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24 Ausgezeichnet | So geht Perspektiva Papier ist geduldig, sagt man. Das soll heißen: Aus Geschriebenem folgt oft nicht viel. Umgekehrt kann Papier einen auch ziemlich nervös machen. Vertrauliche Korrespondenzen, Kontoauszüge, Rezepte für Psychopharmaka, selbst alte Liebesbriefe können, so sie in falsche Hände gelangen, Verheerendes anrichten. Damit die Seele wieder Ruhe hat, muss das Zeug aus der Welt – also ab zur Aktenschredderei! Vom Vernichten, Vergessen und Vertrauen Eine Firma, die im Raum Fulda so etwas anbietet, ist z. B. Schmitt-Recycling. Seit mehr als 20 Jahren stellt sie Alucontainer in Firmen auf, sogenannte „Databoys“ mit 240 Litern Fassungsvermögen. Da wandert dann Blatt für Blatt hinein, und wenn er voll ist, wird der verschlossene Boy diskret im fensterlosen Kastenwagen zum Industriegebiet Fulda-West verbracht. Doch auch Großcontainer sind im Einsatz, wenn es um die Auflösung von ganzen Archiven geht. Und manch ein Privatmann kommt mit einem Wäschekorb unterm Arm vorbei, um Familienunterlagen in Konfetti verwandeln zu lassen. Manchmal sind Fotos dabei. All das wird dann zeitnah in einem der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Raum zerstört – gemäß Sicherheitsstufe 3 des Bundesdatenschutzgesetzes. Auf Dauer kann sich auf diesem Markt nur behaupten, wer absolut vertrauenswürdig agiert. Logistik und Tempo müssen stimmen. Das Entscheidende aber ist die Diskretion der Mitarbeiter. Denn das Papier geht zwangsläufig noch einmal durch des Menschen Hand, und sei es nur auf dem zwei Meter langen Weg von der Alutonne bis ins Schreddermaul. So Gut positioniert: Prokuristin Nicole Schmitt und Aktenvernichter Benedikt Witzel ist das Wichtigste, wer das macht. Bei Schmitt-Recycling ist zurzeit Benedikt Witzel aus Kleinsassen der große Vernichter. Und warum gerade er, das ist eine Erzählung wert. Benedikt Witzel hat eine Eigenschaft, die ihn für diesen Job prädestiniert. Sein Kurzzeitgedächtnis funktioniert nicht so wie bei anderen Menschen. Er vergisst, und zwar nicht nur hier und da. Der junge Mann leidet an einer manifesten Gedächtnisstörung, ausgelöst durch Komplikationen bei seiner Geburt. Dass ein Mann ohne Gedächtnis mit vertraulichen Dokumenten anderer Menschen arbeitet, scheint auf den ersten Blick Sinn zu machen. Doch was zunächst lustig klingt und in der Tat von Vorteil ist, ist auf den zweiten Blick gar nicht lustig. Vor allem deshalb nicht, weil sich dieses Handicap auf das gesamte Leben dieses Menschen erstreckt – natürlich auch auf jene Bereiche, die zwangsläufig zu einem Berufsleben dazugehören. Etwa der Gebrauch von öffentlichen Verkehrsmitteln. Damit Benedikt Witzel seinen Job überhaupt erledigen kann – und er tut dies sehr gewissenhaft – waren umfangreiche 25 Trainingsmaßnahmen nötig, etwas Glück und viel Geduld. Nach Abschluss der Förderschule war klar, dass eine nahtlose Eingliederung in das Berufsleben nicht funktionieren würde. Glück für ihn, dass es in Fulda die Perspektiva gGmbH gibt – ein gemeinnütziges Unternehmen, welches sich mit Enthusiasmus solcher Jugendlicher annimmt, die aus verschiedensten Gründen in der Gefahr stehen, den Anschluss zu verlieren. Mithilfe örtlicher Unternehmer soll in möglichst vielen Fällen verhindert werden, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten oder sozialen Problemen irgendwann am Bahnhofsvorplatz abhängen. Oder in eine Werkstatt für Menschen mit Behinderungen (WFBM) abgeschoben werden, die eigentlich für eine ganz andere Zielgruppe gedacht ist. Angestrebt wird – und das ist sehr ehrgeizig – eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt, mit festem Arbeitsvertrag und regulärem Einkommen. Wer zur Perspektiva kommt, durchläuft ein geregeltes Aufbauprogramm. Es beginnt mit der „Diagnose-Maßnahme“. Das klingt ein bisschen wie beim Arzt, aber es ist mehr eine Art Kennenlernen: Was kann ein Jugendlicher? Was begeistert ihn? Wie sieht es mit seiner Belastbarkeit aus? Natürlich gehören ein Intelligenztest sowie ein handwerklicher Test (das sogenannte Hamet-Modul) dazu. Am Ende der zwölf Diagnosewochen wird ein Abschlussbericht erstellt. Daraus geht hervor, ob der allgemeine Arbeitsmarkt eine realistische Option ist oder ob vielleicht doch nur die WfbM-Lösung bleibt. Im Falle von Benedikt Witzel geht die Sache für den allgemeinen Arbeitsmarkt aus, aber ganz knapp. Klar ist: Das wird ein Kraftakt. Im Anschluss daran beginnen bei Perspektiva die eigentlichen Trainingsmaßnahmen in der „Phase 1“: der unterstützten Beschäftigung auf einem ehemaligen Bauernhof, dem Theresienhof in der Maberzeller Straße in Fulda. Das muss man sich wie eine „Als ob“-Firma vorstellen. Noch außerhalb des Real Life 26 Ausgezeichnet | So geht Perspektiva wird erlernt, was das überhaupt ist, das Arbeiten. Einen Gartenbereich gibt es hier, auch eine Brennholzwerkstatt. Und damit das Ganze nicht in der Luft hängt und schon einen ersten Bezug zum allgemeinen Arbeitsmarkt hat, werden auch einfache Arbeiten für regionale Unternehmen erledigt. Da ist z. B. die Firma Löffert, eine Stielfabrik aus Sinntal. Vor einigen Jahren hat sie in einem ehemaligen Schweinestall eine Taucheinrichtung für Werkzeugstiele installiert. Aufgabe von jungen Menschen wie Benedikt Witzel ist es nun, für eine bestimmte Zeit z. B. den „Schaufelstiel Esche, gebogen“ mit der Artikelnummer 01.118 zu lackieren: aufhängen, abhängen, Lack nachfüllen usw. Tag für Tag, Stiel für Stiel. Es sind einfache, wiederkehrende Tätigkeiten, bei denen man manuelle Fertigkeiten erwirbt. Ziele von Phase 1 sind aber auch, das Einhalten von festen Abläufen und die richtige Zeitplanung zu erlernen. Ebenso die Aneignung unverzichtbarer Arbeitstugenden wie Ausdauer, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit und guten Sozialverhaltens. Ganz gezielt werden auch schon erste Kontakte zwischen den Jugendlichen und den Chefs bzw. Personalleitern der kooperierenden Firmen angebahnt. Man lernt sich bei arrangierten Treffen zwanglos kennen und bekommt ein erstes Gefühl dafür, ob es vielleicht passen könnte. Das ist wichtig, denn hieraus entwickelt sich der Übergang zu Phase 2: dem assistierten Praktikum in einem Partnerbetrieb. Der neue Mitarbeiter wird nicht einfach ins kalte Wasser geworfen. Ein Qualifizierungstrainer begleitet ihn intensiv vor Ort, je nach Bedarf stundenweise oder auch wochenlang am Stück. Bei Benedikt Witzel werden viele Praktikumsplätze ausprobiert: bei Teclac, in der Kantine des Finanzamtes, beim Automobilzulieferer Wagner. Doch der Erfolg ist begrenzt, trotz intensiver Begleitung durch seine Assistentin Carolin Wunderlich. Abläufe erweisen sich als zu komplex. Die starke Vergesslichkeit des jungen Mannes verhindert, dass sich Routinen einstellen. Schlussendlich bekommt er noch eine Chance bei Schmitt-Recycling. Frau Wunderlich muss nun sehr früh aufstehen, um nach Kleinsassen zu fahren. Denn als Erstes muss sie Benedikt Witzel dabei helfen, sich die neuen Bushaltestellen einzuprägen – und die Busfahrt dauert satte 90 Minuten. Irgendwann aber ist der Weg im Langzeitgedächtnis gespeichert, und wenn es ein- So geht Perspektiva | Ausgezeichnet mal so weit ist, dann sitzt das auch. Am Arbeitsplatz selbst malt sie jede Menge Schilder, hängt Fotos auf, die die einzelnen Tätigkeiten zeigen, klebt Pfeile auf Tonnen und erinnert ihn an die jeweils nächsten Schritte. Auch baut sie Brücken zu seinen neuen Kollegen. Obwohl dieser Arbeitsplatz wenig voraussetzt, muss er doch lernen, sich im Papiergewühl zu organisieren. Es darf kein Metall in die Maschine gelangen, Disketten und CDs müssen aussortiert und eigens geschreddert werden. Hin und wieder baut er sich im Eifer des Gefechts mit Alutonnen zu, bis nichts mehr geht. Es kommen Zweifel auf, ob er in diesem aus Sicherheitsgründen abgetrennten Raum selbstständig wird arbeiten können. Doch neben seinen offenkundigen Schwächen besitzt Benedikt Witzel auch echte Stärken. Da ist zunächst sein freundliches Wesen. „Er ist irgendwie ein Sympathieträger“, sagt Frau Wunderlich, und in der Tat bekommt man schnell einen Draht zu ihm. Seine aufgeschlossene, fröhliche Art erleichtert es allen Beteiligten, über Krisen hinwegzusehen. Zudem ist er überdurchschnittlich motiviert. Man muss ihn nicht beschleunigen, er bewegt sich dynamisch, kriecht tief in die Tonnen hinein. Fast tänzerisch befördert er die weißen Stapel ins gefräßige Schreddermaul. Und rechnen kann er. Wenn jemand einen Wäschekorb bringt, der gefüllt 22,14 kg wiegt und nach der Leerung nur noch 1,22 kg, dann weiß er schneller als seine Chefin, was auf dem Wiegezettel stehen muss. „Na, ja, rechnen kann ich schon“, schmunzelt er bescheiden. Was ihn aber besonders auszeichnet und worauf es hier auch besonders ankommt, ist seine Zuverlässigkeit: Man kann ihm uneingeschränkt vertrauen. Als vor ein paar Monaten die Busse streikten, fuhr plötzlich sein Bus nicht mehr weiter. Was für die meisten Jugendlichen eine prima Sache gewesen wäre, war für ihn ein innerer Konflikt. Er konnte sich nicht damit abfinden, seine Firma im Stich zu lassen. Mit Nachdruck überzeugte er den Busfahrer, zum Handy zu greifen, damit ihn jemand zu seiner Maschine bringen konnte. All das sind Pfunde, mit denen Benedikt Witzel trumpfen kann, und seine Chefs – Vater und Tochter Schmitt – wissen, was sie an ihm haben. Obwohl es eine Herkulesaufgabe ist, hoffen sie, dass es sich langfristig auszahlt. Er ist bereits der zweite Jugendliche, der in Kooperation mit Perspektiva hier einen Arbeitsplatz finden konnte. Auch der erste fing in der Aktenschredderei an, und auch er war dafür disponiert, weil er eine starke Leseschwäche hatte. Doch während es jenem bald zu öde wurde, ewig diese Maschine zu füttern, könnte diese Tätigkeit für Benedikt Witzel eine Dauerlösung sein. Denn obwohl es die immer gleichen Handgriffe sind, empfindet er keine Monotonie. Auch nach Monaten verrichtet er die Arbeit noch so, wie es ein Schüler am ersten Tag eines Ferienjobs tun würde. Vielleicht ist das auch eine Folge seiner Einschränkungen, aber es ist ein echter Vorteil. „Aus Schwächen eine Stärke machen“, lautet der Leitsatz von Perspektiva. Wie das geht, sieht man hier. Und dadurch, dass Benedikt Witzel selbst endlich einmal sein Handicap als Stärke erleben darf, hat er auch in seiner Persönlichkeit und im Selbstvertrauen einen gewaltigen Sprung gemacht. Es ist ganz einfach sein Arbeitsplatz. Verrückt. Vielleicht gibt es für einen Menschen wie Benedikt Witzel im Raum Fulda nur diesen einen. Die Kunst ist es, ihn zu finden – etwa wie bei einem 5 000-Teile-Puzzle. In einigen Monaten wird die Phase 2 zu Ende sein. Dann wird entschieden, ob es eine Phase 3 gibt: die Übernahme mit festem Arbeitsvertrag. Nicht immer erleben Perspektiva-Jugendliche nach der langen Trainingszeit dieses Happy End. Zuletzt steht dann doch immer diese eine große Frage im Raum: Rechnet sich dieser Mitarbeiter für die Firma? „Wir müssen zukunftsgerichtet den Betrieb führen, und das Gewinnstreben steht natürlich an erster Stelle“, betont auch Wolfgang Schmitt, der die Firma vor 28 Jahren gegründet hat. Ein Hauptproblem sieht der Unternehmer darin, dass er Benedikt Witzel nicht vielseitig einsetzen kann. Kommt ein Auftragsloch, wird der Mann zum Problem. Auf der anderen Seite ist der Begriff der „sozialen Verantwortung“ für die Unternehmerfamilie Schmitt keine Plattitüde. „Unternehmer, wie sie im Fernsehen dargestellt werden, solche Turbo-Kapitalisten, die weniger als Mindestlohn zahlen, die Leute 10 bis 14 Stunden arbeiten lassen und selbst schon mittags auf dem Golfplatz stehen – also ich kenne hier im Raum Fulda keinen.“ Auch in der rauen und staubigen Wirklichkeit eines Recyclingsunterneh- 27 28 Ausgezeichnet | So geht Perspektiva mens bleibt der Blick auf den Menschen gerichtet. Irgendwie ist Wolfgang Schmitt sogar eine Art Vater für seine Mannen, einer, der Tacheles redet oder mal jemanden zum Duschen schickt, wenn er seine Körperpflege vernachlässigt hat. Aber eben auch einer, der zuhört und sich in seine Leute hineinversetzt. Dass Kantigkeit sowie unternehmerischer Biss sehr wohl mit einem großen Herzen zusammengehen können, spürt man schnell in seiner Gegenwart. Gleichwohl bleibt die Frage nach der angemessenen Bezahlung ein Zankapfel: „Wenn ich die 8,50 Euro Mindestlohn nehme und das mit seiner Leistung vergleiche, dann habe ich große Bedenken!“ Wie viel ist eine Stunde Schreddern schon wert? Und dann der bleibende Betreuungsbedarf. Und schließlich die Lohngerechtigkeit: „Wenn ich jemandem, der nur 3,50 Euro die Stunde bringt, 9 Euro bezahle – wie soll ich das gegenüber den anderen Mitarbeitern darlegen?“ Wenn man ihn jetzt so reden hört, bekommt man Zweifel, ob das was werden kann mit dem festen Arbeitsvertrag. Aber seine Augen verraten etwas anderes. Arnulf Müller Mobile Assistenz: Carolin Wunderlich von Perspektiva begleitet Benedikt Witzel vor Ort „Wir sollten die Komfortzone verlassen“ Ihr großes Thema ist das Vertrauen. Das liegt auf der Hand, wenn man blind ist und zudem Leistungssport betrieben hat. Von blindem Vertrauen hingegen hält Verena Bentele nichts. Vertrauen müsse man „trainieren“, sagt sie und denkt dabei auch stark an das Selbstvertrauen. Mit nur 31 Jahren wurde sie im Januar zur Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen bestellt. Es ist das erste Mal, dass ein Mensch, der selbst eine Behinderung hat, dieses Amt ausübt. Und das ist gut so. Mit ihrem couragierten Wesen und ihrer großen Motivation steht die sympathische Frau für eine neue, selbstbewusste Generation von Menschen, die das Leben offensiv angehen möchten und selbstbestimmt agieren wollen – jenseits des alten Bildes vom „armen Behinderten“. Am Rande der Phineo-Preisverleihung in Berlin hat Redaktionsmitglied Rainer Sippel die Gelegenheit genutzt und sie für den SeitenWechsel interviewt: Rainer Sippel: Haben Sie neben Ihren politischen Zielen im engeren Sinn auch eine direkte Botschaft an Menschen, die eine Behinderung haben? Vielleicht gerade ausgehend von Ihren persönlichen Erfahrungen? Verena Bentele: Die Botschaft, die ich weitergeben kann und möchte, ist, dass jede und jeder von uns das machen sollte, was er oder sie wirklich gut kann und gerne macht. Davon sollte sich niemand abbringen lassen. Das ist für mich ein ganz wichtiger Aspekt von Inklusion. Jeder sollte selbst über Wohnort, Arbeitsort oder Freizeitaktivitäten entscheiden können. Dazu kann ich alle nur ermutigen und auch dazu, sich dafür die nötige Unterstützung zu holen. RS: Sie sagten mal in einem Interview, man solle die „Komfortzone“ verlassen. Es gibt ja heute sehr ausdifferenzierte Wohnheime und Werkstätten. Was kann da getan werden, um die Komfortzone zu verlassen? VB: Wir gestalten ein neues Bundesteilhabegesetz, damit jeder Mensch in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens mit einer noch besse-