über den Drahtseilakt
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über den Drahtseilakt
4 Berliner Zeitung · Nummer 233 · 4./5. Oktober 2008 R ......................................................................................................................................................................................................................................................................................................... Reise Berliner Zeitung · Nummer 233 · 4./5. Oktober 2008 R5 ......................................................................................................................................................................................................................................................................................................... Reise Baumeln über Bäumen Vor 150 Jahren wurde die Kolonie British Columbia gegründet. Doch in Westkanada schaut man eigentlich lieber nach vorn statt zurück. Oder ganz tief nach unten von C ornelia T omerius Tourism British Columbia H ier in den Wipfeln von Whistlers Regenwald, an einem Karabiner 70 Meter über dem Fitzsimmons Creek baumelnd, wird plötzlich klar, wie das deutsche Wort „Angst“ in den anglikanischen Sprachraum gelangte. Die Kanadier kannten keine Furcht. Unbeirrt sind sie an dem Stahlseil durch die Luft gesaust und in einem Affentempo zwischen den Baumkronen verschwunden. Nur die Deutsche hängt in den Seilen, fixiert den Fluss, der von hier oben betrachtet zu einem winzigen Rinnsal geschrumpft ist, und den Karabiner-Haken über ihrem Kopf, an dem nun ihr Leben hängt. Ziptrek heißt der Freizeitspaß für Furchtlose, mit dem der Winterort Whistler auch fern der Pisten für Adrenalinschübe sorgt. Die Technik geht auf Naturforscher zurück, die sich lautlos zwischen den Baumkronen fortbewegen wollten – wie die Vögel, die sie somit auf Augenhöhe betrachten konnten. Einmal um die halbe Welt in 30 Minuten Der alte Traum vom Fliegen: In Kanadas westlichsten Weiten, so scheint es, wird er noch ein bisschen häufiger geträumt als anderswo. In einem Land, in dem der Zug drei Tage braucht, um einmal quer durchzufahren, und in einer Provinz, die dreimal so groß ist wie Deutschland, ist Fliegen nicht nur Notwendigkeit, sondern immer noch auch Sehnsucht geblieben. Viel sind wir geflogen seit unserer Landung in British Columbia. Ein Hubschrauber brachte uns in die Hauptstadt Victoria. Kurz hegten wir hier den Verdacht, der Pilot habe in der halben service Flug und Zug: Von Berlin nach Vancouver, etwa mit British Airways oder Air Canada (ca. 400 Euro). Mit dem Hub schrauber von Vancouver nach Victoria für etwa 65 Euro (www.helijet.com). Touren per Wasserflugzeug für etwa 190 Euro (www.westcoastair.com). Der Whistler Mountaineer fährt in 3,5 Stunden von Vancouver nach Whistler, ab 70 Euro. www.whistlermountaineer.com Ziptrek in Whistler: Verschie dene Schwierigkeitsstufen. Ca. 65 Euro. www.ziptrek.com Whistler KANADA Whistler Mountaineer 0AZIFISCHER¬ /ZEAN Vancouver 100 km Victoria r au fe l d / r i g au d Tourism British Columbia T h e Fa i r m o nt E m p r e s s T o u r i s m B C / D a nn i e l l e H aye s Muss leider draußen bleiben: der Bär. Very British: Blick vom Inneren Hafen auf die Provinzhauptstadt Victoria. It's Tea Time: Teesalon im ehrwürdigen Hotel Fairmont Empress in Victoria. Wasserflugzeug vor Vancouvers Skyline. Stunde Flugzeit nicht nur die Strait of Georgia überquert – den Seitenarm des Pazifiks, der Vancouver Island vom Festland trennt –, sondern einmal die halbe Welt umrundet. So britisch mutet die Architektur an, so englisch die duftenden Gärten, dass wir uns schon in einem verträumten Küstenort des vereinigten Königreiches wähnten. Mit dem Boot waren wir dann hinausgefahren auf das offene Meer, wo ein Rudel Killerwale, so schien es, ebenfalls den Flug probte: Schwer schoben sich die dicken Körper aus dem Wasser, Fontänen ausstoßend, als könnte dies für den nötigen Auftrieb sorgen. Das Wasserflugzeug nach Vancouver wartete im inneren Hafen von Victoria – ein Flughafen, wortwörtlich. Bis zu hundert dieser kleinen Maschinen rollen hier täglich das wellige Rollfeld auf. Und wie ein Staatsgast wird jeder Passagier verabschiedet. Rechter Hand steht das herrschaftliche Regierungsgebäude Spalier, und am Ende des Hafens das hundertjährige Hotel Empress – ein gewaltiger, viktorianischer Bau, in dem einst die Queen ihren Aperitif mindestens so sehr genoss wie den Ausblick aus ihrer Suite. In Vancouver, schließlich, strebt ebenfalls alles auf. Als habe sich die Skyline von New York im westlichen Ende des Kontinents widergespiegelt. Hochhäuser recken sich gen Himmel. Dazwischen spazieren Menschen, oft einen Kaffeebecher in der einen Hand, oft auch eine Hundeleine in der anderen – und meistens promeniert ein Mops an ihrem Ende. Warum? Viel- leicht, weil dessen Physis den Vierbeiner wohl mit Sicherheit daran hindert, sich wie so vieles andere im Land in die Lüfte zu schwingen. Nach Whistler ging es dann im Zug, nicht per Flug. Wir hätten auch den neuen Highway nehmen können. Sea-to-Sky heißt der, natürlich. Aber im Whistler Mountaineer fühlt man sich auch auf Schienen ein bisschen wie über den Wolken. Die Stewardessen verweisen auf Notausgänge und Schwimmwesten, ganz ähnlich wie ihre Kollegen im Luftraum. Und wie diese servieren sie mit höflichem Lächeln Snacks und Getränke. Hinter dem Glas neben dem Sitz läuft derweil ununterbrochen großes Landschaftskino. Wäre der Regisseur nicht über jeden Vorwurf der Realitätsferne erhaben gewesen, man könnte sein Werk klischeehaft schimpfen. Spektakuläre Wasserfälle spielen mit, grünste Wälder, weite Seen, von der Sonne perfekt ausgeleuchtete Bergkuppen – und allerlei fröhlich winkende Statisten an den Schranken. Wer möchte da noch fliegen? Goldrausch in Westkanada, der die ersten Bri- lange gedauert. Nach der Landung sind die ten einst anlockte. Heißt: 150 Jahre Konflikt Knie weich wie Clotted Cream, der Buttercrezwischen Siedlern und Ureinwohnern, die heu- me, die bei keinem High Tea fehlen darf. Nur gut, dass Steve das nicht sieht. Steve te politisch korrekt „First Nations“ genannt werden. Und die kürzlich durchsetzten, dass Podborski, die Pistenlegende. Er gehörte zu die alten Gemälde im Parlamentsgebäude in den berüchtigten Crazy Cunucks, den verrückten Kanadiern, die in den SiebziVictoria, auf denen die Eingeborenen barbusig und in devoter Halgerjahren für Aufsehen sorgten, Sinking Feeling tung vor den Siedlern hocken, aus weil sie auf besonders halsbreche– an einem Seil dem öffentlichen Raum verrische Art und Weise die Hänge heruntersausten. Achtmal gewann schwanden. hängend in die Podborski den Weltcup in der AbHeißt aber auch: 150 Jahre AfTiefe rauschend ternoon-Tea in der Neuen Welt. fahrt, 1980 holte er bei den Winbekommt der Kaum ein Ort außerhalb des Comterspielen in Lake Placid die BronBegriff eine monwealth, an dem der High Tea zemedaille. Jetzt hat der inzwiso exzellent zelebriert wird wie im schen 50-Jährige, der so smart völlig neue altehrwürdigen Hotel Fairmont scheint, dass man ihm weniger Dimension. Empress in Victoria. Die herrliden Pistenschreck, dafür aber jedes noch so alte Auto ungesehen chen Teesalons mit dem vornehmen Interieur, in denen livrierte Teaboys mit abkaufen würde, erneut Olympia im Blick: Für Köstlichkeiten beladene Etageren vor den ge- die Winterspiele 2010 in Whistler macht er puderten Nasen gut betuchter Gäste abstellen, Werbung. Und für seine Wahlheimat, in der er werden mit ihren bis zu 800 Gästen pro Tag seit fast zwanzig Jahren lebt, gleich mit. sogar häufiger frequentiert als die größten Tee„British Columbia“, so hatte er am Vorabend häuser Londons. Erfunden wurde der mächti- im Restaurant Araxi proklamiert und das Glas ge Nachmittagssnack übrigens einst von der Wein erhoben, das zum köstlichen Königslachs Duchess of Bedford, Anna Maria Stanhope, die an Fenchel und Orange gereicht wurde, „British jeweils nachmittags in etwa zur gleichen Stun- Columbia ist ein bisschen wie Neuseeland. Man hat vorzügliches Essen hier, die besten de über ein „sinking feeling“ klagte. Sinking Feeling – an einem Seil hängend in Weine – und den Bär immer vor der Tür.“ Manchmal kommt er sogar rein, wie der die Tiefe rauschend bekommt der Begriff eine völlig neue Dimension. Und natürlich dreht Guide weiß: Bei seinem Bekannten stand letzsich der Körper während der Fahrt. Das Rück- tens der Bär direkt vor dem Kühlschrank. Was wärtsgucken hat, wie in Kanada üblich, nicht soll er auch machen, schließlich sind sämtliche Mülleimer im Ort so geformt, dass da mit seinen Tatzen nichts zu holen ist. Und dann versteht man auch, warum das kleine Glöckchen aus dem Outdoorladen, mit dem Touristen glauben, Bären verscheuchen zu können, hier nur belustigt „Dinner Bell“ genannt wird. Wieder hat der Tourguide einen Tipp für die Deutsche, die nun das bisher längste Seil fixiert: „Schreien hilft“. Gegen die Bären? Oder gegen die Angst? Egal. Einen Versuch ist es wert. Doch es wird ein peinlicher, zittriger Schrei. Einen Grizzly verjagt der nicht. Dafür aber ein anderes Monstrum: die Furcht. Plötzlich Adrenalin statt Angst, Spaß statt Stress. Und dann wandelt sich der klägliche Schrei in ein freudiges Juchzen, das kaum mithalten kann mit dem durch die Luft schnellenden Körper und immer ein bisschen hinterher hallt. Höhenangst und Stoßgebet Es hilft nichts. Der Guide drängt. Also los. Den Körper in die Gurte sacken lassen, die Füße vom Boden heben. Und auf geht’s. Von wegen gleiten, von wegen fliegen – die ersten Meter nur freier Fall! Das Herz schlägt einen rasanten Techno-Beat, der bis unter die Schädeldecke dröhnt, da, wo das Hirn gerade einen berauschenden Cocktail mixt: aus Aufregung, Stoßgebeten und einem ordentlichen Schuss Höhenangst. Doch schließlich verliert der Körper an Tempo, um in der Mitte des Seils fast zum Halten zu kommen. Was für ein Ausblick, was für eine Perspektive – und kein Glas, kein Objektiv zwischen Auge und Landschaft. Einzig die Kuppen der eigenen Wanderstiefel schieben sich ins Bild, und beweisen so, noch nicht im Himmel, doch immerhin kurz darunter zu sein. „How are you?“, fragt der Guide, der den Karabiner löst, als die Füße wieder Halt finden. Keine Phrase diesmal. Zum ersten Mal seit der Landung in diesem Land will jemand darauf tatsächlich eine ehrliche Antwort wissen. Kein Wunder, changiert die Geschichtsfarbe der Befragten doch zwischen den beiden Saisonfarben Whistlers: zwischen Sommergrün und Winterweiß. Daran ändert sich auch nichts beim Blick auf das nächste Seil. 600 Meter lang, einmal schräg über den Fluss gespannt. Schon stürzen sich die anderen wieder am Seil herunter. Ein Teenager greift in den Karabiner, als wäre es Tarzans Liane und presst den passenden Schrei in die Luft. Seine kleine Schwester winkelt anmutig ein Bein an und nimmt mit gestrecktem Körper grazil Fahrt auf. Dann ist wieder die Deutsche dran. „Fahr rückwärts“, rät der Guide. „Es ist besser, wenn du rückwärts schaust.“ Ein ungewöhnlicher Rat in einem Land, das doch viel lieber nach vorn schaut statt zurück, ist die Geschichte doch so kurz wie schnell erzählt. 150 Jahre Kolonie British Columbia wird in diesem Jahr gefeiert. Heißt: 150 Jahre Hollywood des Nordens Wie? Nur noch ein Seil, jetzt, wo man Gefallen daran gefunden hat? „Freestyle“ ruft der Guide aus. Schon stürzen sich die anderen Hals über Kopf am Seil herunter, machen Salti und Pirouetten in der Luft, als würden in Vancouver gerade wieder Stuntmen gesucht – für die Filmindustrie, die so umtriebig ist, dass man schon vom „Hollywood des Nordens“ spricht. Kein Wunder, bei den Kulissen ringsum. Und die Deutsche, immerhin, löst die Arme vom Geschirr, breitet sie weit aus, wirft lächelnd den Kopf in den Nacken – und ist mittendrin in ihrem ganz persönlichen, aufregenden Actionfilm. z i pt r ek ec o t o u r s w h i s t l e r Die ersten Meter nur freier Fall: Ziptrek in Whistler.