II. Die Aufarbeitung der Studentenbewegung – Uwe Timm 1. Die
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II. Die Aufarbeitung der Studentenbewegung – Uwe Timm 1. Die
II. Die Aufarbeitung der Studentenbewegung – Uwe Timm 1. Die bedeutendsten Werke im Überblick Peter Schneiders Erzählung Lenz (1973) Karin Strucks Roman Klassenliebe (1973) Uwe Timms Romane Heißer Sommer (1974), Kerbels Flucht (1980), Rot (2001) und Erzählung Der Freund und der Fremde (2005) Bernward Vespers Romanessay Die Reise (1977) Eva Demskis Romane Goldkind (1979), Scheintod (1984) 2. Uwe Timm – der Hauptvertreter Leben - geb. 1940 in Hamburg - kein bequemer bürgerlicher Bildungsweg: Kürschnerlehre, Übernahme des Pelzgeschäftes von seinem Vater nach dessen Tod, Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg (Mitschüler von Benno Ohnesorg), Studium der Philosophie und Germanistik in München und Paris - 1967/68 München – politische Tätigkeit im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS): Agitproplyrik, Straßentheaterstücke - Dissertation Das Problem der Absurdität bei Albert Camus (1971) - 1970/72 Studium der Soziologie und Volkswirtschaft in München (abgebrochen) - 1973/81 Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) - seit 1971 freier Schriftsteller Allgemeine Charakteristik des Werks - Erzählprosa, Lyrik, Kinderbücher, Essays, Hörspiele und Drehbücher - Anfänge: politische Lyrik, schnörkelfreie Prosa mit wirkungsvoller Komposition - seit Mitte der 70er Jahre: Mittelweg zwischen der experimentellen Literatur und der Neuen Subjektivität, programmatischer Aufsatz Zwischen Unterhaltung und Aufklärung (publiziert 1972 in der Zeitschrift kürbiskern): seine Methode = 14 subjektiver Realismus, „der mit der Einbeziehung von Subjektivität [...] die Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse [...] vertiefen will“ (Zwischen Unterhaltung und Aufklärung) - drei zentrale Themenkreise von Timms Erzählprosa: a) die Studentenbewegung, b) der Kolonialismus und Postkolonialismus, die von der Studentenbewegung kritisiert und deren Aufarbeitung von der Studentenbewegung gefordert wurden, c) die NS-Zeit, die ebenfalls von der Studentenbewegung kritisiert und deren Aufarbeitung ebenfalls von der Studentenbewegung gefordert wurde Die Aufarbeitung der Studentenbewegung a) Heißer Sommer (1974) - Timms erster Roman - eine optimistische sozialistische Entwicklungsparabel - Hauptfigur = Germanistikstudent Ullrich Krause, sein Weg vom passiven Studenten des unpersönlichen und anonymen Studentenbetriebs, der erotische Abenteuer mit Frauen patriarchalisch auslebt, zum aktiven Teilnehmer der Studentenbewegung (Teilnahme an der Arbeit der SDS-Gruppe und an Straßentheater-Aufführungen vor Fabriken) - die Entwicklung im klassischen und schematischen Dreischritt: 1. Hauptfigur = unbeschriebenes Blatt – enttäuschter Germanistikstudent, lustlose Arbeit an einem Referat über Friedrich Hölderlin, Lebensleere, wechselnde Bettgenossinnen 2. Lernprozess der Hauptfigur – Tod von Benno Ohnesorg = politische Initialzündung, Teilnahme an Veranstaltungen der Studentenbewegung, Beitritt zum SDS, Umzug in eine Wohngemeinschaft, Beschäftigung mit der Arbeiterliteratur der 20er Jahre, Frustration infolge des Seminarmarxismus und des Dogmatismus der SDS-Gruppen 3. klar definierte Lebensperspektive und politische Programmatik – StraßentheaterAufführungen vor Fabriken, Arbeit in einer Fabrik, Begreifen der Bedeutung der kleinen politischen Schritte, Rückkehr nach München = zwar ernüchtert, aber vom Sozialismus überzeugt - diesem Dreischritt entspricht der dreiteilige Aufbau des Romans - positiv: handwerkliches Können (Komposition, Montage-Technik, Leitmotive, spannendes Erzählen, Witz, Dialoge), gutes Gefühl für die Zeitatmosphäre 15 - negativ: Krause = eine Demonstrationsfigur, Zeitgeschichte fungiert als ein „Signalsystem“ (Hermann Peter Piwitt), das dazu herhalten muss, den Protagonisten von einer Stufe seiner Entwicklung zur nächsten zu befördern, andere Figuren = eine Galerie von Typen, am Rande literarischer Klischees b) Kerbels Flucht (1980) - Timms dritter Roman - Rückblick auf die Studentenbewegung, Desillusionierung infolge der 70er Jahre (Radikalisierung der Studentenbewegung – Terrorismus, Aufsplitterung in viele sich dogmatisch bekämpfende linke Sekten, Ende des Traums von der möglichen Gesellschaftsveränderung) - Hauptfigur = Christian Kerbel: Nachfahre Ullrich Krauses, zugleich eine kritische Gegenfigur zu ihm, Germanistikstudent, der seine Dissertation über Adalbert Stifter nicht zu Ende führt und als Taxifahrer arbeitet, Erinnerungen an sich selbst (politischer Aktivist von einst) wie an eine andere Person, Pessimismus – Resignation, Aussteiger der 70er Jahre - Realitätsverlust bei den beiden Figuren: Krause – manisches, fremdbestimmtes Streben nach Veränderung, Kerbel – trüber Weltschmerz und Wahn - Kerbel = ein moderner Werther: aus der Bahn seines Lebens durch den Verlust der Geliebten Karin geworfen, er sieht keine Perspektive in der politischen Arbeit, er gibt sich nicht geschlagen (z. B. Auseinandersetzung mit Karins neuem Freund Heinrich und Kontakte zu einer Landkommune), Ekel vor Wirklichkeit, er beginnt zu trinken, Verlust des Gelegenheitsjobs als Taxifahrer, seine Verzweiflungstat (ohne Führerschein, Ignorieren der Haltesignale bei einer Polizeikontrolle, Flucht) führt zum Tod im Kugelhagel der Polizei) - Form = das hinterlassene Tagebuch: Dokument einer Selbstzerstörung, Protokoll einer individuellen Verstörung, zunächst Ich-Form, dann benutzt Kerbel die Er-Form (Signal für seinen Wahn), die Umstände des Todes durch einen anonymen Herausgeber nachgetragen - positiv: der Roman zielt auf einen allgemeinen Zustand bürgerlicher Subjektivität (ihre Neurosen und Gefährdungen), präzise Beschreibung der Mentalitätslage des Protagonisten 16 - negativ: es wird nicht ausreichend deutlich, wie diese Mentalitätslage entstand, keine überzeugende Verbindung der historischen Bezüge (Johann Wolfgang Goethe, Heinrich von Kleist, Georg Büchner) mit der Geschichte Kerbels – die Literaturgeschichte dient als „Signalsystem“ (alte Figuren werden modern kostümiert, Kerbel muss in die historische Rolle schlüpfen, damit seine Geschichte tiefere Bedeutung gewinnt) c) Rot (2001) - Roman - Abgesang auf die 68-er-Zeit mit ihren Träumen und Hoffnungen, Aufdeckung eines falschen und angsterfüllten Lebens eines Menschen, der die Illusionen von einst nie ganz loslassen und nicht zeitgemäß leben konnte - Hauptfigur = Ich-Erzähler Thomas Linde: 56 Jahre alt, der studierte Philosoph bestreitet seinen Lebensunterhalt mit Jazzkritiken und Begräbnisreden, tragischer und zugleich tragikomischer Vertreter einer desillusionierten Generation - bereits in Timms Roman Johannisnacht (1996) tritt als Nebenfigur ein anonymer Begräbnisredner auf, der mit Linde identisch sein kann - Erzählsituation = kurze Zeitspanne zwischen Leben und Tod: der Ich-Erzähler sieht seinen eigenen, von einem Auto überfahrenen Körper auf einer Berliner Kreuzung liegen, Erzählen von den letzten Tagen und Wochen seines Lebens - zwei thematische Schwerpunkte des Erzählten: 1. die Geschichte von Lindes Beziehung zu der um zwanzig Jahre jüngeren Lichtdesignerin Iris, 2. die Geschichte einer Wiederbegegnung mit der eigenen politischen Vergangenheit - Präsentation des Erzählten = Begräbnisrede mit vielen Episoden, Anekdoten und Assoziationen - Interpretation des Titels: der Ich-Erzähler will einen Aufsatz über die Farbe Rot schreiben, Farbe der Leidenschaft und der Revolution, Farbe des Bluts, eine Farbe der Verkehrsampel auf der Kreuzung - positiv: virtuose Arbeit mit literarischen Techniken (Mischen von Zeitebenen, Gestaltung der Figuren, der Dialoge und Monologe), leichte, unterhaltsame Art des Erzählens - negativ: Timm schlägt keinen wirklich dramatischen Bogen über die Erzählsplitter hinweg, die Gegenwarts- und die Vergangenheitshandlung bleiben verschwommen 17 d) Der Freund und der Fremde (2005) - autobiographische Erzählung, Timms wichtigstes Werk mit dem Thema „Aufarbeitung der Studentenbewegung“ - Versuch über die persönliche wie gesellschaftliche politische Entwicklung der BRD der 60er Jahre - „der Freund“ = Benno Ohnesorg: 1961/62 nach einer Berufsausbildung Timms Mitschüler am Braunschweig-Kolleg (ein Erwachsenengymnasium), Ziel der beiden – Studium, gemeinsame literarische Interessen (u. a. französischer Existenzialismus), dann Timms Studium in München und Paris, 1967 Ohnesorgs Erschießung - „der Fremde“ = Timm: seine menschliche, politische und literarische Identitätsbildung, vier Jahre nach der Trennung vom Freund Radionachricht von dessen Tod und Freispruch des Todesschützen, der aus „putativer Notwehr“ gehandelt habe, Folge – Timms Rückkehr aus München nach Paris - intertextuelle Bezüge zu Albert Camus’ Der Fremde: die beiden Mitschüler lasen gemeinsam Camus’ Roman, Lebenshaltung des Protagonisten Mersault = „indifférence“ (innere Unabhängigkeit, Gleichgültigkeit, Bindungslosigkeit) = Haltung des jungen Timm jener Zeit, Ausdruck des individuellen emotionalen Protests in einer Gesellschaft, die die Denk- und Verhaltensweisen der NS-Zeit in die 50er und 60er Jahre verlängerte, nach Timms Rückkehr aus Paris Aufgabe der „indifférence“ zugunsten der aktiven Teilnahme am gemeinsamen Protest - der Fremde = zugleich Ohnesorg: Timm kennt ihn zu wenig, er bleibt für ihn ein Rätsel - mehrere gescheiterte Anläufe, über sich selbst und Ohnesorg zu schreiben, fast vierzig Jahre nach dessen Tod: die eigene Lebensgeschichte + Annäherung und Abgrenzung vom Jugendfreund - positiv: aus eigener Anschauung gewonnene Erinnerungsbilder, anschauliche Darstellung der allgemeinen Stimmungen und Entwicklungen während der 60er Jahre, er gibt „der Ikone Benno Ohnesorg ihre Individualität zurück“ (Hubert Spiegel) - z. T. negativ: Passagen, die nur Ohnesorg betreffen – Timm musste ihre Umstände von anderen Personen (u. a. Ohnesorgs Verwandte, Freunde) erfragen - zusammen mit Rolf Bergmann 2008 der gleichnamige Dokumentarfilm gedreht 18 Die Aufarbeitung des Kolonialismus und Postkolonialismus a) Morenga (1978) - Timms zweiter Roman, sein Hauptwerk der 70er und 80er Jahre - historischer Roman mit einem klaren aktuellen politischen Engagement: Sympathie für die Länder der Dritten Welt, Entlarvung der Kolonialmentalität der Industrieländer - Stoff = Kolonialkrieg des Deutschen Kaiserreichs zwischen 1904 und 1907 in Deutsch-Südwestafrika (später: Namibia) gegen den Aufstand der Hereros und Hottentotten (schwarze Urbevölkerung) - Jakob Morenga = ehemaliger Minenarbeiter, Anführer des Aufstands, unterstützt von einer kleinen Schar der Freiheitskämpfer - deutsche Kolonialtruppen = an Zahl und Aufrüstung hochüberlegen - deutsche Schutztruppe – Auftrag der deutschen Regierung zum systematischen Vernichtungsfeldzug gegen die Eingeborenen - Resultat und Folgen des Krieges = Sieg der Deutschen, Völkermord an Urbevölkerung, Vetreibung der Hereros in die Wüste, Enteignung der Hottentotten und ihr Platzieren in Lagern nach englischem Vorbild - ein neuer Typ des historischen Romans: 1. gegen deutsche Kolonial-Romane (Gustav Frenssen, Hans Grimm) – geschichtsverfälschend, nationalistisch, nationalsozialistisch 2. gegen traditionelle historische Romane – historische Einfühlung mit Hilfe der fiktiven Handlung, damit Geschichte persönlich miterlebt werden kann - Komposition = Montage von: 1. authentischen Dokumenten (z. B. verschiedene militärisch-politische Dokumente, Zeitungsmeldungen, Zitate aus Kolonialmemoiren, Gedichte, historische, geographische und ethnologische Exkurse) 2. fiktiver Handlung (Ich-Form – Tagebuchaufzeichnungen des Veterinärmediziners Johannes Gottschalk, Er-Form – kurze Erzählberichte über Gottschalk) 3. Mythen und Legenden der anderen Kultur mit ihrer Geschichtserfahrung - durch Leerzeilen optisch betonte Gliederung in Abschnitte unterschiedlicher Länge, ständig wechselnde Perspektive, ein komplex organisiertes Mosaik aus heterogenen Teilen 19 - zentrale Figur = Gottschalk: Teilnehmer des Feldzugs, sensibler, leicht gehemmter bürgerlicher Intellektueller, antikriegerisch, aufgrund der eigenenen Erfahrung Entfernung von der Ideologie des Deutschen Kaiserreichs, Sympathie für die Welt der angeblich „Primitiven“, kein pathetischer Held – Bewusstsein seiner individuellen Ohnmacht, Rückzug in die Rolle des Beobachters, „Emigration“ ins Tagebuch b) Die deutschen Kolonien (1981) - Timm = Herausgeber des Fotobandes c) Der Schlangenbaum (1986) - Roman mit einem brisanten Thema: Verhältnis der Ersten zur Dritten Welt, Postkolonisalismus (wirtschaftliche Hilfe oder Ausbeutung?), Verhältnis von Ökonomie und Ökologie - Schauplatz = ein kleines, nicht näher bestimmtes Land in Südamerika, das vom Militär regiert wird - Handlung: das Projekt einer deutschen Firma, eine Papierfabrik in einem Urwald zu errichten, muss aufgegeben werden - Hauptfigur = Ingenieur Wagner: persönliche Krise – Zerfall seiner Ehe – Wunsch nach Veränderung, nach zwei gescheiterten Bauleitern übernimmt er die Leitung des Projekts, Vertrauen auf technische Rationalität – Glaube an die Machbarkeit der Dinge (wie Walter Faber in Homo faber von Max Frisch), viele Probleme (Sumpf, untaugliches Material, funktionsunfähige Maschinen, streikende indianische Arbeiter, Diktatur und Korruption im Land, Elend der breiten Massen, unbegreifliche Mentalität der Eingeborenen, rätselhafte Kräfte der tropischen Natur) - Ende = Wagners Kapitulation: Zweifel – Schuldgefühle – Ängste, das wuchernde Grün des gerodeten Urwalds verschlingt wieder die Fundamente seiner Fabrik, apokalyptische Vision (der große Regen wie eine Sintflut) - exemplarischer Entwicklungsroman - positiv: brisantes Thema, fremdartige Atmosphäre, Ereingisfülle wie im spannenden Abenteuerroman, handwerkliches Können - negativ: Wagner = Demonstrationsfigur ohne klaren psychologischen Umriss, schematisches erfahrungsarmes Buch, ein Konstrukt aus vorgefertigten Teilen (Dritte20 Welt-Thematik wie in Morenga, ein labiler, resignativer Held wie in Kerbels Flucht, Muster des exemplarischen Entwicklungsromans wie in Heißer Sommer) Die Aufarbeitung der NS-Zeit a) Am Beispiel meines Bruders (2003) - autobiographische Erzählung, neben Der Freund und der Fremde Timms Hauptwerk im Rahmen der Gegenwartsliteratur nach 1990 - Geschichte der eigenen Familie als exemplarische deutsche Familiengeschichte: der Umgang der Familie mit dem Tod von Timms 16 Jahre älterem Bruder – Verarbeitung der NS-Vergangenheit in der BRD der Nachkriegszeit - sorgfältig arrangierte Erinnerungssequenzen und einfühlsame Porträts der Familienmitglieder (Vater, Mutter, drei Geschwister - Hanne Lore, 2 Jahre jüngerer Karl Heinz und 18 Jahre jüngerer Uwe) - zugleich Reflexion darüber, wie Erinnerung entsteht und funktioniert - verwendete Quellen: schriftlich (Briefe des Vaters und des Bruders aus dem 2. Weltkrieg, Tagebuch des Bruders, das er an der Ostfront führte, obwohl es verboten war), mündlich (Erinnerungen der Eltern und der Schwester an den Bruder) - dank diesen Erinnerungen liegt über dem ganzen Leben des Erzählers der Schatten des „abwesenden und doch anwesenden“ Bruders - das Bild des „großen“ Bruders in der Erinnerung = Vorbild (Beispiel) für Uwe – tapfer, anständig, gehorsam - Ziel des Erzählers = Überprüfen dieses Bildes nach dem Tod der beteiligten Familienmitglieder, anhand schriftlicher Dokumente - Geschichte des Bruders: 18 Jahre alt (1942) freiwilliger Eintritt in die Waffen-SS, Arbeit in ihrer Elite-Einheit (Totenkopf-Jäger) als Panzerpionier, schwere Verwundung in der Ukraine (Amputation beider Beine), Tod im Oktober 1943 - keine eindeutigen Antworten auf die zentralen Fragen „Wie war der Bruder?“ „Wie sah der Bruder sich selbst?“: 1. Ursachen dafür = knappe, stichwortartige Tagebucheinträge mit Auslassung von Details und Zusammenhängen 21 2. Beispiel für innere Widersprüche = der Bruder bezeichnet die Luftangriffe auf Hamburg, wo die Familie wohnt, als „nicht human“, aber er zeigt kein Mitgefühl für die Leidtragenden des Kriegsgeschehens an der Ostfront 3. Beispiele für Spekulationen, die weder bestätigt noch widerlegt werden = der Bruder war vielleicht an den Kriegsverbrechen beteiligt, der Bruder hatte zum Schluss den Gehorsam gekündigt, weil er den Krieg für unsinnig und grausam hielt - das Bild des Vaters: kompliziertere Beziehung des Ich-Erzählers als zur Mutter und zur Schwester, Verallgemeinerung – Vätergeneration = „Tätergeneration“, die Väter fühlen sich durch den verlorenen Krieg degradiert, sprechen nicht darüber und versuchen, Schuld zu relativieren, Folge = Empörung der Söhne - Untermauerung der eigenen Beobachtungen und Erklärungsversuche durch Hinweise auf Erinnerungsbücher (z. B. von Jean Améry und Primo Levi) b) Halbschatten (2008) - Roman, Fortsetzung der „Ästhetik des Nachfragens, des Nachhorchens“ (Helmut Böttiger), die Timm in den letzten Jahren entwickelte - Rahmenhandlung: ein Schriftsteller (Ich-Erzähler) besucht mit einem Führer („der Graue“) den Berliner Invalidenfriedhof, auf dem Vertreter preußischen Militärs, Adlige, Diplomaten und Repräsentanten der NS-Diktatur (z. B. Reinhard Heydrich) begraben sind - Form der Rahmengeschichte = „fiktive O-Ton-Montage“ (Böttiger): die Stimmen der Toten sprechen aus ihren Gräbern, moderiert von dem „Grauen“ - geteilte Meinungen der Literaturkritik zu dieser Form: „grandioser Choral“, „der manchmal klingt wie improvisiert, dann wieder wie eine sorgfältig gebaute Fuge“ (Ulrich Greiner) – „viele Tonspuren nebeneinander“, so dass dem Roman vor lauter Stimmen „der eigene Ton“ fehlt (Paul Jandl) - Binnengeschichte = Geschichte der Frau, deretwegen der Schriftsteller den Friedhof besucht: Marga von Etzdorf – eine der ersten deutschen Pilotinnen, 1933 Selbstmord – eigenwillige Umdeutung der Nazis – Beerdigung als Heldin des NS-Staates - Binnenhandlung = Mischung aus Tatsachen und frei erfundenen Ereignissen: die letzten Jahre der Protagonistin – Fliegen, unerwiderte Liebe zum erfundenen Christian von Dahlem (ehemaliger Kampfpilot, jetziger Diplomat und Waffenschieber), Aufenthalt in Japan, wohin sie 1931 als erste Frau flog, Geldnot, 1933 durch von 22 Dahlem zu einem Spionageflug verleitet – Absturz bei einer Landung – Selbstmord durch Erschießen im syrischen Aleppo - Motivation zum Selbstmord = Rätsel: unerwiderte Liebe, Scham über die wiederholte Bruchlandung oder Erkenntnis, von von Dahlem als NS-Spionin missbraucht worden zu sein? - aus den Stimmen der Toten entfaltet sich das Monströse deutscher Geschichte, aus den Deutungen über den rätselhaften Freitod entfaltet sich ein besonderes Schicksal, das von Etzdorfs Grabinschrift erklärt und zugleich n Frage stellt: „Der Flug ist das Leben wert.“ Literaturhinweise Durzak, Manfred: Die literarische Aufarbeitung der Studentenbewegung: Uwe Timm, Peter Schneider, Eva Demski, Karin Struck. In: Barner, Wilfried (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. 2., erw. Aufl. München: Beck, 2006. S. 602-609. Kesting, Hanjo – Ruckaberle, Axel: Uwe Timm. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Kritisches Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Ordner 12. Sel-V. 4/2009. S. 1-23 und A-M. Schnell, Ralf: Die literarische Revolte. In: Schnell, Ralf: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Stuttgart - Weimar: Metzler, 1993. S. 420-424. www.uwe-timm.com 23