Absolutismus, Aufklärung und Revolution

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Absolutismus, Aufklärung und Revolution
VON 1648 BIS 1793
Absolutismus,
Aufklärung und
Revolution
walt ist eine der wichtigen Errungenschaften des Absolutismus im 17. Jahrhundert. Ihren
reinsten Ausdruck findet diese autokratische Herrschaftsform in dem Satz »L´état c´est
moi« (Der Staat bin ich), der dem auf Repräsentation bedachten französischen Sonnenkönig Ludwig XIV. zugeschrieben wird. Mit der amerikanischen Menschenrechtserklärung
1776 und der Französischen Revolution 1789 neigt sich das Feudalzeitalter seinem Ende
entgegen und die bürgerliche Epoche beginnt. Technische Revolutionen wie die Erfindung
der Dampfmaschine weisen den Weg in das Industriezeitalter.
Die moderne 20-bändige „Große Weltgeschichte“ präsentiert die Geschichte unserer Welt
präzise, leichtverständlich und streng chronologisch. Genaue Einzelinformationen
und verständliche Zusammenhangs- und Spezialdarstellungen mit über 8000
Abbildungen machen die Vergangenheit inhaltlich und visuell erfahrbar. Je drei Bände
beschreiben die Vor – und Frühgeschichte, die Antike und das Mittelalter. Der Zeitraum von
der frühen Neuzeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wird in fünf, das 20. Jahrhundert
bis zur Gegenwart in sechs Bänden behandelt.
ISBN 978-3-902016-85-0
9 7 83 902 01 685 0
Titelbild: Bildnis vom Ludwig XIV der Sonnenkönig; Copyright: gettyimages
Absolutismus, Aufklärung und Revolution
Die Entmachtung des Adels und des hohen Klerus durch die monarchistische Zentralge-
WELTGESCHICHTE VON DEN ANFÄNGEN BIS ZUR GEGENWART
W E LT G E S C H I C H T E V O N D E N A N F Ä N G E N B I S Z U R G E G E N W A R T
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1648 – 1793
Überblick
Absolutismus, Aufklärung
und Revolution
Eine wichtige Errungenschaft des Absolutismus im 17. Jahrhundert ist die Entmachtung des Adels und des hohen Klerus durch die monarchistische Zentralgewalt. Ihren reinsten Ausdruck findet diese autokratische Herrschaftsform
in dem Satz »L’état c’est moi« (Der Staat bin ich), der dem auf Repräsentation
bedachten französischen Sonnenkönig Ludwig XIV. zugeschrieben wird.
Mit der amerikanischen Menschenrechtserklärung 1776 und der Französischen
Revolution 1789 neigt sich das Feudalzeitalter seinem Ende entgegen und die
bürgerliche Epoche beginnt. Revolution auch auf dem Gebiet der Technik:
Die Erfindung der Dampfmaschine weist den Weg ins Industriezeitalter.
D
ie konfessionelle Spaltung Europas erlebt
im 17. Jahrhundert mit dem Dreißigjährigen Krieg ihren blutigen Höhepunkt. Von
Böhmen geht ein Konflikt aus, in dessen Strudel kleine Fürstentümer wie große europäische Nationen gleichermaßen hineingezogen
werden. Schlachtfeld ist Deutschland. Als die
Kampfhandlungen 1648 ohne eigentlichen
Sieger enden, sind in vielen Städten ein Drittel aller Einwohner der Soldateska oder indirekten Kriegsfolgen zum Opfer gefallen. Noch
schlimmer ist es zum Teil auf dem Land, Felder liegen brach, ganze Regionen sind verwüs­
tet. Bevölkerungszahl und Wohlstand werden
mancherorts erst im 19. Jahrhundert wieder
den Stand von vor 1618 erreichen.
In religiöser Hinsicht festigt der Westfälische Friedensschluss im Jahr 1648 den Ausgleich der beiden Konfessionen, politisch besiegelt er die Vormachtstellung Frankreichs in
Europa. Das deutsche Reich ist hingegen in
mehr als 300 souveräne Teilstaaten zersplittert und daher dem Einfluss ausländischer
Mächte ausgeliefert. Schwer beschädigt ist
vor allem die Stellung des Kaisers, der nicht
nur in allen wichtigen Entscheidungen an die
Zustimmung seiner Landesherrn gebunden
wird, sondern ihnen auch noch vollständige
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die des katholischen Schottlands 1603 unter
König Jakob I. vereinigt werden. Die schwelenden Konflikte verschärfen sich, als Karl I.
1625 den Thron des Vaters besteigt. Als typischer Vertreter des Absolutismus ist er der
Überzeugung, dass seine Regentschaft durch
das Gottesgnadentum legitimiert sei. Als er
versucht, das Parlament auszuschalten, die
Steuern erhöht, die Redefreiheit beschneidet
und politische Gegner verhaftet, nimmt der
Unmut in der Bevölkerung zu. Für die ersten
gewaltsamen Ausschreitungen sorgt 1637
sein Entschluss, in Schottland den englischen
Gottesdienst durchzusetzen. Das Parlament
nutzt nun seinerseits die Führungskrise, um
gegen enge Berater des Königs vorzugehen.
Als sich Karl I. ein letztes Mal gegen das
Parlament erhebt und einige Abgeordnete
verhaften lässt, rüsten seine Gegner, angeführt vom niederen Adel und den Schotten,
zum Bürgerkrieg.
Nach mehreren Siegen der Parlamentstruppen unter Oliver Cromwell wird der König
1646 erstmals gefangen, doch ihm gelingt die
Flucht. Als er 1648 endgültig geschlagen ist,
lässt Cromwell das Parlament von allen politischen Gegnern »säubern«. Vom verbliebenen Rumpfparlament wird der König wegen
seines tyrannischen Verhaltens vor Gericht
gestellt und zum Tode verurteilt. Am 30. Ja-
Landeshoheit zugestehen muss, einschließlich der Gesetzgebungsgewalt, der Steuerhoheit und dem Recht auf freie Bündniswahl.
Während sich das benachbarte Frankreich
zum Musterland eines zentralisierten Nationalstaates entwickelt, zerfällt das deutsche
Reich endgültig in einen lockeren Verband
souveräner Einzelstaaten, was sowohl die
wirtschaftliche Entwicklung als auch die
Herausbildung eines starken Bürgertums
erschwert. Ein gewisses politisches Gewicht
auf europäischer Ebene haben unter den
deutschen Reichsfürsten zunächst eigentlich
nur die Habsburger, bald allerdings auch die
brandenburgischen Hohenzollern, die unter
Friedrich Wilhelm von Brandenburg, dem
Großen Kurfürsten, einen steilen Aufstieg
erleben und im 18. Jahrhundert der europäischen Großmacht Preußen vorstehen.
England wird
parlamentarische Demokratie
E
ngland erlebt im 17. Jahrhundert ein
Zeitalter religiöser und politischer Unruhen. Sie deuten sich schon an, als die Kronen
des protestantisch geprägten Englands und
Absolutistische Herrscherin: Maria Theresia von Österreich (»Kaiserliche Familie«, Martin van Meytens, 1754)
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durch gezielte Ämtervergabe rekatholisieren Verordnungen verschont. So schafft er etwa
möchte. Als er 1687 das Unterhaus für aufge- am Hof die traditionelle Bart- und Kaftanlöst erklärt, wenden sich die Parlamentarier tracht des russischen Landadels ab, initiiert
an seine Tochter Maria und bieten ihr die die Akademie der Wissenschaften und forKönigskrone an. Als sie
ciert die weitere Erschliemit ihrem Gatten, Wilßung Sibiriens. Ausdruck
Die »Bill of Rights« gewährt
helm III. von Oranien,
seines Erneuerungswillens
dem Parlament unveräußerin England landet, flieht
ist auch die Gründung der
liche Rechte und stellt den
Jakob II. ins französische
neuen, »europäischen«
Monarchen unter das Gesetz.
Exil. Bevor das neue ReHauptstadt Petersburg
gentenpaar inthronisiert
im Jahr 1703. Außenpowird, muss es die vom Parlament entworfene litisch beginnt eine neue Zeit: Im Großen
»Bill of Rights« unterzeichnen, die Staats- Nordischen Krieg (1700–1721) erobert Zar
bürgern und Parlament eine Reihe wichtiger Peter nach anfänglichen Rückschlägen LivRechte sichert und als grundlegendes Doku- land, Estland, Ingermanland und Karelien.
ment der parlamentarischen Demokratie in Russland wird damit – auf Kosten Schwedie Geschichte eingehen wird.
dens – zur beherrschenden Kraft im Ostseeraum. Trotz aller Reformbemühungen
und Modernisierungen bleibt die mittelalEin großer Reformer –
terliche Feudalstruktur der russischen GeZar Peter blickt nach Westen
sellschaft in Form der Leibeigenschaft bis
ins 19. Jahrhundert bestehen. Landbesitzer
ie Weichen für eine neue Epoche wer- können uneingeschränkt über »ihre« Bauern
den etwa zur selben Zeit auch in Russ- verfügen; sie dürften sie nach Belieben hanland gestellt. Während große Teile Europas deln, tauschen, verschenken oder bestrafen.
im 16. und 17. Jahrhundert von Religionskriegen erschüttert wurden, hatte das Land
Letztes Aufbäumen und
unter Zar Iwan IV., dem Schrecklichen, und
Niedergang
des Sultanreichs
seinen Nachfolgern sein Staatsgebiet in alle
Richtungen beträchtlich ausgeweitet. Von
den europäischen Mächten wahrgenommen
uf seiner Europareise hatte Peter der
wird das aufstrebende Reich im Osten aber
Große mehrere westliche Höfe besucht,
erst unter Peter I., dem Großen, der 1682 auch um Verbündete im Kampf gegen das
zum Zaren ausgerufen wird, jedoch erst 1689 Osmanische Reich zu gewinnen. Die Türmit Beginn der Mündigkeit die Regierungs- ken haben den Zenit ihrer Macht im späten
geschäfte übernimmt. Als erster russischer 17. Jahrhundert schon längst überschritten.
Herrscher reist Peter I. nach Westeuropa, Als es 1672 allerdings im Habsburgerreich
um sich persönlich über die neuesten Errun- zu Unruhen kommt, nutzt Großwesir Kagenschaften im Bereich der Wissenschaften ra Mustafa diese Schwächeperiode, um mit
und Technik zu informieren. In Amsterdam einem 200 000 Mann starken türkischen Heer
arbeitet er inkognito als einfacher Zimmer- noch einmal, wie schon 1529, nahezu unbemann. Zurückgekehrt nach Russland, setzt helligt bis vor die Tore Wiens zu marschieren.
der Zar eine Vielzahl von Reformen durch; Im Sommer 1683 kommt es zu einer zweimokaum ein Lebensbereich bleibt von seinen natigen Belagerung, die die Eingeschlossenen
D
Reiterstandbild Peters des Großen auf dem St. Petersburger Dekabristenplatz (Etienne-Maurice Falconet, 1778)
nuar 1649 stirbt der Monarch vor seinem
Londoner Palast unter den Augen einer riesigen Menschenmenge auf dem Schafott, eine
ungeheure Provokation gegen die Idee des
gottgegebenen Königtums. England ist zwar
nun formell eine Republik, aber das erhoffte goldene Zeitalter des Parlamentarismus
bleibt aus. Die Regierung von Oliver Cromwell trägt eher die Züge einer Militärdiktatur. Die Verfassung von 1653 verschafft ihm
als »Lordprotektor« eine fast diktatorische
Macht. Desillusioniert beschließt das Parlament nach seinem Tod 1658, zur Monarchie
zurückzukehren. Nachdem der in Frankreich
lebende Sohn des gestürzten Regenten garantiert hat, dass er sich dem Parlament unter14
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werfen und keine absolutistische Herrschaft
anstreben will, kann er im Mai 1660 unter
dem Jubel der Bevölkerung als König Karl II.
nach England zurückkehren.
Trotz der nun einsetzenden kulturellen
Blüte kommt England innenpolitisch nicht
zur Ruhe. Als die Regierung Karls II. entgegen aller Versprechen absolutistische
Züge annimmt, setzt das Parlament 1679
die »Habeas-Corpus-Akte« durch, die alle
Engländer vor willkürlichen Zugriffen des
Staates schützt und als ein Meilenstein auf
dem Weg zum Rechtsstaat gilt. Noch stärker
spitzen sich die Kontroversen unter seinem
Nachfolger Jakob II. zu, der offen mit dem
Absolutismus sympathisiert und das Land
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nur mühsam bis zur Ankunft polnischer,
sächsischer und bayerischer Truppen überstehen. Die anschließende Schlacht am Kahlenberg, bei der das numerisch überlegene
osmanische Heer vernichtend geschlagen
wird, bedeutet einen Wendepunkt im langen
Konflikt zwischen Europa und den Türken.
Angeführt von ihrem Volkshelden Prinz Eugen gelingt es den Österreichern, die Truppen des Sultans in einer Reihe von Schlachten erst aus Ungarn, wenig später auch aus
Serbien und der Kleinen Walachei zurückzudrängen. Während auf der einen Seite die
Fundamente für die Entstehung der königlichen und kaiserlichen »k. u. k. Monarchie
Österreich-Ungarn« gelegt werden, ist der
Niedergang des einst so stolzen osmanischen
Imperiums nicht mehr aufzuhalten.
Die großen Kolonialmächte
und die Reiche in Asien
M
ittel- und Südamerika sind nach wie vor
fest in spanischer bzw. portugiesischer
Hand, Kanada wird von Frankreich beansprucht. Nachdem die Engländer die schwedischen und niederländischen Kolonisten in
der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erfolgreich aus Nordamerika verdrängt haben,
kommt es zu Beginn des folgenden Säkulums
immer häufiger zu gewaltsamen Konflikten
mit den französischen Siedlern. Die divergierenden Kolonialinteressen spitzen sich 1754
zum »French and Indian War« zu, einem blutigen Kolonialkrieg, in den auch zahlreiche
Indianerstämme verwickelt werden.
Da die europäischen Nationen, allen
walt in allen wichtigen Staatsangelegenvoran die Briten und Niederländer,
heiten ganz auf seine Person konzentriert.
auch stark am asiatischen Handel beÜberzeugt vom königlichen Gottesteiligt sind, erkennen die Großreiche
gnadentum, entscheidet Ludwig XIV.
im Osten die Gefahr, auch poliüber Krieg und Frieden, Steuern und
tisch beeinflusst zu werden. JaGesetze, über Verwaltungsangelepan unternimmt ers­te Schritte,
genheiten und juristische Fragen.
sich der westlichen Einflüsse
Adäquater Ausdruck seiner unzu entziehen, indem es die
umschränkten Herrschaft ist der
japanischen Häfen für fast
ihm zugesprochene Satz »L’état
alle Europäer sperrt; neben
c’est moi«, »der Staat bin ich«.
den Chinesen sind einzig die
Der politisch entmachtete Adel
Niederländer auch weiterhin
wird durch rauschende Feste
willkommene Handelspartner.
entschädigt, die in ihrem Pomp
In China wird der letzte Mingund ihrer Verschwendung ohne
kaiser durch die Mandschu vom
Beispiel sind.
Thron gestoßen, die sich nicht
Die theoretische Definition dienur das ganze Reich, sondern
ser unbeschränkten Herrschaft
anschließend auch Korea und
geht auf den französischen Phidie Mongolengebiete unterlosophen Jean Bodin zurück, der
tan machen können. Ein ähnim 16. Jahrhundert die Majestät
lich mächtiges Reichsgebilde
des Königs als die höchste,
entsteht im 17. Jahrhundert
von Gesetzen gelöste Gewalt
in Indien unter dem Mobeschrieb und damit zum
gulherrscher Aurangseb.
Staatstheoretiker des AbsoBereits seine Vorgänger Ende einer Dynastie: Steinsoldat auf
lutismus wurde. Die Macht
beherrschten die nördliche einer Minggrabstätte in Beijing
des Sonnenkönigs beruht
Hälfte des Subkontinents.
auf dem Heer, dem BeamAber erst Aurangseb dehnt das Mogulreich tentum und der katholischen Staatsreligion.
bis fast an die Südspitze des Subkontinents Mit Gewalt stellt der Monarch 1685 die kaaus und schafft damit den bislang größten tholische Glaubenseinheit wieder her, indem
Machtblock der indischen Geschichte.
er eine halbe Million Hugenotten aus dem
Land vertreibt. Seine aggressive Außenpolitik zielt darauf ab, die politischen Grenzen
Höhepunkt des Absolutismus
Frankreichs mit den natürlichen in Einklang
zu bringen – den Pyrenäen und dem Rhein.
as Zeitalter des Absolutismus erlebt Gegenüber dem durch den Dreißigjährigen
in Europa seinen Höhepunkt, als der Krieg geschwächten deutschen Reich fällt es
französische Sonnenkönig Ludwig XIV., Frankreich nicht einmal schwer, seine Geder bereits im Kindesalter gekrönt worden bietsansprüche durchzusetzen.
war, nach dem Tod des Ministers MazaUnter Ludwig XIV. wird Frankreich unrin 1661 auch faktisch die Macht im Staat umstritten zum kulturellen Mittelpunkt
übernimmt. Als Regent verschafft er sich eine des Kontinents. Der europäische Adel lernt
ungeheure Macht, indem er die höchste Ge- Französisch, die Fürsten lassen wenig un-
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Die Befreiung von Wien in der Schlacht am Kahlenberg im Jahr 1683 (zeitgen. Gemälde von Pierre-Denis Martin)
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versucht, den Prunk und die bis ins Absurde
übersteigerte Etikette am französischen Hof
möglichst detailgetreu zu imitieren. Dies alles ungeachtet der Tatsache, dass der wohl
berühmteste Vertreter des Hauses Bourbon
sein Land an den Rand des Staatsbankrotts
führt. Allein der Bau seines monumentalen
Schlosses in Versailles verschlingt Unsummen, hinzu kommen die immensen Ausgaben
für einen 4000 Personen umfassenden Hofstaat, die endlosen Feste und für ein gewaltiges Heer, das der kriegslustige Monarch für
seine ständigen Feldzüge braucht.
Ganz Europa liegt im Erbfolgekrieg
D
a der Krieg im Absolutismus als ein legitimes Mittel der Politik betrachtet wird,
toben in Europa zwischen dem späten 17.
und dem ausgehenden 18. Jahrhundert fast
ständig militärische Auseinandersetzungen.
Im Unterschied zu den religiös motivierten
Kämpfen des 17. Jahrhunderts werden sie
nun allerdings fast immer durch dynastische
Streitigkeiten im Zusammenhang mit purer
Machtgier ausgelöst. In einer ganzen Serie
von Kriegen gegen die Niederlande und das
Heilige Römische Reich gelingt es beispielsweise Ludwig XIV., sein Reich erheblich auf
Kosten der Nachbarn auszudehnen.
Im Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714)
um das Erbe Karls II., des letzten Habsburgers auf dem spanischen Thron, verbündet
sich Österreich mit Großbritannien, den
niederländischen Generalstaaten, Portugal
und den wichtigsten Mächten im Heiligen
Römischen Reich, darunter Preußen, um
die drohende Hegemonie der Bourbonen
auf dem Kontinent abzuwenden. Auf Seiten
Frankreichs stellen sich nur der Kurfürst von
Köln und Max Emanuel von Bayern, der sich
Gebietsgewinne aus dem habsburgischen Besitz, vielleicht sogar die Kaiserkrone erhofft.
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Hofhaltung und Machtpolitik des Sonnenkönigs
Ludwig XIV. dominieren die europäische Staatenwelt
(Gemälde von Hyacinthe Rigaud, Louvre, Paris, 1701).
Da sich die antibourbonische Allianz trotz
ihrer militärischen Überlegenheit nicht entscheidend durchsetzen kann – nicht zuletzt
aufgrund der diplomatischen Annäherung
zwischen England und Frankreich –, behauptet sich der Bourbone Philipp V., ein Enkel des französischen Königs Ludwig XIV.,
auf dem spanischen Thron. Im Frieden von
Utrecht (1713) muss er allerdings auf die Vereinigung mit Frankreich verzichten.
Habsburg und Hohenzollern
U
nter allen Ländern im Heiligen Römischen Reich erwächst Österreich im
18. Jahrhundert nur ein echter Rivale, und
das ist Preußen. Das einstmals bescheidene
1648 – 1793
Kurfürstentum hatte in der zweiten Hälfte entscheidend zu festigen. Damit erreicht
des vorangegangenen Säkulums unter dem Österreich seine bisher größte territoriale
Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm eine Ausdehnung. Im Konzert der europäischen
rasante Entwicklung genommen. 1688 war Großmächte wird es noch 200 Jahre lang
Friedrich III. seinem Vater auf den Thron eine führende Rolle spielen. Um eine erneute
gefolgt. Wie fast alle Landesherrn dieser Epo- Aufteilung der Hausmacht zu verhindern,
che hatte auch er sich beim deutschen Kaiser erlässt Kaiser Karl VI. im April 1713 die
um eine Erhöhung seines persönlichen Stan- »Pragmatische Sanktion«, in der die Unteildes – und damit auch des Hauses Hohenzol- barkeit des habsburgischen Erbes zunächst
lern – bemüht. Fast zehn Jahre lang war er mit zum Hausgrundsatz und ab 1724 sogar zum
seinem Wunsch auf taube Ohren gestoßen, österreichischen Staatsgrundgesetz erklärt
bis der deutsche Kaiser angesichts des sich wird. Um den Zusammenhalt der Erblanabzeichnenden Spanischen Erbfolgekrieges de tatsächlich auch dauerhaft zu gewähren,
auf die Gewinnung loyaler Bundesgenossen ergänzt der Kaiser den jahrhundertealten
angewiesen war. Ende 1700 gewährte der Grundsatz der männlichen Erbfolge trotz
Regent Kurfürst Friedrich III. den ersehnten massiver Proteste einzelner Landesfürsten
Königstitel – gegen die Zusicherung eines durch die Möglichkeit einer legitimen Erb8000 Mann starken Truppenkontingents folge im weiblichen Stamm.
und die preußische Stimme bei der nächsten
Kaiserwahl. Da das Herzogtum Preußen alPreußen stellt Österreich
lerdings noch immer in Polen lag, weitab von
den reichsdeutschen Besitzungen der Hohenzollern im Rheingebiet und in Brandenburg,
ur wenige Wochen vor der Veröffentlidurfte sich der vormalige Kurfürst bis 1772
chung der Pragmatischen Sanktion hatnur »König in Preußen« nennen, nicht »von« te in Preußen der »Soldatenkönig« Friedrich
Preußen. Dessen ungeachtet ließ König Fried- Wilhelm I. die Nachfolge seines prunksüchrich I. seine Erhebung mit rauschenden Festen tigen Vaters angetreten, um aus dem absoim Stile des Sonnenkönigs feiern.
lutistisch geprägten Hohenzollernreich den
Die Habsburger hatten nach der zweiten »preußischen« Staat im eigentlichen Sinne
Belagerung Wiens 1683 unter ihrem Feld- zu formen: mit einer starken Armee, einem
herrn Prinz Eugen große Teile Ungarns klar strukturierten und äußerst disziplimit Slawonien und Siebenbürgen erobert nierten Beamtenapparat und einer merkanund waren dadurch zu
tilistischen Wirtschaftspoeiner europäischen Großlitik. Friedrich Wilhelm I.
Die zuvor meist religiös motimacht aufgestiegen. Im
verbessert aber auch die
vierten Auseinandersetzungen
Spanischen Erbfolgekrieg
Lage der Bauern, lässt ers­
weichen im 18. Jahrhundert
können sie zwar nicht verte Dorfschulen gründen
dynastischen Streitigkeiten.
hindern, dass ein Bourbound beseitigt einige der
ne den spanischen Thron
ständischen Vorrechte des
besteigt, aber dafür gelingt es ihnen, durch Adels. Völlig versagt er allerdings in seiner
den Zugewinn der Spanischen Niederlande Rolle als Vater gegenüber dem musisch beund sämtlicher spanischer Nebenländer in gabten Kronprinzen Friedrich. Die anhalItalien – Mailand, Mantua, Neapel, Sardini- tenden Konflikte zwischen den beiden gipfeln
en – ihren Status als europäische Großmacht 1730 in einer gescheiterten Englandflucht des
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jungen Monarchen, der zur Strafe auf Geheiß des Königs bei der Enthauptung seines
engsten Freundes und Fluchthelfers Hans
Hermann von Katte zusehen muss.
Obgleich sich der sensible Thronfolger, der
später den Beinamen »der Große« oder auch
»der Alte Fritz« bekommen wird, in seinen
reichen Provinz schließen sich auch andere
europäische Gegner Österreichs dem Preußenkönig an, während sich die Niederlande
und England auf Seiten der Donaumonarchie stellen. Die Kämpfe dauern, mit Unterbrechung, bis Dezember 1745. An ihrem
Ende erkennt Friedrich den Gatten Maria
Der Preußenkönig Friedrich II., der Große, bei einer Parade in Potsdam (Radierung von Daniel Chodowiecki, 1777)
Jugendjahren ganz der Kunst und den Geis­
teswissenschaften verschreibt, unter anderem
auch mit Voltaire korrespondiert, erweist sich
Friedrich II. bereits unmittelbar nach seiner
Thronbesteigung 1740 als äußerst machtbewusster und auch skrupelloser Herrscher.
Da in Österreich erstmals das Prinzip der
Pragmatischen Sanktion zur Anwendung
kommen soll, nutzt er die prekäre Situation
der designierten Thronfolgerin Maria Theresia bedenkenlos aus: Er bietet ihr preußische
Unterstützung bei der Durchsetzung ihrer
dynastischen Interessen, fordert aber als
Preis Schlesien. Nach ihrer Absage und der
anschließenden preußischen Besetzung der
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Theresias, Franz I., als römisch-deutschen
Kaiser an und erhält im Gegenzug Schlesien. Durch diesen Territorialgewinn steigt
sein Land zur zweiten deutschen Großmacht
neben Österreich auf.
Sieben Jahre Krieg in Europa,
Amerika und auf den Weltmeeren
I
n Nordamerika spitzen sich unterdessen
die Auseinandersetzungen zwischen den
französischen und britischen Siedlern zu.
Die beiden Brennpunkte der heftigen Konflikte sind die 1710 von britischen Truppen
1648 – 1793
er­oberte Provinz Akadien in Kanada und das
Tal des Ohio River, das für die Franzosen
als Bindeglied zwischen den nördlichen und
südlichen Besitzungen eine zentrale strategische Rolle spielt. Nachdem diplomatische
Vermittlungsbemühungen in Paris 1750
scheitern, nehmen die Kriegsvorbereitungen
und Scharmützel auf beiden Seiten zu. Als
ein junger Offizier namens George Washington – der später zum ersten amerikanischen
Präsidenten werden soll – im Mai 1754 einen Präventivangriff auf ein Camp französischer Soldaten befiehlt, um diese an einem
vermeintlichen Überfall zu hindern, rüsten
beide Seiten unverhohlen zum Krieg. 1755
beginnt ein erbarmungsloser Kleinkrieg am
Rande des britischen Kolonialgebiets, in dem
zahllose englische Zivilisten von Franzosen
oder den mit ihnen verbündeten Indianern
überfallen und ermordet werden; die Engländer zahlen diese Attacken mit gleicher Münze
heim, indem sie blutige Rachefeldzüge gegen
Franzosen und Indianer ausführen.
Die Schauplätze der erbitterten Kämpfe
zwischen Engländern und Franzosen liegen
aber nicht nur in Nordamerika, sondern
auch in Indien und Westafrika, auf den Weltmeeren und in Europa, wo die Auseinandersetzungen die Bezeichnung »Siebenjähriger
Krieg« erhalten. Ein taktisches Bündnis
zwischen Preußen und England führt 1756
zu einer Annäherung zwischen den traditionellen Gegnern Österreich und Frankreich.
Ausgelöst werden die Kriegshandlungen,
als Friedrich II. seine Truppen in Sachsen
einmarschieren lässt, damit Russland und
Schweden auf den Plan ruft – und die junge Großmacht Preußen um ein Haar ins
Verderben stürzt. In den folgenden Jahren
kommt es zu zahlreichen Kämpfen zwischen
allen beteiligten Kriegsparteien. 1761 kämpft
Preußen an drei Fronten gegen die Schweden, Russen und Österreicher und hat großes
Glück, dass die Gegner nicht zu einem koor-
dinierten und zweifellos finalen Schlag gegen
das militärisch erschöpfte Land ausholen. Die
unerwartete Wende bringt 1762 der Tod der
Zarin Elisabeth Petrowna, weil ihr Nachfolger, Zar Peter III., dem Preußenkönig einen
großzügigen Frieden offeriert, dem sich auch
Schweden anschließt, sodass Friedrich II.,
von zweien seiner Gegner befreit, mit vereinten Kräften die österreichischen Verbände
aus Sachsen und Schlesien zurückdrängen
kann. Im Februar 1763 werden der »French
and Indian War« und der »Siebenjährige
Krieg« innerhalb von fünf Tagen durch Friedensschlüsse zwischen Frankreich und England bzw. zwischen Preußen und Österreich
beendet. Der große Gewinner ist England,
das abgesehen von New Orleans den gesamten nordamerikanischen Kolonialbesitz der
Franzosen übernimmt und damit zur weltweit führenden Kolonialmacht aufsteigt. Die
Franzosen erhalten als Entschädigung einige
Karibische Inseln und eine Reihe von – bereits verlorenen – Handelsstützpunkten in
Afrika und Indien. Spanien bekommt Kuba
und die Philippinen, muss allerdings Florida
an England abtreten. In Mitteleuropa fällt
Schlesien endgültig an Preußen.
Vernunft wird zum Leitprinzip
T
rotz der rigorosen Machtpolitik und der
zahllosen Kriege ist das 18. Jahrhundert
auch das große Zeitalter der Aufklärung,
jener auf dem Gedanken der Vernunft aufbauenden Geisteshaltung in Philosophie und
Wissenschaften, die eine übergreifende und
umwälzende gesellschaftliche Bewegung einleiten wird. In einer Abwendung vom feudalis­
tischen Weltbild stellt sie die Vorstellung von
der Position des Menschen in der Welt auf eine
neue Grundlage: Nicht mehr der allmächtige
Gott, sondern das vernunftbegabte Individuum steht im Mittelpunkt aufklärerischer Be21
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Absolutismus, Aufklärung und Revolution
trachtungsweise. Ihren Ausgang nimmt die
Aufklärung bereits im 17. Jahrhundert. Der
niederländische Philosoph Baruch Spinoza
bezeichnet das Streben nach Erkenntnis als
Basis des sittlichen Vervollkommnungsstrebens. Grundlage seiner pantheistischen, von
dem französischen Naturwissenschaftler René
Descartes beeinflussten Philosophie sind mathematische Gesetzmäßigkeiten.
Staatstheorien der Philosophen
D
er englische Philosoph John Locke leugnet »angeborene« Ideen. Alle Erkenntnis sei das Ergebnis von Beobachtung und
Sinneswahrnehmung. Aus eigener Einsicht
unterwerfe sich das Individuum höheren
Gesetzmäßigkeiten. Im Staatsgebilde unterscheidet Locke Legislative (Gesetzgebung)
und Exekutive (Staatsgewalt). Auf der Basis der politischen Verhältnisse in Großbritannien popularisiert er die Theorien der
Aufklärung und setzt sie in politische Forderungen um. In seiner Naturrechtslehre betont Locke das Recht eines jeden Menschen
auf Leben, Freiheit und Eigentum als unveräußerliches Naturrecht. Der auf freiwilliger
Basis in einem Gesellschaftsvertrag errichtete
Staat soll diese Rechte garantieren. Aus diesen Grundsätzen zieht Locke den berühmten
Schluss, dass jedes Volk gegenüber einer verfassungswidrigen Regierung ein Recht auf
Widerstand habe.
Von England aus greift die Aufklärung nach
Frankreich über, wo sie im 18. Jahrhundert
in ihrer rationalistisch-materialistischen Ausformung ihre stärkste Verbreitung findet. Auf
den Juristen und Philosophen Montesquieu
geht die Lehre von der Gewaltenteilung zurück. Neben Legislative und Exekutive weist
er in »De l’esprit des lois« (Vom Geist der
Gesetze, 1748) der richterlichen Gewalt eine
eigenständige Rolle zu ( Judikative). Durch
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Jean-Jacques Rousseau (Gemälde von Nicholas de
Largiliere, Uffizien, Florenz, 1710
seine Vorstellung von der Verschränkung
der drei sich kontrollierenden Gewalten zu
einem System des Gleichgewichts wird er
zum Vordenker des modernen Verfassungsstaates. Drei Jahre nach »De l’esprit des lois«
erscheint in Frankreich der erste Band der
epochalen »Enzyklopädie« von Denis Diderot und dem Multitalent Jean Le Rond
d’Alembert.
Der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau, einer der Mitarbeiter der »Enzyklopädie«, entwickelt in seiner Schrift »Du contrat
social« (1762) ein Gesellschaftsmodell, das
von einer direkt praktizierten Demokratie
ausgeht: Das Volk sei der Souverän, zugleich
Regierung und Gesetzgeber. Entschieden
werde nach dem Gemeinwillen. Sein lebenslänglicher Widersacher in theoretischen
Dingen ist Voltaire, der wohl berühmteste
Vertreter der französischen Philosophie, der
im Unterschied zu Rousseaus kulturkritischer
Natur- und Ursprungsphilosophie den Wert
der Kultur und Bildung betont.
Im deutschen Sprachraum beschäftigt
sich der Königsberger Philosoph Immanuel
1648 – 1793
Kant mit staatstheoretischen Überlegungen.
In Anlehnung an die Ideen der britischen
und französischen Denker geht er von der
Schaffung einer »bürgerlichen Gesellschaft«
aus, welche dem einzelnen Staatsbürger ein
Höchstmaß an Freiheit belässt. Die Grenzen der Freiheit des Einzelnen sind durch die
Vereinbarkeit mit der Freiheit des anderen
definiert. Die Regierungsart, welche diese
Grundsätze in die Tat umsetzen kann, nennt
Kant »republikanisch«. Mit seinem philosophischen Hauptwerk, der »Kritik der reinen
Vernunft« (1781), beginnt eine neue Epoche
in der Philosophiegeschichte. In der »Kritik
der praktischen Vernunft« (1788) formuliert
er ein oberstes Sittengesetz, das die Pflichterfüllung ins Zentrum der sittlichen Wertordnung stellt. Seine Vorstellungen beeinflussen wesentlich die preußischen Reformer zu
Beginn des 19. Jahrhunderts, die sich auch
die Ideen des Schweizer Pädagogen Johann
Heinrich Pestalozzi von einem modernen
Volksschulwesen zu eigen machen werden.
Voltaire, einer der maßgeblichen Vordenker der Auf­
klärung (Wachspuppe, Institut et Musée Voltaire, Genf)
Bürgertum wird zur tragenden Säule
I
n ihrer Entwicklung zunächst auch von
Adligen getragen, gestaltet sich die Aufklärung zu einer vorwiegend bürgerlichen
Emanzipationsbewegung. Die Herausbildung eines Bildungsbürgertums und frei
wirtschaftender bürgerlicher Eliten löst in
den am weitesten entwickelten Staaten Europas das den sozialen Status bestimmende
ständische Merkmal der Geburt allmählich
ab. Stattdessen rückt unter dem Vorzeichen
der rechtlichen staatsbürgerlichen Gleichstellung und eines erweiterten Bildungszuganges das Prinzip der Leistung und des
Berufes in den Vordergrund. Dieser Prozess
der Individualisierung beginnt im 18. Jahrhundert zunächst in der oberen Mittelschicht der Gebildeten und strahlt von dort
ins gesamte Bürgertum, aber auch in Adelskreise aus. Zwar kann sich der Adel noch bis
ins 19. Jahrhundert hinein namentlich in
Deutschland als politische und militärische
Elite behaupten; dennoch müssen mehr und
mehr auch Junker, Freiherren, Barone und
Grafen akzeptieren, dass ihnen in ihrem
Karrierestreben als Beamte oder Offiziere
mittlerweile eine immer stärker werdende
bürgerliche Konkurrenz zugewachsen ist.
Doch auch wo die adligen Privilegien erhalten bleiben, ist kaum zu übersehen, dass
sich das bildungsbewusste Bürgertum ökonomisch immer stärker zur tragenden Säule
der modernen Gesellschaft entwickelt.
Zum Prozess der Individualisierung gehört die Herausbildung einer Eigensphäre.
Die Interpretation der Welt – und auch ihre
Veränderbarkeit – ist eine Sache des Einzelnen geworden. Der unbegrenzte, teilweise
naive Fortschrittsglaube erhält in Zirkeln
und Vereinen unter Gleichgesinnten immer
neue Nahrung. Auch der Bereich von Kultur, Kunst und Wissenschaft ist in diesem
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Geiste geprägt: Der Typus des – im nicht 17 000 Russen schlagen ein ihnen deutlich
abschätzig gemeinten Wortsinne – Dilet- überlegenes türkisches Heer von 150 000
tanten, der sich als Liebhaber, Sammler und Mann bei Kagul. Wichtige türkische Stützambitionierter Laie mit den unterschied- punkte am Schwarzen Meer werden besetzt,
lichsten Wissensgebieten beschäftigt, wird auch Bukarest und das Gebiet um das Asowzum charakteristischen Vertreter dieser sche Meer. Aber noch kühner ist ein anderes
bürgerlichen Kultursphärussisches Unternehmen:
re. Im gesellschaftlichen
Unter Führung von AdmiDie neue bürgerliche Elite unLeben tritt neben die an
ral Alexej Orlow, der von
terwirft sich nur der Erkenntnis
den Königs- und Fürstenbritischen Seeoffizieren
des Verstands und dem selbst
höfen zelebrierte Lebensunterstützt wird, segeln
auferlegten Leistungswillen.
art mit ihrem verfeinerten
zwei Geschwader der
Lebensgenuss ein betont
russischen Ostseeflotte
bürgerlicher Moralismus. Zudem gewin- über Gibraltar ins östliche Mittelmeer. Bei
nen auf klärerische Geheimgesellschaften Çezme vor der anatolischen Küste kommt es
wie Freimaurer und Rosenkreuzer in ganz im Sommer 1770 zu einer Schlacht, die für
Europa Anhänger und Einfluss.
die türkische Flotte mit einer Katastrophe
Gleichzeitig entwickelt sich als Gegenströ- endet. Ab sofort spricht Europa nur noch
mung zum Rationalismus ein ausgeprägter vom »kranken Mann am Bosporus«. Der
Gefühls- und Freundschaftskult. Litera- Niedergang des Osmanischen Reichs ist berischer Höhepunkt dieser »sentimentalen« siegelt, während Russland triumphiert. ÖsPhase innerhalb der aufklärerischen Bewe- terreich beobachtet die russischen Gewinne
gung ist Goethes früher Roman »Die Leiden an der Donau allerdings mit Sorge und
des jungen Werthers« (1774), das wirkungs- versucht, Preußen zu einer antirussischen
vollste Werk des »Sturm und Drang«.
Allianz zu bewegen. Als Friedrich II. wenig
Interesse zeigt, verbündet sich Österreich
mit der Türkei, allerdings ohne weitergeMachtkampf am Schwarzen Meer
hende Folgen.
Mit Feldmarschall Alexander Suworow
ch glaube«, hatte Voltaire seiner Brief- steht Katharina ein genialer Feldherr zur Verfreundin Zarin Katharina II. geschrieben, fügung. Mit seiner Taktik der aufgelockerten
»wenn die Türken je aus Europa vertrieben Schützenkette und des Überraschungsangriffs
werden, dann wird es durch die Russen ge- im Zusammenwirken von Infanterie und Arschehen.« Der Herrscherin ist diese Vorstel- tillerie gelingt es ihm, die russische Armee
lung durchaus nicht unangenehm; denn das, an die Erfordernisse der modernen Kriege
was man später das »Griechische Projekt« mit ihren riesigen Massenheeren anzupassen.
der großen Katharina nennen wird, sieht in Als Suworow im Juli 1774 nur noch 300 km
der Tat die Vertreibung der Türken aus Eu- vor Konstantinopel steht, unterschreiben die
ropa, die Eroberung Konstantinopels und Türken bei Kütschük-Kainardschi, einem
die Wiedererrichtung eines »oströmischen Dorf in der Dobrudscha, einen FriedensverReichs« unter russischer Herrschaft vor.
trag, der Russland Gebietsgewinne von emiSultan Mustafa III. erklärt der Zarin 1768 nenter wirtschaftlicher Relevanz einbringt.
den Krieg. Daraufhin dringen russische Den russischen Handelsschiffen steht fortTruppen in die Donaufürstentümer ein, an der Weg ins Schwarze Meer offen und
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Allegorie der russisch-türkischen Seeschlacht bei Çezme 1770 (Gemälde von Theodorus de Roode, 1771)
dadurch auch der Weg ins Mittelmeer. In die
Geschichte geht dieser Friedensschluss aber
auch aus einem anderen Grund ein, denn
Russland wird nun Schutzmacht aller orthodoxen Christen auf dem Balkan.
Mit dem Frieden von 1774 steht nicht nur
ein großer Teil des südlichen Steppenlandes
unter Katharinas Herrschaft. In den Bestimmungen wird auch die Unabhängigkeit
des Khanats der Krim, des letzten Tatarenreichs auf europäischem Boden, von der
türkischen Oberhoheit festgelegt. Der Besitz
der Krim lockt Katharina. Sie annektiert
die fruchtbare und sonnige Halbinsel im
Schwarzen Meer 1783, während gleichzeitig der Bau einer Schwarzmeerkriegsflotte
zügig vorangetrieben wird. Noch einmal versuchen die Türken der russischen Expansion
einen Riegel vorzuschieben, indem sie 1787
der Zarin erneut den Krieg erklären. Sultan
Abdul-Hamid marschiert in die Ukraine ein.
Die russische Armee ist schlecht gerüstet, es
fehlt an Proviant und Uniformen, Schießpulver muss aus den Niederlanden eingeführt
werden. Trotzdem erringt Suworow erneut
bedeutende Siege. Die erschöpfte Türkei gibt
schließlich nach. Im Frieden von Jassy muss
sie im Winter 1791/92 nicht nur die Anne­xion
der Krim anerkennen, sondern auch das Gebiet an der Schwarzmeerküste zwischen Bug
und Dnjestr abtreten.
Die Neuenglandkolonie
emanzipiert sich
E
ngland hat sich im »French and Indian
War« gegen Frankreich durchgesetzt.
Dass dieser Sieg jedoch einen hohen Preis
hat, zeigt sich spätestens, als das Parlament
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die Kriegskosten zunehmend auf die Kolonien abzuwälzen versucht. Seit dem Friedensabkommen 1763 zieht Großbritannien
die Steuerschraube in seinen nordamerikanischen Kolonien immer fester. Außerdem
sollen Gesetze und Zölle die Entstehung
einer konkurrenzfähigen Wirtschaft in
Übersee verhindern. Die Forderungen der
neuenglischen Kolonisten nach Mitbestimmung im britischen Parlament werden in
London hingegen konsequent überhört.
Der Zorn darüber bricht sich erstmals
1773 bei der berühmten »Boston Tea Party« Bahn, als die Teeladung dreier Handelsschiffe von als Indianern verkleideten
Siedlern im Hafenbecken versenkt wird.
1774 organisiert sich der Widerstand auch
politisch: Die 13 Neuenglandkolonien Massachusetts, New Jersey, New York, Rhode
Island, Connecticut, New Hampshire, Delaware, Pennsylvania, Virginia, Maryland,
North Carolina, South Carolina und
Georgia schicken ihre Delegierten zum
ersten amerikanischen »Kontinentalkongress« nach Philadelphia, wo die Versammelten einen Handelsboykott gegen
England beschließen.
Amerika wird unabhängig
I
m April 1775 fallen bei Lexington und
Concord die ersten Schüsse zwischen
amerikanischer Miliz, einer aus Freiwilligen bestehenden Bürgerwehr, und britischen
Soldaten. Der Kongress beginnt daraufhin
mit der Aufstellung einer Armee. Den Oberbefehl übernimmt George Washington, ein
Gutsbesitzer aus Virginia, der im »French
and Indian War« noch für England gekämpft
hatte. Ende August erklärt der englische
König Georg III. die Neuenglandkolonien
zum Rebellengebiet. Unter Berufung auf die
Lehren von John Locke antworten die ame26
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rikanischen Kolonien am 4. Juli 1776 – dem
heutigen Nationalfeiertag der USA – mit der
Proklamation ihrer Unabhängigkeit.
Zu Beginn des Krieges versuchen die Briten
die Zentren des Widerstandes zu besetzen
und einzelne Kolonien abzuspalten. General
William Howe nimmt im September 1777
Philadelphia ein und treibt Washington,
der im Oktober bei Germantown mit 3500
Mann nur knapp der Vernichtung entgeht,
nach Nordwesten zurück. Aber schon kurz
darauf tritt die Wende ein: Die Amerikaner
können die von Kanada vorstoßenden Briten
bei Saratoga stoppen und zur Kapitulation
zwingen. Auch die diplomatischen Bemühungen, Frankreich für die amerikanische
Sache zu gewinnen, tragen erste Früchte:
Anfang 1778 schließt Frankreich ein Bündnis mit dem amerikanischen Kongress, dem
auch Spanien und die Niederlande beitreten.
Die junge Republik hat damit drei Vertreter der alten Ordnung auf ihrer Seite, die
im Grunde nichts anderes beabsichtigen, als
Großbritannien zu schaden. Die allmählich
eintreffenden französischen Truppen stärken
die amerikanische Kampfkraft; immer wieder gelingt es der französischen Flotte, die
britische Blockade zu durchbrechen.
Die Entscheidung fällt relativ unvermittelt
im Spätsommer des Jahres 1781. Ein Großteil der britischen Truppen liegt beim Hafen
Yorktown in Virginia und kontrolliert von dort
das Hinterland. Als Washington erfährt, dass
sich ihm eine französische Flotte von der Karibik her als Unterstützung nähert, verlegt er
starke Einheiten nach Virginia. Gemeinsam
schließen die Amerikaner und Franzosen die
Briten in Yorktown ein. Am 19. Oktober 1781
müssen die Belagerten die Waffen strecken.
Angesichts der Kriegsmüdigkeit im eigenen
Land stimmt das britische Unterhaus Anfang
1782 gegen die Fortsetzung des Krieges. Zähe
Verhandlungen führen schließlich am 3. September 1783 zum Frieden von Versailles.
Großbritannien akzeptiert offiziell die Unabhängigkeit seiner vormaligen Neuengland­
kolonien.
Die Jahrhundertrevolution –
Sturm auf die Bastille
A
uch in Frankreich, wo der »aufgeklärte Absolutismus« des 18. Jahrhunderts
niemals Fuß fassen konnte, brodelt es. Durch
eine halbherzige Reformpolitik gerät die Monarchie unter Ludwig XVI. in eine schwierige
Position zwischen den Vertretern des Ancien
Régime und den Anhängern einer Reformpolitik, die sich im Rahmen der entstehenden
»bürgerlichen« Öffentlichkeit außerhalb des
Hofes formiert. Im Zentrum der Reformdiskussion stehen unter anderem die Praxis des
Ämterkaufs und das französische Finanzsys­
tem. Die anachronistischen Steuerbestimmungen der absoluten Monarchie gewähren
Adel und Klerus noch immer Steuerfreiheit,
bürden dafür aber dem 3. Stand, der inzwischen längst das ökonomische Rückgrat des
Landes bildet, das gesamte Steueraufkommen auf. Die ohnehin schon angespannte
Stimmung in Paris erreicht einen Siede-
In der Schlacht von Yorktown besiegt George Washington 1781 die Briten (Gemälde von Auguste Couder, 1836).
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Absolutismus, Aufklärung und Revolution
punkt, als der König am 11. Juli 1789 den
populären Finanzminister Jacques Necker
entlässt. Drei Tage später, am 14. Juli 1789,
erstürmt die Bevölkerung der Hauptstadt die
Bastille. Das mittelalterliche Stadtgefängnis
ist kaum noch belegt, aber es gilt als Symbol
der absolutistischen Herrschaft. Am Abend
dieses Tages erhält der Begriff der »Revolution«, der ursprünglich aus der Astronomie
stammt und die ewigunveränderliche Bahn
eines Himmelskörpers bezeichnet, durch
ein Wortspiel erstmals seinen modernen,
uns geläufigen Sinn. Als nämlich der Duc
de la Rochefoucault-Liancourt dem König
von den Ereignissen an der Bastille berichtet
und dieser ausruft »C’est une révolte!«, korri-
giert ihn Rochefoucault-Liancourt mit dem
Ausspruch »Non, Sire, c’est une révolution!«,
und er meint damit: Was dort an der Bastille
begonnen hat, ist so unaufhaltsam wie der
Lauf der Sterne.
In Paris kommt es zu schweren Kämpfen,
doch schon bald lenkt der König ein und
zieht die Truppen ab. Im August beseitigt
die Nationalversammlung Feudalrechte,
Steuerprivilegien und Kirchenzehnten, wenige Tage später kommt es zur feierlichen
Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte.
Als viele Adlige die Flucht ergreifen und ausländische Fürsten gegen die Revolutionäre zu
mobilisieren versuchen, tragen sie damit zur
Radikalisierung der Bewegung bei. Im Juni
Die Dampfmaschine von James Watt läutet ein neues Zeitalter ein (Illustration auf einer Zigarettenkarte, 1915).
1791 scheitert ein Fluchtversuch der Königsfamilie, drei Monate später wird das Land
per Verfassung zur konstitutionellen Monar­
chie. Neuerlich angeheizt wird die revolu­
tionäre Stimmung im Frühjahr 1792 durch
die drohende Intervention ausländischer
Truppen. Der Sturm auf die Tuilerien bringt
im Sommer die radikalen Jakobiner an die
Macht, die den König vor Gericht stellen.
Am 21. Januar 1793 stirbt Ludwig XVI. wegen geheimer Verbindungen zum Feind auf
dem Schafott und es beginnt der »Terreur«,
die Schreckensherrschaft der von Maximilien de Robespierre angeführten Jakobiner
und der Guillotine. Tausende werden in den
folgenden Monaten wegen vermeintlichen
Verrats an der Revolution hingerichtet.
Dampfmaschine weist den Weg
in ein neues Zeitalter
R
Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 (Gemälde der französischen Schule, Versailles, 18. Jh.)
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evolutionär sind aber nicht nur die politischen Ereignisse in den Vereinigten
Staaten von Amerika und in Frankreich, sondern auch die Neuerungen im Produktionssek-
tor, die ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – ausgehend von Großbritannien – zu
einer radikalen Neustrukturierung der abendländischen Gesellschaft führen. Nicht mehr
Fürstenhöfe oder Universitäten sind die Motoren des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, sondern die Fabriken von Glasgow,
Edinburgh, Manchester und Birmingham.
Erfinder und Fabrikanten, allesamt Männer
der Praxis, kombinieren in einer für Europa zu diesem Zeitpunkt noch einzigartigen
Symbiose Wissenschaft und Produktion. Die
neuen, der Praxis zugewandten Forschungsfelder heißen Kraftmaschinentechnik, Chemie und Elektrizitätslehre. 1764 baut der
Handweber James Hargreaves im Auftrag
eines Unternehmers eine Spinnmaschine mit
mechanischem Antrieb. 1765 erfindet James
Watt die Dampfmaschine, 1782 fügt er ihr ein
Schwungrad bei. Die Dampfmaschine ermöglicht es, unabhängig vom Ort oder einem bestimmten Klima, große Mengen von Energie
zu erzeugen. Die industrielle Revolution wird
den Übergang von der Agrar- in die moderne
Industriegesellschaft bewerkstelligen und das
Europa des 19. Jahrhunderts prägen.
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