« verstanden haben. 5
Das Tagebuch des Christoph Kolumbus führt den kubanischen
Namen »Caniba« auf, welcher etymologisch so viel wie »menschenfressendes Volk von Portoriko« bedeutet .6 Diesen Karaiben oder
* Fleisch fressende Tiere
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Kariben wurde nachgesagt, dass sie ihre getöteten Gegner verspeisen, um so deren Reinkarnation zu verhindern. Eine andere Bedeutung des Begriffs Kannibalismus könnte sich aus dem lateinisch
abgeleiteten Begriff »Carnibales« von »Carnevales« (lat. carne, carnis
= Fleisch sowie lat. levare = entnehmen, entfernen) ergeben.
An der Entdeckung der Neuen Welt und der Eroberung Amerikas waren kurz nach Kolumbus auch deutsche Seefahrer beteiligt.
Den größten Bekanntheitsgrad erlangte der aus dem Binnenland
Hessen stammende Landsknecht Hans Staden. 7 In der Zeit zwischen
1548 und 1555 kam dieser unter portugiesischer und spanischer
Flagge zweimal nach Brasilien und prägte durch seine Berichte das
Indianerbild im Europa des 16. Jahrhunderts, insbesondere auch im
Hinblick auf deren angeblichen Kannibalismus. Im Jahr 1553 lebte
Staden neun Monate bei den brasilianischen Tupinambà. Sein
»Menschenfresserbuch« 8 erschien 1557 und enthielt 54 Holzschnitte, von denen 30 kannibalische Szenen darstellten. In den ersten
zehn Jahren nach Erscheinen des Werkes wurden europaweit fünf
Nachdrucke veröffentlicht, ein offensichtlicher Beweis für das stete
Interesse des Menschen an dieser ambivalenten Thematik.
Der Terminus Kannibalismus wird in der heutigen Zeit vielschichtig verwendet und meint nicht nur den Verzehr eigener Artgenossen, sondern wird als Metapher auch abstrahiert benutzt. So findet
sich beispielsweise in der Astronomie der Begriff galaktischer Kannibalismus, der die »Einverleibung« von Sternen und Materie benachbarter Zwerggalaxien oder Kugelsternhaufen umschreibt. Nach Mitteilungen der Max-Plack-Gesellschaft für Astronomie in Heidelberg
ist unsere Milchstraße eine durchaus gefräßige Heimatgalaxie, bei
der eindeutige Spuren von galaktischem Kannibalismus nachgewiesen werden konnten. Bereits in der Frühzeit des Universums soll
dieser Mechanismus der Einverleibung von fremder Masse bei der
Bildung größerer Galaxien wie der unserer Milchstraße eine Rolle
gespielt haben. Eine weitere Verwendung findet man in der Marktwirtschaft wieder. Kannibalisierung ist ein Begriff aus dem Marketing, der sich auf den Kampf um Marktanteile bezieht. Dieser Begriff beschreibt den Effekt, der eintreten kann, wenn ein und
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14 | Kannibalismus
dasselbe Produkt durch Niedrigpreise mit sich selbst in Konkurrenz gesetzt wird. Durch die gegenseitige Konkurrenz kommt es
zum Absatzrückgang. Die Produkte »fressen sich gegenseitig« den
Umsatz weg. Von globalem Kannibalismus ist die Rede, wenn es um
wirtschaftliche Geflechte geht, die ohne Rücksicht auf gewisse
Grundregeln und ohne Rücksicht auf den Einzelnen um sich greifen. Auch im technischen Bereich existiert der Begriff der Kannibalisierung. Im übertragenen Sinn ist hiermit das »Ausschlachten«
eines Gerätes zur Gewinnung von Bauteilen oder auch zur Funktionsübernahme gemeint. In der Politik wird Kannibalismus beispielsweise im Zusammenhang mit Steuererhebungen genannt.
»An einem Kannibalismus in Form einer Konkurrenz mit den umliegenden Kommunen um den niedrigsten Hebesatz werden wir uns nicht beteiligen«, so eine Aussage im Frankfurter Stadtparlament (»hr-online«,
15.9.2006).
Nicht nur in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem
Phänomen des realen Kannibalismus ist der Begriff mit der Bezeichnung Anthropophagie (griech. ánthropos = Mensch; phagein =
fressen, essen) belegt. Der Begriff Anthropophagie fand bereits in
der Antike und im Mittelalter bis ins 16. Jahrhundert hinein Verwendung, während »Kannibalismus« erst mit Kolumbus und der
Entdeckung der Neuen Welt quasi modern wurde. Wörtlich übersetzt bedeutet Anthropophagie lediglich Menschenfresserei, womit
aber nichts anderes als der umgangssprachlich besser verständliche
Begriff Kannibalismus gemeint ist. Streng genommen könnte Anthropophagie aber auch das Fressen von Menschenfleisch durch
Tiere bedeuten. Der sprachliche Umgang mit dem für Jedermann
verständlichen Wort Kannibalismus oder Kannibale ist gerade im
deutschen Sprachgebrauch recht vielgestaltig und nutzt die Bildhaftigkeit, die in Abhängigkeit von der jeweiligen Motivation mit
Menschenfresserei behaftet ist. Eher sinnbildlich wird hierbei von
einem »Sich Einverleiben« gesprochen oder das Wort »Abendmahl«
bzw. »Kommunion« benutzt (so auch im Fall des »Kannibalen von
Rotenburg«), während »Menschenfresserei« klar und unmissverständlich das zum Ausdruck bringt, was es meint. Auch im wissen-
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schaftlichen Diskurs um eine konzeptionelle Einteilung, d. h. eine
definierte Ordnung des Wesens des Kannibalismus, bemüht man
sich der bildhaften Terminologie. Es bedarf keiner Verständnisnachfrage, wenn von »Hungerkannibalismus« oder »rituellem
Kannibalismus« die Rede ist. Komplizierter wird es aber, wenn beispielsweise der Terminus »profaner Kannibalismus« oder »Gerichtskannibalismus« verwendet wird. Und auch der Begriff »Geschmackskannibalismus« lädt zum Nachdenken ein. Ungeachtet
der Terminologie war und ist der Begriff Kannibalismus jedoch
immer mit etwas Negativem behaftet. Für die Mehrheit der Menschen waren Kannibalen stets »Wilde«, die insbesondere zu Zeiten
der Kolonialpolitik als »Andersrassige« weit außerhalb der »zivilisierten« Welt standen. Die Metapher Kannibalismus symbolisierte
für den Europäer stets die Grenze zwischen Primitivem und Zivilisiertem.
Kannibalismus ist unbestreitbar ein Teil unserer menschlichen
Kultur. Für den Ethnologen und Kulturwissenschaftler Ewald
Volhard, der Kannibalismus einerseits weit außerhalb von Europa
und der abendländischen Hochkultur ansiedelte, ist Kannibalismus andererseits eine Kulturleistung und eine zivilisatorische Errungenschaft der Menschheit.9 Vor dem Hintergrund des Kulturbegriffs kann Kannibalismus nicht mit allen Lebewesen in Verbindung
gebracht werden, er ist vielmehr dem Menschen eigen. Die nach
Hans-Rainer Duncker ausschließlich dem Menschen eigene
Kulturfähigkeit hat über Generationen hinweg im Rahmen vielschichtiger kultureller Entwicklungsprozesse differente Kulturgemeinschaften hervorgebracht.10 Aus diesen Kulturgemeinschaften
entstanden, sowohl bei den sogenannten »primitiven Völkern« mit
ihren Stammeskulturen wie auch in den modernen Hochkulturen,
eigene soziale Tradierungen. Auswahl und Verzehr bestimmter und
bevorzugter Kostarten und Nahrungsformen oder aber die Meidung
derselben sind in diese Tradierungen miteingebunden. Unabhängig von der jeweiligen Geschmacksrichtung haben unter evolutionsbiologischen Aspekten völlig andere Motive, wie beispielsweise die Gesunderhaltung des Einzelnen, speziell die Erhaltung
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Anthropophagie
Mythos und Fantasy
Blutsymbolik und Blutrituale
Das Töten und Schlachten eines Opfers ist stets ein unumgänglicher Teil des kannibalischen Aktes, und es ist unausweichlich mit
»Blutvergießen« verbunden. In der vieldeutigen Blutsymbolik, die
von Martin Schrenk 21 in der Einleitung zu einer »Einführung in
die Geschichte der Hämatologie« paradigmatisch dargestellt und
erörtert wird, bedeutet Blutvergießen und Blutverlust zum einen
Verlust der Lebenskraft sowie Sterben und Tod, zum anderen aber
auch Werden und Entstehung. Blut symbolisiert somit nicht nur
Tod und Untergang, sondern ist gleichsam auch ein Symbol des Lebens (»Denn des Leibes Leben ist in seinem Blute, solange es lebt«;
III. Moses 17, 14).
Schon seit jeher findet sich im Blut das Prinzip und die Kraft
des Lebens, und das Herz, aus dem das Blut entströmt, stellt das
Zentrum jedes tierischen und menschlichen Lebens dar. Lange Zeit
glaubte man auch an dessen heilende Wirkung. Blut galt als
Heilmittel bei »Morbus sacer«, der heiligen und zugleich verfluchten Krankheit Epilepsie, die früher auch Fallsucht genannt wurde.
Nachschub holte man sich nicht selten bei öffentlichen Hinrichtungen, wenn das Fallbeil gerade den Kopf des Delinquenten vom
Leib getrennt hatte und das Blut frisch aus den Adern hervorsprudelte. Dieses frische, noch wie lebendig sprudelnde Blut war so
begehrt, dass es nicht selten zu tumultartigen Szenen unter dem
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Schafott oder auf dem Richtplatz kam. Gierig standen meist Frauen,
bewaffnet mit Tiegeln, Töpfen und sonstigen Auffanggefäßen
unter der Hinrichtungsstätte. Pöbeleien, Reibereien und Auseinandersetzungen mit der Wachmannschaft waren zwangsläufig die
Folge am Ort der Hinrichtung. Christian W. Thomsen zitiert in
diesem Zusammenhang einen Bericht von Albert Hellwig aus dem
Jahr 1908, in dem es von Vorfällen aus nicht all zu langer Zeit u. a.
heißt: »Bei der Hinrichtung einer Giftmischerin im Januar 1859 bei
Göttingen durchbrach das Volk das von Hannoverschen Schützen gebildete Karree, stürzte sich auf das Schafott und suchte sich in den Besitz des
Blutes der Hingerichteten zu setzen. In Hanau stürzten sich im Jahre
1861 bei der Hinrichtung eines Raubmörders viele Menschen auf das
Blutgerüst und tranken von dem rauchenden Blute. Als 1864 in Berlin
zwei Mörder hingerichtet wurden, tauchten die Scharfrichtergehilfen
ganze Mengen von weißen Schnupftüchern in das Blut und erhielten für
jedes zwei Taler.«22
Schrenk berichtet über Blut trinkende Hunde und Gladiatoren in
römischen Arenen und zitiert in diesem Zusammenhang Plinius
den Älteren: »Man trinkt gegen Fallsucht das Blut der Gladiatoren
gleichsam aus lebendigen Bechern. Ja wahrhaftig, das warme und vom
Odem beseelte Blut aus dem Menschen – und damit zugleich durch den
Kuß aus den Wunden das Leben selbst einzusaugen, gilt als wirksames
Mittel.« 23 Schrenk sieht im Blutgenuss durch den »Kuß« eine sexuell
getönte Handlung bzw. eine sexuelle Motivation, die sich zuweilen
auch im verbrecherischen Kannibalismus wiederfindet.
Das menschliche Blut als Träger des Lebens ist im Alten Testament und in der spätjüdischen Theologie das Eigentum Gottes.
Vergießen unschuldigen Blutes ist somit ein Verbrechen gegen
Gott.24 Dieses Prinzip findet sich bereits in den Zehn Geboten. Als
Fundament der christlichen Ethik sind diese in den alttestamentarischen Büchern Moses aufgestellt. Im 5. Gebot fließt der Blutmythos
im Verbrechen quasi mit ein, wenn es heißt: »Du sollst nicht töten.«
Allerdings sind diese biblischen Zehn Gebote, die allesamt mit »Du
sollst nicht ...« beginnen, lediglich als Gebote im Sinn von Forderungen zu verstehen. Das im Töten Ungesetzliche wird im 5. Gebot
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Kannibalismus und Verbrechen
Die Kombination von Kannibalismus und Verbrechen ist allein im
menschlichen Bereich existent, da verbrecherische Handlungen im
eigentlichen Sinn im Tierreich nicht vorkommen. Etymologisch geht
das Wort Verbrechen auf »Brechen von Recht oder Rechtsfrieden« zurück. Verbrechen umfasst somit ein weites Feld menschlicher, krimineller Verhaltensweisen. Entsprechend findet sich diese, wenn
auch seltene Verbindung von Verbrechen und Kannibalismus in
mannigfaltiger Form wieder. Auf diese Kombination in Zusammenhang mit Hunger wurde bereits am Beispiel des Verkaufs von Fleisch
an vermutlich ahnungslose Kriegsgefangene während des Zweiten
Weltkrieges eingegangen. So sind Hunger und Habgier eine offenbar altbekannte und in Extremzeiten immer wieder einmal vorkommende Kombination. Aus vergangener Zeit berichtet Böhm von
einem Fall, über den in der »Mercuri Relation«, Nr. 45 des Jahres
1691 zu lesen war: »Auß Jena / vom 25. Oktob. Morgen wird man in
einem etwa 4 Meilen von hier gelegenem Dorff einem Wirth / so an statt
deß Viches wol 14 ermordete Menschen seinen Gästen zur Speiß auffgesetzet und essen lassen / auff das grausamste hinrichten und zum Tod
bringen.« 78
Ein noch nicht allzu lang zurückliegender Fall ereignete sich in der
Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges im sächsischen Chemnitz.
Der Fall war weitgehend in Vergessenheit geraten, nicht zuletzt
wohl auch aus politischen Gründen. Erwähnung findet er wieder in
dem 1998 von Wolfgang Eckert publizierten Buch »Sächsische
Morde« 79, und im Jahr 2000 bei Girod 80 als einem der ungewöhnlichen Todesfälle aus der DDR. Nach Eckert ist es der erste in
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Deutschland bekannt gewordene Fall von Kannibalismus innerhalb
einer Familie, der sich im Januar des Jahres 1948 ereignete, zu einer
Zeit also, in der bei knapp zugeteilten Essensrationen Hunger noch
an der Tagesordnung war. Es ist der Fall der 65-jährigen Maria
Oehme und ihres 67-jährigen Bruders Bernhard.
Der Fall Oehme
Ida Maria Oehme wurde seit dem 8. Januar 1948 vermißt. An der
Tür ihres kleinen Kurzwarenladens hing ein Zettel mit der Aufschrift »Wegen Krankheit geschlossen«. Im gleichen Haus teilte sie
sich eine Wohnung mit ihrem Bruder Bernhard. Dieser verhält sich
bei der Befragung der Polizei auf der Suche nach der Vermißten
auffallend merkwürdig. Alsbald wurde daraufhin die kleine Wohnung in der Uhlandstraße durchsucht. Blankes Entsetzen muss den
Beamten entgegen geschlagen sein, als sie die vielen Töpfe, Eimer
und Schüsseln mit Brühe und gekochtem Fleisch vorfanden. Der
abgetrennte Kopf einer weiblichen Toten sowie Hände und Füße
fanden sie im Keller. In die Leipziger Gerichtsmedizin verbracht,
wurden die Leichenteile zweifelsfrei der vermissten Maria Oehme
zugeordnet. Ihr Bruder Bernhard gab im baldigen Verhör unumwunden und ohne jegliche Reue zu, bereits Herz, Leber, Nieren und
einige Fleischstücke mit großem Appetit verspeist zu haben. Aus
den Knochen habe er Seife machen wollen, ein zu jener Zeit begehrter Artikel, und etwas Fleisch habe er bereits an ihm Unbekannte
verkauft. Menschenfleisch schmecke ihm wie jedes andere Fleisch
auch. Wie denn seine Schwester zu Tode gekommen sei, wollten die
Beamten wissen. Bernhards Behauptung, sie sei wohl einem Herzschlag erlegen, können die Gerichtsmediziner anhand der Untersuchung des Kopfes schnell widerlegen. Dieser wies Spuren massiver stumpfer Gewalteinwirkung auf. Bernhard Oehme gab im
weiteren Verhör zu, seine Schwester mit einem Hammer erschlagen
zu haben, nachdem sie ihm im Streit seine Tabakspfeife auf den
Mund geschlagen hatte. Auf die Idee, den Leichnam zu zerteilen
und zu essen, sei er erst gekommen, nachdem sein Hund das Blut
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vom Boden geleckt habe. Zur Klärung des Tatablaufs beraumte die
Kriminalpolizei in der Uhlandstr. 25 eine Tatortrekonstruktion an.
Die Nachricht verbreitete sich rasch, und Hunderte von Neugierige
eilten dorthin. Es herrschte zunächst eine volksfestartige Stimmung, die jedoch bald in Wut und Hass sowie den Ruf nach Lynchjustiz umgeschlagen ist.
Letztlich wurde nie geklärt, ob Habgier unter Ausnutzung der
damaligen Notzeit ein mitbestimmender Faktor für das Kannibalische in diesem Verbrechen gewesen ist, oder ob Bernhard Oehme
an einer Psychose, etwa aus dem schizophrenen Formenkreis, litt.
Zur damaligen Zeit war es noch nicht üblich, Straftäter bei Kapitaldelikten nahezu regelmäßig psychiatrisch begutachten zu lassen.
Für Girod ist es ein Fall von »›Überlebenskannibalismus‹ aus Eigennutz«.
Oehme wurde relativ mild zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt
und in sowjetische Haft verbracht, wo er offiziell an einer altersbedingten Erkrankung verstarb. Wie er letztlich verstarb, und ob sein
Tod in sowjetischer Haft von vornherein mit einkalkuliert war,
mag Spekulationen überlassen bleiben.
Die wohl seltenste Form von Kannibalismus und Verbrechen ist
jedoch vermutlich diejenige, welche mit dem Kannibalenfall von
Rotenburg in Zusammenhang gebracht wird, nämlich Kannibalismus mit Tötung auf Verlangen. Anlässlich dieses Falls wurden auch
die Schwierigkeiten aufgezeigt, die sich bei der psychiatrischen Beurteilung von Kannibalismusfällen ergeben können. Nach Thomas
Knecht wird man sich als Psychiater darauf einstellen müssen,
dass Kannibalismus nicht nur als eigenständiges Phänomen vorkommt, sondern auch im Rahmen verschiedener psychopathologischer Zustandsbilder möglich ist, z. B. bei schizophrenen und
anderen Psychosen, bei schweren Persönlichkeitsstörungen, bei
sexuellen Normabweichungen, u.U. auch in hysterischen Zuständen oder bei schweren Formen von Schwachsinn.81
Kannibalismus, Anthropophagie und Nekrophagie bedeuten begrifflich gesehen ein und dasselbe, nämlich den Verzehr von Leichen
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oder von Leichenteilen. Unter psychiatrischen bzw. forensisch-psychiatrischen Aspekten lassen sich aber gewisse Differenzierungen
treffen, und Nekrophagie kann als eine besondere Spielart anthropophagischer Verhaltensweisen betrachtet werden. Die sogenannte
Nekrophagie (griech. nekros = tot; phagein = fressen, essen) , d. h. die
Neigung, Leichenteile zu essen, ohne die betreffende Person vorher
getötet zu haben, lässt sich somit dem weiten Umfeld von Kannibalismus und Verbrechen zuordnen. Da der Verzehr nicht aus blanker Not heraus geschieht, handelt es sich bei der Nekrophagie nicht
um eine Art von Hungerkannibalismus. Genau genommen liegt –
mit Ausnahme der sogenannten Leichenschändung bzw. der Störung der Totenruhe – auch kein Verbrechen im juristischen Sinn
vor, sondern vielmehr ein triebhaftes Verhalten. Dieses insofern
dennoch forensisch relevante Verhaltensmuster ist im Kontext von
sexuell devianten Triebtätern beschrieben worden und kann auch
eine Vorstufe zum Lustmord sein.82 Nekrophagie und Nekrophilie*
werden auch in Zusammenhang mit Fetischismus gebracht. Der
Begriff Fetischismus (lat. facere = machen; bzw. facticius = nachgemacht) wurde 1887 von dem französischen Psychologen Alfred
Binet 83 geprägt und beinhaltet ein abnormes Sexualverhalten, bei
dem der Fetischist gewöhnlich unbelebte Objekte, z. B. Schuhe
(Schuhfetischist) oder andere Kleidungsstücke, aber auch Körperteile (Fußfetischist) und eben auch den Umgang mit Leichenteilen
zur sexuellen Erregung oder zur sexuellen Befriedigung benutzt. In
einem mir persönlich mitgeteilten Fall soll das Quietschen der
Schuhe eines Oberarztes auf dem Flur einer psychiatrischen Abteilung bei einer Patientin stets einen Orgasmus ausgelöst haben.
Fetischisten sind aus psychiatrischer Sicht meist Sexualneurotiker,
also abnorme Persönlichkeiten, die in ihrer Selbstunsicherheit nicht
auf natürliche Weise mit der Sexualität fertig werden.84 Abschließend bleibt festzuhalten, dass Kannibalismus im eigentlichen Sinn
bei schwer geisteskranken, schizophrenen Menschen eher die Ausnahme ist.
* sexueller Lustgewinn im Umgang mit Leichen
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Serienmörder mit kannibalischen Trieben
Weltweit sind Kannibalismusfälle immer wieder auch bei Serienmördern bekannt geworden. Der deutschstämmige Vater der Kriminalpsychologie, Hans von Hentig, stellte im Jahr 1957 in der
Fachzeitschrift »Kriminalistik« anhand von »Zwei Morde(n) auf
kannibalistischer Grundlage« die These auf, dass bei derartigen
Tätern tief verwurzelte Triebe existieren, die zur Wiederholung
drängen. Es handelt sich bei diesen Tätern um Mörder, die zu den
gefährlichsten Typen gehören, welche frühzeitig erkannt und aus
dem Verkehr gezogen werden müssten.85 Die Geschichte kannibalischer Serienmörder scheint diese Theorie zu bestätigen.
Ende des 18. Jahrhunderts wurde ein Fall aus Thüringen publik,
über den Böhm aufgrund von Mitteilungen der »Haude-Spenerschen Zeitung« berichtet. So soll ein Hirte um 1772 mehrere Menschen triebhaft getötet und verspeist haben. Nr. 52 der Ausgabe
jenes Jahres berichtet über diesen Fall wie folgt: »Auf einem Dorfe
unweit Berka, 5 Stunden von Jena, hat sich folgende traurige und unmenschliche Begebenheit ereignet. Der Hirthe war einer Bauernwittwe des
Dorfes 30 Groschen schuldig; die Mutter schickt ihr Mägdchen von 6 bis 7
Jahren zu ihm, und lässt ihn erinnern, das Mägdchen aber bekommt
nichts. Den andern Tag, als das Kind in die Schule vor dem Hirthenhause
vorbey geht, ruft es der Unmensch, der Hirthe, zu sich hinein, und das
Mägdchen glaubte, er würde ihr das Geld geben wollen. Allein der Bösewicht nahm das unschuldige Kind zwischen die Beine, sticht ihr mit einem
Messer die Kehle ab, und schlachtet es ordentlicher Weise wie ein Vieh,
kochet ein Stück Fleisch und Eingeweide, und bratet die Leber davon. Da
nun die Nachbarn des Dorfes bemerkten, dass er so viel Wasser trug, und
glaubten, dass Feuer in dem Hirthenhause seyn müsse, so giengen sie hin,
und visitirten. An statt des Feuers aber fanden sie das geschlachtete und in
Stücken gehauene Kind. Der Hirthe wurde sogleich arretirt.« Vor dem
Richter bekannte er, so Böhm, »... daß er es mit einer Weibsperson von
18 und einem jungen fremden Kerl von 22 Jahren, welchen letzteren er
in Dienst genommen, eben also gemacht habe. Er hat ausgesagt«, so laut
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Der »Kannibale von Rotenburg«
Ein beispielloser Fall in der deutschen Rechtsgeschichte
Im Jahr 2002 wurde die deutsche Öffentlichkeit mit einem
Kriminalfall konfrontiert, der sich durch Brechung eines der letzten Tabus in seiner Ungeheuerlichkeit rasend wie ein Lauffeuer
um die ganze Welt verbreitete, ein beispielloser Fall in der deutschen Rechtsgeschichte. Mit einem Schlag wurde der Öffentlichkeit ein unvorstellbares Verbrechen bekannt gegeben, und sämtliche Medien gierten nach immer mehr grausigen Details. Ähnlich
muss eine solche Nachricht wohl im Jahr 1768 bei der Ermordung Johann Joachim Winckelmanns 103 auf Goethe gewirkt haben: »... und wie ein Donnerschlag bei klarem Himmel fiel die Nachricht
... zwischen uns nieder. ... Dieser ungeheure Vorfall tat eine ungeheure
Wirkung ...« 104 Tatsächlich tat es auch fast 250 Jahre später einen
kräftigen Donnerschlag, der auch in der internationalen Presse
widerhallte und in der Tat eine ungeheure öffentliche Wirkung
nach sich zog. Auslöser war ein einzigartiges und beispielloses Verbrechen in der deutschen Kriminalgeschichte: »Ein Verbrechen ohne
Beispiel. ... Ein Mann tötet einen anderen, um ihn aufzuessen, und das
Opfer ist damit einverstanden – ein in der deutschen Kriminalgeschichte
einzigartiger Fall ... zweier verirrter Seelen.« (»Stern«, 24.7.2003). Der
Fall des 41-jährigen Nordhessen A. M., besser bekannt geworden als
der »Kannibale von Rotenburg«, sollte alsbald weltweite Berühmtheit erlangen. Obwohl publizistisch eher in den Schatten gedrängt,
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80 | Der »Kannibale von Rotenburg«
war es aber zugleich auch der Fall seines 43-jährigen Berliner Opfers J. B., der vor seiner Tötung »nullofiziert« (nach M. ein Begriff,
der von B. gekommen sei und »Penis abschneiden« bedeute) werden
wollte. Die Frage, die sich alsbald stellte, bezog sich auf die rechtliche Einordnung dieser Tat. War es nun »Mord«, war es »Totschlag«,
oder war es lediglich »Tötung auf Verlangen«? Ein »minder schwerer Fall des Totschlags« war alternativ auch in Erwägung gezogen
worden. Kannibalismus zumindest ist als Straftatbestand im deutschen Strafgesetzbuch nicht vorgesehen. Schon frühzeitig und weit
im Vorfeld einer offiziellen Anklage durch die Staatsanwaltschaft
wurde die rechtliche Einordnung dieses Verbrechens als allererstes
von der Öffentlichkeit lautstark und breit diskutiert.
§ 211 StGB »Mord«
(1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.
(2) Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen,
heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.
§ 212 StGB »Totschlag«
(1) Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als
Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.
(2) In besonders schweren Fällen ist auf lebenslange Freiheitsstrafe
zu erkennen.
§ 213 StGB »Minder schwerer Fall des Totschlags«
War der Totschläger ohne eigene Schuld durch eine ihm oder einem
Angehörigen zugefügte Misshandlung oder schwere Beleidigung von
dem Getöteten zum Zorn gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat
hingerissen worden oder liegt sonst ein minder schwerer Fall vor, so
ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren.
§ 216 StGB »Tötung auf Verlangen«
(1) Ist jemand durch das ausdrückliche und ernsthafte Verlangen
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Der »Kannibale von Rotenburg« | 81
des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen.
(2) Der Versuch ist strafbar.
Am 13.12.2002 gegen Mittag rollte ein Leichenwagen, der es erstaunlicherweise geschafft hatte, eine ganze Schar hinter ihm her
fahrender Reporter zurückzulassen, auf den Hof des Instituts für
Rechtsmedizin in Gießen. Hätten die Reporter es geschafft, dem
Leichenwagen zu folgen, wäre es ihnen allenfalls gelungen, die Einlieferung eines üblichen Zinksarges zu fotografieren, nicht aber
dessen ungewöhnlichen Inhalt, der erst hinter verschlossenen Türen hervorgeholt wurde. Zum Vorschein kamen nach und nach
diverse Müllsäcke mit Grabungsmaterial von verschiedenen Fundstellen sowie eine Reihe verschiedener, handelsüblicher Gefrierbeutel. Neben Erdreich als Beiwerk der Grabungen auf dem Anwesen
des M. fanden sich in den Mülltüten verschiedene Skelettteile,
Knochenfragmente und eine Reihe von stärker verwesten Weichteilen, u.a. mehrere Hautlappen. In weiteren 35 Plastiktüten, die
von der Kriminalpolizei aus einer Gefriertruhe geborgen wurden,
befanden sich u. a. ein bereits stärker durch Fäulnis veränderter
menschlicher Kopf sowie ein noch relativ gut erhaltener Fuß.
Einige Gefrierbeutel waren ungewöhnlich beschriftet, z. B. mit
»Cator, Nackenfilet, 10/03/01«, andere Beschriftungen wiederum erinnerten an Etikettierungen aus dem Supermarkt – »Hackfleisch mit
Sauce« – oder eben an solche nach heimischen Hausschlachtungen.
Der 10.3.2001 war laut Anklage der Staatsanwaltschaft Kassel der
Tag, an dem M. sein Opfer zur Befriedigung seines Geschlechtstriebes tötete und in seinem eigens dafür eingerichteten »Schlachtraum« auch geschlachtet hatte. Bereits zwei Tage später soll M.
Teile des portionierten Fleisches verspeist haben, nachdem er sie
zuvor gebraten hatte. Mindestens einmal schaute er sich laut Anklage nach der Tat den Videofilm an, den er während des Penisabschneidens bei lebendigem Leib seines Opfers sowie während der
Tötung und Schlachtung aufgenommen hatte. Hierbei habe er onaniert. In der späteren Auseinandersetzung des Falls vor dem Bun-
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