BVM-Edition 2012 - Berufsverband Deutscher Markt
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BVM-Edition 2012 - Berufsverband Deutscher Markt
47. Kongress der Deutschen Marktforschung, Berlin, 22. – 23. Juni 2012 Glaubwürdigkeit, Reputation und Relevanz Marktforschung für das Unternehmens- und Markenmanagement in Zeiten sozialen, wirtschaftlichen und technischen Umbruchs Beiträge aus dem Wettbewerb zum Best Paper EDITION Programmkomitee Best Paper Dr. Michael Bartl, BVM-Vorstand Dr. Sven Dierks, BVM-Vorstand Dr. Frank Knapp, BVM-Vorstandsvorsitzender Michael Pusler, BVM-Vorstand Dr. Ulrike Schöneberg, BVM-Vorstand Professor Dr. Raimund Wildner stellvertretender BVM-Vorstandsvorsitzender Impressum Herausgeber: BVM Berufsverband Deutscher Markt- und Sozialforscher e.V. Friedrichstraße 187 10117 Berlin Tel.: 030-4990 7420 Fax: 030-4990 7421 [email protected] www.bvm.org V.i.S.d.P.: BVM-Bundesvorstand Lektorat Dr. Gisela Hack-Molitor Chefredaktion: Dr. Ulrike Schöneberg Gestaltung: Stephan Hasselbauer Design Büro, Fürth Assistenz und K oordination: Ulrike Großmann Sabine Steig Bildmaterial: Annette Hornischer, Berlin Jacob Cass www.justcreativedesign.com Diverse Bildarchive Inhalt 3 47. Kongress der Deutschen Marktforschung Keynote: Tiefgreifende Änderungen stehen bevor Matthias Hartmann, GfK, zu den Auswirkungen globaler Konkurrenz und Vernetzung auf Unternehmen, Marken und die Marktforschung 5 Keynote: Unternehmen agieren in einem bürgerschaftlichen Raum Professor Dr. Julian Nida-Rümelin zur Funktion von Wahrhaftigkeit, Vertrauen und Verlässlichkeit für den Erfolg von Märkten, Unternehmen und Marken 9 Beiträge aus dem Wettbewerb zum Best Paper auf dem Kongress Patricia Schulte-Moser und Christoph B. Melchers, ZweiEinheit Beziehungskrise? Zur (Kultur-)Psychologie des Vertrauens 14 Preisträger Best Paper 2012 Heike Kindel und Uwe Munzinger, MUSIOL MUNZINGER S ASSERATH Markenerleben. Die neue Leitwährung in Markenführung und M arkenforschung im post-digitalen Zeitalter 18 Christoph Prox, Icon Added Value Web 2.0 = Markenführung 2.0. Wird morgen alles anders? 22 Nominiert für das Best Paper 2012 Dr. Peter Pirner, Dr. Steffen Hermann und Susanne Klar, TNS Infratest TRI*M Digital Reputation Manager. Steuerung der Unternehmensreputation durch Verknüpfung von Social-Media-Monitoring, Stakeholder-Befragung und Digital Lifestyle Segmentierung 26 Elske Ludewig, eResult Die Messung der Reputation. Entwicklung eines wissenschaftlich fundierten Fragebogens 30 Thomas Utzinger, Google, Markus Saffer, GfK, und Jens Barczewski, nurago Crossmedia-Forschung. Ein innovatives Instrument der Werbewirkungsforschung 34 Preisträger Best Paper 2012 Dr. Maria Kreuzer und Dr. Sylvia von Wallpach, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck Multi-Sensory Sculpting. Multisensorisches Markenwissen anhand dreidimensionaler Skulpturen 38 Nominiert für das Best Paper 2012 Dr. Nadine Hennigs und Dr. Steffen Schmidt, Leibniz Universität Hannover Neuroökonomische Marketingforschung. Bestimmung ganzheitlicher Markenwirkung anhand expliziter und impliziter Erhebungstechniken 42 Ulrike Oberascher und Julia Roßteuscher, IFM Mannheim Verpackung – der Touchpoint zwischen Marke und Konsument. Implizite und explizite Reaktionen für den Markterfolg 46 Benjamin Rubenwolf, International University Network Intuition bei Entscheidungen. Zum rekognitiven Einfluss bei der Wahl von Markennamen durch Phonetik und Buchstabenhäufigkeit 50 Frank Gehre und Horst Regenscheit, inviso QR-Code® Mobile Research. Ein innovativer Methodenansatz z ukunftsorientierter Marktforschung 53 BVM EDITION Kongress-Special 2012 4 Matthias Hartmann CEO GfK Der Diplom-Betriebswirt war, bevor er am 1. Dezember seine Position als GfK-Vorstandsvorsitzender antrat, als Global Head of Strategy and Industries für die globale Strategie und Branchenausrichtung der Beratungssparte IBM Global Business Services im IBM-Konzern verantwortlich. BVM EDITION Kongress-Special 2012 Keynote Tiefgreifende Änderungen stehen bevor 5 Matthias Hartmann, CEO der GfK, zur Frage, welche Auswirkungen globale Konkurrenz und Vernetzung auf Unternehmen, Marken und Marktforschung haben Seit Anfang des Jahres hat die GfK einen neuen Chef: den aus dem IT-Beratungsgeschäft kommenden Strategen Matthias Hartmann. Zur Eröffnung des diesjährigen Kongresses trug er fünf Thesen zur Frage vor, welche Herausforderungen auf die Konsumgüterindustrie, ihre Marken und auch die Marktforschung in Europa in der globalen und vernetzten Weltwirtschaft zukommen. In seiner Einleitung erklärt Michael Hartmann, dass Globalisierung sich schon gegenwärtig flächendeckend und rund um die Welt in den nationalen Volkswirtschaften und der Privatwirtschaft auswirkt. Insbesondere für Unternehmen stelle sich die Frage, wo das zukünftige Wachstum herkomme. In den folgenden Thesen erläutert er, welche Herausforderungen und Chancen sich den Nutzern von Marktforschung, den Konsumgüterherstellern und der zum Dienstleistungssektor gehörenden Marktforschung bietet. 1. These: Das Überleben Europas heißt mehr als je zuvor Innovation Aktuell lebt es sich eigentlich ganz gut in Deutschland. Wenn man wie ich die letzten Jahre die Gelegenheit hatte, von außen auf das Land zu schauen, dann kann man nur bestätigen, dass die internationale Reputation Deutschlands und die Wertschätzung für das, was es an erfolgreicher Reformarbeit geleistet hat, immens hoch sind. Wir werden zu Recht für den von uns eingeschlagenen Reformweg gelobt. Der im Vergleich zu anderen europäischen Ländern geglückte Abbau der Arbeitslosigkeit in den letzten fünf Jahren ist ein Beweis dafür, wie erfolgreich Deutschland war. Aber natürlich ist das Bild dieser grünen Insel auf dem Kontinent ein wenig Illusion. Denn in einen globalisierten Markt eingebettet, spüren wir zunehmend Druck von außen. Europa kann sich weder durch uferloses Schuldenmachen noch durch zwanghaftes Sparen von der augenblicklichen Krise erholen. Auch wir in der GfK erleben dies in unserem Kernmarkt. Der jüngste Einbruch des ZEW-Index ist ein deutliches Warnzeichen. Die Volatilität der Märkte nimmt nicht ab, sondern wird zur neuen Norm. Und damit müssen wir umgehen und mehr als bisher an unseren Strukturen arbeiten, um im globalisierten Raum Anschluss zu halten. Der Weg in Europa kann nur „mehr Innovation” heißen. Dabei heißt Innovation keineswegs nur Produktinnovation, sondern betrifft die brennenden Fragen der globalen Wettbewerbsfähigkeit und der Innovationsmodelle von Unternehmen der privaten Wirtschaft. Dieser Innovationsdruck strahlt auch auf unsere Branche und den Dienstleistungssektor aus. Europa muss insbesondere in der Dienstleistungsfunktion deutlich zulegen. Wer von außen auf Deutschland schaut, könnte fast meinen, dass in Deutschland nur Autos gebaut werden. Das ist gut, aber es ist nur die halbe Wahrheit. Denn 70 Prozent unserer volkswirtschaftlichen Leistung hängt von der Dienstleistungsfunktion ab, und die ist auf eine innovative Basis angewiesen, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Wesentlich ist die Frage, wie wir einem Verbraucher 360 Grad folgen, wenn er die mobilen Medien quasi automatisch nutzt. Schon in der nächsten Generation werden mobile Geräte wie iPhone und iPad gang und gäbe sein, und es werden viele neue Kanäle mobiler Kommunikation dazukommen. Deshalb gilt es für uns, ganz wesentlich das, was im Angelsächsischen Services Sciences genannt wird – das heißt eine Dienstleistungswissenschaft – zu forcieren und in Deutschland beziehungsweise Europa zu praktizieren; ich verwende bewusst diesen umfassenden Begriff, der über die Grenzen der Markt- und Sozialforschung hinausgeht. Das macht mehr Transparenz, mehr Dialog und Zusammenarbeit mit der Politik, mit wissenschaftlichen Einrichtungen sowohl im universitären als auch im außeruniversitären Bereich und auch mit der Wirtschaft notwendig. Wir als GfK wollen uns dieser Notwendigkeit stellen und wollen auch in der Aus- und Weiterbildung hier weitere Zeichen setzen. BVM EDITION Kongress-Special 2012 6 2. These: Die globale Vernetzung und die Kommunikationstechnologie haben Globalisierung erst möglich gemacht und sind ein starker Treiber für Innovation Die globale Vernetzung – und wir hören von Digitalisierung, Online, Mobile und Social Media inzwischen alltäglich – ist ein Thema, das uns natürlich bewegt. Über digitale Kanäle Aufmerksamkeit für Marken sowie Kundenbindung zu schaffen, ist heute von enormer Bedeutung. Insgesamt setzt diese Entwicklung in bisher unbekanntem Maße etablierte Geschäftsmodelle unter Druck. Dazu nur drei oder vier Schlagworte: Printbranche versus Twitter und Facebook, E-Books versus klassische Lektüre, Blockbuster-Video versus Youtube und Netflix, PC versus Smartphone, das alles ist zurzeit unterwegs. Es sind Zeichen der Umbrüche in den Branchen, die uns alle beschäftigen, denn die Entwicklung der mobilen Kommunikation als nächstem Schritt in dieser Entwicklung ist atemberaubend. Laut GfK-Daten hat der Verkauf von Smartphones und TabletPCs den des klassischen PCs überholt. Es ist erkennbar, dass die Entwicklung mit hoher Geschwindigkeit den Scheitelpunkt erreicht, an dem die mobile die desktopgestützte Kommunikation überholt. Eines der wesentlichen Forschungsthemen für die GfK und unsere technologischen Investitionen ist es, diesen mobilen Internet-Traffic zu messen und gemeinsam mit Operatern Modelle zu finden, wie wir auch diese Ressource für die Marktforschung ganzheitlich und integriert einbinden können. Die Industrie ist bestrebt, die Nutzung der digitalen Welten durch Konsumenten absolut voranzutreiben. Und sie ist natürlich an ganzheitlichen Messmethoden interessiert, um den Erfolg ihrer Aktivitäten zu messen. Die Entwicklung geht also weiter und bietet den Unternehmen natürlich auch ganz neue Chancen und Möglichkeiten. Co-Creation ist in diesem Zusammenhang eines der neuen Schlagwörter. Die Mitgestaltung und aktive Einbindung der Konsumenten in die Produktgestaltung gibt über die digitalen Kanäle hinaus eine zusätzliche Plattform für die Schaffung von Aufmerksamkeit und Kundenbindung. Es ist eine Chance, die die Unternehmen nutzen können und – so meine Überzeugung – wohl auch müssen, um Bindungseffekte zu erzielen. Ich denke, dass es für uns nicht (mehr) wesentlich ist, wie wir isoliert diesen oder jenen Verkaufskanal messen. Wesentlich ist die Frage, wie wir einem Verbraucher 360 Grad folgen, wenn er diese Medien quasi automatisch nutzt. Schon in der nächsten Generation werden mobile Geräte wie iPhone und iPad gang und gäbe sein und es werden viele neue Kanäle mobiler Kommunikation dazukommen. Deshalb ist die Frage, wie wir all dies integriert und nicht einzeln messen, von entscheidender Bedeutung. Dabei lässt die Relevanz des stationären Handels nicht per se nach. Er bleibt BVM EDITION Kongress-Special 2012 natürlich eine wichtige Quelle. Aber auch hier gilt wieder: Es gilt, Daten zu integrieren. 3. These: Die Emerging Markets werden zum wichtigsten Absatzmarkt Die globale Vernetzung und der Vormarsch der Kommunikationstechnologie führen dazu, dass wir neue Zugriffsmöglichkeiten auch in den Emerging Markets bekommen. Sie werden sicherlich die wesentliche Quelle des Wachstums von Unternehmen sein. Sie sind bereits heute die Regionen, die vor allem das Wachstum der Wirtschaft weltweit antreiben. Das Gewicht der Regionen in der Weltwirtschaft wird sich weiter verändern. Wer die Kommentare zur Umweltkonferenz in Rio gehört hat, der sah, dass die Zeiten vorbei sind, in denen die G7 den E7-Staaten erzählten, wo die Entwicklung hingeht. Die E7-Staaten, also Brasilien, China, Indien, Indonesien, Mexiko, Russland und die Türkei, erzielen heute etwa 36 Prozent der Weltwirtschaftsleistung. Die neueste Prognose von PricewaterhouseCoopers sagt, dass der Anteil der E7-Staaten bis 2050 auf 64 Prozent steigen wird. Diese neue weltwirtschaftliche Situation bringt uns vielfältige Anpassungsprobleme. Die Wirtschaftsräume von E7 und G7 könnten Vorteile aus dieser Entwicklung ziehen, wenn es gelingt, den Protektionismus entsprechend zu begrenzen. Denn nur dann können Unternehmen und Menschen von kostengünstigen Importen profitieren, aber auch ihrerseits ihre Exportchancen in die Wachstumsmärkte fördern. Und das gilt auch für die Marktforschung, denn unsere Prognosen für das Jahr 2020 zeigen ganz eindeutig, dass die Mehrzahl der Emerging Markets auch zu den weltweit größten Marktforschungsmärkten im Jahr 2020 zählen werden. Der Weg in Europa kann nur „mehr Innovation” heißen. Dabei heißt Innovation keineswegs nur Produktinnovation, sondern betrifft die brennenden Fragen der globalen Wettbewerbsfähigkeit und der Innovationsmodelle von Unternehmen der privaten Wirtschaft. Bei der dann notwendigen weiteren Globalisierung wird sich die Frage stellen, nach welchen Kriterien entscheide ich, um als global agierendes Unternehmen zu handeln. Natürlich spielt in diesem Zusammenhang die Preispolitik eine Rolle. Jedoch werden das eigene Know-how, die Verfügbarkeit von Wissen, die Offenheit gegenüber diesen Märkten im Sinne von Strukturen, aber auch ein Verständnis für die demographische Entwicklung viel, viel wichtiger sein als bisher. 7 Was uns in den reichen, aber demographisch überalterten Märkten bevorsteht, das ist bereits heute allseits bekannt. Diese Entwicklung stellt uns als Branche ganz massiv die Frage, wo wir zukünftig eigentlich unseren Nachwuchs herbekommen. Und hier komme ich auf das, was ich anfangs schon andeutete: Wir müssen uns als Branche zukünftig völlig anders positionieren. Wir müssen uns breiter aufstellen und uns teilweise von unserer gewohnten Art, die Dinge anzugehen, verabschieden. Wir müssen weit mehr als bisher vernetzen, um uns Aufmerksamkeit und ein attraktives Image beim Nachwuchs zu verschaffen. Wir brauchen neue Human-Resources-Modelle, mittels derer wir uns aktiv mit Nachwuchsförderung befassen. 4. These: Die Antwort der Unternehmen auf die Globalisierung sollte Integration sein Global integrierte Unternehmen beziehungsweise Marken sind in ihrem Kern Institutionen, die einerseits Vertrauen und Attraktivität kommunizieren, die aber zugleich die Flexibilität haben, sich in lokalen Märkten, die sich ja durch unterschiedliches Verhalten der Konsumenten auszeichnen, den Gegebenheiten entsprechend aufzustellen. Die globale Marke eines Unternehmens muss das Dach bilden und entsprechend auch Kundenbindung erzeugen. Sie muss jedoch auch die Flexibilität haben, sich in lokalen Märkten durchzusetzen. Im Unterschied zur Vergangenheit – das gilt für die GfK, die in jedem Land komplette Unternehmensstrukturen aufgebaut hat – sind wir jetzt dabei, das Unternehmen durchweg horizontal zu integrieren. Wir standardisieren in Back-Office-Bereichen und bauen globale Plattformen auf. Wir müssen uns in dem Maße global integrieren, wie unsere Kundenunternehmen das tun. Globalisierung heißt keineswegs Gleichmacherei. Vielmehr kommt es darauf an, lokale Marken mit globaler Skalierungsfähigkeit zu verknüpfen. Das ist nichts anderes als das, was wir auch bei den großen Marken und den Verbrauchern sehen. Durch die nicht mehr aufzuhaltende Vernetzung und das Wachstum mobiler Kommunikation – dies insbesondere in den Wachstumsmärkten – erhöht sich die Transparenz. Der Zugriff auf Informationen durch mobile Kommunikation wird sich insbesondere in Märkten wie Indien und China in atemberaubender Geschwindigkeit entwickeln. Das erfordert neue Modelle der globalen Ausrichtung von Marken und Unternehmen, das erfordert Adaption auf lokalen Märkten und zugleich die Notwendigkeit, durch die Marke Vertrauen zu schaffen. Das Vertrauen wird zunehmend bedeutsam bei der Markenwahl von Verbrauchern, Marken haben mehr denn je die Bedeutung eines Talismans, wenn es darum geht, Kundenbindung zu schaffen und zu erhalten. 5. These: Der Veränderungsdruck auf die Marktforschungsbranche zwingt sie zu tiefgreifenden Veränderungen Der Druck, dem global agierende Unternehmen ausgesetzt sind, wenn sie mit solchen Gegensätzen umzugehen haben, spüren auch wir in unserer Branche. Die Globalisierung schafft jedoch auch Wachstumsräume. Ich denke, dass sich unsere Branche in zwei grundsätzlich verschiedene Richtungen entwickeln wird: Auf der einen Seite wird es diejenigen Unternehmen gebe, die global integrieren und expandieren, um am Ende für eine immer globaler agierende Kundschaft das richtige Dienstleistungsangebot zu haben. Das schafft aber zugleich Raum für viele Anbieter von Marktforschungsleistungen, die sich in bestimmten qualitativen Segmenten positionieren und Spezialwissen aufbauen. Wir müssen uns breiter aufstellen und uns teilweise von unserer gewohnten Art, die Dinge anzugehen, verabschieden. Wir müssen weit mehr als bisher vernetzen, um uns Aufmerksamkeit und ein attraktives Image beim Nachwuchs zu verschaffen. Alle Unternehmen, deren Leistungsangebot irgendwo zwischen diesen Polen – das heißt Differenzierung und Tiefe auf der einen Seite, Skalierungsfähigkeit auf der anderen Seite – liegen, werden es schwer haben. Tiefe und Spezialisierung und Skalierungsfähigkeit sollten übrigens nicht als grundsätzliche Gegensätze gesehen werden. Gegenwärtig sind in unserer Branche noch eher lokale Strukturen wirksam. Wenn mir der Vergleich mit der IT-Dienstleistungs- und -Beratungsbranche erlaubt sei, dann hat man dort den Globalisierungsdruck schon früh gesehen und hat heute ein viel höheres Maß an Globalisierung und Nutzung von Skill-Potenzialen in den Emerging Markets, als ich es in der Marktforschungsbranche in Europa heute sehe. Wir als GfK haben uns neu aufgestellt. Wir haben uns eine neue Struktur und eine neue Strategie gegeben, wir bauen unsere globalen Aktivitäten weiter aus, ohne lokale Marktnähe verlieren zu wollen. Wir denken, dass wir Wachstumschancen bei global agierenden Kunden haben. Da sehen wir uns als GfK heute tatsächlich unterrepräsentiert. Wir fokussieren unser Wachstum auf 20 bis 30 Kernmärkte, von denen wir der Meinung sind, dass sie uns Wachstumspotenziale bieten. Wir investieren massiv in neue Technologien und vereinheitlichen unseren Markenauftritt. Aus GfK-Sicht stehen wir auf zwei Säulen: auf Vertrauen, und das passt zum Thema dieses Kongresses, aber auch auf Innovation. An diesen beiden Polen richten wir uns aus. BVM EDITION Kongress-Special 2012 8 Professor Dr. Julian Nida-Rümelin Lehrstuhl für Philosophie an der LMU München Nach dem Studium der Fächer Philosophie, Physik, Mathematik und Politikwissenschaft arbeitete Nida-Rümelin zunächst bei dem Wissenschaftstheoretiker Wolfgang Stegmüller. Akademische Stationen nach Habilitation und Gastprofessur in den USA waren die Universitäten Tübingen und Göttingen, am Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist seit 2009 Dekan des philosophischen Seminars der Ludwig-Maximilians-Universität. Von 1998 bis 2000 war er Kulturreferent der Landeshauptstadt München und 2001 und 2002 als Kulturstaatsminister Mitglied im ersten Kabinett Schröders. Weitere Mitgliedschaften: BerlinBrandenburgische Akademie der Wissenschaften, Europäische Akademie der Wissenschaften und Akademie für Ethik in der Medizin. BVM EDITION Kongress-Special 2012 Keynote Unternehmen und Marken agieren in einem bürgerschaftlichen Raum 9 Der Philosoph Professor Dr. Julian Nida-Rümelin zur Funktion von Wahrhaftigkeit, Vertrauen und Verlässlichkeit für den Erfolg von Märkten, Unternehmen und Marken „Wer einen Philosophen wie mich einlädt, der muss sich auch auf ein wenig Philosophie einlassen”, so die Einleitung der Rede von Julian Nida-Rümelin, Philosophieprofessor an der Ludwigs-Maximilian-Universität München, auf dem Kongress. ”Die einzige Entschuldigung, die ich habe, ist, dass manchmal nichts praktischer ist als eine gute Theorie, um die Dinge klar zu sehen.” Sein Thema: Was heißt es, wenn man von Rationalität der Märkte und Optimierung spricht und welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, dass Märkte, Unternehmen und Marken erfolgreich agieren. Im Folgenden seine Ausführungen dazu. Lassen Sie mich mit Optimierung beginnen. Sie ist eine sehr schöne Sache, die wir anstreben sollten, wo immer es geht. Kosten senken, Nutzen steigern beziehungsweise bei gleichem Nutzen die Kosten senken oder bei gleichen Kosten den Nutzen steigern usw. Optimierung sollte möglichst mittel- oder langfristig angelegt sein, kurzfristige Optimierungen, die die Gefahr in sich bergen, zukünftige Schäden zur Folge zu haben, sollte man vermeiden. Und wir haben das wunderbare Instrument der Märkte. Ganz interessant aus wirtschaftshistorischer Perspektive ist, dass es – anders als das, was tief in unseren Köpfen verankert ist – über die Jahrtausende keine Aufwärtsentwicklung im Lebensstandard der Menschheit gegeben hat. Heute ist man sich in der Wirtschaftsgeschichte ziemlich einig, dass die Dynamik der Aufwärtsentwicklung erst so um 1820 herum ausgelöst wurde. Vorher ging es mit dem Lebensstandard der Menschen auf und ab. Sofern Knochenfunde als valide Indikatoren für Lebensbedingungen angesehen werden können, ging es den Menschen in der späten Steinzeit offenbar sehr gut. Sie waren mit 1,80 Meter relativ groß und das lässt auf eine gute Ernährungslage schließen. Ohne hier auf Details einzugehen, steht wohl eher fest, dass die Menschen im Mittelalter schreckliche Phasen durchlebt haben, die viel schlimmer waren als die in der Antike. Erst etwa um 1820 änderte sich etwas und dabei spielt der ökonomische Markt eine ganz zentrale Rolle. Optimierung auf Märkten: die klassische Theorie Das Faszinosum von Optimierung auf Märkten ist, dass es auf ihnen niemanden geben muss, der steuert. Der Markt steuert das Geschehen selbst, vorausgesetzt, es herrscht Konkurrenz und ein Mindestmaß an Transparenz. Das heißt, die Leute wissen, welche Produkte zu welchem Preis zu welcher Qualität wo angeboten werden, und die Transferkosten sind nahe Null oder jedenfalls nicht so hoch, dass sie diese Konkurrenz konterkarieren. Politiker entwickeln gelegentlich eine hohe Expertise darin, die Wahrheit zu sagen und unwahrhaftig zu sein. Das heißt, sie sagen nichts, was falsch ist, sie sagen aber etwas, was einen falschen Eindruck erweckt. Das genau ist das Faszinosum von Märkten. Um es etwas abstrakter zu sagen: Märkte führen zu Verteilungen. Diese sind im folgenden Sinn effizient: Es gibt keine andere Verteilung, die mindestens eine Person besserstellt, ohne eine andere Person schlechter zu stellen. Das ist die berühmte, nach Vilfredo Pareto benannte Pareto-Effizienz, und das ist das Faszinierende der Märkte: also Lob der individuellen Optimierung. Märkte sind moralfrei, das heißt, es wird nicht verlangt, dass man aus kooperativen oder altruistischen Motiven mit Anderen Waren tauscht. Ein Beispiel: Der Bäcker verkauft seine Brötchen nicht aus altruistischen Motiven, nicht aus einem Kooperationsbedürfnis, sondern weil er damit Geld verdienen will. Wunderbar: Wir können die Ressource Moral also sparsam einsetzen, und zwar dort, wo wir sie brauchen: im sozialen Nahbereich und in der Rücksichtnahme gegenüber anderen Menschen, mit denen wir Bindungen eingehen. BVM EDITION Kongress-Special 2012 10 Jetzt könnte man sagen, dass mit dieser Erkenntnis die Geschichte zu Ende ist, und viele ökonomische Lehrbücher vermitteln auch diesen Eindruck. Kommunikation braucht Wahrhaftigkeit und Vertrauen An dieser Stelle möchte ich ein philosophisches Argument aufgreifen, das für die Frage der Optimierung von Märkten große Bedeutung hat: Es geht um Kommunikation. Was hat nun Kommunikation mit Optimierung und mit Märkten zu tun? Eine ganze Menge! Werfen wir kurz einen Blick auf die Sprachphilosophie und die These des amerikanischen Philosophen David Louis, ohne dass diese hier ausführlich erläutert werden kann: Sprachgemeinschaften können nicht existieren, wenn zwei uns wohl vertraute, alltägliche Regeln allzu häufig gebrochen werden – zwei schlichte Regeln, die wir alle kennen, nämlich Wahrhaftigkeit und Vertrauen! Was ist aus Sicht der Philosophie nun Wahrhaftigkeit? Wahrhaftigkeit ist nicht Wahrheit. Wahrhaftigkeit heißt, dass die Person etwas äußert, von dem sie überzeugt ist – das ist die erste Annäherung an den Kern des Begriffs. Vertrauen ist das symmetrische Gegenüber. Vertrauen heißt in dem Zusammenhang, der uns interessiert: Ich gehe davon aus, dass eine Person, die mir etwas sagt, das glaubt, was sie sagt. Ein Beispiel, um das ein wenig zu problematisieren: Nach schwierigen Tagen oder Wochen im Büro oder Privatleben fragt ein entfernter Kollege im Vorübergehen: „Wie geht es Ihnen?” Antwort: „Gut!” Ist in diesem Fall die Regel der Wahrhaftigkeit verletzt? Auf den ersten Blick: Ja. Das Gegenteil ist der Fall – die Regel ist nicht verletzt. Warum? Weil das, was ich dort sage, nämlich, dass es mir gut geht, vom Adressaten vermutlich nicht ernst genommen wird. Das sagt man eben. Es könnte schwierig werden zu sagen, dass es mir schlecht geht, weil ich den Anderen dann in etwas hineinziehe, in das er nicht hineingezogen werden will. Es ist geradezu unhöflich, eine entfernt stehende Person mit persönlichen Angelegenheiten zu belästigen. Auch der Schauspieler auf der Bühne, der sagt, er sei König Lear, verletzt nicht die Regel der Wahrhaftigkeit, weil er davon ausgehen kann, dass niemand im Publikum – außer kleinen Kindern – ihm das glaubt. Das Beispiel zeigt, dass die Regel der Wahrhaftigkeit nicht so präzise gefasst ist, wie zunächst gesagt. Vielmehr gilt: Eine Person sagt etwas, von dem sie annehmen kann, dass der Adressat dieser Äußerung eine Überzeugung ausbildet, die mit der eigenen übereinstimmt. Politiker entwickeln gelegentlich eine hohe Expertise darin, die Wahrheit zu sagen und unwahrhaftig zu sein. Das heißt, sie sagen nichts, was falsch ist, sie sagen aber etwas, was einen falschen Eindruck erweckt. Mein Lieblingsbeispiel ist der berühmte Satz des langjährigen Politikers Norbert Blüm, der nicht müde wurde, über lange Jahre zu sagen: „Die Rente BVM EDITION Kongress-Special 2012 ist sicher!” Diese Aussage war nicht falsch und es war auch seine Überzeugung, dass die Rente sicher ist. Und trotzdem war es eine Botschaft, von der man eigentlich wissen musste, dass sie zu falschen Überzeugungen bei den Adressaten führt, nämlich: Man muss sich keine Sorgen machen, die Demographie ist kein Problem. Das war eine wahre, aber unwahrhaftige Äußerung. Das zeigt, dass der Zusammenhang von Wahrhaftigkeit und Vertrauen kompliziert ist. Für uns genügt es jetzt festzustellen: Wenn in der Kommunikation Individuen immer nur das sagen, was jeweils in ihrem eigenen Interesse ist, dann ist die Konformität mit den beiden Regeln der Wahrhaftigkeit und des Vertrauens zu niedrig, um vertrauensvolle Kommunikation aufrecht zu halten. Schöne Illustrationen sind Filme aus dem Spionagemilieu oder Verhandlungen in der Frühphase der Entspannungspolitik zwischen Ost und West. Niemand vertraut sich, weil niemand glaubt, dass das, was gesagt wird, auch den Überzeugungen der Person entspricht, die das äußert. Alles wird taktisch interpretiert. In dem Moment gibt es keine echte Kommunikation. Wahrhaftigkeit und Vertrauen erfordern den Bezug zur Realität Ich will jetzt noch eine dritte Regel ansprechen, die in der zeitgenössischen Philosophie schon umstrittener, aber – so finde ich – von hoher Bedeutung ist. Man kann sich eine Gemeinschaft, zum Beispiel die Belegschaft eines Unternehmens oder eine Abteilung, vorstellen, die in der Tat wahrhaftig und vertrauensvoll kommuniziert – nur leider jedoch auf der Grundlage von Überzeugungen, die den Realitätstest nicht bestehen. Man kann ja wahrhaftig sein, aber das, was man da äußert und wovon man überzeugt ist, stimmt halt leider nicht mit der Realität überein. Nach Aussage des Sprachphilosophen Donald Davidson gilt folgende These: „Damit wir überhaupt über eine Frage streiten können, müssen wir uns erstens über fast alle anderen Fragen einig sein und zweitens muss das, über das wir uns einig sind, auch noch zutreffend, d.h. wahr sein.” Wir können uns alle gegenseitig vertrauen, aber trotzdem Illusionen haben. Polemisch ausgedrückt: Je dümmer jemand ist, umso häufiger können seine Aussagen wahrhaftig, aber unwahr sein. Die Regel der Wahrhaftigkeit ist daher für intelligentere Menschen schwieriger einzuhalten als für unintelligente. Wenn man sich Illusionen macht, Trugbildern anhängt, 11 dann fehlt ein drittes Merkmal neben Wahrhaftigkeit und Vertrauen, nämlich der Realitätsbezug. Hier auf diesem Kongress sind überwiegend – wenn ich das richtig verstanden habe – Akademiker, die Forschung betreiben. Und damit steht im Hintergrund all dessen, was Sie tun, das Ethos epistemischer (erkenntnisorientierter) Rationalität. Dieses allen wissenschaftlichen Arbeiten zugrundeliegende Ethos musste übrigens erst mühsam entstehen – in Deutschland hat es rund 400 Jahre gebraucht, um sich durchzusetzen. Es geht ihm zufolge nicht darum, ob eine Überzeugung richtig oder nicht richtig ist, sondern darum, welches Argumente für und welche gegen diese Überzeugung sprechen, was ich mit meinen Argumenten erreichen, wen ich mit ihnen beeinflussen kann und ob diese den Autoritäten entsprechen oder nicht. Die lange Blutspur der europäischen Geistesgeschichte – Galileo Galilei ist vielleicht das berühmteste Beispiel – hängt mit der langsamen Entwicklung dieses Ethos epistemischer Rationalität zusammen. Der Galileo wohl argumentativ ebenbürtige Kardinal Bellarmin hat in Briefwechseln diesem gegenüber geltend gemacht, dass es zwar möglich sei, dass er Recht habe. Aber er möge doch bedenken, dass die Kirche jede Autorität verlöre, wenn die Überzeugung, dass das traditionelle Weltbild nicht stimmt, verbreitet würde. Das habe möglicherweise zur Folge, dass in Europa Unruhen ausbrechen und am Ende die ganze (überkommene) Ordnung kollabiert – und dies nur, weil ein Wissenschaftler an seiner Theorie festhält, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht andersherum. Galileo war nicht der große Held. Er hat seine These vorübergehend widerrufen und dann doch wieder Skrupel gehabt und sie wieder vertreten. Es stellt sich die Frage, ob Kardinal Bellarmin nicht Recht hatte. Müssen wir wirklich, wenn wir zu einer Überzeugung gelangt sind, diese auch vertreten? Müssen wir die Argumente abwägen oder wäre es nicht besser, einfach das zu tun, was für mich in dieser Situation sinnvoller ist? Warum eigentlich? Es macht die Virulenz mancher Debatten aus, denn zu diesem Ethos gehört es, zu prüfen, ob jemandes Überzeugungen zutreffend sind, ob sie das Realitätsprinzip erfüllen beziehungsweise den Realitätstest bestehen. Nach Aussage des Sprachphilosophen Donald Davidson gilt folgende These: „Damit wir überhaupt über eine Frage streiten können, müssen wir uns erstens über fast alle anderen Fragen einig sein und zweitens muss das, über das wir uns einig sind, auch noch zutreffend, d.h. wahr sein.” Sonst könnten wir keine Sprache lernen, könnten uns nicht in der Realität bewegen, könnten nicht kommunizieren. Er nennt es das Prinzip der „Radical Interpretation”. Wie lernt ein Kind, was es bedeutet „es regnet”, ohne eine Sprache zu sprechen? Ungefähr folgendermaßen: Es geht mit der Mutter (oder dem Vater) spazieren. Es fängt an zu regnen. Die Mutter sagt: Es fängt an zu regnen. Es regnet. Das Kind geht davon aus, dass die Mutter wahrhaftig ist: Sie sagt etwas, von dem sie überzeugt ist, und das, was sie sagt, stimmt mit der Realität überein, nämlich das Kind sieht, dass es regnet. Wenn das Kind nicht von beidem ausgehen könnte: erstens der Wahrhaftigkeit der Mutter, zweitens dem Zutreffen ihrer Überzeugung, dann könnte es gar nicht lernen, was es bedeutet, dass es regnet. Ökonomische Märkte können nur Erfolg haben, wenn sie kulturell und moralisch eingebettet bleiben und diese Voraussetzungen nicht am Ende selbst zerstören. Erfolgreiches ökonomisches Handeln bedarf kultureller und moralischer Einbindung Das heißt, wir brauchen Wahrhaftigkeit, Vertrauen und Verlässlichkeit. An diesem Beispiel haben wir ein merkwürdiges Phänomen gezeigt: dass ein ganz zentrales Element, eine „conditio sine qua non” ökonomischen Erfolgs, nämlich vertrauensvolle, wahrhaftige und verlässliche Kommunikation, (von) selbst marktförmig nicht funktioniert. Wenn wir jeweils nur das äußern, von dem wir glauben, dass es uns einen persönlichen Vorteil bringt, kollabiert die Kommunikation. Das erklärt auch, warum Unternehmen so viel Wert darauf legen, einen Ethos, ein Selbstverständnis zu etablieren: „So sehen wir uns, so wollen wir miteinander und gegenüber dem Kunden und gegenüber der Öffentlichkeit auftreten.” Das ist eine Ahnung dessen, dass ökonomische Märkte nur funktionieren können, wenn sie kulturell und moralisch eingebettet sind. Wenn sie sich davon ablösen, dann entsteht ein reines Spiel, das am Ende im Chaos endet. Märkte ohne Regeln können nicht funktionieren. Das ist eine der Lehren, die manche gegenwärtig eher anzunehmen bereit sind, seit sie die Instabilität der Welt-Finanzmärkte vor einigen Jahren sehr deutlich gesehen haben, die man aber im Grunde immer schon sehen konnte. Ich will diese philosophische These folgendermaßen zusammenfassen, um dann einige Implikationen für Ihr Tätigkeitsfeld zu ziehen. Der Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hat gesagt: „Die Demokratie lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann.” Und da hat er Recht. Abgewandelt ist meine Schlussfolgerung: Ökonomische Märkte leben von Voraussetzungen, die sie nicht nur nicht garantieren, sondern die sie auch zerstören können. BVM EDITION Kongress-Special 2012 12 Das heißt also: Der ökonomische Erfolg auf Märkten hängt von Bedingungen ab, die selbst nicht marktförmig sind. Kommunikation gehört dazu. Epistemische Rationalität gehört dazu. Persönliche Integrität gehört dazu. Führung ohne Integrität ist auf Dauer nicht erfolgreich. Persönliche Integrität heißt aber Urteilskraft, Entscheidungsstärke, Kohärenz über die Zeit, auch wenn das im Einzelfall nicht rational ist im Sinne der Optimierung eigener Interessen. Integre Persönlichkeiten sind sperrig, sie sind nicht immer der Meinung, die gerade en vogue ist. Sie ändern ihre Meinung nicht, je nach dem wie die Stimmungslage ist. Verlässlichkeit, Kohärenz in der Praxis und Entscheidungsstärke setzen so etwas Altmodisches voraus wie Tugenden und Charakterstärke. Die Auflösung der Persönlichkeit in Gestalt der je scheinbar rationalen Ausnutzung von Situationen für eigene Interessen führt am Ende zur Zerstörung der persönlichen Integrität. Wenn Einzelne ihre Handlungen in jeder Hinsicht jeweils punktuell optimieren, dann ist das Gesamtsystem am Ende suboptimal. Also nur, wenn gewisse Regeln, die eine Vertrauenskultur aufrechterhalten, eingehalten werden, kann auch in diesem Rahmen jeweils optimiert werden. Das heißt also: Ökonomische Märkte können nur Erfolg haben, wenn sie kulturell und moralisch eingebettet bleiben und diese Voraussetzungen nicht am Ende selbst zerstören. Und jetzt will ich einige Schlussfolgerungen – gewissermaßen von außen betrachtet – für Ihr Praxisfeld ziehen. Das, was ich zur persönlichen Integrität einzelner Individuen in der ökonomischen Praxis gesagt habe, gilt natürlich auch für die Identität von Marken, von Unternehmen, von Produkten. Auch dort geht es letztlich um Vertrauen, Verlässlichkeit, Kohärenz über die Zeit. In dem Moment, in dem man den Eindruck gewinnt, dass das, was gesagt wird, nur im Hinblick auf den Augenblick gesagt wird, um etwas Bestimmtes nur für diesen Augenblick zu erreichen, sind Verlässlichkeit und Vertrauen dahin. Paradoxerweise gilt, dass ein bestimmtes Maß an Distanzierung von einer punktuellen und augenblicksbezogen optimalen Strategie im ökonomischen Umfeld erfolgreich ist – so wie im berühmten „prisoner’s dilemma” beschrieben: Wenn Einzelne ihre Handlungen in jeder Hinsicht jeweils punktuell optimieren, dann ist das Gesamtsystem am Ende suboptimal. Also nur, wenn gewisse Regeln, die eine Vertrauenskultur aufrechterhalten, eingehalten werden, kann auch in diesem Rahmen jeweils optimiert werden. BVM EDITION Kongress-Special 2012 Vertrauenskultur hat drei Dimensionen Erstens gibt es eine interne Dimension, die Kommunikation innerhalb eines Unternehmens, einer Abteilung. Wie gehen wir miteinander um? Herrscht eine Vertrauenskultur oder eine Misstrauenskultur? Misstrauenskulturen sind teuer. Die Attraktivität von Unternehmen hängt in hohem Maße davon ab, dass dort eine Vertrauenskultur etabliert ist, in der Kooperation eine Basis hat. Eine Vertrauenskultur hat zweitens die Dimension des jeweiligen Umgangs mit den Kunden. Auch dort muss eine Vertrauensbasis entwickelt werden. Das gilt in vielen alltäglichen Situationen, beispielsweise auch für den Bäcker. Wenn ich den anrufe und ihn bitte, mir ein paar Brötchen bis Mittag zurückzulegen, dann muss ich mich darauf verlassen können, dass er das tut. Die ganz alltäglichen Interaktionen zwischen Unternehmen und ihren Kunden setzen eine Vertrauenskultur voraus. Drittens gibt es – ganz wichtig – das Verhältnis eines Unternehmens zur Bürgerschaft als Ganzer beziehungsweise zur Öffentlichkeit. Ökonomische Praxis ist kulturell von größter Bedeutung. Unternehmen – und diese, je größer sie sind, umso mehr – haben eine Verantwortung für die Zusammensetzung, für die Konstitution der Bürgerschaft als Ganzer. Unternehmen in diesem Sinne sind auch Bürger. Sie agieren in einem bürgerschaftlich verfassten Raum. Wir müssen uns zum Beispiel verständigen auf Transparenzregeln. Die Menschen wollen wissen, nach welchen Regeln sie Produkte beurteilen können. Wir Bürger müssen uns darauf verlassen können, dass Krankheiten nicht erfunden werden, um ein Produkt auf den Markt zu bringen. Da gibt es bedenkliche Indikatoren. Wir müssen uns darauf verlassen können, dass Ärzte bestimmte medizinische Interventionen nicht empfehlen, um die betriebswirtschaftliche Bilanz ihrer Praxis zu optimieren. Die Tatsache, dass schwangere Privatpatientinnen zwei- bis dreimal so häufig die Empfehlung zu Kaiserschnitten bekommen als Kassenpatientinnen, lässt vermuten, dass da etwas im Argen liegt. Vertrauenskultur wahrnehmen heißt in der unternehmerischen Praxis auch für das Gemeinwesen Verantwortung übernehmen. Ich weiss, dass diese These nicht jedem von Ihnen gefallen wird, aber ich glaube, dass sie wohl begründet ist. Anmerkung In München gibt es einen erfolgreichen Studiengang PPW (Philosophie, Politik, Wirtschaft), eine Kopie des Oxford-Studiengangs PPE, den Professor Nida-Rümelin zusammen mit dem Wirtschaftsethiker Professor Karl Homann aufgebaut hat. Im Mittelpunkt dieses Studiengangs stehen Fragen wie „Was ist eigentlich Rationalität? Welche Rolle spielt dabei die Ökonomie und wie müssen Märkte verfasst sein, damit sie wirklich zum ökonomischen Erfolg beitragen?” Er hat zum Ziel, Menschen, die später Verantwortung übernehmen, anzuleiten, vor dem Hintergrund eines größeren Horizonts zu denken und zu entscheiden. Mehr dazu: www.ppw. philosophie.uni-muenchen.de BVM Unsere Aktivitäten BVM-Mitwirkung bei der Aktualisierung des ESOMAR/ICC-Kodex, der weltweiten Grundlage unserer Berufsethik BVM-Kooperation mit Verbänden im In- und Ausland bei der Aktualisierung von Marktforschungrichtlinien und -standards BVM-Präsenz im Rat der Deutschen Marktforschung, der Verstöße gegen berufsethische Prinzipien ahndet BVM-Beteiligung an PR-Aktivitäten, die den Nutzen der Marktforschung kommunizieren und ihr Image verbessern Berufsverband Deutscher Markt- und Sozialforscher e.V. Wir setzen uns ein für Forschungsstandards und Verbraucherschutz. Zusammen mit Partnerverbänden schafft der BVM Berufskodizes und Richtlinien, die die Forschungsqualität sichern und die Privatsphäre der Bürger schützen. www.bvm.org 14 Beziehungskrise? Patricia Schulte-Moser und Christoph B. Melchers, ZweiEinheit, Berlin, zur (Kultur-)Psychologie des Vertrauens Für gesunkenes Vertrauen, unter dem nicht nur Marken von Finanzdienstleistern zu leiden haben, werden die rezenten Krisen verantwortlich gemacht. Nach den Befunden der beiden Autoren läuft diese Entwicklung schon länger. Sie halten den Vertrauensverlust für ein Kultur phänomen: Die Kultur hat sich in eine Richtung entwickelt, die die Vorteile intakter Vertrauensverhältnisse aushöhlt. Überall ist von gesunkenem Vertrauen und Vertrauenskrisen die Rede. Als betroffen gelten Finanzdienstleister, der gegenseitige Umgang in Wirtschaft und Politik und Konsummarken. Nach unseren Befunden1) haben Marken nicht erst seit der Krise von 2008 an Vertrauen eingebüßt. Die Entwicklung läuft länger. zu beobachten. Trotz ihrer Widersprüchlichkeit und ständiger Änderungen genießen beispielsweise die Gesundheits- und Ernährungsratschläge in den Medien Vertrauen. Bestimmte Anbieter, glaubt man, seien billiger. Dem Fortschritt in Form der Smartphones wird vertraut. Für die Holperigkeiten der Nutzungsrealität gibt es blinde Flecken. Verantwortungslose Banker werden für den Vertrauensverlust verantwortlich gemacht: Sie haben sich verzockt und uns hereingelegt. Die meisten Menschen neigen dazu, persönliche Finanznöte und Gefährdungsgefühle teuren Rettungsaktionen von Banken und ganzen Volkswirtschaften anzulasten. Beschuldigungen sind jedoch keine Erklärung. Zum Vertrauen gehören immer mindestens zwei. Auch unsere Zunft der Markt- und Sozialforscher ist nicht frei von Vertrauensseligkeit. Man vertraut den Aussagen von Probanden und glaubt, man trüge Vertrauen mit sich herum wie eine Tafel Schokolade. Bei manchen ist dieser VertrauensKlotz brüchig geworden, bei anderen messbar angebraucht oder verschwunden. Diese Denkweise ist nicht sehr Vertrauen erweckend und viele vertrauen Umfragen nicht mehr. You can trust him like a friend: Social Media sind Ort massenhafter, völlig unverbindlicher Freundschaftsdeklarationen, die mit Vertrauen nichts zu tun haben. Es sei denn, die Beziehung bestand schon offline. Dies sei nur ein Hinweis auf den Rahmen, in dem die folgenden Ausführungen zu sehen sind. Die Diskussion über Vertrauen findet in einem Klima von Schuldzuweisungen statt, das nicht außen vor gelassen werden kann. Dieses Klima hat mit der Gegenwartskultur2) zu tun, von der die Rede sein wird. Ungereimtheiten wecken das Interesse der Psychologen. Auch Gegenteiliges – zu viel gedankenloses Vertrauen – ist Patricia Schulte-Moser Head of Research, ZweiEinheit, Forschungsinstitut für Markt- und Kulturpsychologie, Berlin. SchulteMoser arbeitete zuvor in Werbeagenturen, war dann selbstständige Marktforschungsberaterin und hatte Lehraufträge an der University of Management and Communication und der Business School Potsdam. BVM EDITION Kongress-Special 2012 Wenn man mit tiefenpsychologischen Methoden untersucht, wie Vertrauensbeziehungen generell und bezogen auf Produkte und Marken funktionieren, erkennt man, dass Vertrauen etwas völlig anderes ist als ein Vorrat, der mehr oder weniger groß ist. Stattdessen stößt man auf regulierende Gefüge und spannungsvolle Verhältnisse. Wir stellen im Folgenden gemeinsame Befunde aus Studien3) der letzten fünf Jahre zu diesem Thema dar, die auf die Kulturpsychologie des Vertrauens hin extrahiert sind. Vertrauen bedeutet gegenseitige Verpflichtung Zuerst einmal ist Vertrauen der Aufbau einer gegenseitigen Verpflichtung. Eine Beziehung, eine Leistungszusage – zwischen Menschen oder Menschen und Marken / Institutionen – soll durch Vertrauen befestigt und dauerhaft gemacht werden. Vertrauen beginnt damit, dass jemand seine Bereitschaft, zu vertrauen oder vertrauenswürdig zu sein, ausdrücklich er- Professor Dr. Christoph B. Melchers Head of Research, ZweiEinheit, Forschungsinstitut für Markt- und Kulturpsychologie, Berlin, gründete gemeinsam mit Patricia Schulte-Moser im Jahr 2010 ZweiEinheit. Melchers lehrt Wirtschafts psychologie an der Business School Potsdam (FH), zuvor war er geschäftsführender Gesellschafter des ifm Wirkungen + Strategien. 15 BVM EDITION Kongress-Special 2012 16 klärt. Marken starten ihre Kundenbeziehungen mit solch einer Deklaration und wiederholen sie regelmäßig. Sie deklarieren ihre Vertrauenswürdigkeit, weil sie wollen, dass die Käufer ihnen ebenfalls vertrauensvoll begegnen. Wenn jemand erklärt, er wolle vertrauen und man könne ihm vertrauen, verpflichtet er den anderen, es ebenso zu halten. Man kann natürlich solche Deklarationen abgeben ohne die Absicht, sie einzuhalten. Beispiel: You can trust him like a friend: Social Media sind Ort massenhafter, völlig unverbindlicher Freundschaftsdeklarationen, die mit Vertrauen nichts zu tun haben. Es sei denn, die Beziehung bestand schon offline. Vertrauen ist eine Maßnahme der Vereinfachung und der Aufwandersparnis – allerdings um den Preis latenter Unsicherheit. Telefonprovider neigen zu viel Kleingedrucktem in ihrer Werbung. Damit nehmen sie die Bekundung von Vertrauen gleich wieder zurück. Das stört hier nicht sonderlich, weil viele Kunden ohnehin vorhaben, bei nächster Gelegenheit zum günstigeren Anbieter zu wechseln. Sie wollen nicht durch Vertrauen gebunden sein. Veränderungen bedrohen Vertrauensbeziehungen Vertrauensbeziehungen waren immer schon und sind vom Wandel bedroht. Veränderungen sind Feind der auf Dauer angelegten Vertrauensverhältnisse. Der Bruch des Vertrauens kann von beiden Seiten ausgehen – jederzeit. Jemand verliert das Interesse an einem Geschäft, weil ein besseres lockt. Wer die große Liebe fand, lernt jemand anderes kennen. Wer einer Marke vertraut, findet eine bessere. Als Kehrseite jeder Vertrauensbeziehung lauert Verrat. Vertrauen soll ein Bollwerk sein gegen die unausrottbare Macht der Veränderung. Der Gedanke an Verrat ist unterschwellig immer vorhanden. Weil Verrat übel ist, wird er oft tabuisiert und magisch zu bannen versucht: „Nicht daran denken”. Wird man Opfer solcher Wendungen, hat man guten Grund, sich kräftig zu beklagen. Man sollte meinen, gerade Finanzprodukte für die private Altersvorsorge seien vom Misstrauen gegenüber der Finanzbranche betroffen. Fühlen sich doch viele durch Überschussbeteiligungen weit unter den geweckten Erwartungen „verraten”. Doch wird von Personen, die sich aktuell mit Altersvorsorge befassen, wenig an der Vertrauenswürdigkeit der Versicherer gezweifelt. Bezweifelt wird, dass Altersvorsorge unter heutigen, sich ständig wandelnden Verhältnissen überhaupt machbar ist. Jedenfalls nicht mit den bekannten Versicherungsprodukten. Die sind dem Wandel nicht gewachsen. Von Anbietern erwartet man neue Produkte, die auch unter gestiegener Unabsehbarkeit ihr Versprechen halten. BVM EDITION Kongress-Special 2012 Bio-Foodprodukte sind trotz aller Siegel in hohem Maße Vertrauenssache und anfällig für Enttäuschungen. Zumal unklar definiert ist, was denn nun genau Öko ist. Viele Verwender sind jedoch an einer harten Definition gar nicht interessiert. Ein strenges Öko-Regime würden sie nicht durchhalten. Sie vertrauen ihrer eigenen Konsequenz bei der Öko-Verwendung wenig. Die Spielräume dessen, was Öko ist, halten viele Verwender paradoxerweise bei der Sache. Sie ersparen den ausdrücklichen Bruch des sich selbst gegebenen Versprechens, auf Öko umzusteigen. Vertrauen erfordert Bestätigung Weil Vertrauen von Natur aus eine kippelige Sache ist, muss man immer wieder Zeichen des Vertrauens geben und tut gut daran, auf solche zu achten. Für Vertrauen muss etwas getan werden. Es will unterhalten sein. So sollte man immer wieder deutlich machen: „Du kannst mir vertrauen. Ich bin mit unserer gemeinsamen Sache beschäftigt.” Aus solchen Zeichen besteht der Großteil der Markenpflege. Innovationen zeigen, dass eine Marke bestrebt ist, den Erwartungen der Kunden anhaltend zu genügen. Beispiele: Man schaut nach Zeichen vom Anderen und ist beunruhigt, wenn sie ausbleiben. Die Mineralölbranche gibt derzeit permanent Zeichen, man könne ihr keinesfalls vertrauen. Die Folgen für die Marken sind absehbar. Selbst hochseriöse große Automarken müssen durch großzügige Garantieversprechen erhärten, dass man ihnen vertrauen kann. Bei Automarken kommt hinzu, dass die Käufer ein Auto meist bis an die Schmerzgrenze rabattiert haben möchten. Sie machen sich nicht klar, dass sie damit die Glaubwürdigkeit von Vertrauensdeklarationen untergraben. Vertrauen dient der Vereinfachung Vertrauen ist eine Maßnahme der Vereinfachung und der Aufwandersparnis – allerdings um den Preis latenter Unsicherheit. Vertrauen erspart den Aufwand weitergehender Absicherungen. Die könnten in Form von hohem Informationsaufwand, ausgefeilten Verträgen kompliziert werden. Ist Vertrauen da, darf man mit bequemem Ablauf rechnen. Vertrauen ist eine Einrichtung der Kultur, die geeignet ist, das Leben angenehmer zu machen. Allerdings sollte man nicht zu viel Aufwand sparen. Gerne beklagen sich die, die es sich beim Vertrauen zu leicht gemacht haben. Eine wichtige Facette der Attraktivität von Social Media ist, Kontrolle bei Menschen auszuüben, denen man vertrauen möchte, oder sich zu versichern, dass sie auch nicht besser sind als man selbst. Eifrig spüren die User dem Wahrheitsgehalt von Selbstdarstellungen nach. Sie sind selbst interessiert, Daten anderer für eigene Zwecke zu nutzen. Vor diesem Hintergrund ist zu sehen, wenn Datenmissbrauch im Netz beklagt wird. 17 Vertrauen verspricht Vorteil und Belohnung Wer vertraut oder Vertrauen fordert, hat persönliche Vorteile im Sinn und erhält zudem die Gratifikation, an einer besseren Welt zu arbeiten. Man möchte einen geliebten Menschen sein Eigen nennen, mit Geld geholfen bekommen oder helfen, eine Ware sofort haben und später bezahlen. Vertrauen ist jedoch nicht nur egoistisch. Wer vertraut, gibt ein Beispiel, wie es in der Welt zugehen könnte, die dann besser wäre – was eine bedeutsame Belohnung für das Wagnis des Vertrauens sein kann. Die Vereinfachung des Lebens durch Vertrauen ist ein hohes Ideal. Ideale sind nicht die Wirklichkeit. Marken, die ihre Vertrauenswürdigkeit über lange Jahre erwiesen haben, sind etwas Kostbares. Beispiel: Durch Lifestyle-Positionierungen möchten Marken zeigen, dass sie mit ihren Angeboten an einer schöneren, genussvolleren, besseren Welt arbeiten. Seit Beginn der 90er Jahre ist der Eindruck entstanden, man zahle bei Lifestyle-Marken mangels substanzieller Leistung für Lifestyle-Blasen. Diesem Eindruck verdanken Handels- und Discountermarken ihren Aufstieg. Hier geht es um die pure Produktleistung. Man kauft nicht ein Flair oder eine Stimmung, sondern eine nachprüfbare Leistung. Wegen der Risiken des Vertrauens benötigt, wer vertraut, Nervenkraft und muss das Geschick haben, sich Hintertüren offenzuhalten. Gute Nerven sind vor allem beim Ausbleiben von Zeichen gefragt. Man sollte zu realistischen Urteilen fähig sein: Folge ich nur einem Marken-Hype, der durch Qualität nicht gerechtfertigt ist? Vertrauende treffen in der Regel Absicherungen für den Fall des Verrats. Ganz ohne Plan B lassen sich nur wenige Menschen auf pures Vertrauen ein. Handelsmarken sind der Plan B der Markenkäufer. Wer vertraut oder Vertrauen fordert, hat persönliche Vorteile im Sinn und erhält zudem die Gratifikation, an einer besseren Welt zu arbeiten. Vertrauen psychologisch und kulturell Psychologisch ist Vertrauen ein überpersonales seelisches System gegenseitiger Aneignung zwischen Personen oder Institutionen, zu denen auch die Marken gehören. Wenn es funktionieren soll, muss es bestimmten Bedingungen genügen. Das psychologische Vertrauens-Gefüge ist von Natur aus eine kippelige Angelegenheit. Jeder Beteiligte muss etwas dazutun und seinen Part erfüllen. Vertrauen hat mehrere Drehpunkte, an denen das Ganze kippen und scheitern kann. Zugleich aber ist Vertrauen bei aller Unvollkommenheit eine wohltuende kulturelle Errungenschaft, die allen Beteiligten das Leben erleichtert. Demgegenüber erscheint das aktuelle Begriffsverständnis als verfälschende Vereinfachung und wenig vertrauenerweckend. Wir folgen einem Idealisierungsbedürfnis und beschweren uns, dass die Welt nicht so ideal ist, wie wir es gerne hätten. Vertrauen ist von vorne herein nicht die lautere und moralisch einwandfreie Angelegenheit, als die es oft gilt. Von den kulturpsychologischen Hintergründen her muss man sagen, wir sind an der Wohltat funktionierender Vertrauensbeziehungen nicht so sehr interessiert. Mehr interessieren uns Chancen zum Wechseln – sei es im Spekulieren auf Maximalgewinn, Lebensabschnittspartnerschaften, dem Wechsel von Ernährungsstilen bis zum Markenswitch. Zugunsten der Flexibilität, immer wieder andere Verhältnisse eingehen zu können („Ein- und Auskuppeln”), hat sich Unlust am Dauerhaften und Konsequenten breitgemacht. Wir möchten zwar, dass man uns gegenüber das Vertrauen wahrt, sind jedoch selbst nicht bereit dazu. Die Kultur hat sich in eine Richtung entwickelt, die Vorteile intakter Vertrauensverhältnisse aushöhlt. Unsere aktuelle Wirtschaftskultur sehnt sich nach einer Restitution von Vertrauen. Nicht zufällig ist das Thema Nachhaltigkeit in den Vordergrund getreten. Marke als Vertrauensbeziehung Aus den Einsichten in das Funktionieren von Vertrauen ergeben sich Folgerungen, wie Marken sich in der aktuellen Situation verhalten sollten. Hier können nur allgemeine Hinweise gegeben werden. Die Bereitschaft zu einer Vertrauensbeziehung muss neu deklariert werden. Kontinuierlich müssen kommunikative und produktbezogene Zeichen gegeben werden, dass an der vertrauensvollen Beziehung zum Kunden anhaltend Interesse besteht. Die Vorteile einer stabilen Markenbeziehung sollten im Vordergrund stehen – nicht der Spaß am ständigen Ein- und Auskuppeln. Marken sollten glaubwürdig machen, dass sie und ihre Produkte wechselhaften Verhältnissen und Launen gewachsen sind. Mit einer vertrauensvollen Markenbeziehung lebt man bereits ein gesellschaftlich wichtiges Ideal. Mit einer Marke sollte ein substanzieller Vorteil verbunden sein und keine Lifestyle-Blase. Anmerkungen 1) Befunde zu Produkten und Branchen beziehen sich auf tiefenpsychologisch ausgerichtete empirische Untersuchungen aus den Jahren 2008 bis heute. 2) Mit Kultur gemeint ist hier die regulierende Gesamtgestalt der Gegenwartskultur. 3) Zitiert werden tiefen- und kulturpsychologische Untersuchungen von ZweiEinheit zu Marken und Produkten in den Bereichen Autos, Altersvorsorge, Biofood, Handelsmarken, Marken im 21. Jahrhundert, Smartphones, Social Media, Telekommunikationsanbieter, Zeitschriften uvam. BVM EDITION Kongress-Special 2012 Preisträger Best Paper 2012 18 Markenerleben Heike Kindel und Uwe Munzinger zu einer neuen Leitwährung in Markenführung und Markenforschung im post-digitalen Zeitalter „Milka eröffnet Tempel der Versuchung”, Horizont, 21. März 2012 Nach der „Bunten Schokowelt” von Ritter Sport, dem „Nivea Haus” in Berlin und Hamburg, Pop-up-Stores wie dem Schwarzkopf Store mit der „Lightbox by Karl Lagerfeld” oder Persil eröffnet nun auch Milka seine eigene dreidimensionale Markenerlebniswelt. Dies ist ein weiteres Beispiel für das „Aufrüsten” der Markenartikler im Kampf um die nicht alltäglichen, besonders attraktiven und intensiven Markenerlebnisse. Neben solchen eigens entwickelten Markenerlebniswelten wird der Point of Sale beziehungsweise der stationäre Handel zunehmend zum Ort der direkten Interaktion zwischen Mensch und Marke. Die Inszenierung von Einkaufs- und Erlebniswelten bietet einen Zusatznutzen in Form von Markengeschichten, Emotionen, Gemeinschaftsgefühl und Erlebnischarakter. Gleichzeitig wächst die Zahl der Interaktionen zwischen Menschen und Marke über digitale Kontaktpunkte rapide. Für Markenverantwortliche ist es elementar zu erfassen, welche analogen und digitalen Kontaktpunkte in welchem Maße das Erleben der eigenen Marke sowie der Marke der Wettbewerber bestimmen. Entscheidend ist aber nicht das einzelne Erlebnis, sondern die Summe aller positiven wie auch negativen, analogen oder digitalen, eigenen oder durch zweite Hand erfahrenen Begegnungen zwischen Mensch und Marke. Anders ausgedrückt: Das Markenerleben ist die Summe aller individuellen Marken erlebnisse. Die Mehrzahl der vielfältigsten Markenkontakte nehmen wir dabei nur flüchtig wahr und verarbeiten diese nicht explizit. Heike Kindel Manager Research & Intelligence, MUSIOL MUNZINGER SASSERATH, Berlin, betreut die strategischen Forschungsaktivitäten des Unternehmens. Kindel verfügt über langjährigeErfahrung in der strategischen Markenberatung und Marktforschung. BVM EDITION Kongress-Special 2012 Diese Vielzahl an bewussten und meist unbewussten, geplanten und auch unbeabsichtigten Erlebnissen prägt unser Bild von Marken und damit unsere Präferenzen. Letztendlich bestimmt das ganzheitliche Erleben von Marken unser Verhalten, nicht allein das rationale Verstehen jeder einzelnen Begegnung. Eine offensichtliche Herausforderung für die Markenführung ist es daher, besonders attraktive und intensive Markenerlebnisse zu schaffen sowie die Vielzahl der Markenbegegnungen im Sinne des gewünschten Markenerlebens widerspruchsfrei zu steuern. Die Relevanz von Markenerlebnissen für die Prägung von Einstellung und Verhalten der Menschen gegenüber Marken und die Differenzierung im Wettbewerb macht das Markenerleben zur neuen Leitwährung der Markenführung. Die Markenerleben-Perspektive erlaubt eine neuartige Sicht auf zentrale Aspekte der Markenführung und ist die Grundlage eines zeitgemäßen Denk-, Forschungs- und Steuerungssystems. Die Markenerleben-Perspektive impliziert dabei drei zentrale Aufgabenfelder: Das Messen des Markenerlebens und des Beitrags verschiedener Arten von Markenerlebnissen. Das Wissen, welche Rolle die verfügbaren Kanäle für die eigene Marke und das Markenerleben in der Kategorie spielen. Das Erlebbarmachen von Marken auf Basis von Messen und Wissen. Uwe Munzinger Geschäftsführer, MUSIOL MUNZINGER SASSERATH, Berlin, startete seine berufliche Laufbahn bei der GfK Gruppe im Bereich der internationalen Werbeforschung. Bei der BBDO Gruppe war er erster Geschäftsführer für Strategische Planung und Research für Europa, danach Geschäftsführer und Gesellschafter von icon Brand Navigation (heute: Icon Added Value) und ist Mitbegründer des Unternehmens Musiol Munzinger Sasserath in Berlin. 19 Messung des Markenerlebens Für Markenverantwortliche ist es elementar zu erfassen, welche analogen und digitalen Kontaktpunkte in welchem Maße das Erleben der eigenen Marke sowie der Marke der Wettbewerber bestimmen. Denn nur was man messen kann, kann man auch steuern. Bisherige Ansätze bewerten meist nur die Auswirkungen des Markenerlebens, wie Klickraten, Abverkäufe, Fanzahlen auf Facebook, Kaufabsichten, Empfehlungsbereitschaften etc. sammenhänge und lassen keine Vergleiche zwischen Kanälen zu. Um eine Marke ganzheitlich steuern und die richtigen Marken-Investment-Entscheidungen treffen zu können, ist es aber notwendig, die einzelnen Kontaktpunkte nicht isoliert, sondern in ihrer Gesamtheit zu betrachten und ihren jeweiligen Beitrag zum Markenerleben als Steuerungskenngröße zu ermitteln. Dafür bedarf es einer einheitlichen Währung, die für jede Art von Markenerlebnis gilt und valide mit tatsächlichen Marktentwicklungen korrespondiert. Alle diese Wirkungsmaße haben natürlich ihre Daseinsberechtigung, um die Performance einzelner Kanäle zu evaluieren. Aber sie geben keinen Aufschluss über Wirkungszu- Ein innovatives, empirisch fundiertes Markenerleben-Steuerungssystem ermöglicht es, jede Art von Begegnung zwischen Menschen und Marken – egal ob analog oder digital, BVM EDITION Kongress-Special 2012 20 medial oder non-medial – in einer gemeinsamen „Währung” zu quantifizieren und in Bezug zu den Investments zu stellen. Diese Währung ist das Markenerleben der Menschen. Damit lässt sich in einer kontaktübergreifenden Währung aufzeigen, welche Kontakte maßgeblich das Markenerleben prägen und welchen Return einzelne Aktivitäten tatsächlich erzielen: Welchen Anteil am Markenerleben hat die TV-Kampagne im Vergleich zum Facebook-Auftritt, welchen Beitrag leistet der Online-Shop im Vergleich zur Empfehlung von Freunden oder Bekannten? Oder im Vergleich zu einem Bericht von Stiftung Warentest oder dem Sponsoring von Events? gruppen mit relevanten Bezugsgruppen besteht, werden alle Kanäle, über die man eine Marke im Kontext der „Customer Journey” erleben oder mit ihr in Kontakt treten kann, erfasst und bezüglich ihrer Relevanz im Kaufentscheidungsprozess bewertet. Konkretes Vorgehen Am Anfang des Prozesses steht die Definition der strategischen Markenplattform mit der Markenerleben-Dreiheit Inhalt, Signal, Kanal. An dem Punkt, an dem Mensch und Marke aufeinandertreffen, werden Informationen übermittelt, und zwar die Informationen einer Marke: Wofür steht eine Marke, welche Leistungen bietet sie, welchen Charakter hat sie und welche Signale machen eine Marke unverkennbar. An jedem Kontaktpunkt erlebt der Mensch über verschiedene Kanäle die spezifischen Inhalte und Signale einer Marke. Die Betrachtung und Bestimmung des Erlebens einer Marke geht daher über eine reine Kontaktpunktbetrachtung hinaus und führt immer über die Markenerleben-Dreiheit, die in einem empirischen Prozess abgebildet wird. Die Relevanz jedes Kanals wird mithilfe von drei Wirkdimensionen bestimmt: Information, Attraktivität und Überzeugungskraft. Dabei wird eine Fragetechnik benutzt, die nicht die postrationalen Einschätzungen erfasst, sondern auf einer für Befragte einfachen, aber ausgeklügelten Systematik („Bauchgefühl”) beruht, die explizite und implizite Dimensionen berücksichtigt und das Erleben über die drei zentralen Wirkgrößen erfasst. Im Folgenden konzentrieren wir uns aus Gründen der Klarheit der Darstellung ausschließlich auf die Messung der Kanäle, die sozusagen als „Träger” für Inhalte und Signale funktionieren. Für diese Evaluation der Kanäle nutzen wir den von Integration (IntegrationTM-IMC) entwickelten MCA (Market Contact Audit)-Ansatz, den wir für unsere Zwecke spezifisch adaptiert bzw. weiterentwickelt haben. Die Betrachtung und Bestimmung des Erlebens einer Marke geht über eine reine Kontaktpunktbetrachtung hinaus und führt immer über die Markenerleben-Dreiheit, die in einem empirischen Prozess abgebildet wird. Wesentlich für die Steuerung des Markenerlebens ist das Verständnis der relevanten Kontaktpunkte in einer Kategorie und für die verschiedenen Zielgruppen. Jede Kategorie funktioniert hierbei nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Ist beim Autokauf die Probefahrt ausschlaggebend, ist bei der Anschaffung von Technik der Produkttest der wichtigste Kanal. Bei Tankstellen hingegen spielt der Sanitärbereich eine sehr wichtige Rolle. Für jede Kategorie ist es daher notwendig, die relevanten Kanäle zu identifizieren. In einer qualitativen Vorstufe, die zum einen aus Interviews mit Unternehmensvertretern und zum anderen aus FokusBVM EDITION Kongress-Special 2012 Aus dieser Liste, die nicht selten 80 Kanäle und mehr enthält, werden die 36 relevantesten Kanäle ausgewählt und in einer quantitativen Online-Studie sowohl bezüglich ihrer Relevanz als auch ihrer Reichweite beziehungsweise ihrer Leistung in der Wahrnehmung der Marke evaluiert. Diese Wirkgrößen tragen auf unterschiedliche Weise zum Markenerleben bei, so dass die individuelle Leistungsfähigkeit der verschiedenen Kanäle bezüglich der kognitiven, affektiven und konativen Wirkweise durchaus stark variieren kann. Das Maß für die individuelle Relevanz eines Kanals ist der sogenannte Kanal-Relevanz-Faktor, der die Vergleichbarkeit aller Kanäle – egal ob medial oder non-medial, digital oder analog, direkt oder indirekt – gestattet. Ergebnis dieser Analyse ist ein Ranking aller Kanäle nach Wichtigkeit. Die Reichweite beziehungsweise Performance jeder Marke auf diesen Kanälen wird durch die Assoziationen einer Marke und deren Wettbewerber über jeden einzelnen Kanal quantifiziert. Ermittlung des Markenerlebens Zur Berechnung der Größe des Markenerlebens wird der Relevanz-Faktor eines Kanals mit dessen Reichweite beziehungsweise Wahrnehmungshäufigkeit kombiniert und in sogenannten Markenerlebnispunkten (MEP) ausgegeben. Die Markenerlebnispunkte über alle 36 Kanäle hinweg bilden die gesamte Größe des Markenerlebens einer Marke. Die Größe des Markenerlebens einer Marke entspricht dem psychologischen Marktanteil einer Marke in einer Kategorie und korreliert äußerst hoch (Ø r = 0.8 – 0.9) mit den realen Marktanteilen. Dieser Zusammenhang wurde mehrfach von unabhängigen Quellen (wie INSEAD oder der ARF) bestätigt und entspricht unseren eigenen Erfahrungen in Kategorien wie LEH, Mode, PKW, Technologie, Telekommunikation oder Energie. Für jeden Kanal und jede Kanalkategorie kann nun der Anteil am gesamten Markenerleben einer Marke ermittelt und in Bezug zu den Wettbewerbsmarken gestellt werden. Verfügt jede Kategorie über ihre spezifische Relevanz von Kanalkategorien, ist jedoch allen Kategorien gemein, dass zehn Kanäle bereits 21 50 Prozent des gesamten Markenerlebens einer Marke ausmachen. Effizienz der Kanäle Durch die Gegenüberstellung der erzielten Markenerlebnispunkte (MEP) und der getätigten Investitionen lassen sich präzise Input-/Output-Berechnungen anstellen, die die Effizienz und Effektivität jedes einzelnen Kanals bestimmen und den jeweiligen Return on Brand Investment analysieren. Diese ROBI-Berechnungen ermöglichen den sinnvollen Einsatz von Budgets und die gezielte Steuerung der Markenaktivitäten. Markenerleben maximieren Auf Basis der Erkenntnisse des Markenerleben-Steuerungssystems konnte z.B. Takko Fashion durch die gezielte Optimierung der wirkungsvollsten Kanäle in der Kategorie und die sinnvolle Verknüpfung von relevanten und reichweitenstarken Kanälen seinen Anteil am Markenerleben der Kategorie sowie seinen Marktanteil im Markt der Fashion Discounter deutlich steigern. Marken transmedial erlebbar machen Das Verständnis der Wirkungsweise einzelner Kanäle in einer Kategorie ist die Basis, um eine Marke erlebbar zu machen und effizient und effektiv zu steuern. Dabei spielt im digitalen Zeitalter insbesondere die transmediale Verknüpfung analoger und digitaler Kontaktpunkte eine zentrale Rolle. Was kompliziert klingt, ist in der Praxis manchmal ganz einfach. Nehmen wir ein triviales Produkt wie Suppe. Durch einen einfachen Link oder QR-Code auf der Packung beziehungsweise Dose öffnet sich dem Anwender eine virtuelle Welt zu einer kreativen Koch-Community, mit Rezepten, Kochkursen, Tipps, Anleitungen etc. Finden diese Anregungen ihren Weg aus dem Internet zurück in die heimische Küche, ist der Weg vom analogen Produkt in die virtuelle Welt und zurück in die Küche gelungen. Die Marke Progresso ist diesen Weg gegangen und hat mit „The Idea Pantry” einen Weg geschaffen, den Kunden einen Mehrwert zu bieten und damit das Markenerleben einer einfachen Suppe deutlich zu erweitern. Bei der Analyse des Markenerlebens in einer Kategorie geht es deshalb auch nicht ausschließlich um die Betrachtung und Bewertung einzelner Kanäle, sondern um die Identifikation von Möglichkeiten für geeignete Verknüpfungsstrategien, die impactstarke beziehungsweise intensive, aber reichweitenschwache Kanäle mit solchen mit schwächerem Impact, aber hoher Reichweite verknüpfen. Das folgende Praxisbeispiel einer besonders gelungenen Verknüpfung von (analogem) Impact und (digitaler) Reichweite, die Einführung des Mini „Countryman” in Schweden, soll dieses Prinzip illustrieren. In Stockholm hatte während der Launch-Aktion „Getaway” jeder die Möglichkeit, via iPhone und einer App den neuen Mini Countryman zu „jagen”. Quasi eine reale Jagd auf einen virtuellen Mini, um einen echten zu gewinnen. So funktionierte das Ganze: Mit Hilfe der App, wel- che die eigene Position mittels GPS ermittelte, musste man sich auf mindestens 50 Meter dem virtuellen Mini nähern und diesen dann „schnappen”. Dann hieß es wegzukommen und keinen anderen Teilnehmer mehr als 50 Meter an sich heranzulassen. Der am Ende erfolgreiche Jäger gewann schließlich einen echten Mini Countryman. Was kompliziert klingt, ist in der Praxis manchmal ganz einfach. Nehmen wir ein triviales Produkt wie Suppe. Durch einen einfachen Link oder QR-Code auf der Packung beziehungsweise Dose öffnet sich dem Anwender eine virtuelle Welt zu einer kreativen Koch-Community … Die Mechanik funktionierte folgendermaßen. Zunächst wurde ein Film auf YouTube gepostet, der die App erklärte. Dieser Film wurde in kurzer Zeit mehr als 100.000 Mal gesehen. Im Radio wurde in der Woche vor der Kampagne und während der Aktionswoche jeden Tag über die Aktion berichtet. Zusätzlich gab es eine Kooperation mit „Tejbz”, einem der erfolgreichsten und bekanntesten Gamer mit Hunderttausenden Follower, Liker und Abonnenten auf seinen Social Media-Präsenzen. Außerdem wurde traditionelle Radio- und Anzeigenwerbung geschaltet, um auf die Aktion aufmerksam zu machen. Die Resultate: Während der Aktionswoche nahmen 11.413 Menschen vor Ort in Stockholm teil und hatten ein extrem intensives Markenerlebnis. Die durchschnittliche Spieldauer betrug über 5 Stunden pro Person. Hunderttausende Menschen aus mehr als 90 Ländern verfolgten die Aktion über die Webseite minigetawaystockholm.com und generierten somit eine globale Reichweite für das lokale Erlebnis. Die Verkäufe des Mini stiegen nach Unternehmensangaben im ersten Quartal nach der Aktion um 108 Prozent (Rekord in Schweden). Der Mini-Countryman-Launch ist ein schönes Beispiel, wie sich ein extrem intensives, analoges Erlebnis für eine begrenzte Zahl von Menschen mit reichweitenstarken digitalen Kanälen verknüpfen lässt und so globale Aufmerksamkeit erfährt. Fazit Das Markenerleben, verstanden als die Summe aller analogen und digitalen Begegnungen zwischen Mensch und Marke, wird im digitalen und postdigitalen Zeitalter die Leitwährung in der Markenführung sein. Gewinnen werden die Marken, die es verstehen, das Markenerleben präzise zu messen, kreativ und effektiv zu managen und letztendlich zu maximieren. Eine spannende Zukunft für Markenführung und Markenforschung. BVM EDITION Kongress-Special 2012 22 Web 2.0 = Markenführung 2.0 Christoph Prox, Icon Added Value, zur Frage, ob morgen alles anders wird Sind Sie lieber auf Xing oder auf Linked-in? Oder doch auf Facebook? Selbst wenn Sie den Netzwerken noch widerstehen, wann haben Sie zuletzt nach Rezensionen geschaut bei der Buchung einer Urlaubsreise, beim neuen Auto, der Stereoanlage, der Fotokamera oder dem Staubsauger? Vielleicht haben Sie mit alldem ja nach wie vor nichts zu tun, dann allerdings gehören Sie einer aussterbenden Spezies an. Täglich gehen auf Wordpress 50.000 Blogs online, Unternehmen wie Metro, Yello, Jack Wolfskin oder adidas haben 2011 Corporate Blogs eröffnet. Und auch wenn der Börsengang von Facebook wohl nicht als der große Erfolg tituliert werden kann, den Mehrwert von Facebook für die europäische Wirtschaft taxierte Deloitte kürzlich mit 15,3 Mrd. Euro. Die Zeiten, da eine Marke einmal sauber durchdekliniert wurde und das umgesetzt wurde und dann alle paar Jahre ein MarkenRelaunch kam, sind für die meisten vorbei. Heute gilt: Always on. Das bedeutet, dass Marken keine statischen Gebilde mehr sind, sondern zu aktiven, pulsierenden Systemen werden sollten, die in Kontakt mit ihren Zielgruppen treten. Warum ist das alles für die Markenführung so relevant? Relevant ist das deswegen, weil diese Entwicklung gesellschaftliche Implikationen hat. Weil sich nicht nur die Medienlandschaft und die Technologie ändern, sondern mit ihr auch das Verhalten der Menschen und wie sie ihr Markenwissen erwerben. Die Art der Informationsaufnahme – das Kurze, Komprimierte, Gehetzte – ist zum allgemeinen Standard geworden. Die Geduld sinkt, die Bereitschaft, sich mit etwas in der Tiefe auseinanderzusetzen, ebenso. Gleichzeitig steigt die Reizschwelle, die überschritten werden muss, um überhaupt noch wahrgenommen zu werden. Bewertungen und Empfehlungen ersetzen die eigene Meinungsbildung, Marken verlieren in einzelnen Bereichen bereits die Hoheit über Qualitätsversprechen. Christoph Prox CEO und Mitglied des Global Management Board der Icon Added Value Group, Nürnberg, startete seine berufliche Karriere bei einer internationalen Unternehmensberatung. Seit 1994 ist er bei Icon Added Value in Nürnberg tätig. BVM EDITION Kongress-Special 2012 Inwiefern ändern Internet und die neuen Medien die Gesellschaft? Die sozialen Medien bieten das, was man eigentlich unter Kommunikation versteht, nämlich Austausch, Konversation. Sie entwickeln sich deswegen so rasant, weil sie die Bedürfnisse der Menschen nach sozialer Interaktion und Unterhaltung bedienen. Märkte werden daher immer stärker durch situativen Austausch geprägt. Vernetzung als neue Form der sozialen Ordnung. Urteilsbildung wird von einem individuellintuitiven zu einem statistischen sozialen Vorgang. Man wählt, was die besten Bewertungen bekommt. Das geht einher mit einem veränderten Bewusstseinszustand: Ein Strom aus Anreizen und Informationen, die uns wichtig sind. Ein persönlicher Informations- und Lebensfluss, der sich dynamisch verändert. Der Lese- und Verarbeitungsvorgang gleicht hier eher einem schnellen, intuitiven Scannen und Filtern von Informationen. Wobei der Strom interaktiv ist. Mit Posts, Kommentaren oder Klicks beeinflussen wir die Fließrichtung und -geschwindigkeit. In Zukunft wird das Netz recht genau wissen, was uns interessiert. Es wird den Strom intelligent mit personalisierten Informationen, Dokumenten, Terminen und Vorschlägen füttern. Beruflich wie privat. Dieser personalisierte Informationsstrom wird von überall aus zugänglich sein. Fast immer auf Standby, gewissermaßen „Always in”. Für was auch immer wir uns interessieren, die Informationsfülle wird es erlauben, sich endlos mit den „HighInvolvement”-Themen zu beschäftigen. Da der Tag aber auch in Zukunft leider nur 24 Stunden haben wird, werden ZweiteReihe-Themen leiden und alles andere genauso wenig Zeit abbekommen wie bisher. Das bedeutet aber umgekehrt, dass für diese Themen „mentale Abkürzungen”, die die Entscheidungsprozesse vereinfachen – und das sind Marken ja nun einmal –, relevant bleiben oder noch relevanter werden. Wissen wird als Erfolgsfaktor weniger wichtig. Somit wird sich auch das Erlernen von Informationen ändern. Es wird oberflächlicher, schneller, kürzer. Wie Mittelstraß schon in den 90ern prophezeit hat: Wir werden zu Informationsriesen und Wissenszwergen. Aktionismus und Herdentrieb ersetzen überlegtes Handeln. 23 BVM EDITION Kongress-Special 2012 24 Soziale Medien. Die Antwort auf alles? Es gibt keine allgemeingültige Antwort auf die Relevanz der sozialen Medien für die Markenführung. Es ist tatsächlich von Kategorie zu Kategorie unterschiedlich. Nachvollziehbar, aber wenig hilfreich. Wir haben daher ein Systematisierungsraster erarbeitet, das zeigt, welches Potenzial soziale Medien aus dem Stand entwickeln können. Auf der Y-Achse der Abbildung 1 ist Involvement, auf der X-Achse die Erklärungsbedürftigkeit abgebildet. Der Faktor Involvement: Das Web ist – im Gegensatz zum Fernsehen – ein Aktiv-Medium. Ich beschäftige mich mit den Themen, die mich interessieren. Den Rest blende ich aus. Der Faktor Erklärungsbedürftigkeit: Unabhängig vom Involvement gibt es Themen, bei denen ich mich auskenne oder die so simpel sind, dass ich sie auch ohne Hilfe verstehe. Und solche, wo es etwas komplizierter wird – technische Zusammenhänge, oder komplexere Dienstleistungen. Hier kann ein wenig Aufschlauen nicht schaden. Vier konkrete Handlungsempfehlungen: 1. Etablieren Sie ein Notfall-Team Auch wenn Sie nichts im Bereich soziale Medien unternehmen wollen, sollten Sie auf jeden Fall ein „Notfall-Team” etablieren. Denn auch das beliebteste Unternehmen kann in eine WebKrise geraten. Und dann muss schnell und professionell gehandelt werden. Klassische hierarchische Abstimmungsprozesse funktionieren dann nicht mehr, weil die zu bearbeitende und beantwortende Flut an Meldungen die Kapazität von einzelnen oder einer PR-Abteilung bei weitem übersteigt. Und in Echtzeit reagiert werden muss. Abbildung 1: Systematisierungsraster 97 17 106 R G B R G B High Involvement 188 169 192 148 193 31 90 0 80 140 140 140 178 178 178 Alkohol Parfüm Bekleidung & Accessoires Bio/Functional Food 91 92 94 255 255 255 Wie schnell man in eine Krise geraten kann, in der man sich einen solchen Notfallplan wünscht, zeigt der neueste Fall um Hipp’s Instant-Tee für Kleinkinder, der sich statt als Durstlöscher für Kinder, wie eigentlich beworben, als Zuckerbombe und damit als nur gelegentlich zu verzehrende Süßigkeit entpuppte. Für das bis dato als vertrauenswürdig geltende Unternehmen war das ein handfester Skandal, für den es sogar den „Goldenen Windbeutel 2012” erhielt. Also: Wählen Sie geeignete Mitarbeiter aus und schulen Sie diese entsprechend. Und entwickeln Sie einen Notfallplan. Automobil Computer Telko-Endgeräte Reisen Hobby 230 64 151 Erklärungsbedürftig Selbsterklärend Food Non-Food-Konsumgüter 110 70 100 2. Passen Sie Ihre Schlagzahl der neuen Welt an Markenführung wird agiler und dynamischer. Die Zeiten, da eine Marke einmal sauber durchdekliniert wurde, das umgesetzt wurde und dann alle paar Jahre ein Relaunch kam, sind für die meisten vorbei. Auch hier gilt: Always on. Das bedeutet, dass Marken keine statischen Gebilde mehr sind, sondern zu aktiven, pulsierenden Systemen werden sollten, die in Kontakt mit ihren Zielgruppen treten und mit diesen bestenfalls interagieren – die vor allem im High-Involvement-Bereich neue Impulse setzen müssen, um interessant und im Gespräch zu bleiben. Und im Low-Involvement-Bereich immer wieder aktualisieren müssen, um in den Köpfen zu bleiben. Das heißt auch, dass Marken interessant und facettenreich sein müssen, dass sie in der Lage sein müssen zu überraschen. Ein sehr enges Korsett ist dabei schädlich. Es geht in Zukunft weniger um rigide, detailliert durchdeklinierte „executional mandatories” als um Kohärenz. 220 220 220 Versicherungen Banken Energie Telko-Provider 180 130 140 0 172 182 253 185 39 200 223 137 148 214 218 Low Involvement Hohe Bedeutung für die Markenführung haben die sozialen Medien im Feld „High Involvement / Erklärungsbedürftig”: Die Menschen interessieren sich für die Produkte und wünschen sich mehr Informationen. Im Feld „Low Involvement / Selbsterklärend” gibt es dieses Bedürfnis nur, wenn konkrete Entscheidungen anstehen. Schwierig wird es im Feld „Low Involvement / Erklärungsbedürftig”: Die Produkte und ihre Absendermarken sind eher einfach und zusätzlich nicht besonders interessant. Die Produkte im Feld „High Involvement / Selbsterklärend” sind einfach, üben aber mehr Faszination und daher mehr Anziehungskraft aus. Zentral bleibt: Wer Menschen erreichen will, muss ihnen einen relevanten Nutzen bieten. Bei erklärungsbedürftigen Produkten kann der Absender mit geeigneten Serviceangeboten helfen. Ist das Involvement noch entsprechend hoch, bestehen hier tatsächlich Chancen für eine kontinuierliche Interaktion mit der Marke. Wenn dann der Bausparvertrag aber einmal abgeschlossen ist, der Stromtarif umgestellt oder das DSL-Netz läuft, ist es mit der Interaktion allerdings fürs Erste vorbei. Schwierig wird es, wenn wenig zu erklären oder zu helfen ist. Wenig Menschen interessieren sich ernsthaft für die Ingredienzien von Knäckebrot. Hier muss man auffallen, kreativ sein, häufig unterhalten – aber das bitte mit Bezug zum Markenversprechen. BVM EDITION Kongress-Special 2012 Die sozialen Medien bieten das, was man eigentlich unter Kommunikation versteht, nämlich Austausch, Konversation. Sie ent wickeln sich deswegen so rasant, weil sie die Bedürfnisse der Menschen nach sozialer Interaktion und Unterhaltung bedienen. Aber werden Sie nicht zu Aktionisten. Es gilt, die Zügel noch selbst in der Hand zu halten und nicht zum Getriebenen zu werden. Desaster-Check und Trendmonitoring: Ja. Permanentes Feedback über die Beobachtung und Auswertung dieser Rund-um-die-Uhr-Kommunikation hält Sie aber von dem ab, was Sie eigentlich tun sollten. 25 3. Hauchen Sie Ihrer Marke Leben ein Und damit wird ein vielfach vernachlässigtes und unterschätztes Thema immer wichtiger: Markenpersönlichkeit. Heute häufig als Appendix oder lästige Pflichtübung der Markenführung betrachtet, ergeben sich hier tatsächlich Chancen zur Differenzierung und Aktivierung. Allerdings nicht, wenn man es mit den üblichen Worthülsen wie „jung, dynamisch, weltoffen” oder „seriös, kundenorientiert, modern” versucht. Das ist nicht nur beliebig, es wird auch von zehn am Markenführungsprozess beteiligten Personen unterschiedlich verstanden werden. Beste Voraussetzungen also für eine stringente Umsetzung. Es geht auch anders. Eine Marke ist ein Produkt mit Persönlichkeit. Der Charakter ist die Klammer für die Markenidentität. Wenn er stimmig und spezifisch definiert ist, können Sie aus ihm einen großen Teil des Markenversprechens und auch der Signatur-Elemente ableiten. Wichtig ist, dass die Markenpersönlichkeit holistisch wird, dass Sie sich der Person quasi gegenüber sehen. Wenn Sie eine solche Markenpersönlichkeit aus Fleisch und Blut entwickelt haben, hat das gleich mehrere Vorteile: Sie wird tatsächlich weitgehend einheitlich gesehen und kann damit auch konsistent über Marketing-Mix-Elemente und Touchpoints umgesetzt werden – egal wer dafür verantwortlich ist. Auch kann sie viel leichter in die Zukunft geführt werden und sich weiterentwickeln. Wie Menschen eben auch. Wir arbeiten hier in der jüngsten Zeit verstärkt mit Archetypen. Kein neues Denkmodell, aber in seiner praktischen Anwendbarkeit deutlich optimiert. Das Grundmodell unterscheidet zwischen 12 Archetypen, wie dem Weisen, dem Entdecker, dem Magier oder dem Herrscher – was zur Entwicklung von Markenpersönlichkeiten zu undifferenziert wäre. Wenn Sie aber den primären und sekundären Archetyp einer Marke kombinieren, erhalten Sie 132 unterschiedliche Varianten – beileibe genug, um sehr spezifische Persönlichkeiten zu definieren. Damit das nicht zu abstrakt bleibt, zwei Beispiele. Zum einen Mini: Die Persönlichkeit ist hier am ehesten eine Kombination aus drei Archetypen: Rebell, Spaßvogel und Unschuldiger. Also ein wenig keck, schlagfertig, und immer gut drauf. Und jemand, dem man einfach nichts übel nehmen kann. In Kombination ergibt das so etwas wie den „charmanten Draufgänger”. Eine solche Marke kann keine Sänften bauen, auch keine Vernunftautos. Sondern Autos, die Spaß mit einer gewissen Coolness verbinden, bei denen ein „vernünftiges Maß an Unvernunft” eine Dosis Eskapismus aus dem Alltag garantiert. Das funktioniert auch in anderen Branchen, z.B. im Finanzdienstleistungsmarkt. Die Deutsche Bank ist in der ArchetypKombination so etwas wie Herrscher und Held. Held weniger in der Ausprägung des selbstlosen Feuerwehrmanns als des unerschrockenen Kämpfers. Daraus wird dann ein Feldherr: Staatsmännisch, autoritär, weltgewandt, leistungsorientiert bis zur Rücksichtslosigkeit, nach innen wie nach außen – in Deutschland stark über den ehemaligen CEO Ackermann definiert. Daraus lassen sich Versprechen wie „kühle Professio- nalität”, „Streben nach Exzellenz”, „für Menschen mit hohen Ansprüchen”, „Exklusivität” oder „Auswahl international führender Produkte” fast zwingend ableiten. Dazu ein – trotz des handgeschriebenen Leistungsversprechens „Leidenschaft” – eher kühler, souveräner, reduzierter Auftritt. In Summe macht sie das zu einer der wohl polarisierendsten Finanzdienstleister-Marken überhaupt. Für manche untragbar. Für andere alternativlos. 4. Leben Sie Ihre Marke im Unternehmen Mit der Dynamisierung der Marke und dem Ansteigen der Touchpoints werden mehr und mehr Mitarbeiter mit der Außenwelt interagieren und somit zum Markenbotschafter. Damit das geschehen kann, muss allerdings die Markenidentität im Unternehmen zunächst verstanden und verinnerlicht werden. Warum? Wenn eine Marke ständig neue Impulse setzen soll, muss klar sein, wofür sie steht. Was zur Marke passt, und wo ihre Grenzen sind. Marke durfte nie komplex sein. Jetzt aber gibt es ein explizites Postulat nach Einfachheit. Mit der Dynamisierung der Marke und dem Ansteigen der Touchpoints werden mehr und mehr Mitarbeiter mit der Außenwelt interagieren und somit zum Markenbotschafter. Zum einen, weil die Welt sich so schnell dreht, dass für um die Ecke Gedachtes keine Zeit mehr ist. Zum anderen, weil die Marke vom Unternehmen als Ganzes verinnerlicht werden muss, nicht nur von Marketing und Vertrieb, und als Bestandteil der Unternehmenskultur internalisiert. Der Unterschied zu einem stärker monolithisch-statischen Markenverständnis ist, dass die Markenidentität eher als Korridor, denn als Punkt beschreibend verstanden werden muss. Das ist eine Evolution des Verständnisses von Markenidentität. Ein Beispiel – Dell hat aus schlechten Erfahrungen gelernt. Vor wenigen Jahren sind sie noch selbst an den Pranger gestellt worden, für zu passives, arrogant-ignorantes Verhalten. Inzwischen ist Dell zu einem der Vorreiter in der Nutzung der sozialen Medien geworden – und darin, wie man damit organisatorisch umgeht. Social Media Reps finden sich in der gesamten Organisation, von Marketing über Service bis zu HR. Mittlerweile gibt es eine fünfstellige Anzahl von Mitarbeitern, die Dell als Official Social Media Rep nach außen vertreten dürfen – dezentrale Markenführung par excellence. Fazit Nein, die neuen Medien sind nicht die Antwort auf alles. Aber sie haben die Welt, wie wir sie kennen, gehörig aufgewirbelt. Markenführung morgen wird tatsächlich mehr und anders sein müssen als Markenführung gestern. Eine ganze Reihe von Spielregeln ändert sich – wir dürfen gespannt sein, wer sie am schnellsten und besten lernt. Intelligente Forschung wird dabei sicherlich nicht schaden. BVM EDITION Kongress-Special 2012 Nominiert für das Best Paper 2012 26 TRI*M Digital Reputation Manager Dr. Peter Pirner, Dr. Steffen Hermann und Susanne Klar, TNS Infratest, zur Steuerung der Unternehmensreputation durch Verknüpfung von Social-Media-Monitoring, Stakeholder- Befragung und Digital Lifestyle Segmentierung Der TRI*M Digital Reputation Manager (TRI*M DRM) ist ein neuer Ansatz, um Unternehmen bei der Messung der Online-Reputation, der Bewertung ihres Einflusses auf die Unternehmensreputation und der anschließenden gezielten Kommunikation zu unterstützen. Dabei wird Social-Media-Monitoring mit einer klassischen TRI*M-Befragung bei Stakeholdern und mit der globalen Studie TNS Digital Life zum Internetverhalten verknüpft.1) Noch nie konnten Stakeholder so schnell und so direkt Einfluss auf die Reputation von Unternehmen nehmen wie im heutigen Social-Media-Zeitalter: Über 800 Millionen Facebook-Nutzer weltweit, Millionen Facebook-Fans verschiedenster Unternehmen und Organisationen, 155 Millionen versendete Tweets (Twitter-Nachrichten) pro Tag, Milliarden von Beiträgen in Foren, Blogs und Chats. Die eigene Meinung über Unternehmen und Produkte zu veröffentlichten ist zum Massenphänomen geworden. Mit den entsprechenden Risiken und Nebenwirkungen, aber eben auch den Chancen müssen sich die Kommunikationsstrategen in Unternehmen und Agenturen auseinandersetzen. Die klassische soziodemografische Segmentierung von Zielgruppen reicht nicht aus, wenn auch digitale Kommunikationsstrategien abgeleitet werden sollen. Diese gefühlte Verlagerung der Meinungsmacht führte in vielen Unternehmen zunächst zu einer gewissen Hilflosigkeit. Manche ignorieren negative Äußerungen im Internet bis heute. Andere sind in einen „blinden” Aktionismus verfallen, sobald in Blogs, Chats, Foren oder sozialen Netzwerken negative Dr. Peter Pirner Global Director, TRI*M Centre, TNS Infratest, München arbeitet seit 1998 bei TNS Infratest. Vor seiner Arbeit im Global TRI*M Center war er als Key Account Manager in der Finanzmarktforschung und als Business Area Manager in der Automobilmarktforschung tätig. BVM EDITION Kongress-Special 2012 Kommentare über sie geäußert wurden – dies, ohne die Relevanz der Beiträge für ihre Reputation wirklich einschätzen zu können. Wiederum andere messen bereits ihre Unternehmensreputation und deren wichtigste Treiber durch Befragung ihrer Stake holder, beschränken sich aber auf die Offline-Welt. Damit ignorieren sie die potenziellen Einflüsse von online verbreiteten Themen auf die für sie wichtigen Stakeholdergruppen wie zum Beispiel aktuelle und potenzielle Kunden, Mitarbeiter, Shareholder, Lieferanten oder Vertriebspartner. Strategische Überlegungen zum (digitalen) Reputationsmanagement Die Unternehmensreputation ist eine zentrale Zielgröße der PR und Unternehmenskommunikation sowie ein zentraler Faktor in der Umsetzung von Wachstumsstrategien und hat daher große strategische Bedeutung. Wie eingangs dargestellt wird die Reputation eines Unternehmens zunehmend durch die veröffentlichte Meinung im Internet beeinflusst. Blogs, Tweets, Chats, Kommentare in Foren und in Social Networks wie Facebook gelten vielen PRAbteilungen nach wie vor überwiegend als schwer kalkulierbare Risikofaktoren für die Unternehmensreputation. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die online geäußerten Dr. Steffen Hermann Director, Global TRI*M Centre, TNS Infratest, München startete seine Berufskarriere als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Leipzig Graduate School of Management. Seit 2005 arbeitet er für TNS Infratest, ist internationaler TNS Experte für Reputationsforschung und verantwortet das Marketing der Stakeholder Management Practice. Susanne Klar Associate Director, Digital Centre Germany, TNS Infratest, Hamburg, ist seit 2000 bei TNS Infratest tätig. Davor arbeitete sie bei Research International. Schwerpunkt ihrer Tätigkeit liegt in der Entwicklung digitaler Forschungsmethoden. 27 Meinungen nur einen Teil der Meinung der Stakeholder eines Unternehmens widerspiegeln. Ergebnisse der TNS Digital Life Studie 2011 zeigen, dass nur 31 Prozent der deutschen Onliner Kommentare zu Produkten oder Unternehmen im Internet posten. Die durch Social-Media-Monitoring für ein Unternehmen verfolgbare veröffentlichte Meinung im Internet repräsentiert also nur einen mehr oder weniger kleinen oder großen Teil der tatsächlichen Unternehmensreputation. Um Social Media systematisch in das Reputationsmanagement zu integrieren, sind zwei Dinge wichtig: Zunächst ist die tatsächliche Relevanz der diskutierten Themen für die relevanten Anspruchsgruppen zu erfassen. Daneben sind für die jeweiligen Zielgruppen effektive Kommunikationskanäle zur Vermittlung der Unternehmensbotschaften zu wählen. In diesem Kontext eröffnet die Erkenntnis, welche Themen und welche Plattformen im Internet tatsächlich Einfluss auf die Reputation eines Unternehmens bei ihren Zielgruppen haben und welches digitale Kommunikations- und Informationsverhalten diese auszeichnet, neue Möglichkeiten für die Unternehmenskommunikation. Diese Chancen durch die Integration verschiedener Datenquellen zur Schaffung einer soliden Informationsbasis zur Entscheidungsunterstützung zu nutzen, ist eine aktuelle Herausforderung des zeitgemäßen Reputationsmanagements. Zielsetzungen und methodische Umsetzung Um die oben skizzierte Problemstellung zu lösen, kombiniert der TRI*M Digital Reputation Manager die verschiedenen Quellen der öffentlichen Meinungsäußerung und -erfassung sowie die Möglichkeit einer aktiven Steuerung der Unternehmensreputation in drei Projektphasen: erstens in der Themenidentifizierung (Online-Reputation), zweitens in der The- menbewertung (Unternehmensreputation) und drittens im Kommunikations-Management der Stakeholdergruppen (Abbildung 1). 1. Themen und Online-Reputation identifizieren In dieser Phase geht es darum, die für ein Unternehmen relevanten Beiträge in Social Media zu finden und sie anhand der Häufigkeit der Nennungen und der Tonalität in den Beiträgen zu klassifizieren. Dies kann als eine Momentaufnahme der Online-Reputation geschehen. Es empfiehlt sich eine zumindest längerfristige oder idealerweise kontinuierliche Beobachtung der unternehmens- und markenrelevanten Internetbeiträge. Meinungsäußerungen in sozialen Medien werden durch diverse externe Einflüsse beeinflusst und gesteuert, zum Beispiel bei technischen Produkten durch das Weihnachtsgeschäft oder Einflüsse durch eine verstärkte Presseaktivität Marktforschung und Social Media Research als solide Basis des Digitalen Reputationsmanagements Abbildung 1: Die drei Schritte des TRI*M Digital Reputation Managers 1. Onlinereputation und Themen identifizieren: 2. Themenrelevanz und Social Media-Impact bewerten: Social Media Monitoring 3. Stakeholderkommunikation (digital) managen: TNS Digital Life TRI*M Corporate Reputation TRI*M Digital Reputation Manager TRI*M Reputation Index TRI*M Reputation Grid Stakeholder Management 1 BVM EDITION Kongress-Special 2012 28 wie zum Beispiel einem Börsengang oder Kommunikation in Zusammenhang mit den Aktionärshauptversammlungen. Auch Offline-Werbekampagnen können sich auf die OnlineKommunikationsthemen auswirken. 2. Reputationsrelevanz in den eigentlichen Zielgruppen bewerten Da nicht jeder seine Meinung im Internet veröffentlicht, folgt der Themenidentifizierung die systematische Analyse der Reputation bei den relevanten Stakeholdern beziehungsweise Zielgruppen. Hierzu werden die online gefundenen Themen systematisch in einen TRI*M Corporate Reputation-Fragebogen überführt. Über die Abfrage der Wichtigkeit verschiedener Themen und der Bewertung des Unternehmens auf den entsprechenden Dimensionen wird eine detaillierte Diagnose der Stärken und Schwächen durchgeführt und so der Handlungsbedarf zur Verbesserung der Reputation identifiziert und priorisiert. Daraus gewinnt ein Unternehmen die Erkenntnis, welche Themen im Internet die Unternehmensreputation tatsächlich beeinflussen. Hierfür ist eine nach den Regeln der Kunst gestaltete Befragung der gemäß ihrer Relevanz selektierten und definierten Zielgruppen der Unternehmenskommunikation nach wie vor unentbehrlich. 3. (Digitale) Kommunikationsplanung in den Stakeholdergruppen Die klassische soziodemografische Segmentierung von Zielgruppen reicht nicht aus, wenn auch digitale Kommunikationsstrategien abgeleitet werden sollen. Die Zielgruppensegmentierung für das Reputationsmanagement im Web 2.0 muss zeigen, wie das Online-Verhalten der für ein Unternehmen relevanten Stakeholder aussieht und welche Rolle die verschiedenen digitalen Kommunikationskanäle für deren Meinungsbildung spielen. TNS Infratest hat in der Digital Life Studie, der weltweit größten Studie zum Internet-Nutzungsverhalten, eine Segmentierung verschiedener Internetnutzergruppen entwickelt, die umfassende Informationen über die digitale Erreichbarkeit verschiedener Segmente liefert. Durch die integrierte Nutzung von drei speziellen Datengrundlagen – Social-Media-Screening, Reputationsbefragung und digitale LifestyleSegmentierung – kann das Corporate-Reputation-Management deutlich differenzierter unterstützt werden. Über einige zusätzliche Fragen, die sogenannten Golden Questions in dem Bewertungsinterview, kann jeder Teilnehmer einem digitalen Lebensstil (Segment) zugeordnet werden. Insgesamt gibt es sechs verschiedene digitale Lebensstile, die sich in ihrer Internetnutzung nach Nutzungsdauer und -tätigkeiten, aber auch nach ihren Einstellungen gegenüber der Internetnutzung unterscheiden. Auf Basis der Segmentinformationen lässt sich ableiten, welche Plattformen und Kommunikationsinhalte die jeweiligen Lebensstile gut ansprechen und damit empfehlenswert sind für den Einsatz in der Kommunikationsstrategie. BVM EDITION Kongress-Special 2012 Ergebnisse anhand einer Fallstudie aus dem Fast-FoodBereich Im Rahmen einer Untersuchung zu einer Schnellrestaurantkette wurden ergänzend zu einem Social-Media-Screening von 600 Online-Interviews die tatsächlichen Reputations treiber für dieses Unternehmen ermittelt. Die Social-MediaAnalyse konnte in diesem Fall die Top-of-Mind-Themen im Ranking vieler Zielgruppen relativ gut abbilden – bei einer Übereinstimmung von 78 Prozent zur geäußerten Wichtigkeit in der Befragung. Aber erst die durch Befragung gestützte zielgruppenspezifische Analyse zeigte, dass in den einzelnen Zielgruppen, zum Beispiel bei Intensivnutzern, unregelmäßigen Nutzern oder bei Nichtkunden, die Reputation des Unternehmens jeweils signifikant unterschiedlich wahrgenommen wurde. Die Übereinstimmung zwischen Online-Sentiment und Bewertung in der Befragung betrug nur 44 Prozent. Die Reputation eines Unternehmens wird zunehmend durch die veröffentlichte Meinung im Internet beeinflusst. Blogs, Tweets, Chats, Kommentare in Foren und in Social Networks wie Facebook gelten vielen PR-Abteilungen nach wie vor überwiegend als schwer kalkulierbare Risikofaktoren für die Unternehmensreputation. So war das im Internet am häufigsten genannte Thema „Gesundes Essen” zwar auch bei allen untersuchten Teilgruppen ein Haupttreiber der Reputation, wurde aber von den Intensivnutzern deutlich positiver bewertet als von den Nichtkunden. Der Aspekt „Kampf gegen Übergewicht” dagegen wurde von allen ähnlich schlecht bewertet, spielte aber für die Ausprägung der Unternehmensreputation bei den Intensivnutzern nur eine untergeordnete Rolle. Ein weiteres Ergebnis der Studie zeigte, dass in unterschiedlichen Zielgruppen unterschiedliche digitale Lebensstile dominieren. Die Mehrheit der Intensivnutzer betrachtet als sogenannte Influencer das Internet als festen Bestandteil ihres Lebens, sie sind somit über die gesamte Klaviatur der digitalen Kanäle gut erreichbar. Entsprechend ist für diese Gruppe die Website, die über das Internet gesteuerten Aktionen und Online-Kundenbindungsprogramme von besonderer Bedeutung. Dies lässt sich über die Befragung auch verifizieren. Dagegen wird die Gruppe der Nichtkunden durch das digitale LifestyleSegment „Functionals” geprägt. Man sieht das Internet eher als notwendiges Mittel zum Zweck und nutzt es vor allem für E-Mail-Aktivitäten. Die Unternehmenskommunikation muss sich daher für die Ansprache dieser Gruppe überwiegend der klassischen Offline-Kanäle bedienen. 1) Vgl. P. Pirner , S. Hermann (2011): Reputationsmanagement - Das Unternehmens-Image digital steuern, in: FTD Online, vom 18.07.2011, link: http://www. ftd.de/karriere-management/management/:reputationsmanagement-dasunternehmens-image-digital-steuern/60079303.html 29 BVM EDITION Kongress-Special 2012 30 Die Messung der Reputation Elske Ludewig, eResult, zur Entwicklung eines wissenschaftlich fundierten Fragebogens Die Messung der Reputation von Unternehmen, Organisationen oder Personen ist die notwendige Voraussetzung, um sie positiv beeinflussen zu können. Im Folgenden soll ein neues Messinstrument vorgestellt werden, das als Online-Fragebogen bereits erfolgreich getestet wurde. Der Entwicklungsprozess basiert auf einer Kooperation mit der Leuphana Universität Lüneburg, insbesondere mit dem Promotionsstipendiaten Eric Horster, und wurde wissenschaftlich begründet, begleitet und dokumentiert. Der Beitrag gibt einen Einblick in einzelne Entstehungsphasen und veranschaulicht die Inhalte und Einsatzbereiche des Messinstruments. Seit Mitte der 1990er Jahre wächst das Interesse daran, die Wahrnehmung von Unternehmen, Organisationen und Personen messbar zu machen. Im Zuge der Verbreitung des Internets vervielfältigten sich die Informationswege. Nicht zuletzt durch die immer stärkere Vernetzung der Menschen untereinander stieg der Bedarf, die Informationen über die jeweiligen Reputationsträger zu sammeln, auszuwerten und effektiv zu nutzen. schung hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. So ist durch die gestiegene Zahl an Veröffentlichungen auch eine definitorische Vielfalt entstanden, die sich durch die Messung verschiedener Sachverhalte erklären lässt. Als Folge davon muss der Begriff der Reputation immer im Kontext verwendet werden. Sowohl der Reputationsträger als auch die zu untersuchenden Stakeholder müssen definiert werden. Vertrauen kann als etwas angesehen werden, was die Verlässlichkeit eines Unternehmens reflektiert und gleichzeitig die Bereitschaft, ein Risiko auf sich zu nehmen. Inhalte und Definition von Reputation als Grundlage der Operationalisierung Um einen Fragebogen zur Messung von Online-Reputation zu entwickeln, sind also zunächst die Kunden im Internet als Stakeholder und die Unternehmen, die im Internet präsent sind, als Reputationsträger zu benennen. Eine passende Definition, die sich auf die Reputation im Kontext des Internets sowie dessen Wirkung auf den (Online-)Kunden beziehen lässt, liefert Zimmer (2010): Über das Konzept und die Bezeichnung „Reputation” herrscht in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen Uneinigkeit. Oft wird der Begriff mit dem der Unternehmensreputation gleichgesetzt. Er kann sich jedoch auch auf andere Objekte – beispielsweise Produkte eines Unternehmens – beziehen. Zusätzlich kann Reputation aus Sicht verschiedener Stakeholder, zu denen beispielsweise auch die Mitarbeiter des eigenen Unternehmens gehören, gemeint sein. Angewandt wird Reputation häufig auf bestimmte soziale Akteure wie Personen, Gruppen oder Organisationen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn auch die Entstehung der Reputation nachvollzogen werden soll. Diese definitorischen Unterschiede sind grundsätzlich nicht verwunderlich, denn das Interesse an der Reputationsfor- Elske Ludewig M.A., Senior UX Consultant & Teamleitung qualitative Forschung, ist seit Ende 2007 bei eResult, Göttingen, als User Experience Consultant tätig. Sie studierte Soziologie, Psychologie und Informatik an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. BVM EDITION Kongress-Special 2012 „Unter ‘Reputation‘ soll (…) das Wissen über die zentralen Eigenschaften und die Wahrnehmungen charakteristischer Merkmale einer sozialen Entität verstanden werden, über das (…) ein Individuum einer spezifischen Bezugsgruppe des Reputationsträgers in Gestalt eines Globalurteils verfügt.” Sodann können die verschiedenen Einfluss- oder Wirkfaktoren, die im Zusammenhang mit Reputation betrachtet werden müssen, fokussiert werden. Einen interessanten Ansatz verfolgte hier bereits Schwaiger (2004), der nicht nur das Ziel hatte, das Konstrukt „Reputation” zu operationalisieren. Zusätzlich identifizierte er die Einflüsse, die andere Konstrukte auf die Reputation haben. Schwaiger geht von der Einstellungsnähe des Konstrukts aus und integriert Kompetenz und Sympathie als kognitive beziehungsweise emotionale Komponenten. Die kognitive Kompetenzkomponente verweist auf das Wissen und die subjektive Wahrnehmung bei der rationalen Bewertung des Reputationsobjekts. Die affektive Sympathiekomponente drückt die subjektive Einschätzung des Unternehmens und dessen Tätigkeiten aus. 31 Zusätzlich wurde im Rahmen der Voranalyse das Konstrukt Vertrauen als Einflussfaktor von Reputation identifiziert. Vertrauen gilt als eines der wichtigsten Instrumente, um im Rahmen des Beziehungsmarketings Partnerschaften aufzubauen und zu festigen (Bauer, 2005). Zwei zentrale Gedanken des Vertrauensbegriffs konnten für das hier beschriebene Vorhaben identifiziert werden: Zum einen kann Vertrauen zu einem Gefühl der Sicherheit führen, da der Kunde durch seinen Glauben beziehungsweise seine Erwartung in die Vertrauenswürdigkeit des Leistungsanbieters von einer funktionierenden Austauschbeziehung ausgeht (Kroeber-Riel, 2008). Das Vertrauenskonstrukt spielt somit im Kontext der Risikoreduktion eine wichtige Rolle. Vertrauen führt gewissermaßen zu einer Erhöhung der individuellen Risikoschwelle. Denn Vertrauen impliziert auch stets die Möglichkeit der Enttäuschung. Vertrauen kann also in diesem Kontext als etwas angesehen werden, was die Verlässlichkeit eines Unternehmens reflektiert und gleichzeitig die Bereitschaft, ein Risiko auf sich zu nehmen (auch wenn das Risiko nicht zwangsläufig gegeben sein muss). Während also der (Online-)Kunde verschiede- Oft wird Reputation mit Unternehmensreputation gleichgesetzt. Er kann sich jedoch auch auf andere Objekte – beispielsweise Produkte eines Unternehmens – beziehen. Zusätzlich kann Reputation aus Sicht verschiedener Stakeholder, zu denen beispielsweise auch die Mitarbeiter des eigenen Unternehmens gehören, gemeint sein. ne Strategien zur Reduktion des wahrgenommenen Risikos ausführen kann, kann das Unternehmen Signale aussenden, die Vertrauen fördern. Bei Internet-Anbietern wird ein hohes wahrgenommenes Risiko konstatiert, das auf den dem Medium Internet inhärenten Charakteristika gründet. Unpersönlichkeit, Abstraktheit und Virtualität bilden dabei wesentliche Hemmnisse, die einer Transaktion über den Vertriebskanal Internet im Wege stehen können (Sydow, 2000). BVM EDITION Kongress-Special 2012 32 Reputation wirkt vor allem auf die Einstellung und das Vertrauen gegenüber dem Anbieter beziehungsweise Unternehmen, so die am Anfang der Fragebogen-Entwicklung formulierte These. Dem Einstellungskonstrukt wird in der Konsumentenforschung ein besonders hohes Forschungsinteresse entgegengebracht. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass häufig ein pauschaler Zusammenhang von Einstellung und anschließendem Kaufverhalten unterstellt wird. Abbildung 1: Ausschnitt des Fragebogens © eResult GmbH Abbildung 2: Strukturmodell Reputation (Horster, 2012) © eResult GmbH Das Messinstrument wurde im Kontext des Internets – genauer gesagt im Kontext des eTourism – entwickelt und geprüft. Sämtliche Stimuli hatten Bezug zu touristischen Produkten beziehungsweise Organisationen. Durch diese Hypothese wird das Einstellungskonstrukt in vielen Studien zu einem Gradmesser der Kaufentscheidung (Kroeber-Riel, 2008). Die Einstellung zu einem Produkt kann auf kognitiver, emotionaler und motivationaler Ebene verortet sein. Dementsprechend führt eine auf kognitiver Ebene positive Einstellung nicht zwingend zum Kauf, wenn auf motivationaler Ebene die Verhaltensbereitschaft fehlt (Musiol, 2009). Als Folge dessen wurde das Modell um die Kompetente Involvement erweitert. Folgt man der Argumentation von Krugman (1965), so kann unter Involvement die „Ich-Beteiligung, das innere Engagement, mit dem sich ein Individuum einem BVM EDITION Kongress-Special 2012 Sachverhalt oder einer Aufgabe widmet”, verstanden werden. Trommsdorff (2002) definiert den Begriff ähnlich, betont dabei jedoch den Informationsverarbeitungsprozess. Demnach ist Involvement der „Aktivierungsgrad beziehungsweise die Motivstärke zur objektgerichteten Informationssuche, -aufnahme, -verarbeitung und -speicherung”. Diese Betrachtung beschreibt einen weiteren Aspekt des Involvement-Konstrukts. Dabei hat die subjektiv empfundene Relevanz der Information Auswirkungen auf den Informationsverarbeitungsprozess. Zudem besteht eine Verbindung von Involvement und Aktivierung. Dabei korrelieren Involvement und Aktiviertheit in ihrer Ausprägung. Ist ein Konsument stark involviert, so ist er auch stark aktiviert. Er weist also eine hohe Bereitschaft auf, sich mit einem Objekt auseinanderzusetzen. Auf Basis dieser Definitionsansätze lässt sich das Involvement-Konstrukt als Grad der Ich-Beteiligung beziehungsweise des persönlichen Engagements umschreiben, welches eine Person aktiviert, sich für ein konsumierbares Produkt zu interessieren und einzusetzen. Zusammenfassend besteht das Zusammenhangsmodell demnach aus den Einflussfaktoren Glaubwürdigkeit, Sympathie und Kompetenz sowie den Wirkfaktoren Vertrauen, Kaufabsicht und Weiterempfehlungsabsicht. Involvement wiederum ist ein direkter Einflussfaktor auf die Wirkfaktoren, der unabhängig von der Reputation wirkt. Empirische Validierung und Optimierung des zugrundeliegenden Modells Das Modell wurde jedoch nicht ausschließlich theoretisch hergeleitet, sondern durch eine quantitative Untersuchung statistisch überprüft. In einem Expertenworkshop wurden für jedes Konstrukt vier bis fünf Items formuliert und in Pretests validiert. Die Untersuchung bestand dann aus einer Online-Befragung1) unter deutschen Internetnutzern. Durch die Anwendung der Pfadanalyse auf den erhobenen Datensatz (n=1.000) konnte das Modell geschärft und für das Anwendungsgebiet optimiert werden. Zudem wurde der Fragebogen in weiteren Erhebungen iterativ optimiert. Hierbei wurden beispielsweise Items mit wenig Erklärungskraft eliminiert. Im Fragebogen wurde durch die Verwendung von sogenannten Schiebereglern (0–100) ein metrisches Skalenniveau der Zustimmung erreicht. Dabei wurde zu Beginn stets eine Kontaktsituation hergestellt: Die Befragten sollten sich auf verschiedenen Internetseiten einige Minuten über ein bestimmtes Unternehmen beziehungsweise eine Organisation informieren. Durch eine Filterfrage konnten diejenigen identifiziert werden, die vor der Befragung schon andere Kontakte zum Reputationsträger hatten. Nach der Informationsphase folgte der eigentliche Fragebogen. Dieser bestand aus maximal 30 Fragebogenseiten. Abbildung 1 zeigt exemplarisch die Darstellung einer Seite im Fragebogen. Ergebnis und Einsatzbereiche Das finale Modell lässt sich nun gemäß Abbildung 2 darstellen. Dabei stellen die Pfeilrichtungen die Wirkungsrichtungen dar. Die Stärke des Einflusses des jeweiligen Konstrukts ist jedoch nicht konstant: Je nach Stakeholder und Reputationsträger können individuelle Werte errechnet werden. Somit ist es möglich, jeweils eine detaillierte Auswertung zu den fallspezifischen Zusammenhängen anzufertigen und individuelle Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen abzuleiten. Die Einsatzbereiche des Instruments lassen sich auf mehreren Dimensionen beschreiben: Zum einen kann Reputation im Längsschnitt betrachtet werden. Bei mehreren Erhebungen in regelmäßigen zeitlichen Abständen kann beispielsweise der Effekt von Marketing-Maßnahmen oder Ähnlichem messbar gemacht werden. In diesem Kontext kann also überprüft werden, ob die gewünschte Wirkung erzielt worden ist oder welche sonstigen Veränderungen sich in Bezug auf die Wahrnehmung des Reputationsträgers erkennen lassen. Bei entsprechender Stichprobe sind auch zielgruppenspezifische Aussagen möglich. Bei welcher Zielgruppe erzielt ein bestimmtes Key-Visual die beste Wirkung? Ist dies überhaupt die Kernzielgruppe? Welche Wortwahl oder Farbwelten wirken besonders vertrauenswürdig oder kompetent? Diese und andere Fragen unterstützen den Reputationsträger also dabei, seine Reputation zielgerichtet und nachhaltig beeinflussen zu können. Andererseits bietet das Instrument die Möglichkeit, differenzierte Aussagen in Bezug auf die verschiedenen Einflussfaktoren von Reputation zu treffen. Eine beispielhafte Fragestellung hierbei könnte lauten: Wird der Reputationsträger als kompetent, aber wenig sympathisch wahrgenommen? Daneben können Aussagen zur Stärke des Einflusses der Faktoren getroffen werden: Hat im Kontext Y für Zielgruppe Z die wahrgenommene Sympathie einen niedrigeren Einfluss auf die Reputation als die wahrgenommene Kompetenz? Es offenbaren sich also konkrete Ansatzpunkte für die Verbesserung der Reputation. Auch Wettbewerbsanalysen sind denkbar: Liegen genügend Referenzwerte vor, kann angegeben werden, ob ein Ergeb- Anmerkungen 1) Zufallsstichprobe aus dem Online-Access-Panel Bonopolis (www. bonopolis.de). 2) Bei der Auswahl der Testpersonen für die Pretests wurde darauf geachtet, dass diese sich hinsichtlich Alter, Geschlecht, Bildungsstand und Internetaffinität deutlich unterscheiden. Quellen Bauer, Hans H.; Neumann, Marcus M.; Huber, Frank (2005): Kaufverhaltensrelevante Effekte einer Vertrauensintermediation im elektronischen Handel. In: Der Markt 44 (1), S. 3–12. Horster, Eric (2012): Reputation und Reiseentscheidung im Internet. Dissertation an der Leuphana Universität Lüneburg. Kroeber-Riel, Werner; Weinberg, Peter; Gröppel-Klein, Andrea (2008): Konsumentenverhalten. Vahlens Handbücher der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. 9., verb. und erg. Aufl. München: Vahlen. Online verfügbar unter http://www.agi-imc.de/intelligentSEARCH.nsf/alldo cs/6DC3C4070F485448C12571250037111E/. Krugman, Herbert E. (1965): The impact of television advertising: learning without involvement. In: The public opinion quarterly: Oxford: Oxford Univ. Press, Vol. 29, No. 3 (1965), p. 349-356. nis eher „typisch” ist oder über beziehungsweise unter dem Durchschnitt der Wettbewerber liegt. 33 Diskussion Das Messinstrument wurde im Kontext des Internets – genauer gesagt im Kontext des eTourism – entwickelt und geprüft. Sämtliche Stimuli hatten Bezug zu touristischen Produkten beziehungsweise Organisationen. Es ist bis dato nicht empirisch untersucht, ob sich das Modell außer im eTourism auch in anderen Zusammenhängen bewährt. Jedoch basieren sämtliche theoretische Vorüberlegungen auf kontextübergreifenden Aspekten. Auch bei der Entwicklung der Items für den Fragebogen wurden keine Einschränkungen bezüglich des Reputationsträgers oder der Stakeholder vorgenommen. Einzig der Kontext des Internets und damit die Beschränkung auf Online-Reputation wurden zugunsten der Eindeutigkeit und Genauigkeit des Messinstruments vorausgesetzt. Zudem waren an der ItemSammlung mehrere erfahrene Praktiker beteiligt, die bereits Online-Fragebögen für viele verschiedene Branchen entwickeln haben. Diverse Fragebogen-Pretests (Prüfer & Rexroth, 2000) gewährleisten eine für den typischen Internetnutzer2) verständliche Sprache und selbsterklärende Gestaltung des Online-Fragebogens. Daher besteht Grund zur Annahme, dass das Messinstrument auch in anderen Zusammenhängen zuverlässige und aussagekräftige Ergebnisse liefert. Des Weiteren wurde der Prozess durch die Leuphana Universität Lüneburg begleitet, wo die Dissertation von Herrn Eric Horster (2012) zu diesem Thema angefertigt wurde. Die zweiseitige Betreuung – der wissenschaftliche Hintergrund der Universität sowie der praktische Hintergrund des Beratungs- und Marktforschungsunternehmens eResult – erwies sich insgesamt als sehr fruchtbar für den Entwicklungsprozess des Fragebogens und steht für eine interdisziplinäre Qualität. Musiol, Gerald; Kühling, Christiane (2009): Kundenbindung durch Bonusprogramme. Erfolgreiche Konzeption und Umsetzung. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg (Springer-11775 /Dig. Serial]). Online verfügbar unter http://dx.doi.org/10.1007/978-3-540-87571-0. Prüfer, Peter & Rexroth, Margit (2000): Zwei-Phasen-Pretesting. ZUMA-Arbeitsbericht 2000/08. Mannheim. Schwaiger, Manfred (2004): Components and Parameters of Corporate Reputation – An Empirical Study, Schmalenbachs Business Review, Band 56. Sydow, Jörg (2000): Vertrauen und Electronic Commerce – Vertrauen nicht nur in elektronische Netzwerke. In: Electronic commerce, S. 259–270. Trommsdorff, Volker (2002): Produktpositionierung. In: Handbuch Produktmanagement. Albers, S. und Herrmann, A. Wiesbaden. 2. Aufl. Zimmer, Dominic (2010): Der Multilevel-Charakter der Reputation von Unternehmen. Eine empirische Analyse der Krankenhaus- und Fachabteilungsreputation bei niedergelassenen Ärzten. PhillipsUniv., Dissertation Marburg 2009. 1. Aufl. Wiesbaden: Gabler. BVM EDITION Kongress-Special 2012 34 Crossmedia-Forschung Thomas Utzinger, Google, Markus Saffer, GfK und Jens Barczewski, nurago, zu einem innovativen Instrument der Werbewirkungsforschung In Zeiten knapper Mediabudgets stellen Werbetreibende immer häufiger die Frage nach der optimalen Verteilung ihrer Werbegelder auf die immer größer werdende Zahl unterschiedlicher online und offline gebotenen „Experience-Points”. Neben der reinen Messbarkeit des Erfolgs pro Medium und der Platzierung spielt die ideale Kombination aller eingesetzten Kommunikationskanäle die entscheidende Rolle. Denn es geht in der Mediaplanung weniger um die Substitution einer Gattung durch eine andere, sondern vielmehr um die intelligente Verknüpfung der eingesetzten Kanäle. In dem im Folgenden dargestellten experimentellen Untersuchungsansatz haben wir uns exemplarisch auf die Mediengattungen TV und Online-Bewegbild, die sogenannten Prerolls, fokussiert. Unter Prerolls, die übrigens als Werbeform die höchste Wachstumsrate unter allen Online-Formaten haben, versteht man kurze Werbespots, die Online-Videoinhalten vorangestellt sind und direkt im Videoplayer ablaufen. Mit dieser Platzierung vor dem eigentlichen Inhalt des Onlinevideos erreichen sie die volle Aufmerksamkeit des Nutzers. Damit sind sie in hohem Maß mit TV-Spots vergleichbar, da bei beiden Werbeformen eine klare Trennung zwischen Werbemittel und Content gegeben ist. Die spezifische Gattungsqualität von Online gegenüber TV wurde in der Vergangenheit meist mit Hilfe klassischer C API- Mit Hilfe einer innovativen Methode – einem Experimentaldesign im Rahmen einer Livekampagne – war es möglich, das Zusammenspiel der Medien und ihre kombinierte Wirkung auf Marken-Metriken wie Werbe erinnerung und Markenbekanntheit unter realen Bedingungen zu erforschen. Thomas Utzinger Research Manager Google Deutschland, EU Market Insights Team von Google Germany, ist seit 2009 für die Forschung rund um das Thema Crossmedia bei Google zuständig BVM EDITION Kongress-Special 2012 Verfahren erforscht. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse konnten helfen, die relative Wirksamkeit von Online-Videowerbung in einem 1:1-Vergleich mit TV darzustellen. Das im Folgenden aufgezeigte Studiendesign und die daraus resultierenden Ergebnisse gehen einen entscheidenden Schritt weiter. Mit Hilfe einer innovativen Methode – einem Experimentaldesign im Rahmen einer Livekampagne – war es möglich, das Zusammenspiel der Medien und ihre kombinierte Wirkung auf Marken-Metriken wie Werbeerinnerung und Markenbekanntheit unter realen Bedingungen zu erforschen und daraus relevante Rückschlüsse für eine optimierte crossmediale Werbestrategie zu ziehen. 1. Klassische Herangehensweise Im Rahmen von zwei Studien wurden zwölf Marken aus dem FMCG-Bereich auf Basis von 2.800 Interviews untersucht. Hierfür wurden relevante Zielgruppen rekrutiert, die neben TV auch das Internet und dabei auch Onlinevideoplattformen nutzen. Jeder Proband wurde zufällig einer Testgruppe zugeordnet, die Werbekontakt zum Beispiel „nur im TV” oder „nur online” hatte. Unabhängig von dieser Gruppenzuteilung mussten sich alle Probanden jeweils 20 Minuten TV und Online-Videos auf YouTube ansehen. Eine Kontrollgruppe nutzte ebenfalls diese beiden Medienformen. Sie sah aber Markus Saffer Research Manager, GfK SE, Division Marktforschung, Brand and Communication Research besitzt mehr als 15 Jahre Erfahrung in der quantitativen und qualitativen Marktforschung. Seine zentralen Forschungsthemen sind Brand Equity, Werbeerfolgsmessung (Pre/Post Tests) und Digital Research. Jens Barczewski Managing Director Client Services Germany, nurago GmbH, Applied Research Technologies, besitzt als Diplomkaufmann mehr als 10 Jahre Erfahrung in der qualitativen und quantitativen Marktforschung mit dem Schwerpunkt der digitalen Marken- und Kommunikationsforschung 35 lediglich Ersatz-Werbespots. Danach wurden alle Gruppen zu den klassischen „Brand Key Performance Indicators (KPIs)” befragt und die Antworten analysiert (Abbildung 1). Hierbei konnte nachgewiesen werden, das Prerolls auf YouTube gegenüber TV eine signifikante Verbesserung relevanter Brand KPIs erzeugen. 2.Anforderung der Mediaverantwortlichen an den neuen Ansatz Warum waren die CAPI-Tests aus unserer Sicht nicht ausreichend? Nach Durchführung der Studien zeigt sich, dass wir zwar auf dem höchsten Niveau technischer und methodischer Machbarkeit für CAPI-Tests arbeiteten, trotzdem jedoch relevante Fragestellungen nicht beantworten konnten. Marketingentscheider und Mediaagenturen stellen an Crossmedia-Forschung weit höhere Anforderungen als der eben beschriebene Ansatz erfüllen kann. Ihnen geht es seit langem nicht mehr nur um die Fragestellung, ob TV- oder Online-Bewegtbild-Formate das bessere Medium sind. Vielmehr fordern sie einen optimalen Forschungsansatz ein, der in der Kombination einer Untersuchung der Wirkung von TV- und Online-Bewegtbild-Werbung liegt. Das Medium TV bleibt weiterhin das Leitmedium für reichweitenstarke Kampagnen. Alle anderen Mediengattungen bilden eine sinnvolle und kosteneffiziente Ergänzung. Online ist allerdings bereits heute ein fester Bestandteil von Crossmedia-Kampagnen. Zumal ein gewisser Anteil der Mediazielgruppe gar nicht oder nur sehr schwer über TV erreicht werden kann. An einen akzeptablen und modernen Ansatz stellen sich daher drei zentrale Anforderungen: Konzeption eines Crossmedia-Ansatzes, der die Synergien von Crossmedia in den Fokus der Forschung stellt. Aufzeigen von Brand-Impact-Entwicklungen bei höheren Kontaktfrequenzen, da diese der Kampagnenrealität besser gerecht werden. Untersuchung von Nutzungsverhalten von TV und Online unter „Real Life”-Bedingungen, um das abiotische Verhalten von Probanden im Teststudio zu umgehen. Die zentrale Fragestellung der durchgeführten Studien war es daher, die folgende Hypothese zu überprüfen: Effect (Online + TV) > Effect (TV + TV) Bei dem von uns in technischer und methodischer Hinsicht neu entwickelten Mess- und Befragungsansatz steht die realitätsnahe Ausspielung einer Simulation von fiktiven Werbekampagnen oder die Unterdrückung von realen Werbekam- Abbildung 1: Studiendesign eines „klassischen” CrossmediaStudiotests 1 Rekrutierung der Zielgruppe 3 2 Aufteilung in medienspezifische Splits 4 Simulation der Werbemittel PreRoll TV + 12 YouTube Content Videos TV Internetnutzer mit Bewegbild Affinität 2 Werbeblöcke Finale Befragung zum Werbemittelumfeld und relevanten Brand KPIs 2 Werbeblöcke PreRoll + 12 YouTube Content Videos Sportsendung Unterhaltungssendung Wissenssendung Abbildung 2: Non-reaktive Elemente des GfK Connected Life Panel pagnen im Mittelpunkt. Der Untersuchungszeitraum umfasst dabei immer mindestens vier Wochen, damit die Panelisten genug Zeit hatten, genügend Werbekontakte für TV und/oder Online zu sammeln. Der jeweilige Werbemittelkontakt findet dabei immer innerhalb einer realen Online-Session der teilnehmenden Panelmitglieder statt. Mit dieser Herangehensweise ist es möglich, nach Werbeformat und Gattung eindeutig definierte Kontaktgruppen zu ermitteln. Das ist in klassischen Studienansätzen vorab nicht möglich, da im natürlichen Nutzungsverhalten eine Vermischung der Kontakte stattfindet. 3. Grundlage ist ein starkes Panel nurago betreibt für die GfK ein personenbezogenes Panel, das GfK Connected Life Panel, mit konstant 10.000 Teilnehmern, die mit der LEOTrace® Add-On Technologie ausgestattet wurden. Das Panel wird zusammen mit dem Kooperationspartner Harris Interactive AG betrieben. Das Panel wurde nach den Standardkriterien Alter, Geschlecht, Haushaltsnettoeinkommen und Region repräsentativ aufgeBVM EDITION Kongress-Special 2012 36 baut und wird kontinuierlich gepflegt. Neben der Installation des Add-on mussten sich alle Panel-Teilnehmer einer Media befragung zu ihrem persönlichen Nutzungsverhalten von Print und TV unterziehen. Im Rahmen der kontinuierlichen technischen Messung mit Hilfe des Browser-Add-on werden während einer Internet-Sitzung non-reaktive Daten wie zum Beispiel genutzte URLs, Session-Dauer sowie Suchanfragen bei Google, Bing etc. aufgezeichnet (Abbildung 2). Das GfK Connected Life Panel wurde ursprünglich als digitaler Testmarkt entwickelt und entfaltet in dieser Eigenschaft auch eines seiner größten Forschungspotenziale, nämlich die Möglichkeit der Durchführung von Simulationsstudien für Kampagnen-Szenarien. Analog zur Spieltheorie werden Entscheidungssituationen modelliert, die zum Beispiel ein Minimum-Budget einem erhöhten Investmenteinsatz durch höhere Frequenz oder Premium-Platzierungen gegenüberstellen. Am beobachteten Verhalten der Nutzer wird aufgezeigt, in welcher Art sich die unterschiedlichen Faktoren – zum Beispiel Search versus Display oder TV versus Video-Ads – bedingen. 4. Simulation von realen Werbekampagnen Für die Durchführung der Studien haben wir zwei unterschiedAusgewählte Studienergebnisse liche analysieren reale Szenarien definiert: „Aided Recall“ Effizienz – Beispiel Um die Effizienz zu analysieren vergleichen wir die erreichte Erhöhung pro KPI mit dem GRP Niveau (= Werbedruck) die für die Verbesserung Abbildung 3: Ergebnisse einer branchenübergreifenden Untersuchung verantwortlich ist. Steigerung Ad Recall (angegeben als relative Verbesserung in %) 216 360 GRP GRP Optimieren der Häufigkeit (Aided Ad Recall) 5 – 7 OTS erweisen sich als optimale Kontaktdosis zur Steigerung der Source: GfK / nurago eGRP Meta Analysis (based on n = 15.102 interviews) CONNECTED LIVE PANEL Germany 2012 (n = 10.000 panelists) 28 Werbeerinnerung (idealer Ausgleich zwischen Impact und Effizienz)Werbung Abbildung 4: Wirksamkeit der Kontaktdosis crossmedialer Auswertung: Optimale OTS hinsichtlich des Ad-Recall-Impact 5 - 7 Kontakte 0,25% 100% Effizienz 8 - 12 Kontakte 0,20% 0,15% Bis zu 2 Kontakte 0,10% 0,05% 0,00% 3 -4 Kontakte 85% Impact Ausgewählte Studienergebnisse Optimales Frequency Capping 0% 5% 10% 15% 20% 25% 30% Impact (relative Verbesserung in %) Nahezu 85 % der Gesamtsteigerung der Werbeerhöhung kann durch die pro Woche erreicht werden Source: GfK / nurago eGRP Meta Analysis (based on n = 15.102 interviews) CONNECTED LIVE PANEL Germany 2012 (n = 10.000 panelists) Kombination TV-YouTube bei einer Frequency CapKontakten von 2 Kontakte Abbildung 5: Aussteuerung von crossmedialen b) Der Kunde hat neben seiner TV-Kampagne auch eine entsprechende Preroll-Kampagne auf YouTube gebucht. In diesem Fall wird für bestimmte Kontaktgruppen jeweils das ausgelieferte Preroll unterdrückt (siehe dazu die Ausführungen zur Stichprobenstruktur je Kampagne im nachfolgenden Kapitel). Ziel dieser Simulation beziehungsweise Unterdrückung der Preroll-Werbemittel ist die Bildung reiner Klassen hinsichtlich der TV- und/oder Preroll-Werbemittelkontakte. Weitere Differenzierungen in vorab definierte Kontaktklassen sind ebenfalls möglich, wenn der Brand Impact im Verhältnis zur Kontaktdosis untersucht werden soll. Die Panelisten erkennen diese Art von Simulation beziehungsweise Unterdrückung von Preroll-Werbemitteln auf YouTube oder anderen Websites nicht. Das Testwerbemittel wird zeitgleich zur Unterdrückung des eigentlich vorgesehenen Werbemittels gezeigt. 5. Stichprobenstruktur je Kampagne Die Zielgruppen werden im Rahmen des Testdesigns vor Kampagnenstart nach folgenden Teilgruppen differenziert: YouTube-Nutzer in der Vergangenheit (ja/nein Nutzung durch technische Messung der URLs) Fernsehverhalten (hohe/niedrige Kontaktchance gemäß p-Wert) Noch vor der Kampagnensimulation werden die Panelmitglieder im Hinblick auf ihre Zugehörigkeit zur Untersuchungs- und Kontrollgruppe eingeteilt. Um die Test- und Kontrollgruppen der Untersuchung hinsichtlich ihrer potenziellen TV-Kontakte möglichst gleichmäßig auszusteuern, sind kampagnenspezifische p-Werte für jeden einzelnen Panelisten zu berechnen und die Gruppen nach Kontaktchancen zusammenzustellen. Über die Einteilung der Gruppen hinsichtlich ihres Mediennutzungsverhaltens hinaus wird eine homogene Quotierung nach soziodemografischen Merkmalen der Kampagnenzielgruppe vorgenommen. Für die Datenanalyse wird zusätzlich nach dem Nutzungsverhalten der Testmarke gewichtet. Ausgewählte Studienergebnisse Effizienz (Steigerung pro GRP) a) Der werbetreibende Kunde hat eine reine TV-Kampagne ohne eine entsprechende Verlängerung ins Medium Online gebucht. An dieser Stelle simulieren wir innerhalb der TVKampagnenlaufzeit eine entsprechende Preroll-Kampagne auf YouTube. Dafür wird das bestehende TV-Werbemittel als Preroll umgewandelt und vor dem Aufruf eines You Tube-Contents künstlich ausgeliefert. 2 Anteil an der Gesamtsteigerung AIDED ADVERTISING RECALL Optimales Frequency Capping Durch die saubere und eindeutige Aufteilung der Teilgruppen können wir einen kampagnenspezifischen Impact der untersuchten Marke durch entsprechende Kommunikation im TV und/oder auf YouTube nachweisen, die andere Effekte ausschließt. Diese Art der Ermittlung von Kontrollgruppen ist wesentlich genauer, da sie sogar die identische Nutzung des Online-Mediums im gleichen Zeitraum gegenüber der Testgruppe berücksichtigt. 6.Crossmedia-Analyse Neben der Ermittlung der Kampagneneffektivität wird die Kampagneneffizienz beider Medienkontaktgruppen analysiert. Dazu werden die relativen Häufigkeiten der WerbewirSource: GfK / nurago eGRP Meta Analysis (based on n = 15.102 interviews) CONNECTED LIVE PANEL Germany 2012 (n = 10.000 panelists) BVM EDITION Kongress-Special 2012 31 kungsindikatoren ins Verhältnis zu den Gross Rating Points (GRPs) gesetzt. Je höher der Wert ist, desto effizienter ist die Kampagne. Der Fokus liegt im vorliegenden Beitrag auf der gestützten Werbeerinnerung. Die im Folgenden dargestellten Ergebnisse zeigen einen Ausschnitt einer Metaanalyse mehrerer identischer Untersuchungen über Kampagnen aus den Branchen FMCG, Mobilfunk, Entertainment, Automotive. Die Ergebnisse basieren auf 15.102 Interviews Über alle Kampagen hinweg bewirkt TV als isoliertes Medium einen Zuwachs von 7 Prozent im Bereich der gestützten Werbe erinnerung. In der Kombination von TV- und Onlinevideo-Kampagnen-Kontakten steigt dieser auf 14 Prozent der gestützten Werbeerinnerung an. Wie nicht anders zu erwarten, steigt die gestützte Werbeerinnerung in Abhängigkeit der erreichten Werbemittel-Kontakte von TV und Online (Abbildung 3). Während die Gruppe, die lediglich TV-Werbung gesehen hatte, durchschnittlich 216 GRPs ausgesetzt war, waren dies in der Gruppe, die beiden Werbeformaten ausgesetzt waren, über beide Medien hinweg 360 GRPs. Setzt man nun die relative Häufigkeit der gestützten Werbeerinnerung ins Verhältnis zu den GRPs, zeigt sich, dass der crossmediale Kontakt eine um 27 Prozent höhere Effizienz aufweist als der Mono-TV-Kontakt (Abbildung 4). Bei einer differenzierten Betrachtung nach Kontakthäufigkeiten ist zu erkennen, dass mit steigenden Kontaktdosen auch die Effizienz wächst. Das Effizienzoptimum liegt bei 5 bis 7 Kontakten, danach sinkt die Effizienz, allerdings auf ein höheres Niveau als bei 3 bis 4 Kontakten. Online-Kampagnen haben häufig den Vorteil, im Hinblick auf ihre Kontakthäufigkeiten relativ exakt dosiert werden zu können. Die Frage ist, welche Kontaktdosis am effektivsten ist, wie hoch also das „Frequency Capping” angesetzt werden soll, gerade dann, wenn zugleich TV-Kampagnenkontakte innerhalb einer vierwöchigen Kampagne bestehen. Abbildung 5 zeigt einen stetigen Zuwachs in der gestützten Werbeerinnerung. Bei einem Frequency Capping von 8 Kontakten wurden bereits 84 Prozent der gesamten Erinnerungsleistung erreicht. Da der Zuwachs auf der nächsthöheren Stufe (12 Gesamtkontakte) nur noch relativ gering ist, kann dieser Punkt als optimal im Sinne eines Frequency Cappings betrachtet werden. Bei vier Wochen Kampagnenlaufzeit – wie im Test der Fall – und 8 Gesamtkontakten ergibt sich also die Empfehlung eines Frequency Caps von 2 Kontakten pro Woche für Onlinevideo im Zusammenspiel mit TV. 7.Fazit Relevante Zielgruppen alleine über die Gattung TV zu erreichen wird immer schwieriger beziehungsweise kostenintensiver. Der Anteil von Personen, die kein TV mehr schauen, wächst auf niedrigem Niveau kontinuierlich an. Dagegen entwickelt sich Online als ein Massenmedium, dessen Nutzungsintensität sich über alle Zielgruppen hinweg wesentlich konstanter darstellt. Bei den Online-Display-Werbeformaten ist es vor allem das Bewegbildformat („Preroll”), auf das so gut wie alle Vermarkter ihre Hoffnung setzen. Mit dem hier vorgestellten neuartigen methodischen Ansatz konnten wir Ergebnisse der medienspezifischen Messung und Befragung von Marken-Impact der isolierten und kombinierten Medien TV und Online-Bewegbild aufzeigen. Die von uns formulierte Hypothese hat sich in nahezu allen relevanten Markenwerten bestätigt: Online-Bewegtbild ist eine relevante und effiziente Ergänzung zu TV im Rahmen der BewegtbildStrategie eines Unternehmens. Das Werbeformat Preroll auf YouTube hat über TV hinaus einen positiven Einfluss auf den Marken-Impact und erhöht die Kampagnen-Effizienz um 27 Prozent im Bereich Werbeerinnerung. 37 Durch die saubere und eindeutige Aufteilung der Teilgruppen können wir einen kampagnenspezifischen Impact der untersuchten Marke durch entsprechende Kommunikation im TV und/oder auf YouTube nachweisen, die andere Effekte ausschließt. Dazu zeigt sich, dass mit dem Einsatz des Mediums Online eine kosteneffiziente Erweiterung der Kampagnenreichweite in der Zielgruppe erreicht werden kann. Die inkrementelle Reichweite durch das Medium Online kann wesentlich günstiger eingekauft werden als bei einer alleinigen TV-Strategie. Auf Seiten der Mediaplanung legt unsere Forschung nahe, für eine crossmediale Kampagne ein OTS-Niveau (OTS: Opportunity to see) von insgesamt 5 bis 7 Kontakten anzustreben, da unter diesen Bedingungen die Wirkung einer Kampagne am effizientesten abgefangen wird. Online-Video sollte dabei bis zu 2 Kontakte pro Kampagnenwoche beisteuern, der Rest aus TV kommen. In Folgestudien gilt es, die Basis an Daten zu festigen und mit Detailanalysen weitere mediaspezifische Fragestellungen zu beantworten. Mit dem hier gewählten Ansatz konnten wir die methodischen Schwächen des Studiotests umgehen, um relevante Impulse für die Mediaplanung zu geben. 8.Ausblick Mediaagenturen und Entscheider fordern zu Recht eine integrierte Betrachtungsweise zur Planung und Steuerung aller relevanten Mediengattungen. Diese Art der Studienanalyse ist ein erster Schritt in eine wirklich integrierte Konvergenzwährung, welche die Mediaplaner schon länger von der Marktforschung und den entsprechenden Gremien fordern. Das hier aufgezeigte Studienkonzept unterliegt keiner technischen Einschränkung im Hinblick auf die Art von OnlineDisplay-Formaten wie Banner, Preroll, Wallpaper etc., solange diese eine feste Platzierung und genug Reichweite im Panel generieren. Die Simulationen von Paid Content in Social-Media-Netzwerken stellt eine weitere Stufe dar, um BrandingEffekte und deren Kombination mit Social-Media-Aktivitäten zu untersuchen. BVM EDITION Kongress-Special 2012 Preisträger Best Paper 2012 38 Multi-Sensory Sculpting Dr. Maria Kreuzer und Dr. Sylvia von Wallpach, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, zur Erhebung multisensorischen Markenwissens anhand dreidimensionaler Skulpturen* Markentheoretiker betonen zunehmend die Bedeutung multisensorischer Markenerlebnisse für die Entwicklung multisensorischen Markenwissens. Die Abrufung multisensorischen Markenwissens bedarf einer Stimulation jener Sinne, die während des Markenerlebnisses beteiligt waren, sowie der Möglichkeit zu metaphorischem Ausdruck. Bestehende Erhebungsmethoden erfüllen diese Voraussetzungen nur begrenzt. Die von Kreuzer und von Wallpach vorgestellte Methode des Multi-Sensory Sculpting beschreibt ein Instrument, das diese Lücke schließt. Konsumenten erleben Marken auf unterschiedlichste Art und Weise – zum Beispiel über Produkte, den Point-of-Sale, Markenkommunikation, andere Markenverwender – in unterschiedlichen Situationen und mit allen Sinnen (Brakus et al. 2009; Schmitt 1999). Markentheoretiker betonen zunehmend die Bedeutung dieser multisensorischen Markenerlebnisse für die Entwicklung multisensorischen Markenwissens (Christensen & Olson 2002; Keller 2009; Zaltman 1997). Um nichtbewusstes, multisensorisches Wissen abzurufen, müssen daher jene Sinne wieder stimuliert werden, die an der ursprünglichen Entstehung von Wissen während des Markenerlebnisses beteiligt waren. Psychologischen und neurologischen Erkenntnissen zufolge zeichnet sich dieses Wissen dadurch aus, dass es (a) auf einer nichtbewussten Ebene und in jener sensorischen Form gespeichert wird, in welcher der Konsument die Marke erlebt. Bilder werden zum Beispiel als visuelle Metaphern im Gedächtnis repräsentiert (Barsalou 1999; Damasio 1994). (b) über Metaphern zum Ausdruck kommt (Zaltman 1997). Um nichtbewusstes, multisensorisches Wissen abzurufen, müssen daher jene Sinne wieder stimuliert werden, die an der ursprünglichen Entstehung von Wissen während des Marken Dr. Maria Kreuzer Projektleiterin, Institut für Marketing – Strategieberatung, und wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Strategisches Management, Marketing und Tourismus, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck BVM EDITION Kongress-Special 2012 erlebnisses beteiligt waren (Barsalou 1999). Zudem muss der metaphorische Ausdruck dieses Wissens gefördert werden (Zaltman 1997). Markenmanager bemühen sich zunehmend um die Gestaltung multisensorischer Markenerlebnisse, die zu einem unverwechselbaren Bild der Marke im Gedächtnis des Konsumenten führen sollen. Lediglich die Markenwissenserhebung, welche eine wichtige Funktion des Marken-Monitorings darstellt, vernachlässigt es, dem multisensorischen Charakter des Markenwissens Rechnung zu tragen. Gängige Methoden zur Erhebung von Markenwissen – beispielsweise Skalierungsverfahren, freie Assoziationstechniken, narrative Interviews – zielen mehrheitlich auf bewusste, verbal gespeicherte Wissensinhalte ab (Woodside 2004). Nur wenige Methoden (zum Beispiel Collagetechniken, Zaltman Metaphor Elicitation Technique) setzen es sich zum Ziel, zu nichtbewusstem multisensorischem Wissen vorzudringen, indem sie den Konsumenten sinnlich stimulieren (Blümelhuber 2004; Zaltman 1997). Diese Methoden beschränken sich aktuell aber vorwiegend auf die Stimulation des Sehsinns und vernachlässigen damit andere Sinne, die ebenfalls zu multisensorischem Markenwissen führen. Umfassende Einblicke in multisensorisches Markenwissen bleiben bislang verwehrt. Die Methode des Multi-Sensory Sculpting schließt diese Lücke, indem sie Konsumenten multisensorisch aktiviert und eine multisensorische, metaphorische Darstellung von Markenwissen ermöglicht. Dr. Sylvia von Wallpach Visiting Scholar, Copenhagen Business School, Dänemark, und Assistant Professor of Marketing, Institut für Strategisches Management, Marketing und Tourismus, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck 39 Zur Methode des Multi-Sensory Sculpting (MSS) 1. MSS Toolkit Multi-Sensory Sculpting arbeitet mit einem Toolkit, das aus einer breiten Auswahl multisensorischer abstrakter Materialien besteht (vgl. Sims & Doyle 1995). Diese Materialien dienen dazu, all jene Sinne zu stimulieren, die während des ursprünglichen Markenerlebnisses involviert waren. Die Materialien erlauben es dem Konsumenten, schwer verbalisierbares multisensorisches Wissen in der Form zum Ausdruck zu bringen, in der es im Gedächtnis gespeichert ist (Kosslyn 1995). Das Toolkit ist Resultat eines intensiven BrainstormingProzesses, in dem diverse Sinne wie Sehsinn, Gehörsinn, Geruchsinn, Geschmacksinn und Haptik mit Eigenschaften von tatsächlichen Objekten wie beispielsweise rot, schrill, fruchtig, hart, die Teil des Markenerlebnisses des Konsumenten sein können, in Verbindung gebracht wurden. Um die Kreativität der Konsumenten nicht einzuschränken, wurden bewusst abstrakte Materialien, zum Beispiel Holzsteine, Watte, Nahrungsmittel, Gerüche gewählt, die keine beziehungsweise möglichst wenig vordefinierte Bedeutung haben. Tabelle 1 zeigt einen Ausschnitt der im MSS Toolkit enthaltenen Materialien sowie deren Objekteigenschaften und von ihnen stimulierten Sinne. Der Vorteil des Toolkits besteht vorwiegend darin, dass allen Teilnehmern dieselben Materialien zur Verfügung stehen und damit die Vergleichbarkeit der Ergebnisse für einzelne Marken aber auch über verschiedene Marken hinweg gesteigert werden kann. Tabelle 1: Beispiele für Elemente des MSS Toolkit 2. Datenerhebungsprozess Der Datenerhebungsprozess beginnt mit einer freien Explorationsphase, in der die Teilnehmer aufgefordert werden, die zur Verfügung stehenden Materialien mit allen Sinnen zu erkunden. Diese erlaubt es den Teilnehmern, sich mit den unterschiedlichen Materialien vertraut zu machen. Ziel der ersten Phase ist es, die Teilnehmer multisensorisch zu stimulieren und damit auf die eigentliche Konstruktionsaufgabe vorzubereiten. In einem zweiten Schritt erhalten die Teilnehmer dann die eigentliche Aufgabenstellung, die wie folgt lautet: „Bitte verwenden Sie die zur Verfügung stehenden Materialien, um eine Skulptur zu bauen, welche die Bedeutung der Marke x für Sie widerspiegelt”. Die Teilnehmer erhalten keine weiteren Anweisungen, welche Materialien sie verwenden sollen oder wie sie diese Materialien zu einer Skulptur vereinen sollen. Sie können so ihrer Kreativität freien Lauf lassen und intuitiv jene Materialien wählen, die ihrem Markenwissen am besten Ausdruck verleihen. BVM EDITION Kongress-Special 2012 40 oder Mitarbeiter anwendbar. Eine minimale Stichprobengröße von 15 bis 20 Probanden ist empfehlenswert (vgl. Zaltman 1997). Um die Teilnehmer nicht unter Druck zu setzen, gibt es auch keine zeitliche Beschränkung für die Erstellung der Skulptur. Das Ergebnis dieser ersten Phase ist eine Skulptur, welche die Bedeutung der Marke aus Sicht des Teilnehmers darstellt (siehe Abbildung 1 für ein Beispiel einer Skulptur, welche die Markenbedeutung einer österreichischen Luxusmarke verkörpert). 3. Datenanalyse und -darstellung Der Fokus der Datenanalyse liegt auf den Bedeutungen, die über verbale Metaphern Abbildung 1: Exemplarische Markenskulptur einer österreichischen Luxusmarke Erste Anwendungen der Methode bei knapp 150 Probanden und über 7 Marken aus unterschiedlichen Branchen (Bildungs-, Finanz- und Gesundheitswesen, Konsumgüterindustrie, Informationstechnologie, Tourismus) hinweg zeigen, dass die Aufgabenstellung für die Teilnehmer leicht verständlich und auch einfach durchführbar ist. Viele Teilnehmer betonten vor allem die Attraktivität des Spielcharakters, welcher der MSS-Methode innewohnt: „Das hat Spaß gemacht, wieder mal zu basteln” (Hugo, 35 Jahre). Im letzten Schritt der Datenerhebungsphase werden die entstandenen Markenskulpturen als multisensorische Stimuli für ein projektives narratives Interview verwendet (Heisley & Levy 1991). In Einzelinterviews bringt der Teilnehmer die Bedeutung einzelner Materialien sowie die Bedeutung der Gesamtskulptur nochmals verbal zum Ausdruck. Die während dieses Interviews generierten Metaphern, das heißt verbale Ausdrücke, die nicht in ihrer wörtlichen, sondern in einer übertragenen Bedeutung verwendet werden, bieten vertiefende Einblicke in das multisensorische Markenwissen des Teilnehmers (vgl. Johnson 2009; Lakoff & Johnson 1999). Abbildung 2: Embodied Brand Knowledge Map einer österreichischen Luxusmarke Cold Charisma 7 sowie über multisensorische Materialien zum Ausdruck kommen. Die Datenanalyse involviert sowohl die teilnehmenden Probanden als auch die Forscher. In einem ersten Schritt explizieren die Teilnehmer die Bedeutung ihrer Skulpturen und bestätigen damit ihre eigenen Interpretationen mittels „confirmatory personal introspection” (Woodside 2004). Mindestens zwei Forscher wenden dann getrennt voneinander Prinzipien der hermeneutischen Textanalyse (Arnold & Fischer 1994; Thompson 1997) mit einem speziellen Fokus auf Metaphern auf die verbalen Ausführungen an. Die Metaphern werden zunächst gemäß der von Johnson (1987) vorgeschlagenen Typologie klassifiziert und dann auf ihre zugrundeliegende Bedeutung hin analysiert. Die verbalen Metaphern werden zudem konstant mit den multisensorischen Materialien in Verbindung gebracht, die die verbalen Ausführungen ursprünglich stimulierten. Der Datenerhebungsprozess beginnt mit einer freien Explorationsphase, in der die Teilnehmer aufgefordert werden, die zur Verfügung stehenden Materialien mit allen Sinnen zu erkunden. Light Reflection 9 is associated with is associated with Tradition 13 Structure 9 Ephemeral 10 is part of is associated with is associated with Fantasy World 34 Reality 10 contradicts is associated with is associated with is associated with is associated with Core 29 is associated with Periphery 16 Fragility 14 Simplicity 5 is cause of contradicts Softness 5 Opulence 12 Robustness 11 is cause of Unnecessity 7 Die Skulpturen werden schließlich fotografiert, die dazugehörigen verbalen Ausführungen auf Tonträger aufgezeichnet und anschließend wörtlich transkribiert. Der hier beschriebene Prozess ist für Marken verschiedenster Branchen sowie zur Erhebung des verkörperten Markenwissens diverser Interessensträger einer Marke wie zum Beispiel Konsumenten BVM EDITION Kongress-Special 2012 Die Forscher gleichen ihre individuellen Ergebnisse dann ab, um ein konsensuales Verständnis bezüglich der zentralen Markenbedeutungen der Teilnehmer zu generieren. Die Ergebnisse werden schließlich in die qualitative Analysesoftware ATLAS.ti eingespeist, die eine Aggregation und graphische Darstellung der Daten in einer sogenannten „Embodied Brand Knowledge Map” (EBKM) ermöglicht. Diese illustriert die am häufigsten auftretenden Markenbedeutungen über alle Probanden hinweg, Verbindungen zwischen diesen Bedeutungen sowie die Sinne, durch welche die Markenbedeutungen aktiviert wurden. Um in die EBKM aufgenommen zu werden, muss eine Bedeutung von mindestens einem Drittel der Befragten genannt werden (vgl. Zaltman & Coulter 1995). 4. Exemplarische Embodied Brand Knowledge Map Die in Abbildung 2 dargestellte EBKM aggregiert die zentralen Markenbedeutungen von 15 Konsumenten – sechs Frauen und neun Männern – bezüglich einer international operierenden österreichischen Luxusmarke. Insgesamt wurden 21 Markenbedeutungen über alle Teilnehmer hinweg identifiziert. Durchschnittlich nannte jeder Teilnehmer 6 Bedeutungen (Mehrfachnennungen waren möglich). Die den Bedeutungen beigestellte Zahl bringt zum Ausdruck, wie häufig eine Bedeutung genannt wurde. Die den Bedeutungen beigestellten Symbole indizieren, welche Sinne bei der Abrufung der Bedeutung über die Skulptur aktiviert wurden. Die Verbindungen zwischen einzelnen Bedeutungen veranschaulichen die aggregierten Markenassoziationsketten der Teilnehmer. Diese Verbindungen können assoziativer, kausaler, partizipativer oder kontradiktorischer Natur sein. Im Zentrum der EBKM steht die Dichotomie von „Fantasiewelt” und „Realität”, die die Bedeutung der Marke für die teilnehmenden Konsumenten stark charakterisiert. Diese zwei Bedeutungen bilden den Ausgangspunkt für mehrere Assoziationsketten, welche wiederum die Bedeutung dieser Konzepte speisen. Konsumenten nutzen zahlreiche verbale Metaphern wie „Träume”, „auf Wolken schweben”, „Winter Wonderland”, „Glitter und Bling Bling”, „Märchenland”, „eine weit entfernte Welt” sowie multisensorische Materialien – zum Beispiel Watte, Aluminiumfolie, Glitter, Schmucksteine und Kristalle in kalten Farben, Perlen, weiße Wachssteine – zur Untermauerung der Bedeutung „Fantasiewelt”. Fragilität und Vergänglichkeit werden stark mit Fantasiewelt in Verbindung gebracht. Die Bedeutung „Realität” wird hingegen durch verbale Metaphern wie „Alltäglichkeit”, „Natur” oder „wirkliches Leben” zum Ausdruck gebracht. Konsumenten nutzen natürliche, solide Materialien in Erdtönen, um dieser Bedeutung Ausdruck zu verleihen – zum Beispiel mit Materialien wie Baumrinde, Moos, Korken, Nüssen, Tannenzapfen, Steinen und Lego. Die Bedeutungen Tradition und Struktur stehen in enger Verbindung zu Realität. Abbildung 1 zeigt eine Markenskulptur, die diese Dichotomie klar zum Ausdruck bringt. Im Zentrum befindet sich das Wertvolle, Zerbrechliche, Surreale – dargestellt durch glänzende Edelsteine und Glitter. Dieser Kern ist umgeben von einer Schicht Watte sowie von einem Kranz aus Rosenblättern, die das wertvolle Innere von der harten Realität schützen sollen, die die Skulptur umgibt. Der Fokus der Datenanalyse liegt auf den Bedeutungen, die über verbale Metaphern sowie über multisensorische Materialien zum Ausdruck kommen. Innovationsgehalt und Praxistauglichkeit der Methode Die Methode des Multi-Sensory Sculpting stellt eine Innovation im Bereich der Markenwissenserhebung dar, da sie Forschern sowie Praktikern die Möglichkeit bietet, Zugriff zu multisensorischem Wissen verschiedener „Markeninteressensträger” zu gewinnen. Im Gegensatz zu bestehenden Erhebungsmethoden arbeitet MSS mit abstrakten Materialien, die jene Sinne stimulieren, welche an der ursprünglichen Wis- sensentstehung beteiligt waren. Die multisensorischen Markenskulpturen, die während des Prozesses entstehen, sind selbst Ausdruck von Markenwissen und dienen des Weiteren als Stimuli für eine darauf folgende verbale Markenwissenserhebung. Diesem methodischen Ansatz liegt die Annahme zugrunde, dass Probanden aufgrund der vorherigen multisensorischen Stimulation auf Wissensinhalte zugreifen können, die mit rein verbalen Verfahren nicht abrufbar wären. 41 Die Bedeutung „Realität” wird hingegen durch verbale Metaphern wie „Alltäglichkeit”, „Natur” oder „wirkliches Leben” zum Ausdruck gebracht. Konsumenten nutzen natürliche, solide Materialien in Erdtönen, um dieser Bedeutung Ausdruck zu verleihen Die durch MSS erlangten vertiefenden Einblicke in multisensorisches Markenwissen sind von äußerster Relevanz für Markenmanager. Je nach Ziel der Studie kann das Markenmanagement, um Einblicke in das multisensorische Markenwissen von Individuen zu erlangen, MSS auf individueller Ebene anwenden. Es kann aber ebenso in Gruppen einsetzt werden, um Gruppendiskussion und gemeinsame Markenentwicklung zu forcieren. Ein Anwendungsgebiet für die Methode ist die Markenstrategieentwicklung. Mithilfe von MSS kann beispielsweise die vom Management intendierte Markenbedeutung erarbeitet werden. Die während eines Strategieworkshops entstandene Markenskulptur kann als starkes multisensorisches Symbol für die gemeinsam erarbeiteten Ergebnisse dienen. MSS kann des Weiteren im Markenmonitoring Einsatz finden. Markenmanager erhalten beispielsweise vertiefende Einblicke in das multisensorische Markenwissen ihrer Konsumenten sowie ein Verständnis der zugrundeliegenden multisensorischen Markenerfahrungen. Ein Vergleich des so erhobenen Markenwissens über mehrere Erhebungszeitpunkte hinweg kann Informationen bezüglich des Erfolges diverser operativer multisensorischer Marketingmaßnahmen liefern. Die so gewonnenen Ergebnisse können zudem zukünftigen Handlungsbedarf aufzeigen und als Basis für die Entwicklung konkreter operativer Markenführungsmaßnahmen dienen, wie zum Beispiel für die Gestaltung von Markenerlebnissen am POS. Referenzen zum Text sind auf Anfrage bei den Autorinnen erhältlich. *) Der Beitrag basiert auf der Publikation: von Wallpach, Sylvia; Kreuzer, Maria (forthcoming). Multi-sensory sculpting (MSS): Eliciting brand knowledge via multi-sensory metaphors. Journal of Business Research, Special Issue on Advancing Research Methods in Marketing. Für weitere Informationen besuchen Sie bitte: www.multisensorysculpting.com BVM EDITION Kongress-Special 2012 Nominiert für das Best Paper 2012 42 Neuroökonomische Marketingforschung Dr. Nadine Hennigs und Dr. Steffen Schmidt, Leibniz Universität Hannover zur Bestimmung ganzheitlicher Markenwirkung anhand expliziter und impliziter Erhebungstechniken Die Erkenntnis der Neuroökonomie, dass starke Marken ihre spezifische Anziehungskraft auf einer expliziten sowie impliziten Ebene entfalten, trifft mittlerweile auf eine breite Zustimmung. Erstaunlich hierbei ist, dass es trotzdem an einem ganzheitlichen Mess- und Steuerungskonzept mangelt, das beide Ebenen systematisch verknüpft und zur Entscheidungsfindung analysiert. Die Autoren thematisieren ein derartiges Konzept auf Basis neuroökonomischer Erkenntnisse theoretisch und konzeptionell und stellen die Ergebnisse einer Kausalanalyse vor. Der immaterielle Werttreiber „Marke” bildet nach wie vor ein relevantes und dominierendes Thema sowohl in der Marketingpraxis als auch der Marketingwissenschaft. Das hohe Interesse an dieser Thematik lässt sich in erster Linie durch den Erfolg starker Marken wie zum Beispiel Apple oder CocaCola begründen. Derartig starken Marken gelingt es scheinbar spielend, die Bestposition auf bestehenden Märkten über Jahrzehnte hinweg erfolgreich zu verteidigen oder sich auf neuen Märkten in kürzester Zeit zu etablieren. Das Geheimnis dieser Marken liegt in der besonderen Anziehungskraft, die sich im Gehirn der Kunden entfaltet. Dass dieser Erfolg nicht selbstverständlich ist, verdeutlicht die hohe Floprate bei der Einführung neuer Produkte. Das Geheimnis dieser Marken liegt in der besonderen Anziehungskraft, die sich im Gehirn der Kunden entfaltet. Dass dieser Erfolg nicht selbstverständlich ist, verdeutlicht die hohe Floprate bei der Einführung neuer Produkte: Je nach Quelle scheitern weltweit zwischen 40 und 90 Prozent aller Neuprodukteinführungen in den ersten zwölf Monaten. Und das, obwohl in der Regel im Vorfeld Ergebnisse aus der konventionellen Marktforschung auf einen Erfolg dieser Produkte nach Markteinführung hingedeutet haben. Ursächlich für das letztendliche Scheitern im Markt scheinen in der Regel ein mangelndes beziehungsweise nur oberflächliches Kundenverständnis und damit eine verfehlte Kundenansprache zu sein. Dr. Nadine Hennigs Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Marketing und Management, Leibniz Universität Hannover, tätig in den Forschungsschwerpunkten Luxusmarketing, Markenmanagement, Methoden der Marketingforschung, Zielkundenmanagement, Finanzdienstleistungsmarketing BVM EDITION Kongress-Special 2012 Den Erkenntnissen der Neuroökonomie folgend läuft das Gros der menschlichen Wahrnehmungs- und Verhaltensprozesse automatisch beziehungsweise unbewusst ab. Klassische Erhebungstechniken, wie zum Beispiel die weit verbreiteten schriftlichen oder mündlichen Befragungen, sind nicht in der Lage, diese implizite Ebene (zusätzlich) zu erfassen. Ebenso erlauben es traditionelle Analysemethoden nicht, die komplexen Wirkungszusammenhänge zwischen Markenstärke, Markenwahrnehmung und Markenverhalten zur fundierten Unterstützung von Entscheidungen für das Markenmanagement kausalanalytisch zu bestimmen. Allerdings lässt sich eine Marke ohne eine verhaltenswissenschaftliche Messung und fundierte Analyse der Markenwirkung letzten Endes nur unzureichend und „auf kurze Sicht fliegen” beziehungsweise managen, aber nicht langfristig am Markt positionieren und halten. Forschungsfragen und -ziele Der konkrete Forschungsbedarf ergibt sich aus der Erkenntnis, dass die nachhaltige Kraft von Marken allein in den Köpfen der Kunden entfaltet wird. Vor dem Hintergrund der vorab skizzierten Aktualität der Themenrelevanz können dabei die folgenden Forschungslücken identifiziert werden: Theoretisch: Bisher existiert kein managementorientiertes Mess- und Steuerungskonzept, das eine explizite und implizite Markenwirkungsebene zur Identifikation und Optimierung von markenwertsteigernden Erfolgsfaktoren gleichzeitig berücksichtigt. Dr. Steffen Schmidt Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Marketing und Management, Leibniz Universität Hannover, tätig in den Forschungsschwerpunkten Markenmanagement, Neuroökonomie, Usability, User Experience, Data Mining 43 Empirisch: Ebenso fehlt es bislang an einer ganzheitlichen Bestimmung der expliziten und impliziten Wirkungspotenziale einer Marke unter Anwendung leistungsstarker Kausalanalysen in Bezug auf die kundenseitige Markenwahrnehmung und das tatsächliche Markenwahlverhalten. Abbildung 1: Prozesse der Informationsverarbeitung nach Camerer et al. (2005) Methodisch: Des Weiteren mangelt es an einem systematischen und zielgerichteten Einsatz von kausalanalytischen Analysetechniken (Ursache-Wirkungs-Prinzip) zur simultanen Auswertung von expliziten und impliziten Erhebungsdaten. Die primäre Zielsetzung des vorliegenden Beitrags besteht vor diesem Hintergrund darin, einen nachhaltigen Erkenntnisgewinn zur expliziten und impliziten Wirkung von Marken für die Marketingpraxis und -wissenschaft zu liefern. Hierzu sollen die wahrnehmungs- und verhaltensbestimmenden Wirkungsbereiche einer Marke eindeutig definiert, ein kombinierter Messinstrumenteneinsatz zur Erfassung der impliziten und expliziten Ebene konzipiert sowie die werttreibenden Wirkungsbereiche auf ausgewählte Key-Performance-Indikatoren des Marketings wie zum Beispiel Image, Vertrauen, Loyalität und Kaufabsicht empirisch ergründet werden. Mehrwert eines kombinierten Einsatzes von expliziten und impliziten Erhebungsverfahren Die wissenschaftliche und praktische Marketingforschung ist sich verstärkt der Limitationen traditioneller Erhebungstechniken bewusst. Gerade die jüngere Forschung zeigt, insbesondere auf dem Gebiet der Neurowissenschaften, dass die unbewussten, impliziten Vorgänge im menschlichen Gehirn die Entscheidung für oder gegen ein Produkt beziehungsweise eine Marke stark beeinflussen. Konventionelle Studien zu Konsumentscheidungen nutzen klassische Erhebungstechniken wie schriftliche Befragungen oder telefonische Interviews. Im Alltag auftretenden Herausforderungen der Marketingforschung bei der Datenerhebung wie soziale Erwünschtheit oder Introspektionsfähigkeit (zum Beispiel Erinnerungsleistung) können mit klassischen Methoden nicht hinreichend valide und reliabel begegnet werden. Daneben gibt es speziell in der wissenschaftlichen Forschung einen verstärkten Trend in Bezug auf den Einsatz von neuartigen Verfahren der Neurowissenschaften, die einen direkteren Zugang ermöglichen, um die besonders verhaltensrelevanten impliziten Hirnprozesse zu erfassen. Diese Verfahren setzen meist auf die Erfassung von Hirnaktivitäten – zum Beispiel via funktioneller Magnetresonanztomographie oder Elektroenzephalographie – beziehungsweise physiologischen Körperreaktionen wie zum Beispiel via Hautwiderstandsmessung oder Elektrokardiogramm. Ein klarer Vorteil von neurowissenschaftlichen Erhebungsverfahren ist dabei auch der Zeitpunkt der Erhebung, gerade im Hinblick auf die Konsumentenreaktion bei der Darbietung von Marketingstimuli wie beispielsweise Printanzeigen, Werbespots, PR-Events etc. Während konventionelle explizite Methoden ihrer Anlage entsprechend nur eine asynchrone Erhebung erlauben, in der der Zeitpunkt des Marketingkontaktes vor dem Zeitpunkt der Erhebung der Konsumentenreaktion liegt, sind neurowissenschaftliche implizite Verfahren (meistens) zur synchronen Erhebung fähig. Der Zeitpunkt des Marketingkontaktes entspricht meist genau dem Zeitpunkt der Datenerhebung. Während explizite Methoden sich der Problematik stellen müssen, dass der Befragte willig und fähig ist, eine Antwort abzugeben, unterliegen implizite Verfahren insbesondere einem kulturellen Einfluss, wie zum Beispiel soziokulturell geprägten Vorurteilen. An dieser Stelle ist allerdings zu betonen, dass die alleinige Konzentration auf implizite Verfahren zu kurz greift und ebenso Gefahren aufweist. Während explizite Methoden sich der Problematik stellen müssen, dass der Befragte willig und fähig ist, eine Antwort abzugeben, unterliegen implizite Verfahren insbesondere einem kulturellen Einfluss, wie zum Beispiel soziokulturell geprägten Vorurteilen, die nicht notwenBVM EDITION Kongress-Special 2012 44 digerweise für das einzelne Individuum entscheidungs- und damit verhaltensrelevant sein müssen. Explizit-bewusste und implizit-unbewusste Markenbewertungen stellen also in ihrer Kombination unterschiedliche Facetten der Wahrnehmung und des Verhaltens auf Seiten der Konsumenten dar. Demnach ist auch ein integrierter Ansatz unabdingbar, der sowohl explizite als auch implizite Methoden einbezieht, um zum Beispiel die ganzheitlichen Entscheidungsprozesse von Kunden bei der Markenwahl im Detail zu verstehen und im Markenmanagement entsprechend berücksichtigen zu können. Informationen (zum Beispiel Imageanzeigen) über seine Sinnessysteme aufnimmt, speichert und verarbeitet. Dabei gilt aufgrund unterschiedlicher expliziter und impliziter Informationsverarbeitungsrouten, dass nicht alle aufgenommenen, abgespeicherten und verarbeiteten Informationen stets verfügbar und zugänglich sind, aber dennoch entscheidungs- und verhaltensrelevant sein können. Aus Sicht des Markenmanagements bietet sich hierbei das Vier-Felder-Modell von CAMERER / LOEWENSTEIN / PRELEC (2005) als strukturierter Messund Steuerungsansatz an, der in Abbildung 1 dargestellt ist. Herleitung des konzeptionellen Bezugsrahmens Aus kognitionswissenschaftlicher Sicht stellt jeder Mensch ein informationsverarbeitendes System dar. Ein modelltheoretischer Ansatz dieser Informationsverarbeitung stellt das Consumer Information Processing (CIP) dar. Etwas verknappt dargestellt beschreibt dieser Theorieansatz alle im Inneren ablaufenden Hirnaktivitäten, mit denen der Mensch beziehungsweise der Konsument als ein psychisches System Diesem zweidimensionalen Modell zufolge lassen sich die Informationsverarbeitungsprozesse als explizit oder implizit und kognitiv oder affektiv einteilen, wodurch sich vier Verarbeitungsmodi ergeben: explizit-kognitiv, explizit-affektiv, implizit-kognitiv, implizit-affektiv. Explizit-kognitiver Ursache sind zum Beispiel reflektierte Einschätzungen oder Urteile, dagegen sind bewusst gewordene Gefühle wie Freude oder Sympathie explizit-affektiver Natur. Derweil basieren spontane Erinnerungen oder intuitives Wissen in erster Linie auf implizit-kognitiven Prozessen, Impulskäufe dagegen primär auf implizit-affektiven Prozessen. Diese vier Verarbeitungsmodi bestimmen in ihrer Gesamtheit wiederum die Markenwahrnehmung und das Markenverhalten. Abbildung 2 stellt den konzeptionellen Bezugsrahmen dar. Abbildung 2: Konzeptionelles Untersuchungsmodell Abbildung 3: Eingesetzte implizite Messmethoden – EEG und SC-IAT Abbildung 4: Empirisches Untersuchungsmodell Design der Studie Die Erfassung der Markenwahrnehmung erfolgte über eine schriftliche Befragung bezüglich des wahrgenommenen Markenimages und Markenvertrauens. Das Markenverhalten ist anhand einer schriftlichen Abfrage der Markenloyalität und zukünftigen Kaufabsicht erfasst worden. Sowohl zur Markenwahrnehmungs- als auch zur Markenverhaltensmessung wurde eine 5er-Rating-Skala eingesetzt (1 = stimme überhaupt nicht zu bis 5 = stimme voll und ganz zu). Um das Ausmaß zu bestimmen, inwiefern welcher Verarbeitungsmodus die Markenwahrnehmung und das Markenverhalten beeinflusst, wurde jeder Verarbeitungsmodus separat erfasst und als einzelne latente Variable im Untersuchungsmodell abgebildet. Konkret ist zur Bestimmung der beiden expliziten Dimensionen eine schriftliche Befragung mit Hilfe von sieben-poligen semantischen Differenzialen eingesetzt worden, in der konkret die Glaubwürdigkeit (explizit-kognitiv) und die Einstellung (explizit-affektiv) bestimmt wurden. Die Erfassung der beiden impliziten Dimensionen erfolgte anhand einer Reaktionszeit- und einer Hirnstrommessung. Für die Reaktionszeitmessung kam ein Single Category Implicit Association Test (SC-IAT) zum Einsatz, mit dem Ziel, die implizitkognitive Ebene zu erfassen. Als Erhebungssoftware wurde Inquisit 3.04 von Millisecond Software eingesetzt. Die Hirnstrommessung ist mit einem Elektroenzephalogramm (EEG) bestimmt worden. Hierzu wurde das EEG-Headset EPOC von Emotiv verwendet, das 14 Elektroden umfasst. Konkret ging es bei der Hirnstrommessung um die Erfassung der mentalen Engagement- und Meditationsaktivierung, die von dem verwendeten EPOC Headset automatisch ausgegeben wird. Vorstudien zeigten, dass die beiden mentalen Aktivierungszustände eine links- beziehungsweise rechtsseitige Dominanz BVM EDITION Kongress-Special 2012 des Vorderhirns anzeigen und stark mit der konsumentenseitigen Markenpräferenz und dem Markenbesitz korrelierten. Zur Synchronisierung der EEG-Daten mit den auf dem Bildschirm dargebotenen Markenlogos kam die Software i² Visualizer von eye square zum Einsatz. In Abbildung 3 sind beide implizite Messmethoden dargestellt. 28 gesunde, rechtshändige Probanden (Geschlechterverhältnis: 53,6 Prozent weiblich und 46,4 Prozent männlich) wurden im Sommer 2011 zur Durchführung der Studie rekrutiert. Jeder Studienteilnehmer hatte mit Volkswagen und Continental zwei Marken aus der Automotive-Branche zu bewerten. Die Studie setzte hierbei auf einem Vorher-Nachher-Design auf. Nachdem die Probanden beide Marken ein erstes Mal bewertet hatten, sahen sie sich PR-Event-Videos von beiden Marken an, um anschließend noch einmal eine Markenbewertung vorzunehmen. Damit ergaben sich zur anschließenden Datenauswertung insgesamt 112 Datenpunkte beziehungsweise Nettobewertungen (28*2*2). Die ganzheitliche und simultane Auswertung erfolgte unter Rückgriff auf das kausalanalytische Strukturgleichungsverfahren Partial Least Squares (PLS) und die Software SmartPLS 2.0. Alle expliziten und impliziten Messinstrumente erreichten zufriedenstellende Reliabilitäts- und Validitätswerte. Insbesondere die Split-Half-Reliabilitätswerte der SC-IAT- und der EEG-Messung überzeugten durch Reliabilitätskoeffizienten von über 0.6, was bereits als sehr gut für implizite Methoden interpretiert werden kann. In Abbildung 4 sind die Pfadkoeffizienten der PLS-Analyse abgetragen. Das aufgestellte Kausalmodell erzielt mit R²-Werten von über 0.6 eine sehr gute Modellgüte. Die durchgeführte Studie kann hierbei eindeutig aufzeigen, dass die Wirkung einer Marke auf die Markenwahrnehmung und das Markenverhalten sowohl von einer expliziten als auch einer impliziten Ebene ausgeht. Die Markenwahrnehmung wiederum hat einen direkten Effekt auf das Markenverhalten. Als besonders interessant erweist sich das Ergebnis, dass beide kognitive Dimensionen auf direktem Wege (lediglich) die Markenwahrnehmung beeinflussen, während von beiden affektiven Dimensionen eine Wirkung sowohl auf die Markenwahrnehmung als auch auf das Markenverhalten ausgeübt wird. Im Detail geht in dieser Studie der stärkste direkte Effekt auf die Markenwahrnehmung von der explizit-affektiven Ebene aus, gefolgt von der explizit-kognitiven und der implizit-kognitiven Ebene. Der direkte Einfluss der implizit-affektiven Dimension auf die Markenwahrnehmung fällt zwar schwach aus, ist aber noch auf einem 90-Prozent-Niveau signifikant und im Rahmen einer explorativen Studie wie der vorliegenden durchaus akzeptabel. In Bezug auf das Markenverhalten geht ebenso von der explizit-affektiven Ebene die stärkste Wirkung aus. Im Vergleich fällt der direkte Einfluss der implizit-affektiven Wirkungsebene etwa halb so hoch aus. Er ist in diesem Fall aber auf dem 99-Prozent-Niveau hochsignifikant. Im Gegensatz hierzu konnte weder von der explizit-kognitiven noch der implizit-kognitiven Wirkungsdimension ein direkter Effekt auf das Markenverhalten bestimmt werden. Die Ergebnisse zeigen deutlich den ökonomischen Managementwert einer affektiven Markenwirkung auf der expliziten und impliziten Ebene für oder auf ein positives Kundenverhalten an. Gleichzeitig implizieren die Ergebnisse, dass kognitive Bewertungen beziehungsweise Argumentationen, egal ob expliziter oder impliziter Natur, sozusagen als notwendige Bedingungen fungieren, indem sie die Markenwahrnehmung stark mitprägen. Damit es letzten Endes aber zur Verhaltensrelevanz bei der Markenauswahlentscheidung kommt, bedarf es als hinreichende Bedingung in erster Linie einer affektiven Markenwirkung, wobei auch hier sowohl die explizite als auch die implizite Informationsverarbeitungsroute einen Einfluss ausüben. 45 Mit der vorgestellten Messkombination einer neuroökonomisch fundierten Erhebung und Analyse der ganzheitlichen Markenwirkung kann die Effektivität und Effizienz der Markenführung auf objektiv analytischem Wege überprüft und sichergestellt werden, ohne subjektiv geführte Grabenkämpfe bestreiten zu müssen. Fazit und Ausblick Der Mehrwert eines kombinierten Methodeneinsatzes mit dem gleichzeitigen Einsatz von expliziten und impliziten Erhebungstechniken wird durch die Ergebnisse der durchgeführten Untersuchung klar aufgezeigt. Anhand dieser Studie wird vor allem der Glaubensstreit befriedet beziehungsweise die Beweggründe zumindest stark angezweifelt, aus einer primär ideologisch getriebenen Forschungsmotivation heraus entweder nur explizite oder implizite Erhebungstechniken isoliert einzusetzen. Mit der vorgestellten Messkombination einer neuroökonomisch fundierten Erhebung und Analyse der ganzheitlichen Markenwirkung kann die Effektivität und Effizienz der Markenführung auf objektiv analytischem Wege überprüft und sichergestellt werden, ohne subjektiv geführte Grabenkämpfe bestreiten zu müssen. Die skizzierte Demonstration der Leistungsfähigkeit eines kombinierten Einsatzes aus expliziten und impliziten Erhebungsmethoden bildet hierbei hoffentlich einen motivierenden Ausgangspunkt für weitere Studien. Entsprechend hoffen wir im Sinne von Gerald Zaltman, Harvard Business School, auf vielfältige Anreize für eine vertiefende Auseinandersetzung mit dieser Thematik im Bereich von Marketingforschung und Markenmanagement, gerade mit Blick auf leistungsstarke Alternativen zur Überwindung der Grenzen konventioneller Methoden: „The world has changed, but our methods for understanding consumers have not. We keep relying on familiar but ineffective research techniques and consequently misread consumers’ actions and thoughts. The products we create based on those techniques, simply aren‘t connecting with consumers.” BVM EDITION Kongress-Special 2012 46 Verpackung – der Touchpoint zwischen Marke und Konsument Ulrike Oberascher und Julia Roßteuscher, IFM MANNHEIM, zur Relevanz impliziter und expliziter Reaktionen für den Markterfolg Verpackungen sind maßgeblich für Produkt- und Markenwahl von Konsumenten und spielen eine entscheidende Rolle für Absatzerfolg und Markenführung am Point of Sale. Deshalb werden neue Verpackungen auch regelmäßig Packungstests unterzogen, deren Prognosen sich allerdings oft als unzutreffend erweisen. Reaktionen von Konsumenten erfolgen nicht nur bewusst und reflektiert, sondern werden von impliziten (intuitiven) Prozessen gesteuert. Diese unbewussten Reaktionen können von Konsumenten nicht begründet werden, sind aber für den Markterfolg von Produkten entscheidend. Die Autorinnen stellen einen Ansatz vor, der die Analyse expliziter und impliziter Reaktionen von Konsumenten kombiniert und dadurch zuverlässige und valide Prognosen für den Absatzerfolg möglich macht. Für die Wirkung der Verpackung am POS sind vor allem implizite Entscheidungsprozesse maßgeblich. Um die Komplexität der Kaufentscheidung zu reduzieren, entscheiden Konsumenten implizit (intuitiv) in wenigen Sekunden ohne nachzudenken. Da Konsumenten ihre Kaufentscheidung mehrheitlich erst am Point of Sale (POS) treffen, stellt die Verpackung einen zentralen Touchpoint zwischen Konsument und Marke dar. Auf dem deutschen Markt werden derzeit rund 50.000 Marken und deren Produkte angeboten. Experten schätzen, dass lediglich etwa 300 dieser Marken starke Marken sind. Bei diesen ist die Verpackung zuständig für die zweifelsfreie Erkennbarkeit der Marke im Wettbewerbsumfeld. Die Mehrheit sind „Märkchen”. Über deren Produktwahl entscheidet am POS allein die Attraktivität ihrer Verpackung. Neue Verpackungen werden regelmäßig Packungstests unterzogen, deren Prognosen sich allerdings oft als unzutreffend erweisen. Reaktionen von Konsumenten auf eine Verpackung werden von impliziten und expliziten Prozessen gesteuert. Es gibt vier Merkmale für Kaufentscheidungssituationen, Ulrike Oberascher Diplom Psychologin, Projektleiterin für qualitative Forschungsprojekte beim IFM MANNHEIM BVM EDITION Kongress-Special 2012 in denen implizite Prozesse dominieren: Low Involvement, Zeitdruck, hohe Komplexität und Informations-Overload. Bei hoch reflektierten Konsumenten beziehungsweise hohem Involvement dominieren hingegen explizite Prozesse (Friese et al. 2009). Für die Wirkung der Verpackung am POS sind vor allem implizite Entscheidungsprozesse maßgeblich. Um die Komplexität der Kaufentscheidung zu reduzieren, entscheiden Konsumenten implizit (intuitiv) in wenigen Sekunden ohne nachzudenken und können ihre Entscheidung daher nicht begründen. Immer wieder kommt es vor, dass sich Produkte trotz positiver Testergebnisse im klassischen Packungstest (explizit) als Marktflop erweisen. Die Vorhersagegenauigkeit solcher expliziter Messverfahren ist offensichtlich eingeschränkt. Mast / Zaltman 2005 stellen entsprechend fest, dass 80 Prozent der neuen Produkte, denen aufgrund von herkömmlichen expliziten Testverfahren Markterfolg prognostiziert wurde, diese Erwartung im Markt leider nicht erfüllen konnten. Es ist davon auszugehen, dass die zuverlässige Prognose des Markterfolges von Verpackungen eine kombinierte Analyse sowohl impliziter als auch expliziter Reaktionen erfordert. Dennoch werden implizite Messverfahren in der gängigen Marketingpraxis noch selten eingesetzt. Vor allem apparative Verfahren der Hirnforschung (fMRT) liefern zwar den physiologischen Nachweis für die Beteiligung impliziter Prozesse am Entscheidungsverhalten der Konsumenten, stoßen jedoch im Marktforschungsalltag an ihre Grenzen. Die Kosten sind hoch, die Datenanalyse aufwändig und die Stichprobe nicht repräsentativ. Die aktuelle Herausforderung für die psychologische Marktforschung besteht deshalb darin, valide und zuverlässige Methoden zu entwickeln, die implizite Reaktionen der Konsumenten auf Verpackungen aufdecken und die in der Marktforschungspraxis ökonomisch und effizient eingesetzt werden können. Julia Roßteuscher Diplom Psychologin, Junior-Projektleiterin für qualitative Forschungsprojekte beim IFM MANNHEIM 47 Forschungsprozess und Untersuchungsergebnisse Das IFM MANNHEIM hat in einem mehrstufigen Forschungsprozess einen praxistauglichen methodischen Ansatz entwickelt, der sowohl implizite als auch explizite Reaktionen auf Verpackungen kombiniert und zu validen und zuverlässigen Prognosen für ihren Markterfolg führt. In allen Untersuchungsschritten wurden Produkte unterschiedlicher Warengruppen aus der Kategorie FMCG verwendet und potenziellen Konsumenten in ihrer handelsüblichen Verpackung zur Beurteilung präsentiert. Folgende Grundannahmen bestimmten das Vorgehen bei der Entwicklung des Untersuchungsansatzes: Implizite Entscheidungen zu Produkt- und Packungspräferenzen lassen sich über die Reaktionszeit bestimmen. Neuropsychologische Ergebnisse aus fMRT-Studien zeigen, dass implizite Reaktionen in einem Zeitfenster von 1 bis 3 Sekunden erfolgen; Reaktionszeiten unter 3 Sekunden gelten entsprechend als Indikator für implizite Pro- zesse, Reaktionszeiten über 3 Sekunden als Indikator für explizite Prozesse (Pöppel, 2010). Tiefenpsychologische Hintergründe implizit getroffener Entscheidungen (Reaktionszeit < 3 sec) können durch projektive Verfahren und psychologische Experimente mit Bildassoziationen aufgedeckt werden. Explizite Produkt- und Packungspräferenzen können auf fünf validierten Dimensionen mit Hilfe einer Ratingskala abgebildet werden. Diese fünf expliziten Erfolgsfaktoren wurden in früheren Grundlagenstudien im IFM MANNHEIM ermittelt: persönliche Ansprache und Anmutung, Markensympathie, Produkt- und Markenpassung, Uniqueness sowie Funktionalität. Die psychologischen Erklärungen für die Richtung expliziter Entscheidungen (Akzeptanz oder Ablehnung) werden von psychologischen Explorationen geliefert. BVM EDITION Kongress-Special 2012 48 Nachfolgend werden die einzelnen Stufen im Forschungsprozess skizziert. I. Stufe: Vergleich neurophysiologischer Befunde (fMRT) mit Reaktionszeitmessungen Ziel des ersten Untersuchungsschrittes war es, zu zeigen, dass reaktionszeitbasierte Messungen eine valide Erfassung impliziter Konsumentenreaktionen ermöglichen und somit eine praxistaugliche Alternative zu den komplexen apparativen Verfahren der Hirnforschung (fMRT) bieten. Zu diesem Zweck wurde mittels Reaktionszeitmessungen eine Vergleichsstudie zu einer fMRT-Studie von Stoll et al. (2008) durchgeführt. In dieser fMRT-Studie wurde die neuronale Aktivierung durch attraktive und unattraktive Verpackungen von Marken- und No-Name-Produkten unterschiedlicher Warengruppen untersucht. Die Bewertung der Verpackungen als eindeutig attraktiv beziehungsweise eindeutig nicht attraktiv wurde zuvor in einem Pretest festgestellt, Verpackungen mit indifferenten Bewertungen wurden aussortiert. Diese Verpackungen wurden insgesamt elf Probanden – sieben Männern und vier Frauen – im Kernspin präsentiert. Attraktive Verpackungen erzielten neuronale Aktivierungsmuster, wie sie auch bei First-Choice-Brands beziehungsweise sympathischen, emotional ansprechenden Stimuli zu beobachten sind. Umgekehrt zeigten unattraktive Verpackungen Aktivierungsmuster, die typisch sind für abstoßende Stimuli wie hässliche Bilder oder unfaire Angebote. a) Untersuchungsdesign Für die Vergleichsstudie des IFM MANNHEIM wurden Abbildungen der attraktiven und unattraktiven Testverpackungen aus der Studie von Stoll et al. einer Stichprobe von 65 Frauen und Männern einzeln am Computer präsentiert. Basis für die Quotenbildung der Stichprobe war die Stichprobenstruktur der fMRT-Studie (Verteilung Alter, Geschlecht). Am Markt erfolgreiche Produkte werden sowohl explizit als auch implizit positiv beurteilt. Bei am Markt weniger erfolgreichen Produkten hingegen unterscheiden sich die impliziten und expliziten Konsumenten reaktionen. Für die implizite Messung sollten die Probanden so rasch wie möglich, spontan und ohne nachzudenken urteilen, ob ihnen die jeweilige Verpackung attraktiv oder nicht attraktiv erscheint. Gemessen wurde die Reaktionszeit bis zur Abgabe einer positiven beziehungsweise negativen Bewertung, die per Tastendruck erfolgte. BVM EDITION Kongress-Special 2012 b) Ergebnisse Die reaktionszeitbasierten Messungen impliziter Reaktionen konnten dieselben Produkt- und Packungspräferenzen vorhersagen wie die neurophysiologischen Messungen in der fMRT-Studie, im Vergleich dazu aber mit minimalem technischen Aufwand durchgeführt werden. Konfliktfreie implizite Urteile erfolgten in einem Zeitfenster von 0,5 bis 2 Sekunden, so dass für die weiteren Untersuchungsschritte 2 Sekunden als Grenzwert für implizite Reaktionen angemessen sind. II. Stufe: Prädiktive Validität impliziter und expliziter Einstellungen für den Markterfolg von Verpackungen Im nächsten Schritt des Forschungsprozesses sollte die Relevanz impliziter und expliziter Einstellungen für eine zuverlässige Prognose des Markterfolges von Verpackungen überprüft werden. Hierzu wurde eine kombinierte Analyse sowohl impliziter als auch expliziter Reaktionen von Konsumenten auf ausgewählte Verpackungen von am Markt erfolgreichen und weniger erfolgreichen Produkten vorgenommen. a) Untersuchungsdesign Der Markterfolg der Produkte wurde anhand von Abverkaufszahlen der Handelskette dm-drogerie markt, die Kooperationspartner des IFM MANNHEIM ist, ermittelt. Unter Berücksichtigung eines vergleichbaren Preises wurden Produktpaare aus unterschiedlichen Kategorien wie zum Beispiel Körperpflege oder Süßwaren gebildet, jeweils bestehend aus einem Produkt mit über- und unterdurchschnittlichen Abverkaufszahlen bezogen auf die entsprechende Kategorie. Abbildungen der ausgewählten Produktverpackungen wurden einer Zufallsstichprobe von 50 Personen, hälftig Männern und Frauen, im Alter von 18 bis 50 Jahren einzeln am Computer präsentiert. Implizite Bewertungen wurden reaktionszeitbasiert, explizite Bewertungen auf fünf validierten Dimensionen (vgl. Grundannahmen) anhand klassischer Ratingskalen erfasst. b) Ergebnisse Am Markt erfolgreiche Produkte werden sowohl explizit als auch implizit positiv beurteilt. Bei am Markt weniger erfolgreichen Produkten hingegen unterscheiden sich die impliziten und expliziten Konsumentenreaktionen. So konnten Produkte identifiziert werden, die zwar explizit positiv, jedoch implizit eindeutig negativ bewertet werden, ebenso Produkte, die explizit negativ, aber implizit positiv bewertet wurden. Auf Basis dieser Ergebnisse wurde von IFM MANNHEIM ein Modell entwickelt, das durch die kombinierte Betrachtung der impliziten und expliziten Konsumentenreaktionen den Markterfolg von Verpackungen zuverlässig prognostizieren kann (siehe Abbildung 1). Identifiziert werden können: a. „Stars” (implizit und explizit positive Bewertung) b. „Potentials” (implizit positive, jedoch explizit negative Bewertung) 49 Abbildung 1: Prognosemodell te die implizite Bewertung reaktionszeitbasiert, die explizite Bewertung wurde auf fünf validierten Dimensionen anhand klassischer Ratingskalen erfasst (vgl. Grundannahmen). b) Ergebnisse Ein zentrales Ergebnis besteht darin, dass „False-Friend”Produkte implizit abgelehnt werden. Die hohe Floprate von Produkten erklärt sich demnach durch das Phänomen der False Friends. Nur wenn sowohl implizite als auch explizite Urteile positiv ausfallen, bietet die Verpackung die Voraussetzung, ein „Star”-Produkt auf dem Markt zu werden. Fazit und Ausblick Der Markterfolg von Verpackungen hängt von expliziten und impliziten Urteilen der Verbraucher ab. Nur wenn beide positiv ausfallen, ist der Markterfolg sicher. c. „False Friends” (explizit positive, jedoch implizit negative Bewertung) d. „Loser” (implizit und explizit negative Bewertung) III. Stufe: Validierung des Prognosemodells Die Validierung dieses Modells erfolgte in einem dritten Untersuchungsschritt. Hierzu wurden dem IFM MANNHEIM Produktverpackungen renommierter Markenhersteller aus unterschiedlichen Kategorien – zum Beispiel Körper- und Zahnpflege – zur Verfügung gestellt, die vor der Markteinführung explizit positiv getestet wurden, deren Performance im Markt allerdings hinter den Erwartungen zurückblieb („False Friend”-Produkte) sowie solche, die sich erfolgreich im Markt behaupten konnten („Star”-Produkte). Falls Verpackungen implizit positiv, aber explizit negativ bewertet werden („Potentials”), können Optimierungsansätze für den Packungsauftritt durch Anwendung qualitativ psychologischer Explorationen entwickelt werden. a) Untersuchungsdesign Die Abbildungen der Verpackungen wurden einer Zufallsstichprobe von n=62 Frauen im Alter von 18 bis 50 Jahren präsentiert. Um Wechselwirkungen zwischen impliziten und expliziten Reaktionen auszuschließen, wurden implizite und explizite Messungen an unabhängigen Stichproben durchgeführt. Analog zu der vorangegangenen Untersuchung erfolg- Mit dem entwickelten Prognosemodell können die Grundlagen für sichere Marketing-Entscheidungen geschaffen werden. Zuverlässige Entscheidungen im Marketing erfordern vor allem die differenzierte Unterscheidung von „False Friends” und „Potentials”. Der psychologische Hintergrund implizit negativer Entscheidungen („False Friends”) kann durch tiefenpsychologische Methoden, beispielsweise projektive Bildassoziationsverfahren aufgedeckt werden. Falls Verpackungen implizit positiv, aber explizit negativ bewertet werden („Potentials”), können Optimierungsansätze für den Packungsauftritt durch Anwendung qualitativ psychologischer Explorationen entwickelt werden. Aus einem „Potential” kann so doch noch ein echter „Star” werden. Kaufentscheidungen von Konsumenten liegen komplexe psychologische Prozesse zugrunde. Die Verpackung spielt dabei eine entscheidende Rolle. Eine systematische Packungsentwicklung in mehreren Stufen, die unter anderem explizite und implizite Entscheidungsprozesse von Anfang an berücksichtigt, ist der sicherste Weg zu erfolgreichen Verpackungen. Quellen Friese, Malte / Hofmann, Wilhelm / Wänke, Michaela (2009): The impulsive consumer: Predicting consumer behavior with implicit reaction time measures. In: Wänke M. (Hrsg.): Frontiers in social psychology: Social psychology of consumer behavior. New York, S. 335–364. Mast, Fred W. / Zaltman, Gerald (2005): A Behavioural Window to the Mind of the Market. An Application of the Response-Time-Paradigm. In: Brain Research Bulletin, 67/5, S. 422–427. Pöppel, Ernst (2010): Neuronale Repräsentation von Marken: Eine Frage der Identität. In: Bruhn, M. / Köhler R. (Hrsg.): Wie Marken wirken. Impulse aus der Neuroökonomie für die Markenführung. Verlag Franz Vahlen München. Stoll, M. / Baecke, S. / Kenning, P. (2008): What they see is what they get? An fMRI-Study on neural correlates of attractive packaging. In: Journal of Consumer Behavior, 7/2008, S. 342-359. BVM EDITION Kongress-Special 2012 50 Intuition bei Entscheidungen Benjamin Rubenwolf, International University Network, zum rekognitiven Einfluss bei der Wahl von Markennamen durch Phonetik und Buchstabenhäufigkeit. Können kleinste phonetische Einheiten wie Buchstaben oder Silben als Teil des Markennamens dazu führen, dass sich die Wahrnehmung oder gar die Präferenz für diesen erhöht? Zur Klärung dieser Frage führte der Autor zwei Studien durch. Er untersuchte real existierende und fiktiv generierte Markennamen. Dabei leitete ihn die Hypothese, dass bei zwei Namens alternativen diejenige gewählt wird, die entsprechend der im deutschen Sprachraum geltenden Häufigkeitstabellen einen höheren Buchstabenwert erzielt. Dies spräche dafür, dass Rezipienten bei unbekannten Marken – also beispielsweise bei neu eingeführten Produkten – diejenigen Marken präferieren, die eher bekannte Laute enthalten. Markennamen sind Wiedererkennungswerte, die Botschaften über das Produkt oder die Dienstleistung transportieren. Sie dienen der Differenzierung und lenken die Aufmerksamkeit des Konsumenten auf vordefinierte Werbebotschaften. Im Idealfall führt Markenbewusstsein, das die subjektive Gewissheit von Konsumenten über die Bedeutung einer Marke darstellt, zu einer abschließenden Kaufentscheidung. Zahlreiche Studien beschäftigen sich beispielsweise mit dem richtigen Einsatz von Licht, Farbe, Ton, Form und Testimonials, um der Marke einen wiedererkennbaren Charakter zu verleihen. So richtig und notwendig diese Maßnahmen auch sind, bleibt bei dieser Vorgehensweise in vielen Fällen unbeachtet, dass es sich beim Markennamen schlicht um eine Aneinanderkettung von Buchstaben handelt. Fragestellung Bevor ein Markenname jedoch tatsächlich in der Lage ist, eine Kaufentscheidung beziehungsweise Präferenz einer bestimmten Marke gegenüber einer Alternative zu beeinflussen, muss das „Markenbewusstsein” erst geschaffen werden. Dies gelingt in der Regel durch die Aufladung des Markennamens mit Attributen und Eigenschaften, die von den Konsumenten erwartet werden. Benjamin Rubenwolf Wissenschaftlicher Mitarbeiter, International University Network IUN, Studium der Wirtschaftspsychologie, Fachhochschule Erding und LMU, München. BVM EDITION Kongress-Special 2012 Zahlreiche Studien beschäftigen sich beispielsweise mit dem richtigen Einsatz von Licht, Farbe, Ton, Form und Testimonials, um der Marke einen wiedererkennbaren Charakter zu verleihen. So richtig und notwendig diese Maßnahmen auch sind, bleibt bei dieser Vorgehensweise in vielen Fällen unbeachtet, dass es sich beim Markennamen schlicht um eine Aneinanderkettung von Buchstaben handelt. Daher soll diese Facette als zusätzliche Instanz zur Etablierung von Markennamen herangezogen werden. Buchstaben bilden entweder einzelne semantisch sinnbesetzte Worte oder stehen für Abkürzungen wortbildender Markennamen. In jedem Fall jedoch wird sich ein Markenname aus einem oder mehreren Vokalen und Konsonanten zusammensetzen. Obwohl die Wichtigkeit der richtigen Namensgebung für ein Produkt grundsätzlich bekannt ist, existieren zu den kleinsten Bestandteilen eines Markennamens kaum systematische Untersuchungen. Aus diesem Grund lautet die Kernfrage vorliegender Studie: Können kleinste phonetische Einheiten wie Buchstaben oder Silben als Teil des Markennamens dazu führen, dass sich die Wahrnehmung oder gar die Präferenz für einen Markennamen erhöht? Forschungshypothese Aufbauend auf rekognitionsheuristischen Schemata1) (vgl. Gigerenzer, 2007), beruht der Ansatz auf der Hypothese, dass Markennamen, die häufig verwendete Buchstaben und Silben aus dem Sprachgebrauch beinhalten, eher gewählt werden als Markennamen, deren Buchstaben und Silben im Sprachgebrauch seltener vorkommen. Hatten Probanden die Wahl zwischen zwei Markennamen, die sich beispielsweise hinsichtlich der Buchstaben „e” und „u” (Sprachgebrauch e = 17,4 Prozent und u = 4,4 Prozent) unterschieden, wurde angenommen, dass die Wahl auf den Markennamen fällt, der den Vokal „e” enthält. Der Grund dieser Annahme liegt in der höheren Buchstabenhäufigkeit von „e” gegenüber „u”. 51 Grundlage der Buchstabenhäufigkeit sowie deren Verteilungsform bildet die von Beutelspacher (2009) berechnete Häufigkeitstabelle (Abbildung 1). Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass die Wahlpräferenz einer Alternative immer dann am höchsten ist, wenn der Buchstaben- oder Silbenhäufigkeitswert des Markennamens – bei gleicher Bekanntheit beider Alternativen – höher ist als bei der zur Verfügung stehenden Alternative mit geringeren Häufigkeitswerten. Es wird angenommen, dass phonetische Häufigkeitsausprägungen zusätzlich zum ursprünglich vom Marketing generierten Bekanntheitsgrad wirken und so die Entscheidungsfindung der Probanden beeinflusst. Untersucht wurden real existierende Namen, die bereits einen Bekanntheitsgrad besaßen, sowie Namen, die fiktiv generiert wurden. Fiktiv generierte Namen dienen der Überprüfung und Bestätigung rekognitiver Effekte. Hierfür wurden Buchstabenreihen ohne konkreten Inhalt gegenübergestellt und analysiert. Abbildung 1: Häufigkeiten von Buchstaben der deutschen Sprache (Beutelspacher, 2009) Abbildung 2: Faktische Unterschiede der Markennamen Nike und Fila Zwei Studien mit insgesamt N = 812 Probanden (463 weiblich) untersuchten den Einfluss der Rekognitionsheuristik durch Buchstaben- und Silbenhäufigkeit im Sprachgebrauch bezüglich der Markenpräferenz. Alle Teilnehmer hatten ihr achtzehntes Lebensjahr erreicht (M = 1970, SD = 8,880). Die Teilnehmer wurden über ein Mailingsystem in Bayern, Berlin, Hessen, Hamburg und Nordrhein-Westfalen zum Onlinefragebogen eingeladen. Bei der Wahl zwischen zwei Alternativen mit ähnlichen Eigenschaften wird signifikant häufiger diejenige Alternative gewählt, die einen Namen mit hohen Silben- oder Buchstabenhäufigkeitswerten trägt. Die Häufigkeiten einzelner Buchstaben und Silben – entnommen aus gültigen Häufigkeitstabellen (vergleiche dazu Beutelspacher, 2009 und Trost, 2010) – variierten innerhalb der Markennamen jeweils von einer stark und einer schwach ausgeprägten Wahlalternative. Präferenzen beim Wahlverhalten wurden sowohl für real existierende Markennamen (N = 373) als auch für fiktiv generierte Namen (N = 439) beobachtet. Bei reellen Markennamen wurde zusätzlich darauf geachtet, wie sich der Bekanntheitsgrad auf den rekognitiven Effekt der Buchstaben- und Silbenhäufigkeit auswirkt. Um den in Deutschland geltenden Bekanntheitsgrad einer Marke darstellen zu können, wurde die SPIEGEL-Studie Outfit 6 (2007) herangezogen. Hierbei wurde die Entscheidung „für” oder „gegen” eine Marke (z.B. Nike vs. Fila) hinsichtlich Be- kanntheitsgrad und Summenwert ihrer Buchstabenhäufigkeit unterschieden. Ausgewählte Marken2) mit unterschiedlichem Bekanntheitsgrad wurden untersucht, um feststellen zu können, wie stark die Häufigkeitsausprägung von Buchstaben und Silben das Wahlverhalten tatsächlich beeinflussen. Dabei wurden die Wortpaare so ausgewählt, dass eine Alternative als Gesamtname bekannter war als die andere. Ergebnisse Rekognitionsheuristische Effekte der Buchstabenhäufigkeit beeinflussen das Wahlverhalten bei fiktiv generierten Markenkennamen signifikant (p < .021). Ebenfalls signifikant sind die Ergebnisse gemessen an der Silbenhäufigkeit (p < .018). Bei der Wahl zwischen zwei Alternativen mit ähnlichen Eigenschaften wird signifikant häufiger diejenige Alternative gewählt, die einen Namen mit hohen Silben- oder Buchstabenhäufigkeitswerten trägt. BVM EDITION Kongress-Special 2012 52 Demnach wählen Teilnehmer signifikant eher Markennamen aus, die eine höhere Buchstaben- oder Silbenhäufigkeit aufweisen. Dies gilt sowohl für Markennamen, deren Bekanntheitsgrad gleich war, als auch für fiktiv generierte Marken. Wurde beispielsweise der Markenname „Nike” mit einem Häufigkeitswert von 35,94 Prozent und einem Bekanntheitsgrad von (75) gegenüber „Fila” mit einem Häufigkeitswert von 19,16 Prozent und einem Bekanntheitsgrad von (78) gestellt, wurde signifikant die Alternative „Nike” gewählt (p < .001) (Abbildung 2). Mit Hilfe der vorliegenden Forschungsergebnisse können neue Methoden entwickelt werden, um Markennamen zu generieren, die aufgrund ihrer Buchstaben- und Silbenhäufigkeit bevorzugt gewählt werden. Die Studie relativiert den zum Teil überdimensionierten Bedeutungsbegriff des Marketings. Fazit Wenn der gezeigte Bekanntheitsgrad den der Alternative wesentlich überschritt, erfolgte die Wahl nicht nach rekognitionsheuristischen Schemata. In diesen Fällen wurde jeweils eine Alternative mit dem höheren Bekanntheitsgrad gewählt. In den vorgelegten Studien wurde ein statistisch signifikanter Einfluss kleinster phonetischer Einheiten – Buchstaben oder Anmerkungen 1) Von Heuristiken kann gesprochen werden, wenn mittels eines geringen kognitiven Aufwands durch das Individuum ein größtmöglicher Nutzen entsteht. Heuristiken entlasten evolvierte Prozesse im Gehirn und dienen der schnellen, einfachen Entscheidungsfindung (vgl. Edelkamp & Schroedl, 2011). Nach Gigerenzer (2007) ist das Hauptmerkmal rekognitionsheuristischer Schemata darin zu sehen, dass gewählt wird, was bekannter ist, auch wenn keine expliziten Denkmuster in die Entscheidungsfindung einfließen. Die Entscheidung erfolgt intuitiv. 2) Die vorderen Prozentwerte entsprechen der aufsummierten Buchstabenhäufigkeit, z.B. Nike (N 9,78 Prozent) + (i 7,55 Prozent) + (k 1,21 Prozent) + (e 17,4 Prozent) = 35,94 Prozent Summe der Buchstabenhäufigkeit. Der Wert in Klammern entspricht dem Bekanntheitsgrad nach Böcker-Lüttke, R. Goedecke, C. Nagel, A. & Schnaars, D. (2007). Vergleiche finden nur innerhalb der gegenübergestellten Marken statt. 35,94 Nike (78) vs. 6,08 Joop (78); 39,6 Mustang (87) vs. 59,31 Versace (67); 35,94 Nike (78) vs. 19,16 Fila (78); 47,41 Reebok (88) vs. 46,16 Esprit (88); 15,43 Brax (35) vs. 21,15 Zara (34); 41,34 Lebek (7) vs. 19,49 Jobis (19); 28,64 Sand (7) vs. 25,45 Gant (11); 13,54 Odlo (10) vs. 33,06 Etro (7); 33,06 Etro (7) vs. 25,45 Gant (11); 17,14 Comma (23) vs. 32,03 Guess (19); 17,14 Comma (23) vs. 49,74 Verse (9); 43,51 Basler (44) vs. 42,97 Sisley (25); 43,51 Basler (44) vs. 49,36 Hermes (24); 32,03 Kenzo (46) vs. 27,2 Kiton (12); 31,11 Samoon (6) vs. 36,85 Canali (6); 21,03 Gucci (39) vs. 25,89 Prada (29); 35,94 Nike BVM EDITION Kongress-Special 2012 Silben – bei der Wahl von Markennamen nachgewiesen. Dieser Sachverhalt kann einen weiteren Grundstein bei der Generierung neuer Markennamen legen. Intuitive Entscheidungsfindung bietet den Vorteil, dass diese unser Verhalten beeinflusst, ohne dabei auf evolvierte Prozesse des Gehirns zurückzugreifen. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, Informationen oder Botschaften ohne bewusste Wahrnehmung im Gehirn zu platzieren, um ein gewünschtes Verhalten auszulösen. Mit Hilfe der vorliegenden Forschungsergebnisse können neue Methoden entwickelt werden, um Markennamen zu generieren, die aufgrund ihrer Buchstaben- und Silbenhäufigkeit bevorzugt gewählt werden. Die Studie relativiert den zum Teil überdimensionierten Bedeutungsbegriff des Marketings. Allerdings liefern die Ergebnisse auch einen Beleg dafür, dass Marketingmaßnahmen nicht zu ersetzen sind. Wie gezeigt werden konnte, hat der Bekanntheitsgrad ähnlich wie die Buchstabenhäufigkeit maßgeblichen Einfluss auf die Wahl von Alternativen. Primärer Nutzen findet sich demnach vor allem in der neu hinzugewonnenen Möglichkeit für das Marketing, Markennamen bereits vor allen Werbemaßnahmen einen Bekanntheitsgrad zu verleihen. Zudem wird dabei der prägende Charakter einer Marke gestärkt. Zwar gelten die vorliegenden Ergebnisse ausschließlich für den deutschsprachigen Raum, doch ist es durchaus sinnvoll, bei der Etablierung neuer Markennamen auch andere Sprachen in die rekognitionsheuristische Namensgebung mit einzubeziehen. (43) vs. 18,94 Boss (48); 38 Adidas (63) vs. 46,16 Esprit (50); 34,58 Alpina (34) vs. 45,83 Escada (33); 31,11 Oakley (11) vs. 47,41 Reebok (11); 40,98 Exte (5) vs. 16,11 Dkny (17); 35,94 Nike (77) vs. 19,16 Fila (75); 18,94 Boss (63) vs. 22,95 Geox (53); 36,7 Hess (13) vs. 26,03 Ecco (42); 38,73 Arche (13) vs. 20,76 Lotto (15); 47,17 Pirelli (6) vs. 43,52 Tamaris (24); 14,35 Lowa (10) vs. 14,71 Koil (5); 54,67 Cartie (39) vs. 56,62 Senator (21); 76,4 Staedtler (54) vs. 79,3 Schneider (48). Referenzen Beutelspacher, A. (2009): Kryptologie: Eine Einführung in die Wissenschaft vom Verschlüsseln, Verbergen und Verheimlichen. 9. Auflage (S. 10). Wiesbaden: Vieweg + Teubner. Böcker-Lüttke, R., Goedecke, C., Nagel, A., Schnaars, D. (2007): Outfit 6. SPIEGEL-Verlag. Zugriff am 12. März 2010 unter http://www.spiegel. de/deutsch/leistungswerte/studien/outfit/index.php. Edelkamp, S., Schroedl, S. (2011): Heuristic Search: Theory and Applications. 1. Edition (pp. 3f). Waltham: Morgan Kaufmann Publishers. Gigerenzer, Gerd (2007): Gut Feelings: The intelligence of the unconscious. 2. Edition (p. 24). München: Goldmann Verlag. Trost, S. (2010): Silbenhäufigkeit: Deutsch. Zugriff am 15. Februar 2010 unter http://www.sttmedia.de/silbenhaeufigkeit-deutsch. QR-Code® Mobile Research 53 Frank Gehre und Horst Regenscheit, inviso, zu einem innovativen Methodenansatz der modernen Marktforschung Mit dem Aufkommen von Smartphones werden Quick-Response-Codes (QR-Codes) zu nehmend im Marketing eingesetzt. Sie dienen der innovativen, zielgruppengerechten und interaktiven Kundenansprache. Gerade ihre einfache Anwendbarkeit bietet aber auch Potenziale in der mobilen Marktforschung. Die Autoren stellen eine vielfältig einsetzbare Methode vor. Der Quick-Response-Code (QR-Code) wurde 1994 vom Automobilzulieferer Denso Wave zur Produktionssteuerung beziehungsweise Teileverfolgung bei der KFZ-Produktion entwickelt und von Toyota eingesetzt. Mit dem stark steigenden Absatz von Smartphones und Tablet-PCs findet der QR-Code immer mehr Einsatzgebiete in Marketing und Kommunikation. Während QR-Codes in anderen Ländern schon länger und häufiger eingesetzt werden, begann deren Nutzung für das Marketing in Deutschland erst seit 2011 in nennenswerter Größenordnung. QR-Codes lassen sich in Marktforschung und Mobile Research in vielfältiger Art und Weise einsetzen. Dank ihres zunehmenden Bekanntheitsgrades und ihrer steigenden Akzeptanz bei den Usern werden sie im Rahmen von innovativen Marktforschungstools zunehmend an Bedeutung gewinnen. Diese Beobachtungen gaben uns das Motiv, den nachfolgenden Methodenansatz zu entwickeln. Entwicklung einer innovativen, in der Marktforschung einsetzbaren Methode Mit der Entscheidung, QR-Codes für die Marktforschung in einen Methodenansatz zu implementieren, war das Ziel verbunden, Entscheider in Unternehmen in die Lage zu versetzen, überall auf der Welt Ergebnisse und damit Informationen über einen Online-Link abzurufen, um besser auf Entscheidungsprozesse vorbereitet zu sein. Frei nach dem Motto: Informationen schaden nur demjenigen, der keine hat. Vorausgesetzt, es sind die richtigen Informationen von der richtigen Zielgruppe. Abbildung 1: Informationen schaden nur demjenigen, der keine hat Die Methoden der klassischen Marktforschung stoßen zunehmend an ihre Grenzen. Unter anderem ist dies auf folgende Punkte zurückzuführen: rückläufige Teilnahmebereitschaft mangelnde Erreichbarkeit verschiedener Zielgruppen zeitliche Verzögerung zwischen Benutzung und Bewertung zeitaufwendige Durchführung steigender Kostendruck Frank Gehre Geschäftsführender Gesellschafter, INVISO – Gesellschaft für Kommunikations- und Marketingforschung, Hannover Horst Regenscheit Research Director, INVISO – Gesellschaft für Kommunikations- und Marketingforschung, Hannover BVM EDITION Kongress-Special 2012 54 Abbildung 2: Ablauf der Befragung Abbildung 3: Einsatzgebiete für QR-Codes QR-Codes tragen hauptsächlich zur Verschmelzung von Offline- und Online-Inhalten bei. Sie sind insbesondere dazu geeignet, die reale Welt, beispielsweise in Printmedien, mit der digitalen Welt im Internet zu verschmelzen. QR-Codes können sinnvoll immer dann angewendet werden, wenn zusätzliche Informationen transportiert oder beschafft werden sollen. Voraussetzung für einen sinnvollen Einsatz ist die Schaffung echter Mehrwerte für den Anwender, also über den bisherigen Status hinausgehende Informationen beziehungsweise einen echten Anreiz zur Teilnahme an einer Befragung über Incentive- und Bonussysteme. Einsatzgebiete von QR-Codes allgemein und in der Marktforschung QR-Codes dienen generell zur innovativen, zielgruppengerechten und interaktiven Kundenansprache, zur Kommunikation am Ort des Geschehens, zur Individualisierung von Massenansprachen, zur Minimierung von Kommunikations- BVM EDITION Kongress-Special 2012 Streuverlusten, zur Intensivierung der Kundenbindung, zur Integration von Kommunikationskanälen (Cross-Media / Multi Channel Marketing) und zur einfachen und kostengünstigen Informationsbeschaffung. Aktuell werden QR-Codes u.a. in folgenden Bereichen eingesetzt: in Markenkommunikation und Werbung: Plakate, Anzeigen, Produktpackungen, Promotionsmaterialien, Häuserwände und Gewinnspiele bei Zusatzinformationen auf und in Produktverpackungen: Rohstoffrückverfolgung, Bedienungsanleitung und Demovideos für das Online-Shopping: z.B. Tesco-E-Market in Korea, Budnikowski-Deutschland, PayPal bei der Rekrutierung von Probanden am direkten Kontaktpunkt: Erfassung von Daten über Interessenten, Kunden und Teilnehmern auf Messen und Veranstaltungen für Direct Response bei Directmailings: Erfassung von Nutzung und Usability in der Touristik- und Verkehrsbranche: Bahn- und Flugtickets, Reiseführer, Touristenguide, Reisevideos in Kunstausstellungen und Museen: Zusatzinformationen über Exponate in Social Media: Scannen von Informationen und Verbreitung in der eigenen Comunity für die Offline-Nutzung von Websites im Beschwerde-Management last, but not least: in Marktforschung und Mobile Research QR-Codes lassen sich in Marktforschung und Mobile Research in vielfältiger Art und Weise einsetzen. Dank ihres zunehmenden Bekanntheitsgrades und ihrer steigenden Akzeptanz bei den Usern werden sie im Rahmen von innovativen Marktforschungstools zunehmend an Bedeutung gewinnen. Auf Basis von QR-Codes lassen sich Befragungskonzepte entwickeln, die wesentlich zur Sicherung von Wettbewerbsvorteilen beitragen, indem sie dem Auftraggeber ein unmittelbares, zeitnahes, verlässliches, regelmäßiges und kostengünstiges Kundenfeedback verschaffen. Ferner sind sie in der Lage, einen maßgeblichen Beitrag im Zuge der unternehmerischen Informationsgewinnung zu leisten. Aus heutiger Sicht lassen sich die Einsatzgebiete in der Marktforschung wie folgt beschreiben: Bewertung von Images, Produkten und Dienstleistungen Messung der Wirkung von Marketingaktivitäten (POSAktionen, Promotion, Werbebeilagen) 55 Bewertung der Unternehmenskommunikation (trifft man mit der werblichen Ansprache die Kaufargumente des Verbrauchers?) Werbemittel- und Werbewirkungsforschung (Anzeigen, Plakate, Cover, Direct Mailings etc.) Reichweitenmessung von Werbeaktionen (Wurfsendungen, Handzettel, Produktbeilagen etc.) Untersuchungen am POS (am Regal oder Produkt, hinter der Kassenzone) Geschmackstest in der Nutzungssituation (z.B. Beurteilung von Nahrungsmitteln beim Frühstück, Usability bei der Anwendung) Packaging-Tests Messung der Kundenzufriedenheit Stimmungsbarometer zu Einstellungen und speziellen Themen Standortvergleiche bei Filialisten Onlineabstimmungen mittels QR-Voting Messebefragungen Nutzen und Vorteile der Nutzung von QR-Codes in der Marktforschung Auf Basis von QR-Codes lassen sich Befragungskonzepte entwickeln, die wesentlich zur Sicherung von Wettbewerbsvorteilen beitragen, indem sie dem Auftraggeber ein unmittelbares, zeitnahes, verlässliches, regelmäßiges und kostengünstiges Kundenfeedback verschaffen. Ablauf einer QR-Code-Mobile Befragung Bei der Durchführung einer QR-Code-Mobile-Befragung wird der QR-Code mit einem auf dem Smartphone oder Tablet-PC vorinstallierten Barcodescanner eingelesen, welcher in der Regel aus einem App-Store kostenlos heruntergeladen werden kann. Das Abscannen der QR-Codes erfolgt beispielsweise von Zeitschriften, Plakaten oder Produktverpackungen. Die im QR-Code enthaltenen Informationen sorgen dafür, dass der Nutzer direkt auf eine webbasierte Befragung geführt wird. Der Hauptvorteil des Einsatzes von QR-Codes in der Marktforschung ist hauptsächlich die zeit- und personenunabhängige Durchführung von Befragungen. Diese können auch nach Geschäftsschluss zu jeder Tageszeit und ohne aufwendige Koordination von Interviewerstäben abgewickelt werden. Aufgrund ihrer einfachen und schnellen Anwendung sind QRCodes in der Lage, eine kostengünstige Erfassung von großen Stichproben zu gewährleisten. Das Befragungslayout wird dabei automatisch mit Hilfe einer Device-Detection an die Erfordernisse des vom Teilnehmer verwendeten Mediums angepasst. Die Anpassung erfolgt hinsichtlich der Bildschirmauflösung, des verwendeten Browsers und der Displaygröße. Das gesamte Layout des Fragebogens wird damit an die spezifischen Erfordernisse angepasst und auf den unterschiedlichen Endgeräten immer in gleicher Form dargestellt. Bei der Anpassung werden in erster Linie Betriebssysteme wie IOS und Android berücksichtigt. Damit kann der Hauptanteil der verwendeten Smartphones und TabletPCs für die Teilnahme an einer Befragung verwendet werden. Der Hauptvorteil des Einsatzes von QR-Codes in der Marktforschung ist die zeit- und personenunabhängige Durchführung von Befragungen. Es besteht zudem die Möglichkeit, weitere Stimuli in den Fragebogen zu integrieren, beispielsweise Bilder oder Videos. Die Befragung selbst kann an jedem Ort stattfinden, an dem ein Onlinezugang vorhanden ist. Zur Durchführung der Befragung ist keine weitere vorinstallierte Applikation (App) notwendig, wodurch die einfache Handhabung und die Anwenderfreundlichkeit eindeutig unterstützt werden. Sie sind insbesondere in Befragungssituationen geeignet, wo die klassische Marktforschung aufgrund hoher Kosten, einer meist zeitaufwendigen Umsetzung und der Schwierigkeit, gerade spezielle Zielgruppen zu erreichen, an ihre Grenzen stößt. Vor allem sind sie in der Lage, einen maßgeblichen Beitrag zu einer einfachen und kostengünstigen Informationsgewinnung bei speziellen und schwierig zu erreichenden Zielgruppen zu leisten. Hiermit sind z.B. Vielflieger, Vielfahrer und alle Personenkreise gemeint, die aufgrund ihrer beruflichen Situation keine Bereitschaft zeigen, an einer Befragung teilzunehmen, die an einen bestimmten Zeitpunkt gebunden ist. Ferner eignet sich die QR-Code-Befragung in besonderem Maße, die Erfolgsmessung von Marketingmaßnahmen jeder Art durchzuführen und dem Auftraggeber ein spontanes und unmittelbares Feedback des Kunden zu übermitteln. Beim Einsatz von QR-Codes am Point of Interest (POI) kann davon ausgegangen werden, dass der Kreis der Teilnehmer auf Personen beschränkt wird, die ein unmittelbares Interesse daran haben, sich an diesem Ort aufzuhalten und zum aktuellen Befragungsthema ihre Meinung kundzutun. Damit können Fehlzuordnungen von zielgruppenfremden Teilnehmern mini- BVM EDITION Kongress-Special 2012 56 miert und eine Stichprobe gebildet werden, die zum aktuellen Thema aussagekräftige Ergebnisse liefert. Ein weiterer maßgeblicher Vorteil besteht darüber hinaus in der Erhebung von Daten, die es ermöglichen, ein Stimmungsbeziehungsweise Bewertungsbarometer aufzubauen. Neben der Möglichkeit der Zeitraumanalyse bietet sich hier auch ein Vergleich von regionalen Beurteilungseinheiten an. Diese können Geschäfte beziehungsweise Filialen sein, aber auch Hotels, Restaurants, SB-Bereiche in Banken oder Einrichtungen jeglicher Art, die von Kunden oder potenziellen Kunden aufgesucht werden. Ebenfalls ist es möglich, einen Stab von Außendienstlern zu bewerten und optimal zu steuern. Der Ansatz ist universell anwendbar und aufgrund der Befragung am Point of Interest (POI) unmittelbar. Dieser Methodenansatz führt schnell und kostengünstig zu validen Ergebnissen. Ein Bewertungsbarometer könnte z.B. folgende Punkte beinhalten: Sauberkeit, Freundlichkeit, Kontaktaufnahme, Beratungskompetenz, Service, aktuelle Angebote etc. Bei einem entsprechend hohen Ergebnisaufkommen lassen sich ebenfalls Benchmarks aufbauen, die zur Etablierung von BestPractise-Modellen beitragen können. Unter allen genannten Vorteilen steht immer die Möglichkeit für den Auftraggeber im Vordergrund, zu jeder Zeit und an jedem Ort – vorausgesetzt, es gibt eine Verbindung zum Internet –, via Live-Link über sein Smartphone oder Tablet-PC direkt auf die aktuellen Ergebnisse zuzugreifen. Der Auftraggeber ist damit in der Lage, seine Entscheidungen auf einer hochaktuellen und gesicherten Informationsbasis zu treffen. Grenzen von QR-Code-Befragungen Es liegt in der Natur der Sache, dass dort, wo es Vorteile gibt, auch Grenzen des Einsatzes bestehen. Begrenzende Faktoren sind in erster Linie der Befragungsumfang und das eingeschränkte Methodenspektrum Um die Quote der Abbrecher so gering wir möglich zu halten, sollte die Länge eines Interviews nicht mehr als drei Minuten Bearbeitungszeit erfordern. Die Fragestellungen sollten kurz, eindeutig und einfach zu beantworten sein. Die verwendeten Skalen sollten prägnant und übersichtlich sowie schnell er- BVM EDITION Kongress-Special 2012 fassbar gestaltet sein. Es ist anzuraten, den Umfang von offenen Fragen sehr stark zu reglementieren. Ein bis maximal zwei offene Fragen erscheinen allerdings sinnvoll. Weitere begrenzende Punkte sind die momentane Dichte an Smartphones und die Motivation zur Teilnahme an einer Befragung Ohne jeden Zweifel wird die Verbreitung von Smartphones in der unmittelbaren Zukunft auch in den älteren Zielgruppen stark ansteigen, so dass diese Entwicklung sicherlich begünstigend den Einsatz von QR-Code-Befragungen begleiten wird. Die Motivation zur Teilnahme wird sich erhöhen lassen durch begleitende Maßnahmen des Auftraggebers und durch Incentiveanreize wie Bonusprogramme und Gewinnspiele beziehungsweise Verlosungen. Resümee Die Methode des QR-Code-basierten Mobile Research stellt einen crossmedialen, thematisch extrem breitbandigen Befragungsansatz dar, mit dem Zielgruppen unterschiedlichster Art zu einer Vielzahl von Themen mit großen Stichproben erreicht werden können. Der Ansatz ist universell anwendbar und aufgrund der Befragung am Point of Interest (POI) unmittelbar. Dieser Methodenansatz führt schnell und kostengünstig zu validen Ergebnissen. Die Praxiserprobung im Rahmen von aktuell durchgeführten Befragungen auf der Internationalen Grünen Woche in Berlin und der BIOFACH in Nürnberg haben dies in eindrucksvoller Form untermauert. Der Auftraggeber kann jederzeit auf die Befragungsergebnisse zugreifen und seine Entscheidungen auf Basis höchstaktueller Informationen treffen, ohne auf die final aufbereiteten Ergebnisse warten zu müssen. Macht man sich deutlich, dass sich hinter der Abkürzung QR die Worte Quick Response verbergen, so wird klar, dass diese beiden Wörter eher einen Dialog als einen Monolog implizieren. Quick Response wird in den einschlägigen Wörterbüchern mit „schnelle Antwort” beziehungsweise „schnelle Reaktion” übersetzt. Was liegt also näher, die Verwendung von QuickResponse-Codes mit allen Vorteilen und Grenzen für die Marktforschung nutzbar zu machen. Im Sinne des Dialogs zwischen Fragendem und Befragtem sind Quick-Response-Codes für den Einsatz in der Marktforschung prädestiniert. Damit würde die bisherige Praxis des Einsatzes von QR-Codes in Form von monologartiger Informationsverbreitung aufgebrochen. Der zunehmende Einsatz in der Marktforschung könnte darüber hinaus einen maßgeblichen Beitrag leisten, die bisherige Erfolgsstory der QR-Codes zu beschleunigen. BVM Berufsverband Deutscher Markt- und Sozialforscher e.V. Friedrichstraße 187 10117 Berlin Deutschland [email protected] www.bvm.org