lesen - Pro Mente Tirol
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pro mente austria diagnose: stigma Wechselwirkungen von psychischer Gesundheit und Stigmatisierung von dir. univ.-prof. dr. ullrich meise; mag a. angela ibelshäuser, gesellschaft für psychische gesundheit tirol; mag a. liane halper, verein start „Es ist leichter, ein Atom zu zerstören, als ein Vorurteil“ P sychisch Kranke, Angehörige, behandelnde Einrichtungen und deren MitarbeiterInnen haben nicht nur mit den Symptomen der Erkrankungen zu tun, sondern meist auch mit falschen Vorstellungen und Vorurteilen. Das Stigma führt, wie ein Betroffener [1] aus eigenen Anschauungen beschreibt, zu einem „Teufelskreis", der in Rückkoppelungsprozessen mit der Erkrankung „seelische Wunden" verstärkt. selbststigmatisierung Direkte Diskriminierungen (soziale und ökonomische Ausgrenzung und Benachteiligung), strukturelle Diskriminierungen (Benachteiligung durch Gesetzgebung, allg. Ressourcenverteilung, ...), als auch „Selbststigmatisierung" (übernommene negative Einstellungen) oder erwartete Stigmatisierung von Patientinnen und Patienten wirken sich durch verspätete und erschwerte Behandlung, Behandlungsabbrüche wie auch Mängel in der psychiatrischen Versorgung aus und tragen dadurch zu schlechten Behandlungsergebnissen bei. So wird der Mythos der Unheilbarkeit, der an manchen psychischen Erkrankungen klebt, immer wieder bestätigt. Dabei könnte dem Stigma psychischer Erkrankungen am raschesten begegnet werden, wenn die Behandlung von der Bevölkerung als effektiv angesehen würde. Heute verfügt die Psychiatrie über wirksame psychopharmakologische, psycho- und soziotherapeutische Behandlungs- und Rehabilitationsverfahren, durch die – somatischen Erkrankungen vergleichbar – der Großteil psychisch Kranker gene- ▲ Für den Erhalt der psychischen Gesundheit sind alle Menschen auf Akzeptanz und das Gefühl der Wertschätzung durch ihre Umgebung angewiesen. Unterstützendes Feedback wirkt sich positiv auf das Selbsterleben, das Selbstwertgefühl und auf soziale Beziehungen aus, erleichtert die Bewältigung von Alltagsbelastungen und schwierigen Lebensereignissen und ist somit die Basis für psychische Gesundheit. Umso schwieriger für Menschen, die auf zwei Seiten Probleme bewältigen müssen, einerseits die Symptome ihrer Erkran- kung, andererseits vorurteilshafte Reaktionen der Umgebung und den in Frage gestellten Stand in der Gesellschaft. ▲ ▲ Die verbreiteten Mythen halten sich hartnäckig in der Öffentlichkeit, in der Medienwelt, sogar professionelle im medizinischen oder Sozial-Bereich tätige Personen entgehen ihnen nicht. Aufgrund der bestehenden Vorurteile und Ängste werden Betroffene sozial und ökonomisch ausgegrenzt und benachteiligt, selbst wenn sie ihre Erkrankung gut bewältigen. Die Folgen sind: eine sinkende Lebensqualität, ein vermindertes Selbstwertgefühl (wenn die Betroffenen diese Außensicht akzeptieren und übernehmen) und nicht zuletzt eine Behinderung der Behandlung und Genesung oder gar die Entstehung einer weiteren Erkrankung. Albert Einstein 1717 pro mente austria ▲ sen könnte. In der alltäglichen Behandlungspraxis wird (oder kann) jedoch nur ein Teil der verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten genutzt (werden). Menschen mit einer psychischen Erkrankung – oder einer solchen in ihrem Lebenslauf – neigen auch dazu, sich selbst auszugrenzen; dabei internalisieren sie die mit der Stigmatisierung vergesellschaftete Geringschätzung, da sie u.a. aus ihrem „gesunden Vorleben" die abwertenden Einstellungen in ihre Erkrankung mitnehmen. Dies kann zu unzureichender Behandlung oder zu Erkrankungsrezidiven führen. Das Stigma beschädigt die Identität der von psychischer Erkrankung Betroffenen. Entmutigung, Selbstentwertung, sozialer Rückzug können eine „zweite Erkrankung" bewirken, die mit der ursprünglichen Erkrankung nichts zu tun hat, jedoch die soziale Integration und die Lebensqualität der Betroffenen negativ beeinflusst. Bereits vor etwa einem halben Jahrhundert hat der Soziologe Goffman darauf hingewiesen, dass dem „Stigma-Managment", d.h. der individuellen Bewältigung des Stigmas eine große Bedeutung zukommt. Da das Stigma zu einem wesentlichen Anteil die Behandlung und Genesung von psychisch Kranken behindern kann, wurden seitens verschie- 18 dener NGO's und großer Organisationen, wie der WHO oder der Weltpsychiatrischen Vereinigung (WPA), Anti-Stigma-Kampagnen initiiert. Die Kampagnen richten sich nicht nur an die Allgemeinbevölkerung, sondern auch an Gruppen, die als Schlüsselpersonen für die angestrebten Einstellungsänderungen wichtig sind. Durch die Vermittlung von Techniken zum „Stigma-Management" sind auch Patientinnen und Patienten Zielgruppe dieser Aktivitäten. Auch die Psychiatrie selbst kommt nicht um Änderungen herum, ein Teil der PatientInnen und Angehörigen berichtetet, dass Stigmaerfahrungen auf das Verhalten des in der Psychiatrie tätigen Personals sowie auf strukturelle Mängel in der Versorgung zurückgehe. soziale integration Soziale Integration ist mit eine Voraussetzung für die Aufrechterhaltung psychischer Gesundheit. Gesundheit, Krankheit und Krankheitsbewältigung werden durch psychische, physische und soziale Faktoren bestimmt und bedingen sich gegenseitig. Wesentlich in der Gesundheitsförderung und Krankheitsbehandlung ist, auf diese drei Faktoren einzugehen und in eine ganzheitliche Sichtweise von Gesundheit zu investieren. Daher sollten Kosten, die für Projekte zur Förderung der psychischen Gesundheit und Anti-Stigma-Arbeit aufgewendet werden, als wesentliche Investition zur Erhaltung der Gesundheit unserer Bevölkerung verstanden werden. Bei den langfristig angelegten österreichischen Kampagnen „Schizophrenie hat viele Gesichter“ und „Bündnis gegen Depression“ liegen die Schwerpunkte u.a. bei der Antistigma-Arbeit (vorhandene Stigmatisierung soll verringert werden) und Prävention (einer Entstehung von Stigmatisierung soll entgegengewirkt werden). Literatur: [1] Horvath C.: Stigma-Erfahrungen aus erster Hand. Neuropsychiatrie 16, 1/2: 26-27 (2002). Katschnig H., H. Donat, W. W. Fleischhacker, U. Meise: 4x8 Empfehlungen zur Behandlung von Schizophrenie. edition pro mente, Linz 2002. Finzen A.: Psychose und Stigma. Stigmabewältigung – zum Umgang mit Vorurteilen und Schuldzuweisung. Psychiatrie-Verlag, Bonn 2000. Goffman E.: Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität (Englisch: Stigma Notes on the Management of Spoiled Identity. Prentice-Hall: Englewood Cliffs JJ, 1963), Suhrkamp Wissenschaftsverlag, Frankfurt/Main 1975. Hinterhuber H., Meise U., et al. (Hrsg.): Neuropsychiatrie 16,1/2, Dustri-Verlag, München-Deisenhofen 2002. pro mente austria Anti-Stigma-Projekte von pro mente austria Organisationen zur Förderung psychischer Gesundheit von dir. univ.-prof. dr. ullrich meise, mag a. angela ibelshäuser gesellschaft für psychische gesundheit tirol shizophrenie – ergebnisse der evaluierung in tirol europabündnis – seelenschatten – leben mit angst und depression Im Rahmen der – von der World Psychiatrie Association gestarteten – Aufklärungskampagne „Schizophrenie hat viele Gesichter“ werden in Informationsveranstaltungen für SchülerInnen der Oberstufe und für MedizinstudentInnen Stigma- und Diskriminierungserfahrungen von psychisch Kranken, unter Einbeziehung einer von Schizophrenie selbst Betroffenen, direkt thematisiert. Eine Evaluierung des Pilotprojektes in Tirol sollte klären, ob sich die Veranstaltungen in einer Einstellungsänderung und Verringerung der sozialen Distanz auswirken. Weiters, ob sich die Einbeziehung von Betroffenen in den Unterricht einer ausschließlich durch ExpertInnen erfolgten Informationsvermittlung in Hinblick auf die Einstellungsverbesserung als überlegen erweist. In einer breit angelegten Kampagne will das „Bündnis gegen Depression“ in 18 europäischen Ländern die gesundheitliche Situation depressiver Menschen in Europa verbessern und das Wissen über die Erkrankung in der Bevölkerung erweitern. Die Depression ist die häufigste psychische Erkrankung und weniger mit Vorurteilen belastet als andere psychische Erkrankungen. Alle Menschen kennen in belastenden Lebenssituationen oder Krisen Symptome einer Depression. Dennoch, Menschen, die von einer depressiven Erkrankung betroffen sind, leiden am realen und erwarteten Stigma und der sozialen Ausgrenzung in unserer Gesellschaft. Die Antistigma-Arbeit im Rahmen des Bündnisses hat eine Reduktion des Stigmas zum Ziel, mit den verschiedenen Aktionen soll nicht nur die Bevölkerung über die Erkrankung informiert werden, auch ÄrztInnen, Pflegepersonal und „Gate Keeper“, wie SeelsorgerInnen, LehrerInnen, ... werden geschult. Mit den Tiroler Schulaktionen „Seelenschatten – Leben mit Angst und Depression“ wird einer jungen Zielgruppe (SchülerInnen der Oberstufe) Information durch ExpertInnen und eine Begegnung mit Betroffenen und deren Erfahrungen ermöglicht. Ergebnisse der Untersuchung zeigen bei den StudentInnen und SchülerInnen deutlich: Reine Wissensvermittlung ohne Kontakt zu einer von schizophrener Erkrankung betroffenen Person reicht nicht aus, um Einstellungen nachhaltig zu ändern. Eine Verringerung der sozialen Distanz und die Bereitschaft zu sozialem Handeln sind mehr durch gefühlsmäßige Einstellungen als Wissen bestimmt. Informationen von Betroffenen „aus erster Hand“, das persönliche Gespräch, eine persönliche Begegnung mit Betroffenen, die von der Krankheitssymptomatik genesen sind, gewährleisten die notwendige emotionale Bezugnahme, korrigieren vorhandene stereotype Vorstellungen und machen „begreifbar“, dass psychische Erkrankungen behandelbar sind. Eine Evaluierung der Schulkampagne im Rahmen des Tiroler Bündnisses geht in der Fragestellung einen Schritt weiter: wirkt sich eine Aufklärungs- und Anti-Stigmakampagne über Depression folgend auch auf die Einstellung gegenüber anderen – wesentlich mehr mit Vorurteilen belasteten – psychischen Erkrankungen und der betroffenen Personen aus. 1919