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editorial guido ho rst Das siebte Siegel Das Jahr wird hart, heißt es. In Deutschland wie hier in Rom. Die Finanzkrise, die Einbrüche in der Autoindustrie und der drohende wirtschaftliche Abschwung haben die Wünsche, es möge „ein Gutes Neues Jahr“ werden, etwas zaghafter klingen lassen. Nachdenkliche Gespräche statt Sektlaune: Wird das mit dem Wohlstand immer so weiter gehen? Sind der Zweitwagen und der dritte Urlaub pro Jahr in ernsthafter Gefahr? Der eingefleischte Kölner und persische Schriftsteller Navid Kermani hat uns einen Text überlassen, der in einer der kommenden Ausgaben dieses Magazins erscheinen wird. Er handelt von den Hafenstädten Nordafrikas, die zu gigantischen Wartesälen geworden sind und in denen ein bunt gemischtes Flüchtlingsproletariat – eingepfercht in Bettenlagern und obskuren Unterkünften – auf den Sprung nach Europa wartet. Ein afghanisches Kind hatte es vor kurzem, festgekrallt unter einem Lastkraftwagen, bis in eine italienische Hafenstadt geschafft. Dann verließen es die Kräfte und das tonnenschwere Gefährt hat es zermalmt. Die Burg Europa, eine Festung des Wohlstands. Ein Bett haben, etwas Geld verdienen, in Friede spazieren gehen, mit Freunden einen Kaffe trinken, die Liebste ins Kino ausführen, die Kinder zur Schule schicken – es sind einfachste Wünsche, an die sich jeder Einzelne dieses Elendsheers vor den Schutzwällen des alten Kontinents klammert. Allein 4,5 Millionen Iraker sind auf der Flucht, ein guter Teil von ihnen Christen. Viele haben ihre Heimat bereits verlassen, sind aber nie im gelobten Land angekommen. Sie warten in Syrien oder Jordanien, dass es irgendwann einmal weiter geht. Aber die Fluchtburg Europa hat die Leitern hoch gezogen. Innerhalb der Fluchtburg jammert man derweil auf hohem Niveau. Pest und Cholera schreckten im Mittelalter. Jetzt zerbricht der Racheengel das siebte Siegel, der apokalyptische Superschreck fegt durchs Land: Null-Wachstum – oder, noch entsetzlicher: MinusWachstum. Garniert mit Klimawandel und Terrorgefahr ergibt das einen Giftcocktail, der für 2009 nichts Gutes erwarten lässt. Was wiederum auch eine gute Seite hat. Denn zum Jahreswechsel kann man sich angesichts solch trüber Aussichten – dass nach einem Abschwung auch wieder ein Aufschwung folgt, lassen wir hier einmal außen vor – eigentlich nur noch fragen, worauf denn der Europäer in der noch intakten Fluchtburg vatican 1| 2009 seine Hoffnung setzt. Simone Weil, die Jüdin und Christin mit ihren vertrackt mystischen Gedanken, die 1943 in England verhungert ist, kommt in diesem Heft nochmals mit dem geheimnisvollen Satz zu Wort: „Jedes erschaffene Ding ist Gegenstand des Erbarmens, denn es ist begrenzt. Das auf einen selbst gerichtete Erbarmen ist die Demut. Die Demut ist die einzige erlaubte Form der Selbstliebe.“ Elemente für eine Antwort. Erstens: Auch der Mensch ist geschaffen, keiner hat sich das Sein selbst gegeben. Man hat es empfangen. Niemand ist souverän, der Mensch ist begrenzt. Der Mythos vom aufgeklärten Erdbewohner, der von Fortschritt zu Fortschritt eilt (mit welchem Ziel?), ist eine bodenlose Dummheit. Jeden erwartet am Ende der Tod. Zweitens: Mit dem Christentum ist eine Religion in die Welt gekommen, die über den Einzelnen nicht lacht, ihn nicht verdammt und in das Prokrustesbett eines asketischen Ritualismus zwingt, die an seinem Leid Anteil nimmt und ihm in Jesus Christus das zeigt, was dem Menschen mit seiner gebrochenen Natur am meisten entspricht und was er als Nötigstes braucht: Erbarmen. Der Tod ist nicht die Endstation. Göttliches Erbarmen hat den Durchbruch bewirkt, den Erlöser und die Erlösung gebracht. Drittens: Wen das durchdringt, der wird seine Hoffnung nicht mehr darauf setzen, dass Frau Merkel ein zweites Konjunkturprogramm auflegt oder die Mauern der Fluchtburg Europa noch ein paar Jahrzehnte halten. Der wird demütig. Nicht im Sinne der Unterwürfigkeit desjenigen, der sich als Diener seiner Herren aus der Verantwortung schleicht. Sondern in der Demut dessen, der beschenkt worden ist, mit dem Leben, mit der Erlösung und Gottes Barmherzigkeit, die jedem Einzelnen eine unendliche Würde verleiht. Vielleicht sollten die Christen Europas ihre Fluchtburg verlassen und diese Botschaft zu den Hoffnungslosen bringen, die vor den Toren des gelobten Landes auf Einlass warten. Das wäre die gründlichste Antwort auf die Bedrohung von außen durch verarmte Massen, die ihre Hoffnung nur noch auf das goldene Kalb „Euro-Zone“ setzen. Doch Mission ist zurzeit politisch unkorrekt. Noch hält der Nihilismus Europa fest im Griff. Jonathan Littells „Die Wohlgesinnten“ lassen grüßen. 3