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Ausgezeichnet | So geht Perspektiva
Papier ist geduldig, sagt man. Das soll
heißen: Aus Geschriebenem folgt oft nicht
viel. Umgekehrt kann Papier einen auch
ziemlich nervös machen. Vertrauliche Korrespondenzen, Kontoauszüge, Rezepte für
Psychopharmaka, selbst alte Liebesbriefe
können, so sie in falsche Hände gelangen,
Verheerendes anrichten. Damit die Seele
wieder Ruhe hat, muss das Zeug aus der
Welt – also ab zur Aktenschredderei!
Vom Vernichten,
Vergessen und
Vertrauen
Eine Firma, die im Raum Fulda so etwas anbietet, ist
z. B. Schmitt-Recycling. Seit mehr als 20 Jahren stellt
sie Alucontainer in Firmen auf, sogenannte „Databoys“ mit 240 Litern Fassungsvermögen. Da wandert
dann Blatt für Blatt hinein, und wenn er voll ist, wird
der verschlossene Boy diskret im fensterlosen Kastenwagen zum Industriegebiet Fulda-West verbracht.
Doch auch Großcontainer sind im Einsatz, wenn es
um die Auflösung von ganzen Archiven geht. Und
manch ein Privatmann kommt mit einem Wäschekorb unterm Arm vorbei, um Familienunterlagen in
Konfetti verwandeln zu lassen. Manchmal sind Fotos
dabei. All das wird dann zeitnah in einem der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Raum zerstört – gemäß
Sicherheitsstufe 3 des Bundesdatenschutzgesetzes.
Auf Dauer kann sich auf diesem Markt nur behaupten, wer absolut vertrauenswürdig agiert. Logistik
und Tempo müssen stimmen. Das Entscheidende
aber ist die Diskretion der Mitarbeiter. Denn das Papier geht zwangsläufig noch einmal durch des Menschen Hand, und sei es nur auf dem zwei Meter langen Weg von der Alutonne bis ins Schreddermaul. So
Gut positioniert:
Prokuristin Nicole Schmitt und
Aktenvernichter Benedikt Witzel
ist das Wichtigste, wer das macht. Bei Schmitt-Recycling ist zurzeit Benedikt Witzel aus Kleinsassen der
große Vernichter. Und warum gerade er, das ist eine
Erzählung wert.
Benedikt Witzel hat eine Eigenschaft, die ihn für
diesen Job prädestiniert. Sein Kurzzeitgedächtnis
funktioniert nicht so wie bei anderen Menschen. Er
vergisst, und zwar nicht nur hier und da. Der junge
Mann leidet an einer manifesten Gedächtnisstörung,
ausgelöst durch Komplikationen bei seiner Geburt.
Dass ein Mann ohne Gedächtnis mit vertraulichen
Dokumenten anderer Menschen arbeitet, scheint
auf den ersten Blick Sinn zu machen. Doch was zunächst lustig klingt und in der Tat von Vorteil ist,
ist auf den zweiten Blick gar nicht lustig. Vor allem
deshalb nicht, weil sich dieses Handicap auf das gesamte Leben dieses Menschen erstreckt – natürlich
auch auf jene Bereiche, die zwangsläufig zu einem
Berufsleben dazugehören. Etwa der Gebrauch von
öffentlichen Verkehrsmitteln. Damit Benedikt Witzel seinen Job überhaupt erledigen kann – und er
tut dies sehr gewissenhaft – waren umfangreiche
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Trainingsmaßnahmen nötig, etwas Glück und viel
Geduld.
Nach Abschluss der Förderschule war klar, dass eine
nahtlose Eingliederung in das Berufsleben nicht
funktionieren würde. Glück für ihn, dass es in Fulda
die Perspektiva gGmbH gibt – ein gemeinnütziges
Unternehmen, welches sich mit Enthusiasmus solcher Jugendlicher annimmt, die aus verschiedensten Gründen in der Gefahr stehen, den Anschluss
zu verlieren. Mithilfe örtlicher Unternehmer soll
in möglichst vielen Fällen verhindert werden, dass
Menschen mit Lernschwierigkeiten oder sozialen
Problemen irgendwann am Bahnhofsvorplatz abhängen. Oder in eine Werkstatt für Menschen mit
Behinderungen (WFBM) abgeschoben werden, die eigentlich für eine ganz andere Zielgruppe gedacht ist.
Angestrebt wird – und das ist sehr ehrgeizig – eine
Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt, mit
festem Arbeitsvertrag und regulärem Einkommen.
Wer zur Perspektiva kommt, durchläuft ein geregeltes Aufbauprogramm. Es beginnt mit der „Diagnose-Maßnahme“. Das klingt ein bisschen wie beim
Arzt, aber es ist mehr eine Art Kennenlernen: Was
kann ein Jugendlicher? Was begeistert ihn? Wie sieht
es mit seiner Belastbarkeit aus? Natürlich gehören
ein Intelligenztest sowie ein handwerklicher Test
(das sogenannte Hamet-Modul) dazu. Am Ende der
zwölf Diagnosewochen wird ein Abschlussbericht erstellt. Daraus geht hervor, ob der allgemeine Arbeitsmarkt eine realistische Option ist oder ob vielleicht
doch nur die WfbM-Lösung
bleibt. Im Falle von Benedikt Witzel geht
die Sache für den
allgemeinen
Arbeitsmarkt aus, aber
ganz knapp. Klar ist:
Das wird ein Kraftakt.
Im Anschluss daran beginnen bei Perspektiva die eigentlichen Trainingsmaßnahmen in der „Phase 1“:
der unterstützten Beschäftigung auf einem ehemaligen Bauernhof, dem Theresienhof in der Maberzeller
Straße in Fulda. Das muss man sich wie eine „Als
ob“-Firma vorstellen. Noch außerhalb des Real Life
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wird erlernt, was das überhaupt ist, das Arbeiten.
Einen Gartenbereich gibt es hier, auch eine Brennholzwerkstatt. Und damit das Ganze nicht in der
Luft hängt und schon einen ersten Bezug zum allgemeinen Arbeitsmarkt hat, werden auch einfache
Arbeiten für regionale Unternehmen erledigt. Da
ist z. B. die Firma Löffert, eine Stielfabrik aus Sinntal. Vor einigen Jahren hat sie in einem ehemaligen
Schweinestall eine Taucheinrichtung für Werkzeugstiele installiert. Aufgabe von jungen Menschen wie
Benedikt Witzel ist es nun, für eine bestimmte Zeit
z. B. den „Schaufelstiel Esche, gebogen“ mit der Artikelnummer 01.118 zu lackieren: aufhängen, abhängen, Lack nachfüllen usw. Tag für Tag, Stiel für
Stiel. Es sind einfache, wiederkehrende Tätigkeiten,
bei denen man manuelle Fertigkeiten erwirbt. Ziele
von Phase 1 sind aber auch, das Einhalten von festen
Abläufen und die richtige Zeitplanung zu erlernen.
Ebenso die Aneignung unverzichtbarer Arbeitstugenden wie Ausdauer, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit
und guten Sozialverhaltens.
Ganz gezielt werden auch schon erste Kontakte zwischen den Jugendlichen und den Chefs bzw. Personalleitern der kooperierenden Firmen angebahnt.
Man lernt sich bei arrangierten Treffen zwanglos
kennen und bekommt ein erstes Gefühl dafür, ob
es vielleicht passen könnte. Das ist wichtig, denn hieraus entwickelt sich der Übergang zu Phase 2: dem
assistierten Praktikum in einem Partnerbetrieb.
Der neue Mitarbeiter wird nicht einfach ins kalte
Wasser geworfen. Ein Qualifizierungstrainer begleitet ihn intensiv vor Ort, je nach Bedarf stundenweise oder auch wochenlang am Stück. Bei Benedikt
Witzel werden viele Praktikumsplätze ausprobiert:
bei Teclac, in der Kantine des Finanzamtes, beim
Automobilzulieferer Wagner. Doch der Erfolg ist begrenzt, trotz intensiver Begleitung durch seine Assistentin Carolin Wunderlich. Abläufe erweisen sich
als zu komplex. Die starke Vergesslichkeit des jungen
Mannes verhindert, dass sich Routinen einstellen.
Schlussendlich bekommt er noch eine Chance bei
Schmitt-Recycling.
Frau Wunderlich muss nun sehr früh aufstehen, um
nach Kleinsassen zu fahren. Denn als Erstes muss
sie Benedikt Witzel dabei helfen, sich die neuen Bushaltestellen einzuprägen – und die Busfahrt dauert
satte 90 Minuten. Irgendwann aber ist der Weg im
Langzeitgedächtnis gespeichert, und wenn es ein-
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mal so weit ist, dann sitzt das auch. Am Arbeitsplatz
selbst malt sie jede Menge Schilder, hängt Fotos auf,
die die einzelnen Tätigkeiten zeigen, klebt Pfeile auf
Tonnen und erinnert ihn an die jeweils nächsten
Schritte. Auch baut sie Brücken zu seinen neuen
Kollegen. Obwohl dieser Arbeitsplatz wenig voraussetzt, muss er doch lernen, sich im Papiergewühl zu
organisieren. Es darf kein Metall in die Maschine gelangen, Disketten und CDs müssen aussortiert und
eigens geschreddert werden. Hin und wieder baut
er sich im Eifer des Gefechts mit Alutonnen zu, bis
nichts mehr geht. Es kommen Zweifel auf, ob er in
diesem aus Sicherheitsgründen abgetrennten Raum
selbstständig wird arbeiten können.
Doch neben seinen offenkundigen Schwächen besitzt Benedikt Witzel auch echte Stärken. Da ist zunächst sein freundliches Wesen. „Er ist irgendwie ein
Sympathieträger“, sagt Frau Wunderlich, und in der
Tat bekommt man schnell einen Draht zu ihm. Seine
aufgeschlossene, fröhliche Art erleichtert es allen Beteiligten, über Krisen hinwegzusehen. Zudem ist er
überdurchschnittlich motiviert. Man muss ihn nicht
beschleunigen, er bewegt sich dynamisch, kriecht
tief in die Tonnen hinein. Fast tänzerisch befördert
er die weißen Stapel ins gefräßige Schreddermaul.
Und rechnen kann er. Wenn jemand einen Wäschekorb bringt, der gefüllt 22,14 kg wiegt und nach der
Leerung nur noch 1,22 kg, dann weiß er schneller als
seine Chefin, was auf dem Wiegezettel stehen muss.
„Na, ja, rechnen kann ich schon“, schmunzelt er bescheiden.
Was ihn aber besonders auszeichnet und worauf es
hier auch besonders ankommt, ist seine Zuverlässigkeit: Man kann ihm uneingeschränkt vertrauen. Als
vor ein paar Monaten die Busse streikten, fuhr plötzlich sein Bus nicht mehr weiter. Was für die meisten Jugendlichen eine prima Sache gewesen wäre,
war für ihn ein innerer Konflikt. Er konnte sich nicht
damit abfinden, seine Firma im Stich zu lassen. Mit
Nachdruck überzeugte er den Busfahrer, zum Handy zu greifen, damit ihn jemand zu seiner Maschine
bringen konnte.
All das sind Pfunde, mit denen Benedikt Witzel trumpfen kann, und seine Chefs – Vater und Tochter Schmitt –
wissen, was sie an ihm haben. Obwohl es eine Herkulesaufgabe ist, hoffen sie, dass es sich langfristig
auszahlt. Er ist bereits der zweite Jugendliche, der in
Kooperation mit Perspektiva hier einen Arbeitsplatz
finden konnte. Auch der erste fing in der Aktenschredderei an, und auch er war dafür disponiert, weil
er eine starke Leseschwäche hatte. Doch während es
jenem bald zu öde wurde, ewig diese Maschine zu
füttern, könnte diese Tätigkeit für Benedikt Witzel
eine Dauerlösung sein. Denn obwohl es die immer
gleichen Handgriffe sind, empfindet er keine Monotonie. Auch nach Monaten verrichtet er die Arbeit
noch so, wie es ein Schüler am ersten Tag eines Ferienjobs tun würde. Vielleicht ist das auch eine Folge
seiner Einschränkungen, aber es ist ein echter Vorteil.
„Aus Schwächen eine Stärke machen“, lautet der Leitsatz von Perspektiva. Wie das geht, sieht man hier.
Und dadurch, dass Benedikt Witzel selbst endlich
einmal sein Handicap als Stärke erleben darf, hat er
auch in seiner Persönlichkeit und im Selbstvertrauen
einen gewaltigen Sprung gemacht. Es ist ganz einfach sein Arbeitsplatz. Verrückt. Vielleicht gibt es für
einen Menschen wie Benedikt Witzel im Raum Fulda
nur diesen einen. Die Kunst ist es, ihn zu finden –
etwa wie bei einem 5 000-Teile-Puzzle.
In einigen Monaten wird die Phase 2 zu Ende sein.
Dann wird entschieden, ob es eine Phase 3 gibt: die
Übernahme mit festem Arbeitsvertrag. Nicht immer erleben Perspektiva-Jugendliche nach der langen Trainingszeit dieses Happy End. Zuletzt steht
dann doch immer diese eine große Frage im Raum:
Rechnet sich dieser Mitarbeiter für die Firma? „Wir
müssen zukunftsgerichtet den Betrieb führen, und
das Gewinnstreben steht natürlich an erster Stelle“,
betont auch Wolfgang Schmitt, der die Firma vor 28
Jahren gegründet hat. Ein Hauptproblem sieht der
Unternehmer darin, dass er Benedikt Witzel nicht
vielseitig einsetzen kann. Kommt ein Auftragsloch,
wird der Mann zum Problem. Auf der anderen
Seite ist der Begriff
der „sozialen Verantwortung“ für die
Unternehmerfamilie
Schmitt keine Plattitüde. „Unternehmer, wie sie
im Fernsehen dargestellt werden, solche Turbo-Kapitalisten, die weniger als Mindestlohn zahlen, die Leute 10 bis 14 Stunden arbeiten lassen und selbst schon
mittags auf dem Golfplatz stehen – also ich kenne
hier im Raum Fulda keinen.“ Auch in der rauen und
staubigen Wirklichkeit eines Recyclingsunterneh-
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mens bleibt der Blick auf den Menschen gerichtet.
Irgendwie ist Wolfgang Schmitt sogar eine Art Vater
für seine Mannen, einer, der Tacheles redet oder mal
jemanden zum Duschen schickt, wenn er seine Körperpflege vernachlässigt hat. Aber eben auch einer,
der zuhört und sich in seine Leute hineinversetzt.
Dass Kantigkeit sowie unternehmerischer Biss sehr
wohl mit einem großen Herzen zusammengehen
können, spürt man schnell in seiner Gegenwart.
Gleichwohl bleibt die Frage nach der angemessenen
Bezahlung ein Zankapfel: „Wenn ich die 8,50 Euro
Mindestlohn nehme und das mit seiner Leistung
vergleiche, dann habe ich große Bedenken!“ Wie viel
ist eine Stunde Schreddern schon wert? Und dann
der bleibende Betreuungsbedarf. Und schließlich die
Lohngerechtigkeit: „Wenn ich jemandem, der nur
3,50 Euro die Stunde bringt, 9 Euro bezahle – wie
soll ich das gegenüber den anderen Mitarbeitern
darlegen?“
Wenn man ihn jetzt so reden hört, bekommt man
Zweifel, ob das was werden kann mit dem festen
Arbeitsvertrag. Aber seine Augen verraten etwas
anderes.
Arnulf Müller
Mobile Assistenz:
Carolin Wunderlich von Perspektiva
begleitet Benedikt Witzel vor Ort
„Wir sollten die
Komfortzone
verlassen“
Ihr großes Thema ist das Vertrauen. Das liegt auf
der Hand, wenn man blind ist und zudem Leistungssport betrieben hat. Von blindem Vertrauen
hingegen hält Verena Bentele nichts. Vertrauen
müsse man „trainieren“, sagt sie und denkt dabei
auch stark an das Selbstvertrauen. Mit nur 31 Jahren
wurde sie im Januar zur Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen
bestellt. Es ist das erste Mal, dass ein Mensch, der
selbst eine Behinderung hat, dieses Amt ausübt.
Und das ist gut so. Mit ihrem couragierten Wesen
und ihrer großen Motivation steht die sympathische
Frau für eine neue, selbstbewusste Generation von
Menschen, die das Leben offensiv angehen möchten
und selbstbestimmt agieren wollen – jenseits des
alten Bildes vom „armen Behinderten“.
Am Rande der Phineo-Preisverleihung in Berlin hat
Redaktionsmitglied Rainer Sippel die Gelegenheit
genutzt und sie für den SeitenWechsel interviewt:
Rainer Sippel: Haben Sie neben Ihren politischen
Zielen im engeren Sinn auch eine direkte Botschaft an Menschen, die eine Behinderung haben?
Vielleicht gerade ausgehend von Ihren persönlichen
Erfahrungen?
Verena Bentele: Die Botschaft, die ich weitergeben kann und möchte, ist, dass jede und jeder von
uns das machen sollte, was er oder sie wirklich
gut kann und gerne macht. Davon sollte sich niemand abbringen lassen. Das ist für mich ein ganz
wichtiger Aspekt von Inklusion. Jeder sollte selbst
über Wohnort, Arbeitsort oder Freizeitaktivitäten
entscheiden können. Dazu kann ich alle nur ermutigen und auch dazu, sich dafür die nötige Unterstützung zu holen.
RS: Sie sagten mal in einem Interview, man solle
die „Komfortzone“ verlassen. Es gibt ja heute sehr
ausdifferenzierte Wohnheime und Werkstätten.
Was kann da getan werden, um die Komfortzone
zu verlassen?
VB: Wir gestalten ein neues Bundesteilhabegesetz, damit jeder Mensch in allen Bereichen des
gesellschaftlichen Lebens mit einer noch besse-