Wahrnehmung, Wirklichkeit, Wahrheit und Wissenschaft
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Wahrnehmung, Wirklichkeit, Wahrheit und Wissenschaft
Wahrnehmung, Wirklichkeit, Wahrheit und Wissenschaft Einige Bemerkungen zur Diskussion um die Lebenserwartung und den Gesundheitszustand der Molosser Dr. Jörg Ulrich 1 Wir alle beziehen den größten Teil dessen, was wir über unsere komplexe und immer unübersichtlicher werdende moderne Welt wissen oder zu wissen meinen, nicht aus der eigenen Erfahrung, sondern aus den Medien und von Leuten, die sich aus persönlichem oder wissenschaftlichem Interesse mit einem Thema oder einer Fragestellung genauer beschäftigt haben. Sie müssen wir immer dann zu Rate ziehen, wenn wir uns über eine Sache ein Urteil bilden wollen. Auf jeden Fall reicht es bei weitem nicht aus, die eigene, notwendigerweise beschränkte, Wahrnehmung zur „Wahrheit“ zu erklären oder zur wissenschaftlich gesicherten Tatsache. Auf diese Weise nämlich entsteht immer ein Zerrbild der Wirklichkeit (Wirklichkeit = das, was wirkt, was „am Werke“ ist), deren man sich vergewissert zu haben meint. Geht es nur um Meinungen und das natürlich unbestrittene Recht, diese zu äußern und zu verbreiten, dann kann der größte Unsinn behauptet und zur „Wahrheit“ erklärt werden. „Die Wahrheit“ ist ein sehr schwierig zu fassender Begriff, über den sich die Philosophen bereits seit vielen Jahrhunderten streiten, und Meinungen gibt es wie Sand am Meer. Deren Umdeutung zur „Wahrheit“ bei Abwesenheit jeglichen nachvollziehbaren Grundes bereits für praktizierte Demokratie zu halten, bezeugt überdies ein sehr stark verkürztes Demokratieverständnis. Ein einfaches Beispiel soll die Problematik einer aus persönlicher Wahrnehmung gewonnenen Meinung, die zur „Wahrheit“ umfrisiert wird, verdeutlichen: Wenn sich mir gegenüber Menschen, die eine Brille tragen, drei Mal, fünf Mal oder vielleicht auch zwanzig Mal aggressiv und bösartig verhalten haben, dann kann ich daraus seriöser Weise eben gerade nicht schließen, der durchschnittliche Brillenträger sei aggressiv und bösartig und daraus weiterhin möglicherweise ableiten, es müsse ein Gesetz zum Schutz vor gemeingefährlichen Brillenträgern geschaffen werden. Selbst wenn ich dieser Meinung bin, kommt sie durch lautes Hinausposaunen nicht in den Status einer „Wahrheit“ oder auch nur schlicht einer richtigen Feststellung. Ich kann mich allerdings als demokratischer Kämpfer gegen das Unwesen der tyrannischen Brillenträger fühlen und mit dem Gestus der Überlegenheit allen denen entgegentreten, die das für Blödsinn halten, um sie aufzuklären und zu belehren. In diesem Fall wird mir jedes noch so fundierte Gegenargument als böswillige Komplizenschaft mit den gefährlichen Brillenträgern erscheinen, und ich werde hinter jeder Aussage, die sich gegen meine Auffassung wendet, einen Brille tragenden Drahtzieher vermuten, der die im Gegensatz zu mir natürlich naiven und unbedarften Menschen hinters Licht führt. 2 Nach dieser meines Erachtens (auch und gerade aus psychologischer Sicht) notwendigen und wichtigen Vorbemerkung komme ich zum eigentlichen Thema dieser Abhandlung, nämlich zum Gesundheitszustand und der Lebenserwartung von Hunden im Allgemeinen und Molossern im Besonderen. Seit längerer Zeit schon geistert durch die virtuelle Welt des Internet die Behauptung, die überwiegende Mehrheit der Molosser sei mit schweren Krankheiten behaftet, das Durchschnittsalter der Hunde liege bei nur 6 Jahren und die Züchter nähmen es aus egoistischem Gewinnstreben in Kauf, kranke Hunde in die Welt zu setzen, an manchen Stellen ist gar von „Krüppeln“ die Rede. Grundlage der Behauptung zum Beispiel einer in diesem Bereich besonders engagierten Person: Sie kennt oder kannte 5, 10 oder vielleicht auch 20 Molosser persönlich, die krank sind oder sehr jung starben. Schlussfolgerung: Alle Molosser sind krank und sterben sehr früh. Forderung: Einführung einer bis ins kleinste Detail gehenden bürokratischen Kontrolle und Gängelung der Züchter. Das Ziel: Die „Wahrheit“ muss in ihr Recht gesetzt werden. Die vermeintlichen Wahrheitsverhinderer sind zu bekämpfen. Sie werden außerdem hochstilisiert zu wahren Monstren von beispielloser Rücksichtslosigkeit und Raffgier, die ihre Rassen mit Willen und Bewusstsein „kaputt züchten“. 3 So weit die Meinung, die mit großem Gestus und inbrünstiger Freiheitskämpfer-Pose als „Wahrheit“ daher stolziert kommt. Belegen lässt sich das alles nicht. Aber eine starke Behauptung ist allemal besser als ein schwaches Argument. Und schließlich glaubt man ja, dass die Wirklichkeit wirklich so ist, wie sie auf einen selber wirkt. Der Diskurs über die Lebenserwartung der Hunde gerät so unter der Hand zum Glaubensstreit. Was aber lässt sich tatsächlich belegen? Die Lebenserwartung von Hunden allgemein ist in den letzten 30 Jahren um ca. 25 % gestiegen. Richtig ist auch, dass große Rassen eine geringere Lebenserwartung haben als kleine. Das ist zwar eine Binsenweisheit, bei der es sich allerdings bereits lohnt, einmal etwas genauer hinzusehen und die allgemeine Feststellung zu differenzieren. In der Ausgabe 10/2004 der Zeitschrift „Partner Hund“ referiert die Autorin Gudrun Beckmann die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Erhebung zum Thema Lebenserwartung bei Hunden. Die Zahlen sind nicht nach Rassen aufgeschlüsselt, erlauben aber dennoch einen ersten wichtigen Differenzierungsschritt. Danach ergab sich ein durchschnittliches Lebensalter von 10,4 Jahren für alle Hunde. Aufgeschlüsselt nach Gewicht kommt es zu folgenden interessanten Zahlen: Gewicht Weniger als 10 kg 10 bis 19 kg 20 bis 29 kg 30 bis 45 kg Mehr als 45 kg Durchschnittsalter 10,4 Jahre 12,4 Jahre 10,3 Jahre 8,1 Jahre 8,7 Jahre Die langlebigsten Hunde sind nach dem Ergebnis der Erhebung also nicht die ganz kleinen, sondern die in der Gewichtsklasse von 10 bis 19 kg. Für uns von besonderer Bedeutung ist aber die zweite aus den Zahlen abzulesende Tatsache, nämlich dass nicht die ganz großen Rassen am frühesten sterben, sondern die mittelgroßen mit einem Gewicht bis 45 kg. Über die These, dass große Hunde generell früher sterben, schreibt Beckmann: „Unsere Statistik bestätigt das nicht.“ Was die Statistik lediglich aussagt, ist: Die großen Hunde über 45 kg sterben im Schnitt um 3,7 Jahre früher als die der Gewichtsklasse zwischen 10 und 19 Kilogramm und um 1,6 Jahre früher als die 20 bis 29 Kilogramm schweren Hunde. Sie werden allerdings durchschnittlich um 0,6 Jahre älter als die Gruppe von 30 bis 45 Kilogramm. Liegt die durchschnittliche Lebenserwartung eines Hundes rasseübergreifend bei 10,4 Jahren und setzen wir dieses Alter in Beziehung zur Lebenserwartung der Ahnen unserer Hunde, nämlich der Wölfe, dann fällt auf, dass es hier keinen allzu großen Unterschied gibt (Vgl. Markus Kappeler, Gefährdete Tierarten. Canis Lupus, Unterägeri 1993) Kappeler führt aus, dass die Wölfe in der freien Wildbahn eine Lebenserwartung von 10 bis 12 Jahren haben, wobei die unterschiedlichen Gewichtsklassen bereits berücksichtigt sind. So wiegt der sibirische Tundrawolf etwa bis zu 80 Kilogramm, während es die indischen Wölfe auf gerade einmal 15 bis 20 Kilogramm bringen. Bei den statistischen Zahlen ist immer darauf zu achten, dass es sich um Durchschnittswerte handelt. Natürlich gibt es bei den Molossern, wie bei allen anderen Rassen auch, Hunde, die früh sterben, aber eben auch eine sehr große Zahl, die ein beachtliches Alter erreicht. So schreibt zum Beispiel Wolfgang Bruckner im Hundemagazin „Wuff“ (Ausgabe 2/2002) über den Bullmastiff: „Die gesundheitliche Situation unserer Rasse ist sehr erfreulich, die Lebenserwartung beträgt etwa 8 - 12 Jahre.“ Bruckner schreibt über die Bullmastiffs in Österreich. Aber auch wir in Deutschland kennen einzelne Hunde, die ein Alter von 12 oder gar 13 Jahren erreicht haben. Kaum erwähnenswert, dass es genauso unzulässig ist, daraus zu schließen, alle Bullmastiffs würden in der Realität ein solches für große Rassen wirklich sehr hohes Alter erreichen, wie die oben zitierte Behauptung aufzustellen, das Durchschnittsalter dieser Rasse und aller Molosser insgesamt liege bei nur 6 Jahren. Fakt ist, dass alle großen Rassen schneller altern als ihre weniger großen und weniger massigen Artgenossen. Wir sprechen hier allerdings über eine Schwankungsbreite von nur ganz wenigen Jahren bezogen auf die verschiedenen Rassen und auch bezogen auf die oben erwähnten Wölfe. Wer einen Hund haben will, der 14 oder 16 Jahre alt wird, muss sich einen Hund aus der Gewichtsklasse zwischen 10 und 19 Kilogramm aussuchen, die nachweislich am ältesten wird. Aber auch hier gibt es keinerlei Garantie, dass der Hund nicht wesentlich früher stirbt, denn auch hier handelt es sich bei allen Angaben um Durchschnittswerte. Dies alles bedeutet nicht, dass die Züchter nicht bemüht sein müssten, möglichst gesunde und funktionelle Hunde zu züchten. Und es besteht kein Zweifel daran, dass sich die Züchter auch darum bemühen. Geradezu absurd wirkt die in letzter Zeit immer wieder aufgestellte These, die Züchter, oder zumindest einige davon, züchteten willentlich und sozusagen gezielt kranke Hunde. Kein Züchter könnte sich dies auf Dauer leisten, sägte er in diesem Fall doch buchstäblich den Ast ab, auf dem er sitzt. Hier, wie bei jedem anderen Thema auch, ist es absolut unzulässig und realitätsverzerrend, von Einzelfällen aufs Ganze zu schließen. Die Forderung nach einer Zucht möglichst langlebiger Hunde ist eine Sache, der ideologisch motivierte Kreuzzug der vermeintlich Rechtgläubigen gegen alle diejenigen, die sich bereits seit langer Zeit um die Zucht verdient gemacht haben, eine ganz andere. Zur gegenwärtigen Situation schreibt Dr. Helga Eichelberg, die Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirates im VDH (Helga Eichelberg, Gedanken zur zeitgemäßen Hundezucht, in: Unser Rassehund, Ausgabe 2/2008, S. 19), dass „zumindest die im VDH gezüchteten Rassehunde gesünder sind denn je. Sie sind auch gesünder als ein Großteil der Mischlinge, die sich leider nicht der prächtigen Gesundheit erfreuen, die ihnen nachgesagt wird.“ Die Tatsache, dass heute immer mehr über Krankheiten der Hunde diskutiert wird, so legt Dr. Eichelberg überzeugend dar, ist nicht darauf zurückzuführen, dass es mehr kranke Hunde gibt. Wir kennen durch die Fortschritte der modernen Medizin nur mehr Krankheiten und wissen mehr über sie. Aber deswegen haben die Hunde nicht mehr Krankheiten. Hier „hat unser Wissen, vor allem aber auch unsere Sensibilität, zugenommen.“ (Ebd.) Züchterische Erfahrung und Sorgfalt in der Zucht sind die Grundlagen, auf denen aufgebaut werden muss, nicht ideologisch überhöhte Maximalforderungen, die ein sinnvolles Zuchtgeschehen eher behindern als fördern. Eichelberg formuliert diese Einsicht noch wesentlich schärfer, indem sie schreibt, es dürfe nicht zugelassen werden, „dass irgendjemand meint, in einer Rasse einen Defekt entdeckt zu haben und dann geradezu erpresserisch auf einer Selektion besteht. Zukünftig sollte sich kein Verein kopflos und aktionistisch auf fragwürdige Züchtungsabenteuer einlassen. Man kann eine Rasse nämlich auch zu Tode selektieren.“ (Ebd., S. 20) Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie sehr eine die züchterischen Entscheidungen bis ins kleinste Detail reglementierende Zuchtordnung einer Rasse eher schadet als nützt. Das Messen der Realität an einem fernen Idealzustand hat auch in der menschlichen Geschichte bereits zur mehr als einer Katastrophe geführt. Also ist die Einsicht zwingend, dass es in der Hundezucht nicht darum gehen kann, „Ansprüche an die Zucht zu stellen, die nicht erfüllbar sind. Hierzu gehört z.B. der Wunsch den ‚genetisch gesunden Hund’ züchten zu wollen. Das ist eine Illusion und es ist auch gar nicht notwendig, denn phänotypisch gesunde Hunde zu züchten, Hunde also, die nicht hinken, die sehen und hören können und sich des Lebens freuen, ist ein großes Ziel, und das ist anzustreben. […]. Ich halte es für völlig unsinnig, sich Ziele zu stecken, von denen man schon während der Formulierung weiß, dass sie nicht zu erfüllen sind.“ (Ebd.) Man müsste diese Passagen nicht so ausführlich zitieren, wären derzeit nicht Bestrebungen im Gange, eben solche Unsinnigkeiten in die Tat umzusetzen und damit, bei allem unterstellten guten Willen, eine gefährliche Attacke gegen die Rassehundezucht, vor allem die Molosserzucht, zu reiten. Das Gegenteil von gut ist auch in diesem Falle gut gemeint. Keine Frage, dass Defekte züchterisch bekämpft werden müssen, dass ihnen gegengesteuert werden muss. Aber auch hier darf das von Frau Dr. Eichelberg in diesem Zusammenhang geforderte Augenmaß nicht vernachlässigt werden, indem traumtänzerische Himmelszustände als Maßstab an die Wirklichkeit angelegt werden, denn, so schreibt sie zutreffend, „es bringt nichts, den Teufel mit dem Beelzebub austreiben zu wollen, was in unserer Situation bedeuten würde, gleichzeitig gegen eine ganze Anzahl von Defekten zu selektieren und dabei die gesamte Zuchtbasis zu verlieren.“ (Ebd., S. 22) Die Hundezucht darf nicht von Leuten bestimmt werden, die sich einerseits blind von ihren Emotionen leiten lassen, andererseits aber und zugleich „vor lauter Wissenschaftsgläubigkeit die Zuchtpartner ihrer Tiere nur nach Zuchtwerten aussuchen und die eigentlichen Hunde gar nicht mehr kennen.“ (Ebd.) Eine solche Vorgehensweise ist nach Dr. Eichelberg „kontraindiziert“. Und es sollte doch nicht allzu schwer einsehbar sein, „dass Hundezucht eine verantwortungsvolle Aufgabe ist, die nicht durch Emotionen, sondern vor allem durch sachbezogenes Wissen bestimmt sein sollte (Ebd.), welches sich aber zu einem guten Teil aus Erfahrung zu nähren hat und nicht nur aus angelesenen wissenschaftlichen Forschungsergebnissen, deren Wichtigkeit hier nicht bestritten werden soll. Es geht nur darum, den eigenen Kenntnisstand durch Wissenschaft anzureichern, nicht aber darum, vor der Wissenschaft auf die Knie zu fallen, ohne zuvor ihre Rückkopplung an erfahrungsgesättigte Realitäten vollzogen zu haben. Sinnvolle und erfolgreiche Hundezucht bedeutet vor allem viel Arbeit sowie nachvollziehbare und vertretbare Entscheidungen. Wer engelsgleich über dem realen Geschehen schwebt, durch kluge Reden glänzt und einer die Zucht angeblich umwälzenden Revolutionsromantik huldigt, wird notwendigerweise an dem Punkt scheitern, an dem kontinuierliche Arbeit und wichtige Entscheidungen auch in die Tat umgesetzt werden müssen. Wir diskutieren nämlich über Tierzucht, nicht über sozialpädagogische Maßnahmen zur Disziplinierung ungezogener Kinder bzw. vermeintlich ungezogener Vorstandsmitglieder in einem Verein.