Tasse Kaffee Seite 28-29

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Tasse Kaffee Seite 28-29
Foto: Aquensis
Eine Tasse
KAFFEE
mit
Jede Woche schreibt Harald Martenstein
eine Kolumne im ZEITmagazin und das seit
13 Jahren. „Lebenszeichen“ hießen diese anfangs, heute einfach „Harald Martenstein“. Er
ist Redakteur des Berliner Tagesspiegels, in
dem er am Wochenende ebenfalls zu lesen
ist. Regelmäßig erscheinen seine lustigen,
wütenden, skurrilen oder auch nachdenklichen Lebensbetrachtungen in Buchform und
im Radio. Und Martenstein schreibt Romane.
„Schwarzes Gold aus Warnemünde“ heißt sein
letzter. Harald Martenstein lehrt an der HenriNannen-Schule für Journalisten in Hamburg
und hat für seine Arbeit zahlreiche Preise bekommen.
HARALD MARTENSTEIN im Casino traf
KRISTINA HORTENBACH
28
Nummer 1
6 / Winter/Frühjahr 2015/16
Dunkles
Sakko, lange graue Haare, braune Ledertasche. Harald Martenstein sieht aus wie ein
Kunstprofessor bei seiner Führung durchs prunkvolle
Casino. Vor seiner Lesung am Abend nimmt er schon
mal probeweise auf der Bühne im Florentinersaal
Platz, auf einem Sessel, der eher wie ein Thron aussieht. Wasser und einen trockenen Weißwein wünscht
er sich zu seinem Vortrag, wenige Stunden vorher darf
es noch ein Cappuccino sein, ohne Zucker. „Kaffee ist
meine Schreibdroge“, erklärt der Kolumnist, 20 Tassen
trinke er davon täglich. „Ich war erleichtert, als bekannt wurde, dass Kaffee doch nicht so ungesund ist“,
lacht Martenstein, „Kaffee spielt für mich in einer Liga
mit Orangensaft und Müsli.“
schen haben allerdings gesagt: Das ist keine Kunstfigur, das bist du selbst!“
Harald Martenstein wirkt entspannt, er fühlt sich wohl
in Baden-Württemberg, das merkt man. Der gebürtige
Mainzer hat in Freiburg studiert, Geschichte und Romanistik, seine erste feste Stelle als Redakteur hatte er
bei der Stuttgarter Zeitung, und er ist mit einer Stuttgarterin verheiratet. „Den Tonfall, wie ihn die Leute
hier sprechen, den hab ich viele Jahre gehört, drum
fühl ich mich hier heimisch“, sagt er.
Harald Martensteins Augen lachen durch die Brille. Er erzählt gerne, und gerade redet er sich warm.
Stundenlang möchte man ihm zuhören und kann gar
nicht glauben, dass er anfangs Angst hatte, dass ihm
nichts mehr einfällt, was er kommentieren oder glossieren könnte. Diese Angst hat er nicht mehr. „Wenn
ich schreibe“, so Martenstein, „setzte ich mich an den
Computer, mache ihn an und warte, was passiert.
Dann leg ich los.“ Und es passiert immer was im Kopf
von Harald Martenstein. Er brauche nur ein großes
Zeitfenster, keinen Druck, kein Telefon und keine
E-Mails, stattdessen Ruhe. Ob es eine lustige Kolumne wird oder eine ernste, das sei stimmungsabhängig.
„Wie bei einer Kommode mit vielen Schubladen, bei
denen man mal die eine aufmacht, mal die andere.“
Hauptsache niemanden langweilen und nicht jede
Woche dasselbe servieren.
Seit 27 Jahren lebt Martenstein jetzt schon in BerlinKreuzberg, „der einzigen echten Weltstadt in Deutschland“, wie er meint, er liebe dort die Parks mit seinen
schrägen Typen und verrückten Vögeln, denen er
gerne zugucke. Die Themen für seine wöchentlichen
Kolumnen in der ZEIT und im Tagesspiegel, die kommen aber nicht von dort. Von Privat bis Politisch
reicht sein Spektrum, vom Thema kindische Erwachsene über Hundehaufen und Radfahrer in Berlin bis
zur Bundeskanzlerin und Flüchtlingen. Eins seiner
Lieblingsthemen: Genderforschung, die behauptet,
dass Unterschiede zwischen Mann und Frau kulturell
konstruiert sind, was Martenstein ganz anders sieht.
Das gibt Reaktionen von Lesern. Und Martenstein
freut sich, dass er provoziert. „Dass die Leute sich so
aufregen, motiviert mich“. Wütende E-Mails, regelmäßige Shitstorms lassen ihn kalt. „Ich muss nur den
Kapitalismus verteidigen und schon brennt die Hütte“,
freut sich Martenstein und nennt sich selbst reaktant.
„Wenn man versucht, mich unter Druck zu setzen,
dann mach ich´s gerade gerne. Es ist unmöglich, irgendwas zu sagen, ohne sich bei irgendwem unbeliebt
zu machen. Wenn man das Risiko nicht eingehen will,
bleibt nur ein Schweigegelübde.“
Der Kolumnist braucht ein Image. Und Harald Martenstein brauchte ein Alter Ego, als er anfing mit den
Kolumnen vor 13 Jahren. Eine Woche lang hat er sich
in eine Ferienwohnung zurückgezogen und überlegt
– wer ist der Typ, der eine Meinung hat zu vielen Aspekten des Lebens und in welcher Tonlage sagt er sie?
Heraus kam ein älterer, übellauniger, cholerischer Typ.
„Ich habe mir gedacht, den kannst du spielen bis du
umfällst“, erzählt Martenstein. „Nahe stehende Men-
Nummer 1
6 / Winter/Frühjahr 2015/16
Am Anfang waren es private Geschichten, über die er
in seiner Zeitungskolumne geschrieben hat. Geschichten aus seinem Freundeskreis, von seiner Familie. Die
er dann aber immer um
Kaffee ist meine
Erlaubnis fragt, wie seinen
ältesten Sohn, als er über
seine Dreiwortsätze und
den angeblichen Schuhtick schrieb. „Der hat sich das
durchgelesen und mit den Achseln gezuckt, dem hat
das nie was ausgemacht, in seiner Klasse hat auch nie
jemand die ZEIT gelesen.“
„
Schreibdroge.“
Kann ein Kolumnist die Welt verändern? Können seine Worte etwas bewirken? „An die verändernde Kraft
der Literatur glaube ich sehr wenig“, gibt Martenstein
zu. Aber dann fällt ihm doch ein Beispiel ein. Als er
vor einigen Jahren mit einem Kind im Film „Keinohrhasen“ war. Obwohl ab 6 Jahren freigegeben, lief
eine Sexszene nach der anderen. Darüber hat Harald
Martenstein geschrieben, das hat ein Bundestagsabgeordneter gelesen und bald wurde die Altersfreigabe
auf 12 Jahre erhöht. Und Martenstein hatte das Thema
für seine nächste Kolumne.
Harald Marteinstein
Die neuen Leiden
des alten M.
Unartige Beobachtungen zum
deutschen Alltag
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 208 Seiten, 12,5 x 20,0 cm
ISBN: 978-3-570-10224-4, 16,99 €,
Verlag C. Bertelsmann
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