festival summer - spirit of 2008
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festival summer - spirit of 2008
Nr. 19 Mai 2008 Foto [M]: dreamstime.com Lust am Widerspruch FESTIVAL SUMMER - SPIRIT OF 2008 JOB S ON A I R : U M SON S T L Ä DE N : M E H R L IC H T! Grüße aus... EditoriAL »Umsonst und draußen« – Frühjahr und Sommer bieten viele Möglichkeiten, sich zu vergnügen: auf Festivals jeder Art und für jeden Geschmack, im Open Air-Kino, indem die Parks zu öffentlichen Grillstationen gemacht werden, die Demobekleidung luftiger und die Arbeit an die frische Luft verlagert wird. Die Festivalsaison 08 nutzt die Redaktion von Sacco und Vanzetti, um die Rubrik culture clash für die kommenden Monate um eine Seite zu erweitern. Hier findet ihr Vorankündigungen zu Festivals wie dem Hurricane in dieser Ausgabe oder dem Melt und anderen in den folgenden Nummern. Eine besondere Freude ist es uns, in diesem Heft ein innovatives Festival elektronischer Musik aus Frankreich vorzustellen, das in Deutschland noch wenig bekannt, in Frankreich selbst aber umso beliebter ist. Ein Super-Line-Up, kostenlos und an der frischen Luft. Wo wird das in Zeiten des Marktdiktats noch geboten? In Toulouse! Um die Open Air-Saison gebührend einzuweihen, widmet sich diese Ausgabe neben ihrem Festivalschwerpunkt dem Leben umsonst und draußen aus verschiedensten Gesichtspunkten. Paddeln im Spreewald – wie aufregend, muss ich nicht haben... Doch nach dem Reisebericht unseres Autoren werden auch die absoluten Frischluftmuffel scharf darauf sein, sich von Touristen, Dauerregen und anderen Unannehmlichkeiten ärgern zu lassen. Was für Jobs kann man draußen ausüben – und welche Hindernisse stellen sich einem Grillwalker in seinen Weg zum Klo, wenn er pinkeln muss? Womit sehen sich Streetworker konfrontiert und was macht Straßenkunst aus? Profis geben auf unseren Themenseiten Auskunft. Kann man sich von Licht, Luft und Liebe ernähren? So mancher glaubt daran. Wir nicht, fragen aber trotzdem nach. Der Frühling hat endlich wieder begonnen. Zeit, sich an die schönen Dinge des Lebens zu verschenken. Und Zeit, Sacco und Vanzetti wieder auf einer Parkwiese in der Sonne liegend zu lesen. Viel Spaß dabei wünscht GRÜSSE AUS DEM SPREE WALD Ein Reisebericht. Als Warnung. von Maximilian Staude Martin Schirdewan D er gute alte Spreewald. Beschauliches und einzigartiges Biosphärenreservat im malerischen Brandenburger Urstromtal. Symbiotisch verbunden mit der sorbischen Kulturlandschaft. Idyllisch plätschert hier das Wasser durch tausende Kanäle und Flussbetten, gesäumt von einer reichhaltigen Flora und Fauna. Moore, Aue, Wald und Wiesen reichen sich in biologischer Einzigartigkeit die Hand zum Tanz. Löffel- und Reiherente finden in diesem Habitat einen Platz zur Fortpflanzung, ebenso wie Fischadler und die seltene Rotbauchunke. Und schlängelt sich da nicht gerade eine zweizähnige Laubschnecke durch das Gebüsch? Foto[M]: [M]:photocase.de Ben Kaden Foto: photocase.de Foto Angetrieben von solch romantischen Vorstellungen unternahmen wir, zwei Freunde und ich, im zurückliegenden Sommer eine kleine Paddeltour durch den Spreewald. Unser Ziel war es, das Goldene Spreewaldabzeichen, das man für das Abpaddeln von 15 vorgegebenen Stationen bekommt, zu erringen. Wir zogen übers Wochenende los. Startpunkt war Lübbenau, unsere Geheimwaffe ein großes Vierer-Paddelboot. In den engen Kanälen der Ortschaften gestaltete sich das Manövrieren mit dem sperrigen Ding allerdings enervierend schwierig. Ein unkontrollierbarer Zick-Zack-Kurs war unser Markenzeichen, ebenso wie eine lächerliche Geschwindigkeit. Das Überholen anderer Boote oder gar Kähne war da oft ausgeschlossen oder dauerte peinlich lange. Noch in Lübbenau hingen wir eine gute Stunde lang hinter einem Kahn mit Hochzeitsgesellschaft fest. Wenigstens sind wir so auf diversen Hochzeitsfotos ver- ewigt worden. Vorne die Braut im strahlend weißen Kleid auf dem Kahn – in Hintergrund drei mehr oder weniger verwahrloste Gestalten, die ihr Boot wieder mal geradewegs in ein überhängendes Gebüsch gesetzt hatten. Noch unangenehmer war der Ausflugsdampfer voller Senioren, an dem wir in einem heroischen Kraftakt vorbei schlichen, während uns die alten Herrschaften mit höhnischen Kommentaren bedachten. Umsonst im Leben ist eben nur der Spott. Kahnführer und Schleusenwärter belästigten uns ungefragt mit belanglosen Kahnführer- bzw. Schleusenwärtergeschichten. Motorboote rasten rücksichtslos an uns vorbei. Und: Es regnete die ganze Zeit. Damit ist keine kleine Husche gemeint, sondern ein prasselnder Starkregen mit Sturm, Gewitter und Windböen. Am ersten Tag neun Stunden, am zweiten zehn Stunden lang. Wir besaßen glücklicherweise genug Müllsäcke – irgendjemand hatte daran gedacht – um unser viel zu umfangreiches Gepäck darin einzuhüllen. Die Mülltüten benutzten wir auch als eine Art zusammengesetzte Plane, die wir über das Boot spannten, um es durch den Dauerregen nicht sofort volllaufen zu lassen. Vergeblich. Wir hatten kein Klebeband dabei. Wir und unsere Klamotten wurden nass, unser Boot stand dicht vor dem Untergang und bescheuert sah das alles auch aus. Merke außerdem: Es ist schwierig, zu paddeln und gleichzeitig einen Regenschirm zu halten. Inhalt S. 2 & 3 - Wer aufhört zu paddeln, hat schon verloren. Für unsere Leserinnen und Leser hat unser Autor gelitten – beim Survivaltraining zu Wasser in der Brandenburger Pampa. Respekt dafür. S. 4 & 5 - Frische Luft Ein Potpourrie verschiedenster Leute – und alle verbindet ihre Arbeit unter freiem Himmel. Außerdem fi nden alle drei – ob Grillwalker, Streetworker oder Freiluftkünstlerin – ihren Job wirklich klasse. Vielleicht macht`s die frische Luft… A S. 6 - Mehr Licht Allerhand Verarschereien bei Friss oder stirb. Leute ernähren sich von Luft, Licht und wahrscheinlich auch Liebe. Die Nagelprobe erfolgt beim Barbecue im Großstadtpark. Foto [M]: spreewald.de S. 7 - Lichtblicke im verdunkelten Saal Ein kultureller Lichtblick in Berlin: Während den Multiplexkinos die Zähne klappern, wegen Zuschauermangels zum Männerfilm Radeberger, zum Frauenfilm Prosecco gereicht werden, überzeugt unser vorgestelltes Kino-Kollektiv durch Filme, die auch ohne Alkohol erträglich sind. S. 8 - »Shut up and sing!« Nicht mit den Dixie Chicks. Unsere einzige Karte zerfiel bereits nach kurzer Zeit durchnässt in ihre Einzelteile. Jede Positions- und Kursbestimmung erforderte daher erst mal eine fipselige Puzzletätigkeit (»G7 fehlt«). Wir verfuhren uns mehrmals. Am Abend erreichten wir Schlepzig, einen Ort am Arsch der Welt, wo wir von einer anderen Tourigruppe über die Position des Campingplatzes belogen wurden. So verhält man sich am Ende des Nichts. Die Nacht gewitterte es durchgehend. Wir schliefen irgendwo im Freien. Der zweite Tag war noch schlimmer. Wir mussten zurück und somit ständig gegen die heftige Strömung paddeln. Es ging die Hauptspree rauf, einen elend langen und völlig geraden Flussabschnitt. Gepeinigt von den Elementen sahen wir kein Ende der Strecke, die sich hinter dem Horizont zu verlieren schien. Das Ufer – dicht mit Schilf bewachsen – konnten wir nicht ansteuern. Unterschlupf bot es nicht. Kalter Wind brauste ungehindert über das Wasser. Da kein normaler Mensch mehr unterwegs war, paddelten wir stundenlang mutterseelenallein durch die brandenburgische Pampa. Selbst die Schleusenwärter hatten mittlerweile ihre Posten geräumt (Selbstschleusen angesagt!). Nur der graue, dauerverregnete Himmel war Zeuge unseres Kampfes und kübelte höhnisch immer mehr Niederschläge auf uns herab. Unsere inzwischen apathische Gemütslage verzog sich schlagartig, als wir bemerkten, dass sich auf dem Bootsboden erneut unerfreulich große Pfützen gebildet hatten. Daher hielten wir unter einer kleinen Brücke, um mit Tassen zu schöpfen. Nutzlos. Also paddelten wir stoisch weiter. Denn wer aufhört zu paddeln, hat bekanntlich schon verloren! Nur zweimal machten wir Pause: Einmal, weil jemand auf Klo musste (genau an der steilsten Uferstelle) und ein andermal unter einer großen Steinbrücke, um zumindest für kurze Zeit dem Regen zu entgehen. Die zweite Pause nutzten wir, um uns mit aufgeweichter Wurst zu stärken. Als wir schließlich unser Ziel Lübbenau erreichten, setzte der Regen aus. Triumphal zog unser Müllboot in der Stadt ein. Geradewegs als wir den reichlich belegten Campingplatz angesteuert hatten und unser aufgequollenes Gepäck ausluden, brachen die Wolken wieder auf. Ein Zelt im Schlamm und inmitten von Sturzbächen zu errichten, war für uns aber keine wirkliche Herausforderung mehr. Unschöner war dagegen der Zustand unserer mit Wasser gefüllten Schlafsäcke. Am nächsten Morgen begrüßte uns ein mit freundlich weißen Wolken behangener, strahlend blauer Himmel. Der Tau glitzerte auf den Gräsern, die Wipfel der Bäume wiegten sich in der leichten Morgenbrise. Es herrschte das übliche Treiben. Leute schlenderten zur Backstube, luden ihre Kanus vom Wohnwagen und die Rentner inspizierten die Gegebenheiten. Nur unser körperlich angeschlagener Zustand und das fürchterliche Durcheinander in unserem Zelt, herumliegende Mülltüten, pampige Essensreste, zerknüllte Kleidung und ähnliches erinnerten an die vorangegangen 48 Stunden. Wir ließen uns noch vor Mittag mit dem Auto abholen. Für die sieben von uns abgepaddelten Stationen gab es noch das Bronzene Spreewaldabzeichen. Eine Rotbauchunke haben wir nicht gesehen. Wir Europäer sind in einer komfortablen Lage: Wenn wir Mr. Bush ans Bein pissen, schert das in den USA niemanden. Wären wir stattdessen eine Country-Band aus Texas, sähen wir uns mit einem wütenden Mob konfrontiert, der wiederum an dunkelste deutsche Zeiten erinnert. S. 10 & 11 - Yo mango Wow, Klauen als »Zweckentfremdung der KonsumIdeologie«. So kommt die Supermarktplünderung ganz heldenhaft daher. S. 12 & 13 - »Wir wollen ein großes Lächeln in die Gesichter zaubern!« In Frankreich gibt es elektronische Musik für lau. Alle, die sich beim Wacken Open Air nicht mit gefälschten Tickets abspeisen lassen und die nicht im Dixie-Klo sitzen wollen, wenn letzteres auf der Türseite liegt, können den Weg nach Toulouse antreten. S. 14 - Allesfresser Für im Garten Gefundenes merke: Erst anschauen, dann riechen, dann am Ärmchen reiben, danach kurzzeitig auf die Zunge legen und zuletzt – bei allgemeinem Wohlgefühl: Essen! S. 15 - Unpolitische Plündereien Die einen greifen ab, die anderen spenden gönnerhaft, aber der Austausch unter Gleichen hat sich bei der Kundschaft der Umsonstläden noch nicht gänzlich durchgesetzt. Wir sagen: Dran bleiben! S. 16 - Off Wir bleiben am Ball, sind rund und haben 90 Minuten. 4 Im Fokus: Jobs on Air FRISCHLUFT WIR ARBEITEN IM FREIEN Draußen ist nicht nur korrekt zum Feiern, sondern auch zum Jobben, Arbeiten und Passionieren. Drei Leute haben wir getroffen - alle arbeiten unter freiem Himmel und ... my goodness ... die mögen das auch noch. Wir nennen das »Befreiung unter freiem Himmel«. DAMALS BEIM NACHTANGELN… Interview mit Uwe Heide von Gangway e.V., Streetworker in Marzahn und Hellersdorf Welche Probleme haben die Berliner Jugendlichen? Perspektivlosigkeit, gerade in bildungsfernen Schichten. Schlechte Schulbildung, keine Schulabschlüsse. Teilweise sind die Elternhäuser überfordert. Sie können ihren Kindern keine Unterstützung geben. Und die suchen die Unterstützung dann in Gruppen, in nicht immer positiven Vorbildern. Was macht Gangway e.V. für Jugendliche? Vertrauen ist unser Kapital. Wir arbeiten mit Gruppen, die auffällig sind. Wir versuchen, Vertrauen über Freizeitarbeit und Zuhören aufzubauen. Es ist aber auch wichtig, dass wir eine kritische Distanz bzw. Akzeptanz erhalten. Wir arbeiten nie allein, kommunizieren uns, wie die Jugendlichen auf uns reagieren. Es geht nicht darum, dass wir ihre Freunde sind, sondern eher Partner. Gib mal ein Beispiel für ein Projekt, an dem Du gerade arbeitest. Mit gangwaybeatzberlin machen wir ein Projekt mit Jugendlichen, die Rap und Hip Hop hören und machen und auch diesen brutalen, frauenfeindlichen Rap mögen. Wir haben mit Musikern Alternativen entwickelt: Workshops, Stimmtraining, Beats bauen. Daraus ist ein Sampler entstanden von türkischen, arabischen, deutschen Jugendlichen, den wir am 6. Juni rausbringen. Das andere Projekt ist die BMX-Halle in Marzahn. Im Winter konnte man in Berlin nirgends rollen. Es hat zwei Jahre gedauert, bis wir die Halle dem Bürgermeister abgedruckst haben. Seit 2006 haben wir die Halle, die die Jugendlichen selber ausgebaut haben und managen. Außerdem planen wir im Sommer einen Jugendaustausch mit Russland. Wir unterstützen ein Straßenkinderprojekt in Izhevsk und bauen gemeinsam mit russischen Jugendlichen einen Skate- und BMX-Park aus. Gibt es Situationen, die einen fertig machen? Persönliche Schicksale will ich jetzt nicht aufzählen. Zum Glück können wir uns gegenseitig bei besonders schwierigen Fallen, wie Missbrauch oder Vergewaltigung, im Team unterstützen und auch externe Hilfe holen. Ein großes Problem ist Armut: »Ohne Moos nix los«. Was entlohnt Dich für Deine Arbeit? Ich habe das Gefühl, helfen zu können. Die Erfolge sieht man nicht sofort, oft verliert man die Leute auch aus den Augen. Nach Jahren läuft man sich dann vielleicht über den Weg und dann kommt so was wie: »Hey, super, dass wir damals beim Nachtangeln waren. Hat mir unheimlich viel gebracht.« Wenn Du etwas an der Betreuung von Jugendlichen in Berlin ändern könntest, was wäre das? Man muss die Familien stärken. Dass eben auch Alleinerziehende die Chance haben, ihre Kinder vernünftig zu betreuen und zu sozialisieren. Das ist in den letzten Jahren verloren gegangen. Man darf nicht zulassen, dass Armut über mehrere Generationen weitergegeben wird. Außerdem wären Änderungen im Schulsystem notwendig. Jugendclubs sind auch nicht mehr attraktiv für Jugendliche. Auf die Schnelllebigkeit und Flexibilität der Jugendlichen können die klassischen Einrichtungen oft einfach nicht mehr reagieren. Das Wichtigste wäre, Chancengleichheit herzustellen. Was wäre ein Grund für Dich, mit Straßensozialarbeit aufzuhören? Ich würde aufhören, wenn ich von meinen Jugendlichen nicht mehr akzeptiert würde. myspace.com/gangwaybeatzberlin bmxrocktudmurtien.blogspot.com Uwe Heide wurde von Agata Waleczek interviewt. »Wir kommen zu den Kunden«, heißt es auf der orange leuchtenden Homepage grillwalker.de. Die Realität im (zum Redaktionsschluss) regengrauen Berlin scheint weniger mobil. Ein portabler Bratwurstgrill wiegt 20 Kilo und die durchschnittliche Laufgeschwindigkeit mit so einem Ding am Körper beträgt wohl etwa einen Kilometer pro Stunde. von Eva Flemming Laufen müsse er ja auch nicht, sagt Daniel. Er steht strategisch günstig am Bahnhof Friedrichstraße und an Kundschaft mangelt es nicht. Die setzt sich größtenteils aus Anzugträgern, die sich beim Weitereilen den Schlips mit Senf voll kleckern, und Touristen zusammen. Letztere, besonders wenn sie von Osten und weit her kommen, halten die deutsche Eigenart, durchgedrehtes Fleisch in Darm gepresst zu konsumieren, an sich schon für originell. Wenn dies auch noch aus einem Bauchladen heraus praktiziert wird, umso besser. Aber auch dem Berliner, der auf seinen täglichen Wegen durch die Stadt besonders inmitten massiver Menschenansammlungen immer wieder auf die Grillmännchen stößt, drängen sich irgendwann Fragen auf. Was macht der Typ mit dem Grill um den Bauch eigentlich bei Regen? Wie geht er aufs Klo? Und – am existenziellsten – wo kommen überhaupt die Würste her? Die bunten Schirme leuchten schon von weitem. Unter ihnen befi ndet sich das Ergebnis durchdachter Kalkulation: Durch das Bauchladen-Prinzip werden Miete und Standgenehmigung gespart. Bezahlt werden nur der Verkäufer, der 35 Cent pro 1,20 Euro verkaufter Wurst erhält, die Ware und das Gas. Die Idee, einen Grill durch die Gegend zu tragen, hatte zuerst der Berliner Bertram Rothloff vor vier Jahren. Mittlerweile hat er ein europaweites Patent angemeldet. Und die mobile Wurst scheint sich zu rechnen. 400 Stück werden täglich an der Friedrichstraße verkauft. Technisch und praktisch möglich sollen angeblich 200 pro Stunde sein, aber das dürfte wohl von der motorischen Kondition und Erfahrung des Verkäufers abhängen: Bei 18 Sekunden pro Wurst sollte einem nicht Zange oder Ketchupfl asche auf den Boden fallen (jeder, der schon mal eine Kniebeuge mit einem Grill um den Bauch gemacht hat, kann das wohl nachvollziehen). Auch blöd, wenn plötzlich der Gashahn ein Loch hat – denn die Gasfl aschen werden auf dem Rücken getragen und der Abbau der Konstruktion dauert wiederum so lange wie man bräuchte, um in Rekordgeschwindigkeit 33 Würste zu verkaufen. Illustration: Florian Bielefeldt Aber all das scheint kein ernstes Problem zu sein; Daniel beispielsweise erzählt gern von seinem Job. Seit sieben Monaten arbeitet er als Grillwalker – und das fünf Tage die Woche. Wenn er sagt, dass er den Grill vier Stunden lang tragen kann, klingt es stolz. Mittlerweile ist er mit dem mobilen Wurstgeschäft so vertraut, dass er mir all meine Fragen beantworten kann. Woher kommt denn nun die Nachschubwurst? Auf den Grill passen nur etwa 20. Die letzte hat Daniel gerade verkauft, als ich komme. Das Mysterium um die Grillwalker lüftet sich auf unspektakuläre Weise: Wir schleichen (in besagter Ein-Stundenkilometer-Geschwindigkeit) um die nächste Häuserecke, und was dort als dunkelblauer VW getarnt unscheinbar steht, entpuppt sich beim zweiten Blick als Grillwalkergefährt inklusive Ersatzmann und TK-Wurst-Eimern. Wilde Spekulationen zu transportablen Pinkelbehältern und nachwachsenden Würsten müssen sich so schlagartig in Luft auflösen. Schade eigentlich. Auf dem Heimweg läuft mir dann plötzlich ein Grill nach dem anderen über den Weg. Oder fährt – einer der Verkäufer vor dem ALEXA sitzt im Rollstuhl. Er wünscht jedem Kunden einen schönen Abend und lacht. Aber ob er sich durch die Bezeichnung Grillwalker diskriminiert fühlt und lieber Grill-Roller heißen würde, traue ich mich dann doch nicht zu fragen. texo Gedankenaustausch in einer Großstadt von Paul M. Illustration: Florian Bielefeldt ALS DIE WURST DAS LAUFEN LERNTE 5 Im Fokus: Der 9. November TEXO hat sich mit mir in der S-Bahn verabredet. Wir fahren einige Stationen miteinander und unterhalten uns über ihre Gründe, in Berlin und Wien unterwegs zu sein, um Stencils – Schablonen – zu sprühen. Gleich zu Beginn unseres Gesprächs erklärt mir TEXO, sie betrachte sich nicht als Streetart-Künstlerin. Ein Hobby sei es eher, sagt sie. Graffitis, Tags, Stencils – für sie ist das urbane Kommunikation. Die Reviermarkierungen an der Straßenecke kommunizieren zwar mit Eingeweihten, sind für TEXO aber grafi scher Schrott. Das sei ein Kriterium, sagt sie – die Ästhetik. Wenn sie es defi nieren müsste – und sie defi niert äußerst ungern – aber wenn, würde sie es wohl ästhetische Kommunikation nennen, was sie da macht. Auch nicht immer und überall, aber manchmal überkomme es sie einfach, und dann ziehe sie los, allein oder mit einem Freund, und kommuniziere mit Hilfe von Folie und Farbe. Gegen drei Uhr in der Früh wäre übrigens die beste Zeit, falls ich mal Interesse hätte. Stadt ist für sie ein ästhetischer Lebensraum. Gerade in Wien fühle sie sich herausgefordert von der sogenannten Hochkultur. Der möchte sie ihren kleinen bescheidenen Beitrag entgegensetzen, der deutlich macht, dass nicht alle das fraglos hinnehmen, was dort in Theatern und Opern auf dekadente Art und Weise angeboten wird. Dass gut situierte Bürger in Robe die Dreigroschenoper besuchen, möchte sie nicht unkommentiert lassen. Und so sprüht sie einen hässlichen, zerfressenen Kopf an die Theaterwand. Dann klingt noch das Toxische nach, das Ausgangspunkt ihrer Namensgebung war. In Berlin sprüht sie am liebsten eine Lady im schwarzen Kleid. TEXO hat ihre Lady als Hommage entworfen – an die 20er Jahre, als Berlin europäischer Knotenpunkt war. Für sie existieren Parallelen zwischen damals und heute, auf die sie mit ihrer Lady aufmerksam machen möchte, bevorzugt in heruntergekommenen Ecken. Vor allem aber möchte sie auf Menschen antworten, die sie im urbanen Rahmen teilhaben lassen an ihren Gedanken und grafi schen Künsten. Die Anonymität der Großstadt wird so – zumindest zum Teil – aufgebrochen, ist sich TEXO sicher. Jedenfalls hat sie eine Form gefunden, in einer hektischen Großstadt zu kommunizieren, denn auf den Wänden der Großstadt bleibt ihre Farbe eine Weile erhalten. Und: Sie möchte ein wenig verschönern, so wie der Nachbar, der ihrem Auge schmeichelt, wenn er vor dem Hauseingang auf dem öffentlichen Gehweg Sonnenblumen und Rankepfl anzen sät, hegt und pflegt. An der Greifswalder Straße steigen wir gemeinsam aus und gehen die Treppe hinunter. TEXO bekommt einen Anruf. Die Verbindung scheint schlecht zu sein. Sie fragt laut nach einer Uhrzeit. Ein Besoffener einige Meter weiter brüllt uns »14 Uhr« entgegen. TEXO sieht mich an. »Kommunikation«, sage ich, und wir müssen beide lachen. friss oder stirb: Schluck Licht, Du Sau! Bitte. Mehr Licht Und es ward mehr Licht. Ein aufklärerisches Gedankenexperiment im Selbstversuch. Es wird wärmer. Die Menschen werden bald wieder an diverse Stadtstrände strömen und sich von ihrer lockeren, vom Eise befreiten Seite präsentieren. Körperkult und Feste werden mich rufen, selbst wenn ich mich schwerhörig stelle. Möchte ich bis zur nächsten Fanmeile meinen Sixpack aus dem Bauchkasten herausgemeißelt haben, sollte ich den Supermärkten mit ihren Billigangeboten aus dem Weg gehen und mir mein Essen in den Schluchten der Stadt erjagen. Hierbei scheidet nach den Frontalangriffen von Foodwatch und Peta der Besuch diverser Grillfeste aus. Billig muss es sein. Das Zusammensuchen des Salats aus den Mülltonnen der Luxusrestaurants kommt aus Gründen des Stolzes nicht in Frage, nicht weil ich mich vor Abfällen ekle, sondern weil ich ungern mit Westerwelle, Christiansen, Hoeneß und Co. von einem Teller esse. Weinerei, Suppenküche, Die Tafel – alles Möglichkeiten, sich durchzuschlauchen, aber für einen ehemaligen Jungpionier haben solche Möglichkeiten nur theoretischen Charakter. Wie? Hotel Mama? Hört doch auf! Wenn günstig Essen unmöglich scheint, besteht die Chance vielleicht im Fast-gar-nichts-Essen. Nur leider zwingt einen das Heilfasten dazu, sich selbst Einläufe mit der Klistierspritze zu verpassen, Glaubersalz in Kombination mit Mittelstrahlurin zu trinken und Dinge zu essen, die selbst Insekten verschmähen würden. Da bleibt nur noch eins: Ich ernähre mich von Luft und Liebe. Ich habe zwar keine Vorstellung davon, wie mich der 80-prozentige Stickstoffanteil sättigen soll, aber wird nicht wenigstens von der Liebe behauptet, sie sei die stärkste Kraft des Universums, und man benötige im Stadium des Verliebtseins nichts weiter als das Objekt der sublimierten Begierde? Und gibt es nicht genügend Objekte, die meine Liebe nähren und somit mich ernähren können? Liebe als Perpetuum Mobile. Meine Idee erhält Nahrung, als ich auf der Suche nach Liebesobjekten im Netz surfe und auf die Pranier aufmerksam werde. Ihre Idee der Ernährung mit flüssigem Prana – universeller Energie – lasse ich mir bei einem ausgiebigen Sonnenbad im Volkspark durch den Körper strömen. Als Radikalvariante der Gewöhnung empfehlen die Pranier ein 21-Tage-Programm, in dem man 7 Tage nichts trinken, 21 nichts essen und sich von allem Weltlichen fernhalten soll. Das Volumen des Urins muss protokolliert und die kleinen, harten Kötteln, die aus dem darbenden Körper ins Porzellan plumpsen, gezählt werden. Jeder Hausarzt wird wohl davon abraten, aber nichtsdestotrotz sind weltweit mehrere Fälle wissenschaftlich bestätigt, in denen Pranier Jahre ohne Nahrung auskamen. Einer menschlichen Pflanze gleich von Paul M. Foto[M]: photocase.de 6 beginnt das Blut wie Chlorophyll zu arbeiten und scheint den Energieerhaltungssatz zu bestätigen, dass alles Energie ist und nur in verschiedenen Frequenzen schwingt. Pranier sagen, es ginge nicht darum, nichts zu essen, sondern um den Glauben, des Überlebens willen essen zu müssen. Und damit stecken wir wieder mittendrin im materialistischen Diskurs, der bekanntlich nichts anderes ist als ein Glaubensdiktum. Essen wird zum Politikum. Noch weist die UN das Manifest und die Hilfe der Pranier zurück, den Welthunger zu lindern, aber wer weiß... Die Idee der Pranier hat für mich einen anderen Haken: die Liebe zu sich selbst und zu den liebgewordenen schlechten Angewohnheiten, die manch ein Pranier wohl eher als schwachen Willen bezeichnen würde. Denn als die Sonne untergeht und – abgesehen von meinem inneren Licht – als einzige Lichtquelle im Volkspark der umlagerte Grill der ersten Bratorgie des Jahres übrig bleibt, zieht mich selbiger an wie ein strahlender Insektenvernichter die hilflos ausgelieferte Motte. Nach dem zweiten Bier und dem dritten belanglosen Gespräch über Politik habe ich mich zum Grill vorgearbeitet und bekomme kostenlos einen Teller mit Wurst, Steak und der Bemerkung gereicht, irgendwo müsste noch Kartoffelsalat rumschwirren. Plötzlich erkenne ich: Die stärkste Kraft im Universum ist tatsächlich die Liebe. Und die ist immer wo zu finden? Richtig – in der Gemeinschaft. Also: Lasst es euch schmecken, egal was es ist! A Wer wir sind: Licktblick-Kino LICHTBLICKE IM VERDUNKELTEN SAAL Foto[M]: Kino-Lichtblick, photocase.de Foto[M]: photocase.de ND-Shop von Alexander Koenitz Seit fast 15 Jahren ist das Lichtblick-Kino im Berliner Trendbezirk Prenzlauer Berg Adresse für den anspruchsvollen Film. Hinter dem Projekt steckt ein Kollektiv von Film-Enthusiasten. In der superhippen Kastanienallee zwischen Berlin Mitte und Berlin Prenzlauer Berg trinken Typen in knallengen Jeans Kaffee mit Milchschaum, vor teuren Boutiquen schnattern aufgedrehte Mädchen in ihre Mobiltelefone. In einem leerstehenden Laden verkündet ein Plakat, dass die Bäckerei nach einer Mieterhöhung aufgegeben hat. Zwischendrin befi nden sich ein paar unrenovierte Häuser – bunt beklebte subkulturelle Blasen der Unordnung inmitten einer durchorganisierten Lifestyle-Industrie. Neben einem linksradikal geprägten Buchladen und einem alternativen Café gehört auch das Programmkino Lichtblick zu den Resten der 90er Jahre im Kiez. Der war einst wild. Studenten, Hausbesetzer, Punks, junge, nonkommerzielle Kreative beherrschten die Szenerie. Vor den Schaufenstern mit den Plakaten für das laufende Programm stehen Kübel mit Löwenzahn. Obwohl das Lichtblick schon einige kommerzielle Riesenkinos überlebt hat, sieht das Foyer mit den Fliesen und der spartanischen Einrichtung unfertig aus. Ein ausrangierter Filmprojektor und die Filmplakate von Jean-Luc Godard und Luis Buñuel machen klar: Hier wird Film als Kunstform mit Botschaft ernst genommen – der ganze andere Rummel drum herum ist unwichtig. Im länglich schmalen Vorführraum ist Platz für 32 Kinosessel und ein Klavier vor der Leinwand. Das Lichtblick-Kino wird von einem Kollektiv betrieben. Die Mehrzahl der Gründer kam Anfang der 90er vom östlichen Stadtrand Berlins. Sie waren verrückt nach Film und politisch links. Beides sind sie immer noch. Als sie vor 15 Jahren ein Kino aufmachen wollten, wollten sie ein richtiges Kino, nicht ein Kneipen- oder Kellerkino. Das heißt: einen funktionierenden Projektor, bequeme Sessel, pünktliche Anfangszeiten und einen Filmvorführer, der weiß, was zu tun ist, wenn plötzlich der Film reißt. Damit wollte das Lichtblick-Kollektiv, anfangs unter dem Namen Stattkino, Passanten, Anwohner und Normalos zu den Filmen reinholen. Ergebnis waren ausverkaufte Vorstellungen und die Wahl zum besten Programmkino Berlins in einem Stadtmagazin. Als das Kino gegründet wurde, war der Hunger nach Filmen groß. Buñuel, Federico Fellini, Pier Paolo Pasolini, Michelangelo Antonioni – viele subversive Filmklassiker waren nur den Namen nach bekannt. Und dementsprechend groß war der Ansturm auf die Retrospektiven, welche durch das Lichtblick-Kino zusammengestellt wurden. Mittlerweile hat sich das ein wenig geändert. Die Kinobesu- cher von heute besitzen weniger hartnäckige Hingabe, früher widerstand man selbst Aufwallungen des patriotischen Wir-Gefühls wie Fußball-Weltmeisterschaften. Überhaupt ist der Kampf um ihre Aufmerksamkeit härter geworden. »Alle haben aufgerüstet«, sagt Thorsten, einer der Mitgründer des Kollektivs. Die Journalisten haben hingegen abgerüstet, denn in lokalen Zeitungen und Zeitschriften fehlt einfach der Platz, um Leser neugierig auf die thematischen Reihen von Programmkinos zu machen. Nur ausnahmsweise kommt da ein kleines Kino vor. Das Lichtblick hatte seinen großen Auftritt, als es letztes Jahr erfolgreich eine Filmreihe zu Punk zusammenstellte. Der Flyer, von dem monatlich ein paar Tausend Exemplare aus der Auslage vor dem Kino weggehen, kündigt neben Dokumentarfilmen, aktuellen deutschsprachigen Filmen auch die Wiederaufführung von Klassikern an – und Ronja Räubertochter als Nachmittagsvorstellung. Da ist zwangsläufi g Politik drin. Einige Trends bleiben hingegen außen vor: Dem Wellness-Esoterik-Dusel verweigert sich das Lichtblick-Kino ebenso konsequent wie der Dauerrotation von Ostalgie-Evergreens und neuerer Kostümfilme aus deutscher Produktion, welche an einem positiven nationalen Geschichtsbild schrauben. Stattdessen im Mai: Federico Fellini und Sidney Lumet. »Wenn’s um das Programm und anderes geht, gibt es in der Gruppe keine großen Auseinandersetzungen«, sagt Thorsten. Jedes Mitglied ist alles in einer Person: Filmvorführer, Getränkeverkäufer, Kartenabreißer, Filmentdecker und Programmgestalter. Da tauscht man sich zwischendurch aus – ohne ausufernde Diskussionen. Dabei lässt sich das Kollektiv von niemandem reinreden: Das Kino verzichtet auf Subventionen von der Stadt. Klar, dass so ein kleines Kino nicht genug Geld abwirft, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Deshalb haben viele im Kollektiv noch einen anderen Job. Und der hat oft etwas mit Film zu tun. Eigentlich wäre es wünschenswert, dass es überall kleine Kinos gibt. Meint auch Thorsten vom Lichtblick. Vielleicht könnten das auch »Keimzellen der Zivilgesellschaft« sein in den Landstrichen, die zunehmend intellektuell veröden. Denn Programmkinos sind ähnlich wie Theater nicht nur Spielorte von Filmklassikern, sondern auch Treffpunkte für Menschen, deren Gespräch über Filme immerhin ein Anfangspunkt für Öffentlichkeit ist. Lichtblick Kino, Kastanienallee 77, Berlin www.lichtblick-kino.org Wacken: Metall-Fans feiern ihre Kultur Zehntausende HeavyMetal-Fans aus aller Welt werden sich Anfang August (31.7. bis 2.8.2008) wieder im schleswigholsteinischen Dorf Wacken treffen. Seit einer halben Generation bauen sie dort auf den abgeernteten Feldern eine Zeltstadt, um gemeinsam drei Tage lang musikalisch und kulturell in ihre eigene Welt einzutauchen. Das Festival ist schon seit Wochen ausverkauft und gilt als das größte Heavy-MetalFestival in Europa. Wer jedoch erwartet, dass „Full Metal Village“ ein Festivalfilm ist, wird enttäuscht werden. Immer wieder stehen die Dorfbewohner aus Wacken im Mittelpunkt, etwa wenn das Orchester alte Volkslieder spielt und einige hundert Metal-Anhänger vor der Bühne stehen und „headbangen“. Der Film steckt voller Witz und verliert trotzdem nicht sein Ziel aus den Augen: Er ist eine Festival-Dokumentation und ein Heimatfilm, der das Leben auf dem Dorf nicht besser hätte widerspiegeln können. Zu Recht wurde der Film der Regisseurin Sung-Hyung Cho 2007 mit zahlreichen Preisen prämiert. DVD 14,99 € zzgl. 1,40 € Versandgebühr Jetzt bestellen: Mo. - Fr. von 9 - 17 Uhr Tel./Fax: (030)2978 - 1654/- 1650 E-Mail: [email protected] www.neues-deutschland.de/shop Texte 43 der Rosa-Luxemburg-Stiftung 111 Seiten, Broschur 9 Abbildungen Karl Dietz Verlag Berlin 2008 9,90 Euro ISBN 978-3-320-02137-5 Jörg Roesler Die Wiederaufbaulüge der Bundesrepublik Oder: Wie sich die Neoliberalen ihre »Argumente« produzieren Die »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« hat sich laut Eigendarstellung zur Aufgabe gemacht, »das erfolgreiche Modell der Sozialen Marktwirtschaft, aber angepasst an die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts« zu propagieren. Eine zentrale Rolle spielt bei ihrer Agitation die neoliberale Mär, dass Ludwig Erhard mit einem rein liberalen Wirtschaftssystem das »Wirtschaftswunder« gezeugt habe. Der Wirtschaftshistoriker Jörg Roesler rekonstruiert erstmals die heute weitgehend verschwiegenen Auseinandersetzungen des 2. Halbjahres 1948 und zeichnet ein völlig anderes Bild. Bestellungen über: Buchhandel Karl Dietz Verlag Berlin E-Mail: [email protected] Rosa-Luxemburg-Stiftung Tel.: 030 44310-123 · Fax: 030 44310-122 E-Mail: [email protected] 7 »Shut Up & Sing« Nicht mit den Dixie Chicks 8 International: Spicy Chicks von Claudia Goldberg Die Dixie Chicks waren 2003 die erfolgreichste Band überhaupt – erfolgreich mit Countrymusik, wohlgemerkt! Der Beginn ihrer Europatour fiel mit dem Beginn des Irakkrieges zusammen und Dixie Natalie Maines ließ sich zu einer unbedarften Anti-Bush-Äußerung auf einer Londoner Bühne hinreißen. Drei bewegte Jahre, mit Hetzkampagnen bis hin zu Morddrohungen, folgten für die Band. Die Regisseurinnen Barbara Kopple und Cecilia Peck fangen diese Zeit in ihrem Dokumentarfilm Shut Up & Sing ein und zeigen dabei auch, in welchen engen Grenzen sich Meinungs- und Medienfreiheit in der US-amerikanischen Gesellschaft bewegen. x Foto [M]: dreamstime.com, a Als Countrygirl Natalie Maines 2003 zu Beginn der Top Of The World Tour ihrer Band Dixie Chicks in London klarstellte, sie unterstütze den Irakkrieg nicht und schäme sich dafür, dass Bush auch aus Texas komme, ahnte sie nicht, welche Lawine sie in den USA damit lostreten würde. Die Website der Dixie Chicks wurde unmittelbar nach dem besagten Konzert mit Beschwerden zu Maines’ Statement überhäuft. Gerade die eigenen Fans machten der Band den größten Ärger. So lag für Maines die Versuchung nahe, sich von den eigenen Aussagen mindestens zu distanzieren. Doch dazu sollte es nicht kommen. Countryfans sind zumeist konservative Wähler. Der tiefen Enttäuschung über die Dixies verliehen sie Ausdruck – beispielsweise in den Internetforen amerikanischer Radiosender: »Wer sind die Dixies? Die sind keine wichtige Band, von der man alle kennt, wie die Beatles. Die Dixie Chicks nerven. Sie haben keine Ahnung und sollen das Maul halten.« Keine Frage: Stumpfsinnig und unwahr waren diese Beiträge, denn immerhin war die Gruppe zu jener Zeit die erfolgreichste Frauenband aller Musik-Genres, mit zehn Millionen verkauften Platten. Das hinderte den wütenden Mob dennoch nicht daran, den Dixie Chicks mal ordentlich die Meinung zu geigen – auf seine Weise: Vor Radiosendern kam es zu kollektiven CD-Verbrennungen. Die Frauen erhielten Morddrohungen. Radiosender überall im Land strichen die Songs der Musikerinnen aus ihren Programmen. Eine Woche nach Natalies Meinungsäußerung stürzte ihr Song Travelin’ Soldier in den amerikanischen Charts von Platz 1 um 42 Prozent nach unten. Sogar das amerikanische Fernsehen pushte die absurden Geschehnisse: Ein im Fernsehen interviewter Bürger mit Schaum vor dem Mund erklärte die Frauen etwa zu »dummen Nüssen«, die mal eine Tracht Prügel verdient hätten – zustimmendes Nicken der Moderatorin. Freiheit von Wort, Schrift und Kunst? Fehlanzeige. Dieserart Wertedebatten sollten ihre gesellschaftliche Rolle erst mit dem allgemeinen Erwachen aus dem patriotischen Taumel wiederfi nden. In dieser Beziehung waren und sind die amerikanischen Medien ohnehin sehr wendig. 2005 war George W. Bush schon längst zur Witzfi gur erklärt worden, während er sich zwei Jahre zuvor medial fl ankiert höchstpersönlich ins Musikbusiness einmischen durfte und hämisch meinte, die Dixie Chicks sollten nicht gekränkt sein, wenn ihre Platten nicht gekauft würden – all das unkommentiert. Natalies Meinung wurde demnach zur Staatsaffäre gemacht, zur nationalen Nestbeschmutzung. Eine Szene in Shut Up & Sing – sozusagen aus dem Herzen der konservativen Wählerschaft – bleibt dabei besonders im Gedächtnis: Eine Mutter versucht ihrem Kleinkind, das sie auf dem Arm trägt, einzutrichtern, wie schlecht die Dixies seien. Um dem Argument Nachdruck zu verleihen, wird der kleine Spross ordentlich geschüttelt. »Schön, dass ihr diese Fans los seid«, möchte man da den Dixies zurufen. Die Band fand bald wieder Boden unter den Füßen und hielt auch nicht die Klappe, wie es die einstigen Fans forderten. Dafür waren die Musikerinnen schon zu lange im Geschäft. Der Kern der Dixie Chicks hatte schon mit elf, zwölf Jahren auf der Bühne gestanden. Bis 1994 waren sie allerdings eher für »schlechten Western-Swing bekannt«, erklärte der Manager Simon Ramshaw, der sie deshalb unter seine Fittiche nahm. Unter seinem Einfluss gelangten die Frauen zu Songs und Outfits, die wenig an die übliche Countrymusik erinnerten. Diese Entwicklung wird im Film durch Archivmaterial dokumentiert. Während der Drehphasen zwischen 2003 und 2006 zeigte sich jedoch eine zweite Metamorphose: Die Verkaufsboykotte und Hetzkampagnen des konservativen Mobs befreiten die Chicks von ihrem Image als brave Countrygirls und erlaubten ihnen eine freie Weiterentwicklung jenseits der Grenzen der Countrymusik. Der Song Not Ready To Make Nice handelt etwa von den erlebten Drangsalierungen und konnte gleichzeitig als Auflehnung gegen Einschüchterungsversuche verstanden werden. Die Zahl der Fans schrumpfte zusammen auf die, die in Anti-Bush-Äußerungen kein Verbrechen sahen. Während Natalie 2003 ihre Äußerung noch verharmloste und über ihre Aussage selbst erschrocken schien, erklärt Emily Robison 2005 recht entspannt, das Ganze sei das beste Ding, das den Dixies je passiert sei. So konnten sich die Dixie Chicks letztlich von konservativen Fans mit deren festgefahrenen Ansprüchen an Countrymusik befreien und für eine neue Musikrichtung öffnen – und zugleich einen neuen persönlichen wie politischen Weg einschlagen. Glückwunsch, Dixies. .. MUSIK FUR DEN WELTUNTERGANG 9 Festival-Guide: Hurricane HURRICANE-FESTIVAL Also warum geht man zu Festivals? Zahlt dafür mitunter auch noch einen stolzen Preis von über 100 Euro? Wie beim Hurricane, das seit 1997 alljährlich auf dem Gelände einer Motorradrennbahn bei Scheeßel stattfi ndet. Scheeßel! Für viele ist dieses obskure Lautgebilde das Mekka der musikalischen Erfüllung. Drei Tage lang auf drei Bühnen die angesagtesten Bands aus Pop, Rock, Alternative. Und das Hurricane, hört man so, mache seinem Namen auch immer alle Ehre. Im vorletzten Jahr zum Beispiel. Da mussten Muse ihren Auftritt absagen, weil über den ausklingenden Sonntagabend ein sintflutartiges Unwetter hereinbrach. Ganze Zelte standen metertief unter Wasser. Besonders gewitzte Festivalbesucher retteten sich auf Luftmatratzen und genossen entspannt umhertreibend das Weltuntergangsszenario. Andere – deutlich weniger gewitzt oder einfach schon zu besoffen – suchten Schutz in Dixie-Klos. (Soviel zur Horrorgeschichte.) Prompt titelte die Lokalzeitung: »‘Hurricane‘ tobt über Scheeßel«. Aber die, die da waren, kamen begeistert zurück – dieses Wetter gehöre eben zum Hurricane dazu – und sie würden wiederkommen. Hört man so. Okay, im Sommer 2007 dann der Selbstversuch. Irgendwas muss ja dran sein an der Festivalkultur. Also auf nach Scheeßel, auf zum Hurricane, auf zu Dreck, Staub und Matsch. Aber natürlich nimmt man das alles nur wegen der Musik auf sich. Immerhin sind Arcade Fire, Interpol und Mogwai angekündigt, da spart man sich viele Konzertbesuche. Donnerstagabend kommen wir an. Es regnet. Als blutiger Festivalanfänger ein Zelt im verregneten Halbdunkel aufzubauen, ist keine schöne Angelegenheit. Soviel steht fest. Die reflexartige Reaktion darauf kann wohl als erfolgreicher erster Schritt in Richtung Festival-Menschwerdung gelten: literweise Bier trinken. Das versöhnt mit dem Wetter und wärmt von innen. Freitagabend: Die ersten Bands treten auf. Da vieles parallel abläuft, muss man schwerwiegende Entscheidungen treffen – Modest Mouse komplett anschauen oder zur Hälfte noch Bloc Party mitnehmen? Denn zwischen den Bühnen hin- und herzuwandern, kommt einem Survival Training gleich: Der Regen und die Menschenmassen haben den Boden in treibsandartige Matschmassen verwandelt. Wer keine Gummistiefel dabei hat, trägt bald mehr Schlamm als Schuhe an den Füßen. Aber man will ja nicht als zimperlich gelten. »Festivals müssen dreckig sein«, sagt einer. Überhaupt ist das jetzt nur noch eine Kopfsache: Einfach die Konventionen der fernen Zivilisation hinter sich lassen – denkt man so, während man in gänzlich klammen Klamotten und von Bier euphorisiert Marilyn Mansons überdrehte Horrorkitsch-Show belächelt. Macht das die Faszination der Festivalkultur aus? »An diesem Wochenende«, sagt ein anderer, »geht es darum, seine Laster und Faulheit zu zelebrieren.« Klingt gut, funktioniert irgendwie schon. Samstag: Zumindest dem Wetter gegenüber hat sich längst eine Gleichgültigkeit entwikkelt. Als dann auf den Werbeleinwänden nach dem 27sten Becks-Spot und der 32sten Trailer-Wiederholung zu Stirb Langsam 4 zur Abwechslung einmal etwas anderes flimmert, nämlich eine Sturmwarnung, juckt das niemanden besonders. Bier und Musik wirken. Zu dem Zeitpunkt spielen gerade Snow Patrol. Sowieso nicht die richtige Endzeitmusik. Der Weltuntergang zieht schließlich vorbei, ein zweites Hurricane 06 gibt es nicht. Nur der Regen tröpfelt fleißig weiter. Sonntag: Ein Moment kosmischer Einheit – The Good, The Bad And The Queen ist die Band zum Luftholen, zum Wieder-zu-sich-Kommen. Magische, feingeistige Musik, die in Text und Bühnenkulisse untergegangene Städte heraufbeschwört und einen langsam, unmerklich einlullt. Da hat es dann aufgehört zu regnen. Das zweite große Highlight ist zugleich der krönende Abschluss am Sonntagabend. Pearl Jam bannt die Massen. Frontmann Eddie Vedder verausgabt sich zwischen lautester und leisester Emocore-Musik beinahe bis zum Kollaps. Das Publikum dankt es ihm, indem es bei Black im Kollektiv geradezu nuancengenau mitsingt – wie ein gewaltiger Freiluftchor. Ein Stück Götterdämmerung zum Abschied. Abschied, ja. Also schnell gen Heimat, in Richtung Dusche, Schlaf und Privatsphäre. Selbstversuch beendet. Aber so richtig lässt sich das mit der Festivalfaszination noch nicht erklären. Schön war es irgendwie, genug war es auch. Hat gereicht. Eigentlich. Und dann liest man das Line-Up für 2008: Radiohead wollen kommen, Sigur Rós auch, Elbow, außerdem die Chemical Brothers und Calexico. Na gut, na gut. Wagen wir eben einen zweiten Selbstversuch. Hört man sich so sagen. Hurricane Festival 2008: 20.6.-22.6. http://www.hurricane.de/ Fotos [M]: Sebastian Widmann Festivals sind dreckig. Staubig oder matschig. Ein Festivalbesuch, steht das nicht für: tagelanges Ausharren zwischen Bühnen und Campingplätzen, Schlafversuche in überhitzten oder durchnässten Zelten, rundherum unerschrockene Kampf- und Komatrinker, endlose »Helga!«-Rufe? Und dann ist da noch die Horrorgeschichte vom Eingeschlossensein im umgekippten Dixie-Klo (mit der Tür nach unten!). Hört man so. von Karsten Schmidt Culture Clash: In Wacken klauen sie Frauen namens Elke... Post Feminismus Reloaded von Anne Kirchberg Feminismus ist wieder in. Eine Menge Bücher junger Autorinnen der Nach-Alice-Schwarzer-Generation handeln von Weiblichkeit und ihrer Rolle in der Gesellschaft. Im medialen Hype um den Roman Feuchtgebiete wird gerade ein Buch an den Rand der Rezeption gedrängt, das sich weitaus klüger und differenzierter mit weiblicher Selbstdefi nition auseinandersetzt als Charlotte Roches brachialexhibitionistische Protagonistin. Zugegeben, der verniedlichende Titel Wir Alphamädchen verspricht nicht gerade fundierte Analysen. Doch der einzige Vorwurf, den man den drei Autorinnen Meredith Haaf, Susanne Klingner und Barbara Streidl nach beendeter Lektüre machen kann, ist, dass sie den Begriff Postfeminismus ungenau defi nieren. Und das verwundert, denn ihr Buch ist schließlich nichts anderes als die Dekonstruktion überlieferter Geschlechterrollen im besten Sinne des Postfeminismus wie er mit Judith Butler in die Gender Studies eingegangen ist. Die drei Journalistinnen vermögen es, Butlers Theoriemodell publikumstauglich und öffentlichkeitswirksam zu vermitteln. Sie holen den jahrelang als überholt und lächerlich abgewerteten Feminismus zurück in die öffentliche Debatte. In Zeiten der Flucht in unreflektierte Extremhaltungen – siehe Charlotte Roche – und traditionelle Rollenmuster – siehe Eva Herman – scheint das auch dringend nötig. Gut lesbar, einleuchtend und angereichert mit vielen Beispielen entlarven sie die Mechanismen, die »aus traditionellen, unerschütterlichen Geschlechternormen unsichtbare, aber immer noch vorhandene« machen. Wie man sich partnerschaftlich darauf einigt und aufhört zu hinterfragen, weil die Manipulation durch Konsumgesellschaft, politischen Mainstream und Medien so gut funktioniert, dass sie gar keinem mehr auffällt. Wie Mutterschaft in Deutschland wieder zu einer Art Bürgerpflicht geworden ist, die es ermöglicht, die Verantwortung für demografi sche Veränderungen den Frauen in die Schuhe zu schieben. »Im Gegensatz zu unseren Eltern und Großeltern sieht unsere Generation größtenteils von einem Engagement für eine gerechtere, freiere Welt ab. Wir sehen Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft als individuelles Problem, das wir meinen, durch Leistungsbereitschaft und Fleiß schon umgehen zu können. Das gilt natürlich nicht nur für die Frauensache.« Richtig. Es gilt auch für die Sache des so genannten Prekariats, für die der Migrantinnen und Migranten, für jede Gruppe, die aufgrund der Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft benachteiligt ist, stereotypisiert und damit auch kontrolliert wird. Solche Zusammenhänge in einfacher Sprache deutlich zu machen, ist das große Verdienst von Wir Alphamädchen. Das Buch motiviert dazu, zu hinterfragen statt den gesellschaftlichen Konsens abzunicken (und auch das gilt nicht nur für die Frauensache), macht Mut, sich zu engagieren, zu streiten, zu diskutieren, zu fordern und zu erklären. Und zwar mit den Männern als Verbündeten, nicht als Gegner. Auch sie können schließlich an Freiheit gewinnen, wenn man sie nicht nur auf die ihnen traditionell zugewiesenen Rollen reduziert. Meredith Haaf, Susanne Klingner und Barbara Streidl: Wir Alphamädchen. Warum Feminismus das Leben schöner macht. Hoffmann und Campe, 2008. 19,95 €. Foto [M]: photocase.de von Christina Nowotny Wenn der Name Wacken fällt, tauchen vor dem geistigen Auge Bilder von langhaarigen, alkoholisierten Heavy Metal-Fans in Lederklamotten auf, die einmal im Jahr beim Festival am Rande der gleichnamigen Gemeinde so richtig auf den Putz hauen. Und obwohl diese Vorstellung nicht ganz falsch ist, geht es in dem 2000-Seelen-Ort zwischen der Nordsee und Hamburg während des dreitätigen Konzerts meistens unglaublich friedlich zu. In Wacken, das in Schleswig-Holstein zirka zwölf Kilometer nordwestlich der Kreisstadt Itzehoe liegt, fürchtet man sich schon lange nicht mehr vor Heavy Metal-Fans. Die Bewohner haben schnell gelernt, was die Metal-Freunde schon immer wussten: Wer düster aussieht, muss noch lange nicht böse sein! »Obwohl in Wacken so viele Leute auf einem Haufen sind und die Musik für Außenstehende sehr aggressiv klingt, ist das Festival friedlich und harmonisch«, erzählt Stephanie, die in Berlin studiert und bereits einige Mal beim Höhepunkt des Jahres der deutschen Metal-Szene in Wacken war. »Ich kann es nur mit Rock am Ring vergleichen, wo haufenweise Betrunkene herumstolpern, krakeelen und viele Sachen gestohlen werden. Das ist mir in Wacken noch nie passiert. Klar, auch da sind Leute betrunken und der ein oder andere etwas koordinationslos, aber niemals aggressiv. Die meisten, die böse aussehen, sind eben ganz Liebe!« Wer allerdings in diesem Jahr beim weltweit größten Heavy Metal-Event dabei sein will, hat schlechte Karten! Denn die Tickets für die Veranstaltung vom 31. Juli bis 2. August 2008 sind bereits seit März restlos ausverkauft und die Preise auf dem Schwarzmarkt klettern in undenkbare Höhen. Kein Wunder, denn das diesjährige Line-Up des wohl extremsten Festivals in Deutschland kann sich sehen lassen: Neben zahlreichen in der Szene bekannten Gruppen wie Exodus, Autumn, Kreator oder Can Canto geben sich auch Größen wie Iron Maiden, Lordi, Nightwish oder Children of Bodom die Ehre. Seit 18 Jahren stürmen im Sommer mehr als 60 000 Fans in Richtung Norden und lassen sich für einige Tage häuslich auf den Feldern nieder, die der Veranstalter von Bauern pachtet. Alle, die sich einen Eindruck vom Festival-Wahnsinn in Wacken verschaffen möchten, sollten sich einfach eine der zahlreichen Dokumentationen über das Open Air ansehen. Der preisgekrönte Streifen Full Metal Village (2006) etwa zeigt eindrucksvoll, wie die Wackener Bevölkerung mit der jährlichen Besetzung ihres Dorfes durch die Metal-Verrückten umgehen. Was nach außen wild aussieht, ist in der Realität mittlerweile ein perfekt durchorganisiertes MegaSpektakel: Mobile Toiletten, Waschkabinen und eine gute Verpflegung auf dem 140 Hektar großen Campingplatz, professionelle Vermarktung und Merchandising-Artikel bis zum Umfallen sowie eine einfache Anreise können Wacken zu einem sehr entspannten Konzertwochenende machen. Da es für viele Besucher aufgrund der exzessiven Festivaltage nicht unbedingt ratsam ist, mit dem Auto anzureisen, gelangt man neben zahlreichen organisierten Busreisen seit 2002 auch mit dem Sonderzug Metal-Train am Veranstaltungswochenende schnell und unkompliziert von Zürich über viele große Städte nach Wacken and back. Die Veränderung hin zum perfekt organisierten GroßEvent mit namenhaften Bands gefällt jedoch nicht jedem. »Ich fahre dieses Jahr nicht nach Wacken«, erklärt Stephanie. »Zum einen mag ich die bekannten Gruppen nicht so besonders und zum anderen wird mir das Festival einfach zu groß. Daneben hat sich auch das Publikum verändert und mittlerweile kommen viele, die denken, dass Wacken cool ist, weil die Leute dann schockiert sagen: »Da fährst du hin?« Meiner Meinung nach sollte man nur nach Wacken fahren, weil man die Musik gut fi ndet!« Weitere Informationen www.wacken.com ICS GmbH, Hauptstr. 47 D-24869 Dörpstedt/Germany Tel: +49 (0) 4627 - 18 38 38 Fax: +49 (0) 4627 - 18 38 80 A S S I K Foto [M]: photocase.de 10 11 auch nicht mehr das, was er mal war. Ich klaue! Denn Glück kann man nicht kaufen… EL*KE -------------------- EL*KE, das ist nicht der Mädchenname Deiner besten Freundin, sondern der Name einer deutschprachigen Rockband aus Berlin. EL*KE spielen dieses Jahr beim ausverkauften Rock am Ring und veröffentlichen am 4. Juli ihr neues Album Häuser stürzen ein. von Martin Schirdewan Foto [M]: photocase.de Foto [M]: photocase.de Pünktlich zur Jahrtausendwende begann die spanische Künstlergruppe Las Agencias mit sozialem Kulturprotest auf sich aufmerksam zu machen. »Yo mango« – ich klaue – lautete seit 2002 deren Motto. Doch worum handelte es sich dabei eigentlich: um Lifestyle, Sozialkritik, Kunst oder schlicht und einfach Diebstahl? Sacco und Vanzetti schaut zurück. ABGECHECKT! Hallo EL*KE wie geht es Euch? Was treibt Ihr so? Das was wir gerade treiben, nennt sich Warm Up. Also, wir sind auf einer kleinen Clubtour, um schon mal die neuen Songs vor den Fans zu spielen, damit alles klar ist, wenn die Festivals und die Tour kommen! »Einen Diebstahl begeht, wer einem anderen eine fremde bewegliche Sache in der Absicht wegnimmt, sie sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen (§ 242 StGB).« Doch weshalb begeht jemand einen Diebstahl? Die Motive sind unterschiedlichster Natur – das zeigt sich allein innerhalb der Gruppe Las Agencias. Die einen klauen, um es mit dieser Form von Aufmerksamkeit in die spanischen Ausstellungen und Galerien zu schaffen, andere, um des nackten Fressens willen, dritte, um das System von den Füßen auf den Kopf zu stellen und den räuberischen Kapitalismus zu überwinden und vierte, weil sie die geklauten Klamotten einfach geil fi nden. Die aus Barcelona stammende und im Einflussgebiet des katalanischen Anarchismus arbeitende Künstlergruppe hinterfragt das Eigentum und seine soziale Rolle, indem sie Eigentumsverhältnisse leugnet. Das Klauen wird bei Yo mango zu einer »Zweckentfremdung der Konsum-Ideologie«, wie Brian Holmes in seinem Essay Liar’s Poker schreibt. Zu gut Deutsch: Aktionskunst, Improvisation und das ganze Blabla, das der intellektuelle Normalo sowieso nie versteht. In Yo mango kann anscheinend einfach alles hineingedeutet und das erlernte Kunsthochschuldeutsch verwurstet werden. Doch bekanntlich kommt erst das Fressen und zuletzt die Moral. Der Hungrige zielt mit einem Diebstahl wohl weniger auf den Kulturbetrieb ab. Er handelt aus der schlichten Not heraus. Das war der Punkt, an dem deutsche Politaktivisten zu Yo mango fanden. »Alles für alle – und zwar umsonst«, todo para todos. Yo mango ging auf Europatournee und gab Seminare. Klauseminare mit klarem Praxisbezug. Selbstorganisiertes Lernen, eine in Form und Inhalt alternative Bildungsreform von unten für unten. Mit Regeln (»Achte nicht auf Überwachungskameras«) und abschließender Gesellenprüfung – einem Diebstahl. Ableger bildeten sich in verschiedenen Ländern, der deutsche nannte sich Berlin umsonst. Der Fokus der deutschen Politguerilla lag jedoch eher auf der freien Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs und anderer öffentlicher Güter für alle. Und wie reagierte der hippe Mainstream? Der wusste sich das Ganze mal wieder nicht zu erklären und konstruierte sich aus all der Kunst und der sozialen Auseinandersetzung einen Lifestyle. Als Erklärungshilfe, warum in reichen Gesellschaften wie Spanien oder Deutschland Menschen klauen. Na weil: Hey, Kick und so. Klamotten geil, Party lustig, stöhn, ommpf. Man verbleibt vornehm im Selbstzweck. Eine Zweckentfremdung, die das Ziel verfolgt, zu konsumieren und einen Lifestyle anzubieten, der seinen Party- und Eventcharakter dann in Dinners fi ndet, auf denen man den geklauten Kaviar nascht. Am besten in eigens für diesen Termin geklauten Klamotten. Ob man es mit der unerträglichen Seichtigkeit des bürgerlichen Seins hält oder eher einer politischen Interpretation folgt, liegt bei jedem selbst. Beruhigend, sich auch für folgende Aussage entscheiden zu können: »Würden alle Leute nur noch klauen, würde der Kapitalismus zusammenbrechen, und wir hätten ´ne Anarchie«, wie ein spanischer Yo-mango-Aktiver sagt. Das wäre doch hinreichend Grund, geklauten Schampus zu saufen und sich den unbezahlten, exzellent sitzenden HugoAnzug mit Kaviar einzusauen. Ihr veröffentlicht Euer drittes Album Häuser stürzen ein am 4. Juli, ein ungewöhnliches Datum für ein Release. Wie kam es dazu? Findest Du? Wegen der EM? Wir sind ja seit Anfang März fertig mit den Aufnahmen, und uns persönlich kann es gar nicht schnell genug gehen mit der Veröffentlichung. Aber die Plattenfi rmen und sonstige Promoter brauchen ja immer einen gewissen Vorlauf, damit möglichst viele Leute mitbekommen, dass die EL*KE was Neues hat - da war der 4. Juli der naheliegendste Termin. Für uns heißt das viel spielen und uns auf den Termin freuen! Ihr spielt dieses Jahr bei Rock am Ring. Was ist für Euch das Besondere an Festivals? Das Besondere ist diese exklusive Stimmung bei den Leuten vor und hinter der Bühne - man hat irgendwie so ein Gefühl, als ob auf einmal alle gleich alt sind. Vielleicht so, als wär‘s ein Zeltlager, nur mit Bands. Dieses Ding unter freiem Himmel und Sonnenschein, laute Musik vor vielen Schmuddel-Menschen zu spielen, ist einfach geil! Ein Erlebnis war defi nitiv das Highfield ´05. Wir sind damals für Moneybrother eingesprungen und pünktlich zum vorletzten Stück ist mir das Bassdrumfell gerissen... der Super-GAU. Aber Festival-Besucher sind sehr tolerante Menschen! Welche Frage wolltest Du schon immer mal gestellt bekommen? Wer kommt Deiner Meinung nach ins Finale bei „Germany‘s Next Pop Model“? weitere Informationen gibt es unter www.alleselke.de EL*KE wurde abgecheckt von Andreas Voland. S und V feat.: Siestes électroniques »Wir wollen ein großes Lächeln in die Gesichter zaubern« Fotos[M]: www.les-siestes-electroniques.com 12 Les Siestes électroniques – das Festival für zeitgenössische Musik in Toulouse, Frankreich: Das Programm liest sich wie das who is who der aktuellen Musikszene, umsonst und draußen ist es auch noch. Wir haben uns gefragt, was die Organisatoren denken, kommerzielle Aspekte beleuchtet und nach der Idee hinter der ganzen Geschichte gesucht. Rubrik: Interview W as erwartet die Zuhörer in diesem Jahr, wenn sie Les Siestes besuchen? Impuls gebende, intuitive Instrumente (Tenori-On), Vorreiter der elektronischen Musik (Atom Heart, Andrew Meecham, Smith n Hack), eine Einladung zu einer inneren Reise durch Geist und Körper (Turzi, Lindstrom) und treibende Tanzmusik (Damian Lazarus, Dapayk und Padberg), französische Sänger (Bertrand Burgalat and Les Shades, Sebastian Tellier), Folkinterpreten (Damon & Naomi), eine Portion Funk, heimliche Stars und grelle Bands! Klingt nach einem spannenden Programm und einem hervorragenden Line-Up. Doch was ist daran innovativ? Zunächst die Tatsache, dass die Hälfte aller Konzerte keinen Eintritt kostet und in einer entspannten und chilligen Atmosphäre stattfi ndet. In einem Park, am Samstag und Sonntagnachmittag... klingt fantastisch, oder? Du kannst mit Kindern und Freunden vorbeikommen, im Gras liegen und ein vielfältiges Programm erleben. Ich denke, das ist es, was das Festival so besonders macht. Und dann versuchen wir immer, diese Atmosphäre mit speziellen Konzerten an besonderen Orten zu kombinieren. Welche neuen Impulse sind zu erwarten? Nichts Bestimmtes. Ich würde sagen, wir wollen den neuen Besuchern ein großes Lächeln in die Gesichter zaubern. Wir versuchen, in diesem Jahr weniger spezialisiertes Programm anzubieten, vielleicht ein bisschen mehr French zu sein. Ich hoffe, wir können unser Publikum auf diesen Weg mitnehmen und mit neuen Gesichtern vermischen, die zum ersten Mal zu einem unserer Konzerte kommen. An welchen Orten fi nden Les Siestes in diesem Jahr statt? Wie auch in der Vergangenheit bespielen wir verschiedene Bühnen in der Stadt Toulouse. Wir werden das Festival im Museum für zeitgenössische Kunst eröffnen, dann werden wir zwei besondere Nächte in einem Gerichtshof aus der Zeit der Renaissance verbringen, unsere kostenlosen Open Air-Konzerte am Samstag und Sonntag in einem Park direkt in der Mitte der historischen Altstadt und – natürlich – unsere Samstagnachtparty in einem neuen Club. Warum habt Ihr Euch für diese Orte entschieden? Wir suchen in Zwei-Jahres-Rhythmen nach neuen Orten für unser Programm. Ausgenommen ist lediglich der Open Air-Teil im Park. Die Plätze, die wir aussuchen, haben immer einen besonderen kulturellen, meist historischen Hintergrund und architektonischen Anspruch. Auch wenn es oft komplexer ist, so etwas zu organisieren, gibt uns das Ergebnis Recht. Es fügt dem immer etwas Besonderes, ein i-Tüpfelchen, ein »je ne sais quoi« hinzu und außerdem gibt es in Toulouse keinen Ort, der wirklich zu unseren musikalischen Bedürfnissen passt. Ihr habt auch deutsche Künstler gebucht. Denkst Du, dass es Unterschiede zwischen deutscher und französischer Open Air-Festival-Kultur gibt? Ich bin mir nicht sicher. Aber ich glaube, dieses Open Air-Ding ist leichter in Deutschland, besonders in Berlin. In Frankreich schließen die meisten öffentlichen Parks ihre Pforten um 20 Uhr. Wir benötigen mindestens eine Autorisation und müssen dann sehr sorgfältig mit den Sicherheitsbestimmungen umgehen und bla bla bla… Und natürlich rede ich nicht über die große Masse der Festivals wie Les Eurockéennes in Frankreich, Rock am Ring in Deutschland oder Roskilde, Sziget, Pukkelpop, Benicàssim, Big Chill und so weiter – sind überall der gleiche Mist. Ich denke, das ist die Globalisierung. Zu Les Siestes allgemein: Wie lange gibt es Euch schon? Jetzt sieben Jahre! Wer steht hinter Les Siestes? Eine Gruppe von 20 ehrenamtlichen Mitarbeitern und anderthalb festen Stellen. Wir nennen uns Association Rotation. Wie entstand die Idee? Das erste Mal fanden Les Siestes électroniques im Jahr 2002 statt. Nichts war damals vorherzusehen. Wir fragten die Stadt, ob wir einen öffentlichen Park nutzen könnten, um einige ruhige elektronische Konzerte zu organisieren. Die Verantwortlichen sagten »Ja« und die Sache begann. Gibt es so etwas wie ein Gruppencredo, eine Grundphilosophie? Schräge Musik, die das Herz der Öffentlichkeit erreichen kann. Untergrundkünstler, die in der Lage sind, zu Herrn Jedermann zu sprechen. So gesagt, ist da noch eine Menge zu tun! Habt Ihr jemals an der Idee gezweifelt? Jedes Mal vor dem Start des Festivals, und dann verschwindet der Zweifel genau nach dem Ende des Festivals. Wie haben sich Les Siestes entwickelt? Wir sind sehr schnell gewachsen. Angefangen mit 1500 Besuchern waren es bald 10 000 Besucher. Jetzt haben wir so ungefähr 6000 oder 7000 und ich denke, es wird nicht mehr stark wachsen. Das Festival hat nicht das Ziel, so groß zu wachsen, dass es unvermeidlich wird. Wir wollen die Dinge defi nitiv einfach halten. Gab es eine Phase der Stagnation? So würde ich das nicht sagen. Die Größe spielt keine Rolle. Wichtig ist die Qualität. Wir wollen ein besseres Line-Up, wir wollen unserem Publikum wunderbare Künstler präsentieren und wir wollen Künstler, die sich ihres Kurzaufenthaltes in Toulouse erinnern, weil es unvergessliche Momente waren, die sie hier erlebt haben. Das ist es, was wir wollen. Und es ist etwas, woran man arbeiten muss. Welche Rolle spielen Frauen in der elektronischenAvantgarde? Dieselbe wie Typen. Die Musik von Männern bringt Dich manchmal zum Weinen. Und eine Frau kann Dich mit ihrer Musik total rocken. Arbeitet Ihr mit Festivals aus anderen Ländern zusammen? Im zurückliegenden Jahr haben wir eng mit dem Club Transmediale (Berlin) zusammengearbeitet. Wir haben auch Konzerte in Lettland, den Niederlanden und Ägypten organisiert. Und wir sollten am Ende dieses Jahres einen kleinen Abstecher nach Tokio machen. Wir sind Teil eines europäischen Netzwerks, das Festivals in Norwegen (Numusic), Großbritannien (FutureSonic), Rumänien (Rokolectiv), Serbien (Dispatch) und vielen anderen Ländern umfasst. Zum lieben Geld: Wie fi nanziert Ihr Euch? Zu einem Drittel durch die Einnahmen aus dem Barbetrieb und den Eintritten spezieller Konzerte. Die anderen zwei Drittel stammen aus öffentlichen Geldern. Die öffentliche Hand als Förderer innovativer Ideen. Wer schaufelt da wem ein Grab? Wenn der Stadtrat und der Staat die Finanzierung stoppen, müssen wir aufhören. So einfach ist das. Aber das bedeutet nicht, dass wir sie zu unterstützen haben. Ihre fi nanzielle Hilfe ist neutral. Sie bitten nicht um Unterstützung und wir werden keine politische Position während des Festivals einnehmen. Als Mensch ja, aber als Kurator und Direktor nicht. Künstler können sich engagieren, Festivals sollten es nicht tun. Kann man als Veranstalter von Les Siestes leben? Ich fürchte nein. Noch nicht. Vielleicht… Und warum sollten wir uns aus Deutschland auf den Weg zu Euch begeben? Um die südfranzösische Art des Lebens zu genießen. Wenn Du es satt hast, auf Festivals zu sein, wo drei Bands gleichzeitig spielen und in einer 7000-Menschen-Meute zu stecken. Wenn Du keine Lust hast, schlechte Locations mit billigem Bier zu ertragen. Dann sind Les Siestes genau das Richtige für Dich. Zum Abschluss: Welchen Künstler würdest Du gern für Les Siestes entdecken? Denjenigen, der das Line-Up 2009 trägt, kenne ich noch nicht. Derjenige, der nur in meinen Träumen spielt: Yellow Magic Orchestra, David Sylvian, Tussle, François K ... Lena Mauer und Martin Schirdewan sprachen mit Samuel Aubert. Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche: Lena Mauer und Martin Schirdewan. www.les-siestes-electroniques.com www.myspace.com/siesteselectroniques Les siestes électroniques fi nden in Toulouse vom 25. bis zum 29. Juni statt. 13 14 Poetry Slam: Mit Essen spielt man nicht. Allesfresser von Ivar Bahn Illustration: Florian Bielefeldt Alles, was draußen gedeiht und wächst, kann man essen? Unser Dichter sieht das genauso und ganz anders. A Allesfresser. Wie das schon klingt! Na gut, auf irgend ´ne Kreatur bezogen, geht das sicherlich in Ordnung, oder auf so ein paar Wilde da irgendwo. Aber auf uns Zivilisierte, Kniggevorbelastete, fein mit Messer und Gabel Hantierende und sich nach jedem fettigen Häppchen wacker die Mundwinkel Abtupfende? Niemals! Seit wir nicht mehr daneben stehen müssen, wenn am Tier der Aderlass, die Prozedur des Rupfens oder Fellabziehens, des Ausnehmens und Zerlegens vollzogen wird, haben wir die Distanz zum Geschehen in eine angenehm hochkulturelle Art des Verzehrs umwandeln können. Wir stopfen uns also die Keule nicht mehr in eine der Backen da oben hinein oder gleich in beide, oder reißen an ihr bis die Sehnen des gekochten, gebratenen, gebackenen, am Spieß gedrehten Torso nachgeben, dessen fehlende Teile in ´ner Abdekkerei vor sich hin faulen bevor sie als unauffällige Zutat in manch anderes Fresserchen wandern, nein, jeder Bissen wird mit dem beigefügten Werkzeug passend gemacht, so mundgerecht vorbereitet, dass wir unser vornehm gewordenes Mäulchen nicht mehr so weit aufsperren müssen, wenn wir uns die Schmäckerchen einführen. Wir spitzen also unsere Lippen mehr als dass wir Zähne zeigen. Letzteres heben wir uns doch für ganz andere Vorgänge auf, nicht wahr? Natürlich ist diese ganze verdeckte Schlächterei einigen von uns Zivilisierten mehr als suspekt, so dass diese sich gänzlich dem Fleischverzehr verweigern und im Tofu oder einem anderen Ersatz ihr Heil fi nden. Unter denen wiederum gibt es nicht wenige, welche gleich noch auf solche Tiernebenprodukte wie Eier, Milch, Käse, Quark verzichten, um so ihrer kritischen Meinung zum Umgang mit den Tieren durch uns Zivilisierte Ausdruck zu verleihen; man denke nur an die unartige Haltung der armen Kreaturen, hineingepfercht in Gatter und Stallungen; Rumpf an Rumpf, dass ihnen nicht mal mehr Federn wachsen oder ein dickes Fell, sie sich gegenseitig hacken, beißen, tot trampeln, was zudem auch noch Aufzucht genannt wird und nichts weiter ist als pharmazeutisch begleitete Hochgeschwindigkeitsmästung. Dazu die Tiertransporte quer durch die Kontinente ohne Zwischenstopp, Reinigung, Wasser oder die industriellen Massenschlachtungen in riesigen Fabrikhallen. Wenn dann das Zeug mit einem ständig aktualisierten Verzehrdatum versehen ist und gut ausgeleuchtet in der Theke ausliegt, werden immer noch Millionen von uns schwach und schlagen zu, sich die Ranzen voll, stopfen kunstvoll ihren Naturdarm, bis der ausgefeilteste, weil meist beanspruchte aller unserer Muskeln Stimulanz erfährt und erstes Entfahren einsetzt – ein klasse Gefühl –, um anschließend die vielen überdimensionierten Klärgruben voll zu scheißen. Was für ein Kreislauf! Wenn das Zeug dann wieder auf den Feldern landen und deren Erträge der Mästerei wieder zugeführt werden würden; man käme nicht umhin, von Vollendung zu sprechen. Wie aber schon gesagt, alle machen das nicht mehr mit, futtern nur noch Bäume, mit und ohne Rinde, Wurzeln, Buschwerk, überhaupt Pfl anzen und müssen lediglich aufpassen, dass ihnen nicht aus Versehen eine fleischfressende untergejubelt wird. Was es da inzwischen nicht alles schon für Sparten gibt, oder präziser formuliert Spartaner: den SemiVegetarier zum Beispiel, der gerade so noch Fisch und Geflügel durchgehen lässt, den Pesco-Vegetarier, der nur noch Angeln geht, den Ovo-Lacto-Vegetarier, der nichts außer Eier, Milch, Käse futtert, den Lactocus, der sich aus Eiern nichts macht, zu Ostern also gar nicht hier ist, dafür Milch, Milch und nochmals Milch gleich aus solchen Kannen säuft, die früher und in manchen Gegenden heute noch an den Dorfstraßen zum Abholen bereit stehen, dann den Makrobioten, der sich mit Vollgetreide, Bohnen, Soya, Algen und Fisch vollstopft und dessen Schiss bei weitem nicht so stinkt wie meiner, den Veganer, der ohne alles Tierische auskommt (nicht mal mehr Geschlechtsverkehr hat?) und den Fruitaner, der keine Krimis liest, hört, anschaut, grundsätzlich nichts Gemordetes zu sich nimmt, also auch nichts Entwurzeltes oder Abgepflücktes. Dass Tiere was fühlen, wissen wir, seit in jedem zweiten Haushalt mehr Kleintiere leben als Kleinkinder. Weswegen ja dieses leichte Umdenken eingesetzt hat. Ja, und dass Pfl anzen auch etwas fühlen müssen, beweisen schon allein die außergewöhnlichen Futtergewohnheiten der Fruitaner. Da geht‘s langsam luftig zu auf der Speisekarte. Nun kommen zu guter letzt noch die alten Indianer daher, halten einen wohl behüteten Stein in der Hand und behaupten so stur, wie sie sich schon ihrer Vertreibung in die an sich doch ganz hübschen Reservate widersetzen wollten, dass Steine auch leben. Da klappt manch weit herum gekommenem Vegetarier doch die Kinnlade auf die Zehen. Den Allesfresser juckt so was ja nicht weiter, der spachtelt ohnehin wie eh und je alles in sich hinein. Aber diejenigen, die sich beim Umgang mit ihrer Umwelt was gedacht, Verantwortung übernommen, sich beschränkt haben und dabei auf allerlei eingefleischten Widerstand gestoßen sind, die muss es ja böse erwischt haben, als der alte Häuptling seinen Fusel abstellte und mit seinem Findling vor unserer allgegenwärtigen Kamera herumfuchtelte. Nicht mal mehr auf Granit beißen zu dürfen – Höchststrafe fürs Menschenwesen! Also, so der Allesfresser, kann ich doch gleich da weiter machen, wo ich noch nie aufgehört habe. Ja, aber was tut nun der besonnenere, bewusstere Ernährungstyp, der prinzipienfestere, der alternative? Dem bleibt wohl nichts weiter übrig als zu verhungern, wenngleich er sogar dem Gestein einen gewissen Nährwert abgewinnen könnte. Immerhin sind seinem trotzigen Körper Entbehrungen keine Unbekannten und manche Sande bekommt man mit ein wenig Regenwasser schon in Richtung Magengrube bewegt. Und der Indianer, von irgendwas anderem außer seinem prima Sprit muss der doch auch leben, bevor er wieder zu Erde und dann zu Stein werden kann, seinem Stein! Tja, das haben die nun davon! Zumindest diejenigen, welche ihre Positionierung in der Nahrungskette eiskalt manipuliert haben. Zur Abwechslung ein klein bisschen Steinzeit würde unserer Welt vielleicht ganz gut tun. Wenn die sich überhaupt drum schert! Um unsern Scheißdreck! Die dreizehn Fragezeichen: Zeugs für lau 15 ZEHN Wenn Umsonstläden in den hippen Großstädten unserer Republik Flatterstände aufbauten, wäre das Umsonst&draußen-Konzept perfekt. Sie aber begnügen sich meist mit etwas schummrigen, urgemütlichen Schmökerschuppen, in denen der Aufstand gegen ökonomische Diskriminierung geprobt wird. Warum braucht die Welt unbedingt einen Umsonstladen? Um zu zeigen, dass es möglich ist, dass nicht alles auf Konkurrenz, Geld und Profit basieren muss. Die Welt kann auch so funktionieren. Die Welt braucht nicht einen Umsonstladen, sondern viele. Es gibt drei Gründe für Umsonstläden: Einen politischen Grund, einen sozialen und einen ökologischen. Der politische Grund: Wir brauchen ein anderes Wirtschaftssystem, in dem der Austausch zwischen Menschen nicht nur über Geld passiert. Der soziale: Menschen mit geringem Einkommen bekommen Dinge, die sie brauchen, aber nicht bezahlen können. Der ökologische: Dinge, die sonst auf dem Müll landen würden, bekommen einen neuen Nutzer und müssen nicht nochmals produziert werden. Was ist die Idee, Philosophie, Botschaft des Ladens? Ich sehe den Laden nur als Anfang, Teil eines größeren Netzwerkes der Selbsthilfe. Wir bauen beispielsweise gerade Nutzungsgemeinschaften für diverse Dinge auf. Die Leute organisieren sich eine Alternative zur Erwerbsgesellschaft. Sie teilen so Wissen, Fähigkeiten etc.. Natürlich ist das Ganze auch eine Kritik am Kapitalismus. Ich verbinde sehr viel mehr mit dem Projekt als nur den Laden. Darüber gibt es bei den Beteiligten aber unterschiedliche Ansichten. Siehe erste Antwort. Was ist am üblichen Prozedere – Ware gegen Geld, Geld gegen Ware – auszusetzen? Wenn produziert wird, um letztlich Geld zu verdienen, Profit zu machen, kommt es häufi g vor, dass dabei Dinge entstehen, die die Menschen gar nicht brauchen. Das Angebot in der Marktwirtschaft richtet sich nicht nach den Bedürfnissen, sondern nach der mit Kaufkraft ausgestatteten Nachfrage. So kommt es, dass nicht nur zum Teil das Falsche, sondern zu viel oder zu wenig produziert wird. Das Problem ist, dass Geld ein Ausschlussfaktor ist. Viele, ja immer mehr Leute werden durch Geld von der Teilhabe an der Gesellschaft ausgeschlossen. Wie funktioniert Euer Umsonstladen praktisch? Menschen bringen Dinge vorbei, die zwar brauchbar sind, aber von ihnen nicht mehr benötigt werden. Andere können die mitgebrachten Gegenstände einfach mitnehmen. Einzige Regel ist die 3-Teile-Regelung: Jeder darf pro Besuch nur drei Dinge mitnehmen, egal ob er zuvor etwas mitgebracht oder nicht. Bei uns gibt es eigentlich keine Formalitäten. Die Sachen müssen funktionstüchtig sein und nur selber eingeräumt werden. Man muss nichts abgeben, um was mitzunehmen. Wer die Dinge nicht mehr braucht, bringt sie wieder zurück. Wir sind hier keine Kontrollanstalt. Wie ist die Resonanz auf Euren Laden? Sehr positiv. Es kommen pro Öffnungszeit (drei Stunden) 30 bis 50 Leute. Wir haben fast ständig Nutzer im Laden. Das schwankt aber stark mit der medialen Aufmerksamkeit für den Laden. Welche Leute besuchen Euren Laden? Natürlich zum einen eher Bedürftige. Sonst schon alternative Leute, die was mit Second-Hand anfangen können und so. Alternative ist da eine bessere Bezeichnung als Linke. Das hier ist eher eine Werte- als eine politische Geschichte. Ganz unterschiedliche Leute. Es ist aber zu bemerken, dass Bedürftige eher mehr mitnehmen als die Nutzer, die viel bringen und eher wenig mitnehmen. Was meinst Du – teilen Eure Kunden die Idee hinter dem Laden? Nicht so sehr wie wir gerne hätten. Es gibt zu viele, die einfach nur abgreifen wollen. Und andere, die ihre Sachen einfach nur loswerden wollen und dies dann als Spende betrachten. Es fi ndet also weniger ein Austausch unter Gleichen statt, sondern eine Art Umverteilung. Die Leute sehen den Laden schon eher praktisch. Was dahinter steht, eher nicht. Welche Sachen werden denn so abgegeben? Was habt Ihr da? Eigentlich alles Mögliche. Wir nehmen nur Dinge, die nicht zu viel Platz wegnehmen. Am meisten Bücher, Bekleidung und Hausrat. In diesen Segmenten ist die Auswahl in unserem Laden meistens so groß, dass sich für jeden etwas Geeignetes fi nden lässt. Vor allem Bücher und Kleidung – nicht selten auch richtig wertvoll (Anzug). Es gibt ein paar hochwertige Sachen, elektronische Dinge (Drucker etc.). Eine Digitalkamera war auch schon hier. So was ist dann schnell wieder weg. Wie fi nanziert Ihr Euch (Miete, Strom), wenn Ihr nichts verkauft? Wir werden durch das EU-Projekt Jugend in Aktion gefördert, bei dem wir uns erfolgreich mit der Idee beworben haben. Dann durch Spenden und Patenschaften (zwei Euro im Monat). Mehr als die Hälfte der Kosten können wir so schon allein stemmen. Der Laden fi nanziert sich durch Spenden. Arbeitet ihr nebenbei noch in richtigen Berufen, um Geld zu verdienen? Ja. Bei den Ehrenamtlichen ist es sehr unterschiedlich: Einige gehen arbeiten, andere gehen studieren und wieder andere bekommen Transferleistungen. Braucht man für das Betreiben des Laden nicht eine gehörige Portion Idealismus und Enthusiasmus? Ja. Sicher, aber Idealismus ist irgendwie nicht der passende Begriff. Wir helfen ja wirklich Menschen. Gibt es Probleme (z.B. mit dem Ordnungsamt, Handelsverbänden)? Nein. Nein. Schon mal am 1. Mai ´nen Supermarkt geplündert? Wenn nein, warum nicht? Nein. Erstens ist es verboten. Und zweitens fi nd ich’s unpolitisch. Na klar, wir plündern regelmäßig Supermärkte. Gehört doch dazu. Felix, Chefideologe und Mitbegründer des Schenkladen Friedrichshain Scharnweberstraße 29, Berlin www.systemfehler-berlin.de.vu Robert vom Umsonstladen freeshop Brunnenstraße 183, Berlin www.umsonstladen.info Die Gespräche führten Maximilian Staude und Thomas Feske. Täglich. Kritisch. Anders. Foto: aurelius/PIXELIO Ja, ich teste »Neues Deutschland« 14 Tage lang kostenlos und unverbindlich. Vorname, Name Tel.-Nr. (für evtl. Rückfragen) Straße, Hausnummer Datum, Unterschrift Abonnent/in PLZ, Ort DM-FA-PO-SVPO Neues Deutschland, Aboservice Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin [email protected], www.neues-deutschland. Fotos[M]: dreamstime.com Die linke Tageszeitung aus Berlin. Jetzt kostenlos testen. Druck von Links. WIR SIND ÜBERALL ZU HABEN In D e r N a c h s t e n FIT FÜR DIE Ausgabe Revolution FIT FÜR DIE INVASION? SCHWEIZER NATIONALISTEN UND DIE FUSSBALL EM FIT FÜR DIE INTEGRATION? ASYLBEWERBER BEIM DEUTSCH LERNEN DIE NÄCHSTE AUSGABE VON SACCO UND VANZETTI ERSCHEINT AM 13. JUNI 2008. Sacco und Vanzetti wird an fast allen Unis in den neuen Ländern verteilt. Internet: myspace.com/saccoundvanzetti Liebe Leser, Anregungen, Kritik und Manuskripte bitte an: [email protected] Foto [M]: photocase.de Foto: Ruth Steinhof impressum Redaktion: Martin Schirdewan (V.i.S.d.P.), Thomas Feske. Autoren dieser Ausgabe: Maximilian Staude, Agata Waleczek, Eva Flemming, Paul M., Alexander Koenitz, Claudia Goldberg, Karsten Schmidt, Andreas Voland, Christina Nowotny, Anne Kirchberg, Ivar Bahn. Unter Mitarbeit von: Sebastian Frindte, Uwe Heide, LichtblickKino, EL*KE, Samuel Aubert, Lena Mauer, Felix vom Schenkladen Friedrichshain, Robert vom Umsonstladen, PaCo. Graphische Gestaltung: Stephan König, Martin Deffner, genausoundanders.com Herausgeber: Neues Deutschland Druckerei und Verlag GmbH Projektmanagement: Christoph Nitz Anzeigen: Dr. Friedrun Hardt (Leitung) (030) 2978-1841, Sabine Weigelt (030) 2978-1842, E-Mail: [email protected], Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 18 vom 1. Januar 2008. Es blühen die Themen Marian Bantjes ca lässt Bilder aus Schrift enstehen Jonathan Barnbrook gb veranschaulicht, wie Schrift unsere Zeit ausdrückt Ed Benguiat us blättert durch ein Leben voller Schrift David Berlow us stellt ein millionenschweres Schriftprojekt als Statussymbol vor Oded Ezer il hat Typografie aus Israel im Reisegepäck Daniel M. Hartz de zeigt, wie die modernsten Fotos in der Werbung entstehen Steve Heller us erklärt das Design totalitärer Regime Alison Jackson gb spielt mit unserer Sucht nach Bildern von Prominenten Jim Rakete de durchbricht das Image prominenter Menschen Stefan Sagmeister at us verschenkt seine 20 wichtigsten Erkenntnisse Christian Schwartz us über das Schriftprojekt des New York Times Style Magazin Erik Spiekermann de zeigt Schrift als Werkzeug der Unternehmenskommunikation Dieter Telfser at kommt nicht nur mit Maskenbildnerin auf die Bühne Kurt Weidemann de über zeitlose, gute und schlechte Werbung und viele mehr TYPOBerlin2008 .img typoberlin.de 13. Internationale Designkonferenz Thema: Image 29. – 31. Mai 2008 im Haus der Kulturen der Welt