Manfred Riße Abendmahl der Mörder Kannibalen – Mythos und
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Manfred Riße Abendmahl der Mörder Kannibalen – Mythos und
776-7_inhalt 10.08.2007 11:05 Uhr Seite 1 Manfred Riße Abendmahl der Mörder Kannibalen – Mythos und Wirklichkeit © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 776-7_inhalt 10.08.2007 11:05 Uhr Seite 2 © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 776-7_inhalt 10.08.2007 11:05 Uhr Seite 3 Manfred Riße Abendmahl der Mörder Kannibalen – Mythos und Wirklichkeit © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 776-7_inhalt 13.08.2007 9:20 Uhr Seite 4 Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar. © Copyright 2007 by Militzke Verlag Leipzig Alle Reche vorbehalten. Lektorat: Sascha Kranz Umschlaggestaltung: Thomas Butsch Umschlagfoto: © Michael Huberts 2004, www.pixelio.de Satz und Layout: Claudia Hofmann Gesetzt aus der Legacy Serif und der Legacy Sans Druck und buchbinderische Verarbeitung: A2 die Agentur für Marketing Werbung und Druck, Kemmern Printed in Germany ISBN 378-3-86189-776-7 Besuchen Sie den Militzke Verlag im Internet unter: http://www.militzke.de © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 776-7_inhalt 10.08.2007 11:05 Uhr Seite 5 5 Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Kannibalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Der Kannibalismus und seine Spielarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Kannibalismus im Tierreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Anthropophagie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Mythos und Fantasy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Blutsymbolik und Blutrituale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Vampire, Hexen und Zigeuner: Mythosfiguren ritueller Anthropophagie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Realitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Hungerkannibalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Tierfraß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Kannibalismus und Verbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Serienmörder mit kannibalischen Trieben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Rituelle Praktiken und Grausamkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Weimarer Republik – Hochkonjunktur für kannibalische Serienmörder? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Der »Kannibale von Rotenburg« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Ein beispielloser Fall in der deutschen Rechtsgeschichte . . . . . . . 79 Schlacht- und Machtfantasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Die Darstellung des Verbrechens im ersten Strafprozess . . . . . . . 87 Das Urteil, die Aufhebung des Urteils, die Rechtsfolgen . . . . . . . 97 Der zweite Strafprozess, Revisionsverhandlung in Frankfurt/Main . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Vorläufig letzter Akt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Chronologie des Verbrechens und seiner Folgen . . . . . . . . . . . . . 113 Der »Kannibale« und seine Persönlichkeitsrechte – ein Nebenschauplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 776-7_inhalt 10.08.2007 11:05 Uhr Seite 6 6 | Inhaltsverzeichnis Gerichtsmedizinische Aspekte im Umfeld von Kannibalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Penisamputation und Entmannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Der Verblutungstod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Exkurs: Tötungsdelikte und Kannibalismus im Dunkelfeld des Verbrechens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 »Tötung auf Verlangen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Der Wunsch, getötet zu werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Verbluten auf Verlangen – »Eine Art des Weinens« . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Leichenzerstückelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Kannibalismus: Eine Pornografie des Grauens . . . . . . . . 163 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 776-7_inhalt 10.08.2007 11:05 Uhr Seite 7 7 Vorwort »Wer den Körper des anderen auffrisst, ist immer von der Sehnsucht erfüllt, von des Anderen Seele Besitz zu ergreifen – der Körper als Metapher, das Subjekt als Objekt der Begierde.«1 Alexander Schuller führt das Thema Kannibalismus zum Ursprung allen Seins zurück. Demnach sind sämtliche Ursprungsmythen kannibalisch, auch die jüdisch-christliche Schöpfungsgeschichte, und auch die Mythen der griechischen Götterwelt. Letztgenannte scheinen von Kannibalismus geradezu beherrscht zu sein, denn in der griechischen Mythologie ist die Genealogie der Götter von einem kannibalischen Konflikt zwischen Vätern und Söhnen gekennzeichnet. Dieser Konflikt wird in seinem Verlauf vom Himmel auf die Erde verlegt, wo er sich weiter fortsetzt. Somit wird durch die Schöpfungsmythen auch die Religion in die irdische Daseinsgeschichte mit Leben, Sterben und Tod miteinbezogen. Im Zentrum vieler Religionen und Kulturgemeinschaften stehen neben Gebeten auch rituelle Opferhandlungen. Damit verbunden ist häufig das Schlachten eines hierfür auserkorenen Opfers, das Erlebnis des Todes und das Opfermahl. In der Religionsgemeinschaft der Christen existiert kein Opferkult, Christus hat sich selbst geopfert. Jedoch findet in der Vorstellung der katholischen Heilslehre eine (Ver-)Wandlung statt. Christus lebt weiter in denen, die ihn im Ritus des Abendmahls verspeisen. Wer im Messopfer sein Fleisch isst und sein Blut trinkt, besitzt das ewige Leben. Nach der allerdings nicht unumstrittenen Transsubstantiationslehre2, die schon im Mittelalter zur Kirchenspaltung führte, handelt es sich hierbei keineswegs nur um eine symbolische Verwandlung, bei der © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 776-7_inhalt 10.08.2007 11:05 Uhr Seite 8 8 | Vorwort Fleisch und Blut durch Brot und Wein ersetzt werden, sondern im Sinn der Eucharistiefeier* um eine Realpräsenz des Leibes Christi. In diesem Sinn verschmelzen Gegensätze und Bedeutungen. Kannibalisches Handeln wird zu einer Einheit: »Friß und Werde«, so der Titel von Alexander Schuller’s Aufsatz. Kannibalismus beinhaltet eine Metamorphose, die Verwandlung von Totem in Lebendiges. Der Kannibalismus-Diskurs durchzieht aber nicht nur Mythen und Religionen, sondern findet auf nahezu allen Ebenen unserer Existenz statt, sowohl im tierischen als auch im menschlichen Bereich. Somit ist Kannibalismus auch Gegenstand zahlreicher Wissenschaften, wie etwa der Anthropologie, der Ethnologie, der Psychologie oder der Religionswissenschaften. Auch die Kriminalwissenschaften und die Gerichtliche Medizin beschäftigen sich mit diesem Thema, in der Regel in Verbindung mit jeweils aktuellen Verbrechen. Und so, wie das Verbrechen dem Menschen eigen ist, so ist verbrecherischer Kannibalismus mit Töten und Schlachten ein Phänomen menschlicher Natur und, auch wenn es merkwürdig klingen mag, menschlicher Kreativität. Verbrecherischer Kannibalismus ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst. Abscheu und Faszination begleiten dieses Thema. Es ist eine seltsame, ambivalente Faszination, eine Mischung aus Ekel, Abscheu, Angst und Widerwillen auf der einen, Sensationslust, Neugier und magischer Anziehung auf der anderen Seite. Am 3. Dezember 2003 begann vor der 6. Strafkammer des Landgerichts Kassel der spektakuläre Prozess gegen den zur Tatzeit im Jahr 2001 41 Jahre alten Computertechniker A. M. – besser bekannt als der »Kannibale von Rotenburg«. Detailliert schildert dieser in der Hauptverhandlung die vor laufender Kamera festgehaltene Tötung und Schlachtung des 43-jährigen Berliner Ingenieurs J. B. »Man kann es fast mit dem Abendmahl vergleichen«, so seine Worte vor dem entsetzten Publikum. Hass, Glück und Wut auf sich selbst habe er gleichzeitig empfunden. Abscheu und Faszination begleiteten auch diesen konkreten * Abendmahl im Rahmen eines christlichen Gottesdienstes © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 776-7_inhalt 10.08.2007 11:05 Uhr Seite 9 Vorwort | 9 Fall, der zur Entstehung des vorliegenden Buches wesentlich beigetragen hat. Dementsprechend wird dieser Fall in den Vordergrund gestellt, wobei die Wiedergabe allerdings weder aus der Sicht eines Verteidigers noch aus der Sicht eines Anklägers erfolgt. Der Fall soll vielmehr aus der Sicht des mit dieser Strafsache betrauten gerichtsmedizinischen Sachverständigen erörtert werden. Damit, und insbesondere auch durch eine objektive Berichterstattung und Darstellung des Falls sowie der unumstößlichen Fakten, wird dem Vorwurf der Sensationslüsternheit jegliche Basis entzogen. In diesem Sinn werden die Aussagen des »Kannibalen von Rotenburg« zum Teil ungekürzt und wortgetreu wiedergeben, was einigen Lesern vermutlich »starke Nerven« abverlangen wird. © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 776-7_inhalt 10.08.2007 11:05 Uhr Seite 10 10 Kannibalismus Der Kannibalismus und seine Spielarten Der Versuch, das Thema Kannibalismus in einen historischen Rahmen zu pressen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Zu vielschichtig ist dieses Thema und zu vielseitig ist die Bedeutung des Begriffs, der zunächst lediglich auf das Anthropophage – das Essen bzw. Fressen von Menschen – fixiert war. Bereits der Versuch einer Einteilung in verschiedene Kannibalismusformen stößt auf Schwierigkeiten und ist stark von der jeweiligen Sichtweise des Betrachters abhängig. Insofern sollen im Folgenden »lediglich« verschiedene Spielarten des Kannibalismus näher beleuchtet werden, wobei auch hier eine subjektive Komponente, nämlich die Sichtweise des Rechtsmediziners, zum Tragen kommt. Einen besonderen rechtsmedizinischen Schwerpunkt bildet hierbei der Zusammenhang von Kannibalismus und Verbrechen. Vermutlich schon seit Urzeiten zeigt der Mensch mehr oder weniger instinktive Verhaltensmuster, die mit der Thematik Kannibalismus in Verbindung gebracht werden können. So lässt sich beispielsweise ein Zusammenhang zwischen küssen, beißen, saugen und kannibalischen Fantasien bei Eltern und ihren Kleinkindern sowie bei Sexualpartnern herleiten. Auch sprechen Mütter und Väter gern von ihrem »eigenen Fleisch und Blut«. Kannibalisch wird es insbesondere, wenn jemand einen anderen Menschen »zum Fressen gern« hat. Dieser Ausdruck impliziert quasi die © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 776-7_inhalt 10.08.2007 11:05 Uhr Seite 11 Kannibalismus | 11 zumindest gedankliche Einverleibung des Anderen. Eine andere Art von Einverleibung lehrt die katholische Heilslehre. Im Ritus des Abendmahls wird Christus verspeist und lebt hierdurch in denen weiter, die ihn verspeisen. Sein Fleisch essen und sein Blut trinken verspricht das ewige Leben. Hostie und Wein werden somit zu Fleisch und Blut, und das Abendmahl ist gleichsam Ausdruck größter Liebe zu Gott. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass das Zerbeißen oder Zerkauen der Hostie zwar nicht verboten, aber auch nicht üblich ist. Provokanterweise müsste sich hier die Frage anschließen, ob auch Vegetarier in ihrem Selbstverständnis an dieser liturgischen Zeremonie teilnehmen dürfen. Zurück zu realem Kannibalismus und mythischen Vorstellungen in der Historie des Menschen. Sicherlich ist es unmöglich, aus Mythen Rückschlüsse auf historische Vorgänge und Ereignisse zu ziehen, dennoch ist das Phänomen des realen Kannibalismus, für den sich die unterschiedlichsten Motive (so auch Verbrechen) finden lassen, weit älteren Ursprungs als der Terminus Kannibalismus selbst. Die Diskussion um vorgeschichtliche Beweise für Kannibalismus wird divergent geführt. Jedoch finden sich zumindest Hinweise für bereits prähistorische kannibalische Praktiken. Oftmals waren es nur Reste menschlicher Gebeine an ehemaligen Feuerstellen, die Anlass zur Spekulation gaben, hier hätten womöglich Kannibalenmahlzeiten stattgefunden. Mehr als Spekulationen sind jedoch scheinbar nicht verblieben, denn, so die Berliner Archäologin Heidi Peter-Röcher, »entscheidend für die Beurteilung der Quellen zum Kannibalismus ist, ob Augenzeugen für das Essen von Menschen existieren«. Ansonsten müsse davon ausgegangen werden, dass »die Berichterstatter Missverständnissen erlagen, die Wirklichkeit ihrem Vorwissen entsprechend sahen und außerdem voneinander abschrieben«.3 Selbst Ritz- oder Schabspuren an Knochen, die auf kannibalisches Verhalten hindeuten, erklärt die Archäologin mit mehrstufigen Bestattungsritualen, bei denen die Knochen der Toten entfleischt worden waren. Teilweise seien Knochen aber nicht nur der Entwesung ausgesetzt, sondern zur Entfleischung © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 776-7_inhalt 10.08.2007 11:05 Uhr Seite 12 12 | Kannibalismus auch Karnivoren* vorgesetzt worden, nachdem die Leichen zerhackt worden waren, um den Fleischfressern die Arbeit zu erleichtern. So sind sowohl Fraßspuren als auch Schnitt-, Schlag- und Hackspuren an den Überresten zu erklären. Auch Überreste von Brandbestattungen wurden gern als Relikte kannibalischer Mahlzeiten gedeutet. Dieses Kannibalismus-Modell manifestierte sich nach Peter-Röcher seit etwa der Mitte des vorletzten Jahrhunderts mit der Veröffentlichung der Funde aus der »Höhle von Chauvaux« in Belgien. Diese Funde wurden als Überreste von Kannibalenmahlzeiten gewertet.4 Historisch gesehen, zieht sich das Thema Kannibalismus durch alle Zeiträume, angefangen von mythologischen Vorstellungen in der Antike, etwa in den Mythen griechischer Götterwelten, bis hin zu Berichten aus der sogenannten Neuzeit. In den Berichten des griechischen Historikers und Ethnologen Herodot (etwa 485–425 v. Chr.) finden sich Beschreibungen von Sitten barbarischer Sippen und Fabelvölker, die ihre eigenen Angehörigen oder Fremde schlachten und in rohem Zustand oder gekocht verzehren. Auch in den Vorstellungen späterer Zeitgenossen sowie in Reiseberichten tauchen bis in die Neuzeit die verschiedensten Varianten von Endound Exokannibalismus auf, ohne dass direkte Ohren- bzw. Augenzeugen benannt werden. Unter Exokannibalismus wird in diesem Zusammenhang beispielsweise das Verspeisen von Feinden verstanden, während sich Endokannibalismus zum Beispiel auf das rituelle Verzehren verstorbener Mitglieder des eigenen Clans bezieht. Der Begriff Kannibalismus soll auf den italienischen Seefahrer Christoph Kolumbus (1451–1506) zurückgehen, der im Jahr 1492 bei der Suche nach dem kürzesten Seeweg nach Asien irrtümlicherweise in der Karibik gelandet war. Dort soll er den Stammesnamen der »Karaiben« fälschlicherweise als »Kaniben« verstanden haben. 5 Das Tagebuch des Christoph Kolumbus führt den kubanischen Namen »Caniba« auf, welcher etymologisch so viel wie »menschenfressendes Volk von Portoriko« bedeutet .6 Diesen Karaiben oder * Fleisch fressende Tiere © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 776-7_inhalt 10.08.2007 11:05 Uhr Seite 13 Kannibalismus | 13 Kariben wurde nachgesagt, dass sie ihre getöteten Gegner verspeisen, um so deren Reinkarnation zu verhindern. Eine andere Bedeutung des Begriffs Kannibalismus könnte sich aus dem lateinisch abgeleiteten Begriff »Carnibales« von »Carnevales« (lat. carne, carnis = Fleisch sowie lat. levare = entnehmen, entfernen) ergeben. An der Entdeckung der Neuen Welt und der Eroberung Amerikas waren kurz nach Kolumbus auch deutsche Seefahrer beteiligt. Den größten Bekanntheitsgrad erlangte der aus dem Binnenland Hessen stammende Landsknecht Hans Staden. 7 In der Zeit zwischen 1548 und 1555 kam dieser unter portugiesischer und spanischer Flagge zweimal nach Brasilien und prägte durch seine Berichte das Indianerbild im Europa des 16. Jahrhunderts, insbesondere auch im Hinblick auf deren angeblichen Kannibalismus. Im Jahr 1553 lebte Staden neun Monate bei den brasilianischen Tupinambà. Sein »Menschenfresserbuch« 8 erschien 1557 und enthielt 54 Holzschnitte, von denen 30 kannibalische Szenen darstellten. In den ersten zehn Jahren nach Erscheinen des Werkes wurden europaweit fünf Nachdrucke veröffentlicht, ein offensichtlicher Beweis für das stete Interesse des Menschen an dieser ambivalenten Thematik. Der Terminus Kannibalismus wird in der heutigen Zeit vielschichtig verwendet und meint nicht nur den Verzehr eigener Artgenossen, sondern wird als Metapher auch abstrahiert benutzt. So findet sich beispielsweise in der Astronomie der Begriff galaktischer Kannibalismus, der die »Einverleibung« von Sternen und Materie benachbarter Zwerggalaxien oder Kugelsternhaufen umschreibt. Nach Mitteilungen der Max-Plack-Gesellschaft für Astronomie in Heidelberg ist unsere Milchstraße eine durchaus gefräßige Heimatgalaxie, bei der eindeutige Spuren von galaktischem Kannibalismus nachgewiesen werden konnten. Bereits in der Frühzeit des Universums soll dieser Mechanismus der Einverleibung von fremder Masse bei der Bildung größerer Galaxien wie der unserer Milchstraße eine Rolle gespielt haben. Eine weitere Verwendung findet man in der Marktwirtschaft wieder. Kannibalisierung ist ein Begriff aus dem Marketing, der sich auf den Kampf um Marktanteile bezieht. Dieser Begriff beschreibt den Effekt, der eintreten kann, wenn ein und © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 776-7_inhalt 10.08.2007 11:05 Uhr Seite 14 14 | Kannibalismus dasselbe Produkt durch Niedrigpreise mit sich selbst in Konkurrenz gesetzt wird. Durch die gegenseitige Konkurrenz kommt es zum Absatzrückgang. Die Produkte »fressen sich gegenseitig« den Umsatz weg. Von globalem Kannibalismus ist die Rede, wenn es um wirtschaftliche Geflechte geht, die ohne Rücksicht auf gewisse Grundregeln und ohne Rücksicht auf den Einzelnen um sich greifen. Auch im technischen Bereich existiert der Begriff der Kannibalisierung. Im übertragenen Sinn ist hiermit das »Ausschlachten« eines Gerätes zur Gewinnung von Bauteilen oder auch zur Funktionsübernahme gemeint. In der Politik wird Kannibalismus beispielsweise im Zusammenhang mit Steuererhebungen genannt. »An einem Kannibalismus in Form einer Konkurrenz mit den umliegenden Kommunen um den niedrigsten Hebesatz werden wir uns nicht beteiligen«, so eine Aussage im Frankfurter Stadtparlament (»hr-online«, 15.9.2006). Nicht nur in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des realen Kannibalismus ist der Begriff mit der Bezeichnung Anthropophagie (griech. ánthropos = Mensch; phagein = fressen, essen) belegt. Der Begriff Anthropophagie fand bereits in der Antike und im Mittelalter bis ins 16. Jahrhundert hinein Verwendung, während »Kannibalismus« erst mit Kolumbus und der Entdeckung der Neuen Welt quasi modern wurde. Wörtlich übersetzt bedeutet Anthropophagie lediglich Menschenfresserei, womit aber nichts anderes als der umgangssprachlich besser verständliche Begriff Kannibalismus gemeint ist. Streng genommen könnte Anthropophagie aber auch das Fressen von Menschenfleisch durch Tiere bedeuten. Der sprachliche Umgang mit dem für Jedermann verständlichen Wort Kannibalismus oder Kannibale ist gerade im deutschen Sprachgebrauch recht vielgestaltig und nutzt die Bildhaftigkeit, die in Abhängigkeit von der jeweiligen Motivation mit Menschenfresserei behaftet ist. Eher sinnbildlich wird hierbei von einem »Sich Einverleiben« gesprochen oder das Wort »Abendmahl« bzw. »Kommunion« benutzt (so auch im Fall des »Kannibalen von Rotenburg«), während »Menschenfresserei« klar und unmissverständlich das zum Ausdruck bringt, was es meint. Auch im wissen- © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 776-7_inhalt 10.08.2007 11:05 Uhr Seite 15 Kannibalismus | 15 schaftlichen Diskurs um eine konzeptionelle Einteilung, d. h. eine definierte Ordnung des Wesens des Kannibalismus, bemüht man sich der bildhaften Terminologie. Es bedarf keiner Verständnisnachfrage, wenn von »Hungerkannibalismus« oder »rituellem Kannibalismus« die Rede ist. Komplizierter wird es aber, wenn beispielsweise der Terminus »profaner Kannibalismus« oder »Gerichtskannibalismus« verwendet wird. Und auch der Begriff »Geschmackskannibalismus« lädt zum Nachdenken ein. Ungeachtet der Terminologie war und ist der Begriff Kannibalismus jedoch immer mit etwas Negativem behaftet. Für die Mehrheit der Menschen waren Kannibalen stets »Wilde«, die insbesondere zu Zeiten der Kolonialpolitik als »Andersrassige« weit außerhalb der »zivilisierten« Welt standen. Die Metapher Kannibalismus symbolisierte für den Europäer stets die Grenze zwischen Primitivem und Zivilisiertem. Kannibalismus ist unbestreitbar ein Teil unserer menschlichen Kultur. Für den Ethnologen und Kulturwissenschaftler Ewald Volhard, der Kannibalismus einerseits weit außerhalb von Europa und der abendländischen Hochkultur ansiedelte, ist Kannibalismus andererseits eine Kulturleistung und eine zivilisatorische Errungenschaft der Menschheit.9 Vor dem Hintergrund des Kulturbegriffs kann Kannibalismus nicht mit allen Lebewesen in Verbindung gebracht werden, er ist vielmehr dem Menschen eigen. Die nach Hans-Rainer Duncker ausschließlich dem Menschen eigene Kulturfähigkeit hat über Generationen hinweg im Rahmen vielschichtiger kultureller Entwicklungsprozesse differente Kulturgemeinschaften hervorgebracht.10 Aus diesen Kulturgemeinschaften entstanden, sowohl bei den sogenannten »primitiven Völkern« mit ihren Stammeskulturen wie auch in den modernen Hochkulturen, eigene soziale Tradierungen. Auswahl und Verzehr bestimmter und bevorzugter Kostarten und Nahrungsformen oder aber die Meidung derselben sind in diese Tradierungen miteingebunden. Unabhängig von der jeweiligen Geschmacksrichtung haben unter evolutionsbiologischen Aspekten völlig andere Motive, wie beispielsweise die Gesunderhaltung des Einzelnen, speziell die Erhaltung © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 776-7_inhalt 10.08.2007 11:05 Uhr Seite 26 26 Anthropophagie Mythos und Fantasy Blutsymbolik und Blutrituale Das Töten und Schlachten eines Opfers ist stets ein unumgänglicher Teil des kannibalischen Aktes, und es ist unausweichlich mit »Blutvergießen« verbunden. In der vieldeutigen Blutsymbolik, die von Martin Schrenk 21 in der Einleitung zu einer »Einführung in die Geschichte der Hämatologie« paradigmatisch dargestellt und erörtert wird, bedeutet Blutvergießen und Blutverlust zum einen Verlust der Lebenskraft sowie Sterben und Tod, zum anderen aber auch Werden und Entstehung. Blut symbolisiert somit nicht nur Tod und Untergang, sondern ist gleichsam auch ein Symbol des Lebens (»Denn des Leibes Leben ist in seinem Blute, solange es lebt«; III. Moses 17, 14). Schon seit jeher findet sich im Blut das Prinzip und die Kraft des Lebens, und das Herz, aus dem das Blut entströmt, stellt das Zentrum jedes tierischen und menschlichen Lebens dar. Lange Zeit glaubte man auch an dessen heilende Wirkung. Blut galt als Heilmittel bei »Morbus sacer«, der heiligen und zugleich verfluchten Krankheit Epilepsie, die früher auch Fallsucht genannt wurde. Nachschub holte man sich nicht selten bei öffentlichen Hinrichtungen, wenn das Fallbeil gerade den Kopf des Delinquenten vom Leib getrennt hatte und das Blut frisch aus den Adern hervorsprudelte. Dieses frische, noch wie lebendig sprudelnde Blut war so begehrt, dass es nicht selten zu tumultartigen Szenen unter dem © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 776-7_inhalt 10.08.2007 11:05 Uhr Seite 27 Antropophagie | 27 Schafott oder auf dem Richtplatz kam. Gierig standen meist Frauen, bewaffnet mit Tiegeln, Töpfen und sonstigen Auffanggefäßen unter der Hinrichtungsstätte. Pöbeleien, Reibereien und Auseinandersetzungen mit der Wachmannschaft waren zwangsläufig die Folge am Ort der Hinrichtung. Christian W. Thomsen zitiert in diesem Zusammenhang einen Bericht von Albert Hellwig aus dem Jahr 1908, in dem es von Vorfällen aus nicht all zu langer Zeit u. a. heißt: »Bei der Hinrichtung einer Giftmischerin im Januar 1859 bei Göttingen durchbrach das Volk das von Hannoverschen Schützen gebildete Karree, stürzte sich auf das Schafott und suchte sich in den Besitz des Blutes der Hingerichteten zu setzen. In Hanau stürzten sich im Jahre 1861 bei der Hinrichtung eines Raubmörders viele Menschen auf das Blutgerüst und tranken von dem rauchenden Blute. Als 1864 in Berlin zwei Mörder hingerichtet wurden, tauchten die Scharfrichtergehilfen ganze Mengen von weißen Schnupftüchern in das Blut und erhielten für jedes zwei Taler.«22 Schrenk berichtet über Blut trinkende Hunde und Gladiatoren in römischen Arenen und zitiert in diesem Zusammenhang Plinius den Älteren: »Man trinkt gegen Fallsucht das Blut der Gladiatoren gleichsam aus lebendigen Bechern. Ja wahrhaftig, das warme und vom Odem beseelte Blut aus dem Menschen – und damit zugleich durch den Kuß aus den Wunden das Leben selbst einzusaugen, gilt als wirksames Mittel.« 23 Schrenk sieht im Blutgenuss durch den »Kuß« eine sexuell getönte Handlung bzw. eine sexuelle Motivation, die sich zuweilen auch im verbrecherischen Kannibalismus wiederfindet. Das menschliche Blut als Träger des Lebens ist im Alten Testament und in der spätjüdischen Theologie das Eigentum Gottes. Vergießen unschuldigen Blutes ist somit ein Verbrechen gegen Gott.24 Dieses Prinzip findet sich bereits in den Zehn Geboten. Als Fundament der christlichen Ethik sind diese in den alttestamentarischen Büchern Moses aufgestellt. Im 5. Gebot fließt der Blutmythos im Verbrechen quasi mit ein, wenn es heißt: »Du sollst nicht töten.« Allerdings sind diese biblischen Zehn Gebote, die allesamt mit »Du sollst nicht ...« beginnen, lediglich als Gebote im Sinn von Forderungen zu verstehen. Das im Töten Ungesetzliche wird im 5. Gebot © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 776-7_inhalt 10.08.2007 11:05 Uhr Seite 58 58 Kannibalismus und Verbrechen Die Kombination von Kannibalismus und Verbrechen ist allein im menschlichen Bereich existent, da verbrecherische Handlungen im eigentlichen Sinn im Tierreich nicht vorkommen. Etymologisch geht das Wort Verbrechen auf »Brechen von Recht oder Rechtsfrieden« zurück. Verbrechen umfasst somit ein weites Feld menschlicher, krimineller Verhaltensweisen. Entsprechend findet sich diese, wenn auch seltene Verbindung von Verbrechen und Kannibalismus in mannigfaltiger Form wieder. Auf diese Kombination in Zusammenhang mit Hunger wurde bereits am Beispiel des Verkaufs von Fleisch an vermutlich ahnungslose Kriegsgefangene während des Zweiten Weltkrieges eingegangen. So sind Hunger und Habgier eine offenbar altbekannte und in Extremzeiten immer wieder einmal vorkommende Kombination. Aus vergangener Zeit berichtet Böhm von einem Fall, über den in der »Mercuri Relation«, Nr. 45 des Jahres 1691 zu lesen war: »Auß Jena / vom 25. Oktob. Morgen wird man in einem etwa 4 Meilen von hier gelegenem Dorff einem Wirth / so an statt deß Viches wol 14 ermordete Menschen seinen Gästen zur Speiß auffgesetzet und essen lassen / auff das grausamste hinrichten und zum Tod bringen.« 78 Ein noch nicht allzu lang zurückliegender Fall ereignete sich in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges im sächsischen Chemnitz. Der Fall war weitgehend in Vergessenheit geraten, nicht zuletzt wohl auch aus politischen Gründen. Erwähnung findet er wieder in dem 1998 von Wolfgang Eckert publizierten Buch »Sächsische Morde« 79, und im Jahr 2000 bei Girod 80 als einem der ungewöhnlichen Todesfälle aus der DDR. Nach Eckert ist es der erste in © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 776-7_inhalt 10.08.2007 11:05 Uhr Seite 59 Kannibalismus und Verbrechen | 59 Deutschland bekannt gewordene Fall von Kannibalismus innerhalb einer Familie, der sich im Januar des Jahres 1948 ereignete, zu einer Zeit also, in der bei knapp zugeteilten Essensrationen Hunger noch an der Tagesordnung war. Es ist der Fall der 65-jährigen Maria Oehme und ihres 67-jährigen Bruders Bernhard. Der Fall Oehme Ida Maria Oehme wurde seit dem 8. Januar 1948 vermißt. An der Tür ihres kleinen Kurzwarenladens hing ein Zettel mit der Aufschrift »Wegen Krankheit geschlossen«. Im gleichen Haus teilte sie sich eine Wohnung mit ihrem Bruder Bernhard. Dieser verhält sich bei der Befragung der Polizei auf der Suche nach der Vermißten auffallend merkwürdig. Alsbald wurde daraufhin die kleine Wohnung in der Uhlandstraße durchsucht. Blankes Entsetzen muss den Beamten entgegen geschlagen sein, als sie die vielen Töpfe, Eimer und Schüsseln mit Brühe und gekochtem Fleisch vorfanden. Der abgetrennte Kopf einer weiblichen Toten sowie Hände und Füße fanden sie im Keller. In die Leipziger Gerichtsmedizin verbracht, wurden die Leichenteile zweifelsfrei der vermissten Maria Oehme zugeordnet. Ihr Bruder Bernhard gab im baldigen Verhör unumwunden und ohne jegliche Reue zu, bereits Herz, Leber, Nieren und einige Fleischstücke mit großem Appetit verspeist zu haben. Aus den Knochen habe er Seife machen wollen, ein zu jener Zeit begehrter Artikel, und etwas Fleisch habe er bereits an ihm Unbekannte verkauft. Menschenfleisch schmecke ihm wie jedes andere Fleisch auch. Wie denn seine Schwester zu Tode gekommen sei, wollten die Beamten wissen. Bernhards Behauptung, sie sei wohl einem Herzschlag erlegen, können die Gerichtsmediziner anhand der Untersuchung des Kopfes schnell widerlegen. Dieser wies Spuren massiver stumpfer Gewalteinwirkung auf. Bernhard Oehme gab im weiteren Verhör zu, seine Schwester mit einem Hammer erschlagen zu haben, nachdem sie ihm im Streit seine Tabakspfeife auf den Mund geschlagen hatte. Auf die Idee, den Leichnam zu zerteilen und zu essen, sei er erst gekommen, nachdem sein Hund das Blut © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 776-7_inhalt 10.08.2007 11:05 Uhr Seite 60 60 | Kannibalismus und Verbrechen vom Boden geleckt habe. Zur Klärung des Tatablaufs beraumte die Kriminalpolizei in der Uhlandstr. 25 eine Tatortrekonstruktion an. Die Nachricht verbreitete sich rasch, und Hunderte von Neugierige eilten dorthin. Es herrschte zunächst eine volksfestartige Stimmung, die jedoch bald in Wut und Hass sowie den Ruf nach Lynchjustiz umgeschlagen ist. Letztlich wurde nie geklärt, ob Habgier unter Ausnutzung der damaligen Notzeit ein mitbestimmender Faktor für das Kannibalische in diesem Verbrechen gewesen ist, oder ob Bernhard Oehme an einer Psychose, etwa aus dem schizophrenen Formenkreis, litt. Zur damaligen Zeit war es noch nicht üblich, Straftäter bei Kapitaldelikten nahezu regelmäßig psychiatrisch begutachten zu lassen. Für Girod ist es ein Fall von »›Überlebenskannibalismus‹ aus Eigennutz«. Oehme wurde relativ mild zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt und in sowjetische Haft verbracht, wo er offiziell an einer altersbedingten Erkrankung verstarb. Wie er letztlich verstarb, und ob sein Tod in sowjetischer Haft von vornherein mit einkalkuliert war, mag Spekulationen überlassen bleiben. Die wohl seltenste Form von Kannibalismus und Verbrechen ist jedoch vermutlich diejenige, welche mit dem Kannibalenfall von Rotenburg in Zusammenhang gebracht wird, nämlich Kannibalismus mit Tötung auf Verlangen. Anlässlich dieses Falls wurden auch die Schwierigkeiten aufgezeigt, die sich bei der psychiatrischen Beurteilung von Kannibalismusfällen ergeben können. Nach Thomas Knecht wird man sich als Psychiater darauf einstellen müssen, dass Kannibalismus nicht nur als eigenständiges Phänomen vorkommt, sondern auch im Rahmen verschiedener psychopathologischer Zustandsbilder möglich ist, z. B. bei schizophrenen und anderen Psychosen, bei schweren Persönlichkeitsstörungen, bei sexuellen Normabweichungen, u.U. auch in hysterischen Zuständen oder bei schweren Formen von Schwachsinn.81 Kannibalismus, Anthropophagie und Nekrophagie bedeuten begrifflich gesehen ein und dasselbe, nämlich den Verzehr von Leichen © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 776-7_inhalt 10.08.2007 11:05 Uhr Seite 61 Kannibalismus und Verbrechen | 61 oder von Leichenteilen. Unter psychiatrischen bzw. forensisch-psychiatrischen Aspekten lassen sich aber gewisse Differenzierungen treffen, und Nekrophagie kann als eine besondere Spielart anthropophagischer Verhaltensweisen betrachtet werden. Die sogenannte Nekrophagie (griech. nekros = tot; phagein = fressen, essen) , d. h. die Neigung, Leichenteile zu essen, ohne die betreffende Person vorher getötet zu haben, lässt sich somit dem weiten Umfeld von Kannibalismus und Verbrechen zuordnen. Da der Verzehr nicht aus blanker Not heraus geschieht, handelt es sich bei der Nekrophagie nicht um eine Art von Hungerkannibalismus. Genau genommen liegt – mit Ausnahme der sogenannten Leichenschändung bzw. der Störung der Totenruhe – auch kein Verbrechen im juristischen Sinn vor, sondern vielmehr ein triebhaftes Verhalten. Dieses insofern dennoch forensisch relevante Verhaltensmuster ist im Kontext von sexuell devianten Triebtätern beschrieben worden und kann auch eine Vorstufe zum Lustmord sein.82 Nekrophagie und Nekrophilie* werden auch in Zusammenhang mit Fetischismus gebracht. Der Begriff Fetischismus (lat. facere = machen; bzw. facticius = nachgemacht) wurde 1887 von dem französischen Psychologen Alfred Binet 83 geprägt und beinhaltet ein abnormes Sexualverhalten, bei dem der Fetischist gewöhnlich unbelebte Objekte, z. B. Schuhe (Schuhfetischist) oder andere Kleidungsstücke, aber auch Körperteile (Fußfetischist) und eben auch den Umgang mit Leichenteilen zur sexuellen Erregung oder zur sexuellen Befriedigung benutzt. In einem mir persönlich mitgeteilten Fall soll das Quietschen der Schuhe eines Oberarztes auf dem Flur einer psychiatrischen Abteilung bei einer Patientin stets einen Orgasmus ausgelöst haben. Fetischisten sind aus psychiatrischer Sicht meist Sexualneurotiker, also abnorme Persönlichkeiten, die in ihrer Selbstunsicherheit nicht auf natürliche Weise mit der Sexualität fertig werden.84 Abschließend bleibt festzuhalten, dass Kannibalismus im eigentlichen Sinn bei schwer geisteskranken, schizophrenen Menschen eher die Ausnahme ist. * sexueller Lustgewinn im Umgang mit Leichen © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 776-7_inhalt 10.08.2007 11:05 Uhr Seite 62 62 | Kannibalismus und Verbrechen Serienmörder mit kannibalischen Trieben Weltweit sind Kannibalismusfälle immer wieder auch bei Serienmördern bekannt geworden. Der deutschstämmige Vater der Kriminalpsychologie, Hans von Hentig, stellte im Jahr 1957 in der Fachzeitschrift »Kriminalistik« anhand von »Zwei Morde(n) auf kannibalistischer Grundlage« die These auf, dass bei derartigen Tätern tief verwurzelte Triebe existieren, die zur Wiederholung drängen. Es handelt sich bei diesen Tätern um Mörder, die zu den gefährlichsten Typen gehören, welche frühzeitig erkannt und aus dem Verkehr gezogen werden müssten.85 Die Geschichte kannibalischer Serienmörder scheint diese Theorie zu bestätigen. Ende des 18. Jahrhunderts wurde ein Fall aus Thüringen publik, über den Böhm aufgrund von Mitteilungen der »Haude-Spenerschen Zeitung« berichtet. So soll ein Hirte um 1772 mehrere Menschen triebhaft getötet und verspeist haben. Nr. 52 der Ausgabe jenes Jahres berichtet über diesen Fall wie folgt: »Auf einem Dorfe unweit Berka, 5 Stunden von Jena, hat sich folgende traurige und unmenschliche Begebenheit ereignet. Der Hirthe war einer Bauernwittwe des Dorfes 30 Groschen schuldig; die Mutter schickt ihr Mägdchen von 6 bis 7 Jahren zu ihm, und lässt ihn erinnern, das Mägdchen aber bekommt nichts. Den andern Tag, als das Kind in die Schule vor dem Hirthenhause vorbey geht, ruft es der Unmensch, der Hirthe, zu sich hinein, und das Mägdchen glaubte, er würde ihr das Geld geben wollen. Allein der Bösewicht nahm das unschuldige Kind zwischen die Beine, sticht ihr mit einem Messer die Kehle ab, und schlachtet es ordentlicher Weise wie ein Vieh, kochet ein Stück Fleisch und Eingeweide, und bratet die Leber davon. Da nun die Nachbarn des Dorfes bemerkten, dass er so viel Wasser trug, und glaubten, dass Feuer in dem Hirthenhause seyn müsse, so giengen sie hin, und visitirten. An statt des Feuers aber fanden sie das geschlachtete und in Stücken gehauene Kind. Der Hirthe wurde sogleich arretirt.« Vor dem Richter bekannte er, so Böhm, »... daß er es mit einer Weibsperson von 18 und einem jungen fremden Kerl von 22 Jahren, welchen letzteren er in Dienst genommen, eben also gemacht habe. Er hat ausgesagt«, so laut © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 776-7_inhalt 10.08.2007 11:05 Uhr Seite 79 79 Der »Kannibale von Rotenburg« Ein beispielloser Fall in der deutschen Rechtsgeschichte Im Jahr 2002 wurde die deutsche Öffentlichkeit mit einem Kriminalfall konfrontiert, der sich durch Brechung eines der letzten Tabus in seiner Ungeheuerlichkeit rasend wie ein Lauffeuer um die ganze Welt verbreitete, ein beispielloser Fall in der deutschen Rechtsgeschichte. Mit einem Schlag wurde der Öffentlichkeit ein unvorstellbares Verbrechen bekannt gegeben, und sämtliche Medien gierten nach immer mehr grausigen Details. Ähnlich muss eine solche Nachricht wohl im Jahr 1768 bei der Ermordung Johann Joachim Winckelmanns 103 auf Goethe gewirkt haben: »... und wie ein Donnerschlag bei klarem Himmel fiel die Nachricht ... zwischen uns nieder. ... Dieser ungeheure Vorfall tat eine ungeheure Wirkung ...« 104 Tatsächlich tat es auch fast 250 Jahre später einen kräftigen Donnerschlag, der auch in der internationalen Presse widerhallte und in der Tat eine ungeheure öffentliche Wirkung nach sich zog. Auslöser war ein einzigartiges und beispielloses Verbrechen in der deutschen Kriminalgeschichte: »Ein Verbrechen ohne Beispiel. ... Ein Mann tötet einen anderen, um ihn aufzuessen, und das Opfer ist damit einverstanden – ein in der deutschen Kriminalgeschichte einzigartiger Fall ... zweier verirrter Seelen.« (»Stern«, 24.7.2003). Der Fall des 41-jährigen Nordhessen A. M., besser bekannt geworden als der »Kannibale von Rotenburg«, sollte alsbald weltweite Berühmtheit erlangen. Obwohl publizistisch eher in den Schatten gedrängt, © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 776-7_inhalt 10.08.2007 11:05 Uhr Seite 80 80 | Der »Kannibale von Rotenburg« war es aber zugleich auch der Fall seines 43-jährigen Berliner Opfers J. B., der vor seiner Tötung »nullofiziert« (nach M. ein Begriff, der von B. gekommen sei und »Penis abschneiden« bedeute) werden wollte. Die Frage, die sich alsbald stellte, bezog sich auf die rechtliche Einordnung dieser Tat. War es nun »Mord«, war es »Totschlag«, oder war es lediglich »Tötung auf Verlangen«? Ein »minder schwerer Fall des Totschlags« war alternativ auch in Erwägung gezogen worden. Kannibalismus zumindest ist als Straftatbestand im deutschen Strafgesetzbuch nicht vorgesehen. Schon frühzeitig und weit im Vorfeld einer offiziellen Anklage durch die Staatsanwaltschaft wurde die rechtliche Einordnung dieses Verbrechens als allererstes von der Öffentlichkeit lautstark und breit diskutiert. § 211 StGB »Mord« (1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. (2) Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet. § 212 StGB »Totschlag« (1) Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft. (2) In besonders schweren Fällen ist auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen. § 213 StGB »Minder schwerer Fall des Totschlags« War der Totschläger ohne eigene Schuld durch eine ihm oder einem Angehörigen zugefügte Misshandlung oder schwere Beleidigung von dem Getöteten zum Zorn gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden oder liegt sonst ein minder schwerer Fall vor, so ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren. § 216 StGB »Tötung auf Verlangen« (1) Ist jemand durch das ausdrückliche und ernsthafte Verlangen © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 776-7_inhalt 10.08.2007 11:05 Uhr Seite 81 Der »Kannibale von Rotenburg« | 81 des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen. (2) Der Versuch ist strafbar. Am 13.12.2002 gegen Mittag rollte ein Leichenwagen, der es erstaunlicherweise geschafft hatte, eine ganze Schar hinter ihm her fahrender Reporter zurückzulassen, auf den Hof des Instituts für Rechtsmedizin in Gießen. Hätten die Reporter es geschafft, dem Leichenwagen zu folgen, wäre es ihnen allenfalls gelungen, die Einlieferung eines üblichen Zinksarges zu fotografieren, nicht aber dessen ungewöhnlichen Inhalt, der erst hinter verschlossenen Türen hervorgeholt wurde. Zum Vorschein kamen nach und nach diverse Müllsäcke mit Grabungsmaterial von verschiedenen Fundstellen sowie eine Reihe verschiedener, handelsüblicher Gefrierbeutel. Neben Erdreich als Beiwerk der Grabungen auf dem Anwesen des M. fanden sich in den Mülltüten verschiedene Skelettteile, Knochenfragmente und eine Reihe von stärker verwesten Weichteilen, u.a. mehrere Hautlappen. In weiteren 35 Plastiktüten, die von der Kriminalpolizei aus einer Gefriertruhe geborgen wurden, befanden sich u. a. ein bereits stärker durch Fäulnis veränderter menschlicher Kopf sowie ein noch relativ gut erhaltener Fuß. Einige Gefrierbeutel waren ungewöhnlich beschriftet, z. B. mit »Cator, Nackenfilet, 10/03/01«, andere Beschriftungen wiederum erinnerten an Etikettierungen aus dem Supermarkt – »Hackfleisch mit Sauce« – oder eben an solche nach heimischen Hausschlachtungen. Der 10.3.2001 war laut Anklage der Staatsanwaltschaft Kassel der Tag, an dem M. sein Opfer zur Befriedigung seines Geschlechtstriebes tötete und in seinem eigens dafür eingerichteten »Schlachtraum« auch geschlachtet hatte. Bereits zwei Tage später soll M. Teile des portionierten Fleisches verspeist haben, nachdem er sie zuvor gebraten hatte. Mindestens einmal schaute er sich laut Anklage nach der Tat den Videofilm an, den er während des Penisabschneidens bei lebendigem Leib seines Opfers sowie während der Tötung und Schlachtung aufgenommen hatte. Hierbei habe er onaniert. In der späteren Auseinandersetzung des Falls vor dem Bun- © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe