Die kulturelle Chiffrierung der Krise
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Die kulturelle Chiffrierung der Krise
Neoliberale Alltagsmythologien in der Krise Zwischen bürgerlichem Ressentiment und Gangsta Rap Von Max Lill (erschienen in: Sozialismus 5/2011, S. 52-59) Die Situation ist ernüchternd: Es knirscht gewaltig im Gebälk des globalen Kapitalismus, Währungsregime und Staaten geraten ins Wanken, sogar demokratische Umstürze und neue Kriege ereignen sich vor den Toren der Festung Europa. Auch in Deutschland verschiebt sich das politische Koordinatensystem grundlegend. Die Linke jenseits der Grünen aber bleibt, trotz Mobilisierungserfolgen in Gorleben und Stuttgart, in der Defensive. Bisher erntet v.a. der Rechtspopulismus die Früchte der verstärkt artikulierten Kapitalismuskritik.1 Diese missliche Lage hat wenigstens die eine erfreuliche Folge, dass Fragen nach der Entwicklung des Alltagsbewusstseins wieder etwas breiter diskutiert werden. Damit wird auch die einst von Antonio Gramsci, ebenfalls in Zeiten politischer Ernüchterung, ins Stammbuch der Linken geschriebene Forderung aktualisiert, wonach es gelte, die „Kasematten“ der bürgerlichen Ordnung in Kultur und Zivilgesellschaft schärfer ins Auge zu fassen. Als Beitrag hierzu sollen im Folgenden einige Aspekte der kulturellen Überprägung von Krisenerfahrungen diskutiert werden. Im Fokus stehen dabei klassenspezifische Varianten einer neoliberal gefärbten Alltagsmythologie, die eine emanzipatorische Wendung der Legitimationskrise bisher erschweren. Aufbauend auf einigen ideologiekritischen Grundüberlegungen, konzentriere ich mich dabei zum einen auf das aktuell zu beobachtende Erstarken bürgerlicher Ressentiments gegenüber sozial marginalisierten Gruppen. Zum anderen diskutiere ich die Einschreibung eines stark nihilistisch geprägten Individualismus in die Populärkultur prekarisierter Klassenfraktionen. Beide Phänomene sind m.E. eng aufeinander bezogen und beide implizieren eine, in materialistischen Analysen meist vernachlässigte, ästhetischperformative Dimension. So sehr damit der Blick auf skeptisch stimmende Kräfte der Beharrung und Entzivilisierung in der Alltagskultur gerichtet wird, so sehr zeichnen sich auch die Konturen eines ideologischen Zerfallsprozesses ab, der die neoliberale Utopie der Eigentümer- und Leistungsgesellschaft untergräbt. Die kulturelle Chiffrierung der Krise Das Alltagsbewusstsein erweist sich gegenwärtig einmal mehr als träger und eigenwilliger als viele Linke auf dem Höhepunkt der Rezession 2008/09 mit ihren Schreckensszenarien und jäh aufbrechenden Abgründen gehofft hatten. Nun wird der Blick neu justiert, die Eigendynamik der Lebenswelten wieder stärker betont. Eine wichtige Einsicht ist dabei: Die Krise des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus und die damit einher gehende Erschütterung der weit ausdifferenzierten sozialen Felder bildet sich im Alltagsbewusstsein v.a. als Beschleunigung langfristiger Verunsicherungsprozesse und als De-Legitimierung der bestehenden Ordnung ab. Angesichts der Dominanz der Geldkapitalakkumulation – einer besonders vermittelten und mystifizierten Kapitalform – und der Undurchsichtigkeit flexibilisierter betrieblicher Kontrollregime konnten bisher i.d.R. keine tragfähigen 1 Vgl. hierzu die Beiträge von Guido Speckmann und Bernhard Müller im Sozialismus 2/2011. 1 Erklärungen für die erlebten Destabilisierungsprozesse entwickelt werden. „Dem heutigen Krisenbewusstsein liegen damit andere – verschlüsseltere – Strukturen zugrunde, als es in den 1970/80er Jahren – als größere ‚Bewusstseinsstudien’ erstellt wurden – oder noch vor 10 Jahren in der Studie von 2 Bergmann/Bürckmann/Dabrowski (2002) der Fall war.“ „Die Menschen sind sich der Krise bewusst, aber sie haben noch keinen Namen dafür.“3 Trifft diese Einschätzung zu, dann unterstreicht das die Bedeutung der nicht oder nur begrenzt reflektierten Tiefenschichten alltagskultureller Wahrnehmung. Beim Versuch, in diese schillernden Dimensionen des Krisenbewusstseins vorzudringen, gilt es zunächst, sich zu vergegenwärtigen, dass in allen herrschaftsförmig strukturierten Gesellschaften eine Einschreibung sozialer Ungleichheiten in Alltagsroutinen und Empfindungsweisen, in ästhetische und körperliche Dispositionen zu beobachten ist. Im Anschluss etwa an Pierre Bourdieu wäre demnach jener „magische Prozess“ zu beschreiben, in dem über die Homologien von sozialem Feld und Habitusstruktur die „Grundfeste der Körper gewordenen sozialen Ordnung“ reproduziert werden.4 Über die Rekonstruktion der relationalen und fortlaufend transformierten Bezüge zwischen den Lebensstilmustern erschließt sich uns eine Landkarte der kulturellen Chiffrierung sozialer Ungleichheitsverhältnisse. Zugleich zielt die aufgeworfene Frage nach dem Krisenbewusstsein nicht nur auf die Strukturen der Wahrnehmung und Reproduktion sozialer Ungleichheit, sondern darüber hinaus auch auf die weltanschaulichen und politischen Subtexte, die in bestimmten kulturellen Aneignungsweisen mitschwingen.5 Wie aber lassen sich Deutungsweisen analytisch fassen, wenn sie überwiegend nicht (mehr) die Form relativ klar konturierter „großer Erzählungen“ annehmen, wenn sie diffus und implizit bleiben? Eine nahe liegende Möglichkeit wäre die Interpretation entlang der Kategorie des Mythos, schließlich gewinnt dieser nach vorherrschender Lesart gerade in Zeiten der Krise an Bedeutung.6 Dagegen ließe sich einwenden, dass die empirische Religionssoziologie mit Blick auf Mitteleuropa noch immer starke Indizien für einen langfristigen Trend zur Säkularisierung liefert.7 Die Zersplitterung der klassischen Glaubensgebäude in synkretistische und stark individualisierte Patchwork-Religionen einerseits und konservative oder gar fundamentalistische Enklaven andererseits, lässt die verbreitete Rede von einer generellen „Rückkehr der Religionen“ zweifelhaft erscheinen. 2 Richard Detje / Wolfgang Menz / Sarah Nies / Dieter Sauer: Krise ohne Konflikt? Interessen- und Handlungsorientierungen im Betrieb – die Sicht der Betroffenen, Hamburg 2011, S. 136 3 Joachim Bischoff / Richard Detje / Christoph Lieber / Bernhard Müller / Gerd Siebecke: Die Große Krise. Finanzmarktcrash – verfestigte Unterklasse – Alltagsbewusstsein – Solidarische Ökonomie, Hamburg 2010, S. 113 4 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1987, S. 740, Hervorherbung im Original 5 Vgl. hierzu auch Sebastian Herkommer: Metamorphosen der Ideologie. Zur Analyse des Neoliberalismus nach Pierre Bourdieu und aus marxistischer Perspektive, Hamburg 2004 6 Häufig wird etwa auf die theoretischen Arbeiten von Ernst Cassirer verwiesen, um die Aufwertung des Symbolischen in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche zu erklären. Der Mythos ist demnach diejenige Bewusstseinsform, die jene Aspekte der Erfahrung verarbeite, die (noch) nicht durch sprachliche und kausallogische Reflexionen erfasst werden können. Dabei finde eine Übersetzung komplexer Erfahrungen in dichotomisch strukturierte Bilder statt, deren sinnliche Vehemenz den Individuen eine unmittelbare Erfahrung von Ganzheitlichkeit eröffne, sie dabei aber letztlich auf Funktionen des Kollektivs reduziere. 7 Vgl. Detlef Pollack: Säkularisierung – ein moderner Mythos? Tübingen 2003 2 Fiktionsweise ohne Phantasie Der religiöse Glaube ist jedoch nur eine mögliche Form, Kontingenzerfahrungen, also die Wahrnehmung der Welt als unbegreifliches, willkürliches Geschehen, und die sich mit (existenziellen) Krisenerfahrungen stellenden Sinnfragen zu bearbeiten. Statt explizite Transzendenzvorstellungen über Götter, Geister und übernatürliche Kräfte zu postulieren und diese – verknüpft mit symbolischen Repräsentationsformen des Kollektivs – durch Rituale in den emotionalen und körperlichen Habitusstrukturen der Individuen zu verankern, können auch innerweltliche Objekte, Ideologien und Strukturen mystifiziert werden. In Teilen der Linken lässt sich derzeit z.B. eine Renaissance der Mystifizierung der Revolte beobachten, prominent vertreten durch die anonym heraus gegebene französische Schrift „Der kommende Aufstand“.8 Daneben wird in der bürgerlichen Gesellschaft v.a. die Schöpfungskraft und Durchsetzungsfähigkeit des Individuums zum Kern einer säkularisierten Mythologie. Entgegen der Vorstellung, das Kapital befördere generell die nüchterne Analyse und effiziente Kalkulation, privilegiere den Geist gegenüber der emotional-sinnlichen Suggestion, wäre zu zeigen, wie sich hierzu gegenläufige Tendenzen einer ästhetisierten „Sakralisierung des Selbst“ (Luckmann) herausbilden. Einen Ausgangspunkt meiner, hier nur anzudeutenden, Interpretation dieser Phänomene bildet die Marx’sche Theorie vom Schein der einfachen Warenzirkulation9: Die formelle Freiheit und Gleichheit an der Oberfläche der bürgerlichen Austausch- und Rechtsverhältnisse verdeckt tendenziell die sozialen Klassengegensätze und lässt die verselbstständigte Bewegung des Kapitals als Ergebnis des Handelns autonomer Individuen erscheinen. Durch die Konfrontation mit einer undurchsichtigen Marktdynamik tritt dabei das einzelne Anschauungsobjekt, sei es das Merkmal eines Menschen, sei es ein sachlicher Gegenstand, zunächst relativ isoliert und heraus gelöst aus dem Fluss der Ereignisse und Kausalketten vor die Augen der Betrachter_in. Die Erscheinungsweisen der Dinge, neben ihrem ökonomischen „Peis“ also ihre äußeren, nicht zuletzt ästhetischen Eigenschaften, bilden so den Ausgangspunkt für die Konstruktion von Bedeutungszuschreibungen – nicht ihre (weitgehend verborgene) historische Genese oder, wie in traditional strukturierten Gemeinwesen, ihr a priori fester Platz in einer durch transzendentale Mächte gesetzten Ordnung. Die betrachteten Gegenstände können damit essentialistisch begriffen werden, von ihrer dekontextualisierten Erscheinung wird auf eine zugrunde liegende „Natur“ der Sache geschlossen. Zugleich sind die Menschen, infolge ihrer sukzessiven Freisetzung aus direktpersönlichen Abhängigkeitsverhältnissen und klar vorstrukturierten Rollenvorgaben, gezwungen, sich als Subjekte mit persönlicher Identität – wie 8 Die ästhetische Verklärung von existenzialistischem Widerstand verbindet sich hier mit der Verteufelung der Totalität der modernen, kapitalistischen Gesellschaft und der Feier direkt-persönlicher, affektiv aufgeladener Bindungen. Der Glaube an die kleinräumige Kommune, die der abstrakten Gesellschaft die Wärme und Verantwortlichkeit der Gemeinschaft gegenüber stellt, bezeichnet eine romantische Rückprojektion von egalitären Utopien auf eine längst vergangene, letztlich traditionale Sozialform (vgl. Unsichtbares Komitee: Der kommende Aufstand, Hamburg 2010). Auch jenseits der linksradikalen Szene, etwa unter gewerkschaftlichen Vertrauensleuten und Betriebsräten, sind Protestphantasien angesichts der empfundenen Ohnmacht derzeit weit verbreitet (vgl. Detje et. al. a.a.O., S. 112 ff.) 9 Eine ausführlichere Begründung der theoretischen Argumentation folgt im Supplement des Sozialismus vom Juli 2011. 3 brüchig auch immer – zu begreifen. Sie tun dies auf der Grundlage von individuellen Aneignungsprozessen, die zwar eigensinnig sind, in ihren gesellschaftlichen und klassenspezifischen Voraussetzungen aber nur begrenzt reflektiert werden können. Die Phänomenologie des Alltagslebens, speziell die Selbstpräsentationsformen, werden so zu Projektionsflächen säkularer Mythen von einer sich selbst begründenden Individualität jenseits sozialer Restriktionen. Diese Ideologien verzerren sowohl die fortschreitenden Subjektivierungsprozesse, als auch die Wahrnehmung der Klassengegensätze. Die Entfesselung der Märkte im flexiblen Kapitalismus lässt diese spezifisch bürgerliche „Fiktionsweise ohne Phantasie“10 wieder stärker hervor treten und auch weit jenseits der ökonomischen Sphäre, etwa in den Intimbeziehungen, im Bildungs- und Gesundheitswesen, in Kunst oder Politik, wirksam werden. Klassenübergreifende Ästhetisierung des Alltagslebens Die Wendung fetischistischer Bewusstseinsformen ins Performative wird zudem im aktuellen Umwälzungsprozess noch durch besondere historische Voraussetzungen modifiziert und verstärkt. Denn die in der großen Krise kulminierenden neoliberalen Umbauprozesse vollziehen sich von Beginn an vor dem völlig neuartigen Hintergrund einer klassenübergreifenden Ästhetisierung des Alltagslebens entlang subjektiver Ausdrucks- und Erlebnisbedürfnisse.11 Diese populärkulturellen Repräsentationsformen sind unter spätkapitalistischen Bedingungen immer zugleich Mittel der Gestaltung und Reflexion des individuellen Lebens, wie Vermittlungsmoment innerhalb verselbstständigter und mystifizierter SelbstÖkonomisierungszwänge. Der Habitus wird nicht mehr nur durch klassenspezifische Sozialisationsprozesse in Familie, Schule und Betrieb erworben, er wird vielmehr zum Gegenstand einer kontinuierlichen Arbeit am Selbst.12 Die kulturelle Norm der Gegenwart fordert die expressive und flexible Inszenierung und Inwertsetzung der Person mit den Mitteln der Alltagsästhetik. Die Darstellung individueller Souveränität wirkt unter diesen Bedingungen nicht zuletzt autosuggestiv und in Grenzen als selbst erfüllende Prophezeiung. Es fällt also besonders schwer, sich und anderen persönliche Überforderungen einzugestehen. Sie werden oft lange geleugnet, um schließlich in die wuchernde Volkskrankheit Depression zu münden. Folgt man der jüngst von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebenen Studie „Die Mitte in der Krise“, so laufen gesellschaftliches Krisenbewusstsein und die Bekundung subjektiver Zufriedenheit mit der beruflichen Situation deutlich auseinander. Die Menschen sehen die wirtschaftliche und politische Gesamtentwicklung düster, meinen aber zugleich, persönlich damit fertig zu werden. Die „Verrechnungskosten“ der Krise fallen „nicht am Ort des Geschehens“ an, „dafür aber im privaten Lebensbereich.“13 Der narzisstischen Besetzung der eigenen Person korreliere dabei, so die Studie weiter, angesichts der faktisch zunehmenden Ohnmachtserfahrungen die – wiederum personalisierte – Frage nach den Schuldigen. Die Krise wird also zunächst ins Private verschoben, um MEW 26.3, S. 445 Vgl. Kaspar Maase (Hg.): Die Schönheit des Populären. Ästhetische Erfahrung der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2008 12 Vgl. Robert Schmidt: Pop – Sport – Kultur. Praxisformen körperlicher Aufführungen, Konstanz 2002 13 Zitiert nach Speckmann a.a.O., S. 24. Auch Heitmeyer et. al. beobachten eine solche „Aufspaltung der Realität“ (vgl. Heitmeyer a.a.O., S. 17) 10 11 4 von dort aus, als Teil eines sozial-psychologischen Verdrängungsmechanismus’, zurück projiziert zu werden in eine Öffentlichkeit, die in Zeiten der medialen Durchdringung nahezu aller Winkel des sozialen Lebens einer „Ökonomie der Aufmerksamkeit“14 unterworfen ist und in der Persönlichkeitsinszenierungen gesellschaftliche Kontroversen überlagern. Zugleich stellt sich die Frage, inwieweit mit der Zuspitzung der krisenhaften Dynamik auch gegenläufige Bewegungen einer Entmystifizierung verbunden sind. Die These von Joachim Bischoff et. al., wonach „der Schein der Selbstständigkeit und Ahistorizität […] unter Krisenbedingungen brüchig geworden ist“15, wäre dazu auch auf der Ebene kultureller Hegemonieverhältnisse empirisch zu überprüfen. Radikalisierung bürgerlicher Kulturkämpfe Zunächst zur Bestandsaufnahme der explizit geäußerten Ressentiments: Die Ende 2010 veröffentlichten Ergebnisse der Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ von Wilhelm Heitmeyer et. al. sind besonders in ihrer Diagnose einer zunehmend „rohen Bürgerlichkeit“ beunruhigend. Während in früheren Untersuchungen der Zusammenhang von Prekarisierung und Ressentiment stärker betont wurde, kommt die Bielefelder Forschungsgruppe diesmal zu der Schlussfolgerung: „Vor allem in den höheren Einkommensgruppen steigt die Gruppenbezogene 16 Menschenfeindlichkeit.“ Dies gelte insbesondere für die Abwertung von vermeintlich Leistungsschwachen: Langzeitarbeitslose, „Fremde“ (v.a. Angehörige islamischer Glaubensgemeinschaften), Obdachlose. Dem stehe bei Gutverdienern mit monatlichen Einkommen von mindestens 2598 EUR zunehmend die Wahrnehmung gegenüber, man erhalte seinen „gerechten Anteil“ nicht – allen gegenteiligen Entwicklungen der Verteilungsverhältnisse zum Trotz. Die Betonung von Etabliertenvorrechten auf der Grundlage eines ökonomistischen, auf die Nützlichkeit von Menschen fixierten, Leistungsethos nehme in dieser Gruppe deutlich zu. Besonders bei Älteren, sowie bei jenen, die sich von der Krise bedroht fühlen, schlügen diese Varianten einer „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ in offen rechtspopulistische Einstellungen um. Bedrohlich sei diese „entsicherte und entkultivierte Bürgerlichkeit“ v.a. wegen „der Einflussmächtigkeit dieser höheren Einkommensgruppen zur negativen Veränderung des sozialen und politischen Klimas“.17 Wie aber lassen sich die performativen Brechungen dieser Ressentiments beschreiben und welche spezifische Wirkung entfalten sie? Inwiefern bezeichnet etwa der Sarrazin-Hype ein ästhetisch vermitteltes Spektakel? Verglichen mit der Lust der Faschisten an der perversen „Schönheit“ des Krieges, die Walter Benjamin einst 14 Vgl. Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München / Wien 1998 Sozialismus 11/2010, S. 12 16 Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände, Folge 9, Frankfurt a.M. 2010. Die Zitate sind der Pressemitteilung vom 03.12.2010, S. 4 entnommen, nachzulesen unter: http://www.uni-bielefeld.de/ikg/. Vgl. zur Infragestellung der These vom Zusammenhang zwischen ökonomischer Benachteiligung und Ressentiment auch die Ausführungen von Speckmann zur Studie von Bernd Sommer zu „Prekarisierung und Ressentiment“ (Speckmann a.a.O., S. 25). 17 Ebd. S. 15. Auch Heitmeyer et. al. führen die Zunahme von Ressentiments speziell in den höheren Einkommensgruppen neben den unmittelbaren Wirkungen der Krise auf „eine ökonomistische Durchdringung sozialer Verhältnisse“ und einen dadurch frei gesetzten „Flexibilitätszwang“ zurück. In letzter Instanz verweist also auch ihre Analyse auf den zuvor diskutierten Zusammenhang von neoliberaler Reorganisation des Kapitalismus und bürgerlicher Mystifikation von individueller Leistungsfähigkeit. 15 5 wortgewaltig beschrieben hat, kommt die Reaktion unserer Tage doch recht dröge daher. Auffällig war an der Sarrazin-Debatte ja nicht nur das Ausmaß, in dem die zahlreich aufgebotenen Fakten und Statistiken zurück traten gegenüber kulturellen Bildern vom angeblich Fremden und Nutzlosen. Bemerkenswert war auch, dass hier kein elektrisierender Volkstribun oder wenigstens ein talentierter Redner bejubelt wurde, wie etwa im Falle von Gauck und Guttenberg oder – mit Blick auf die politische Linke – während der Obama-Euphoriewelle. Vielmehr war es die Karikatur eines spröden Bürokraten, die Personifizierung von Fleiß und Sparsamkeit, die einen Dammbruch chauvinistischer und islamophobischer Einstellungen auslöste. Aber auch das ist eine personalisierte Inszenierung (die keineswegs bewusst betrieben werden muss). Sozialdarwinistische und biologistische Thesen verfingen, ähnlich wie im Fall der „Tea Party“ in den USA18, nicht in erster Linie auf der Basis bewusst reflektierter gesellschaftlicher Krisendeutungen – denen dann auch durch rationale Argumente entgegen getreten werden könnte. Vielmehr dominieren offenbar habituell verfestigte Bilder von vermeintlich unproduktiven Klassen, Kulturen und Rassen, denen Figuren entgegen treten, die den fleißigen Kleinbürger oder andere „Leistungsträger“ in Persona repräsentieren. Das ist zwar ideologisch abgesichert durch die langjährige Hegemonie neoliberaler und neusozialdemokratischer Deutungen, in denen die Krise als Folge fehlender Leistungsbereitschaft und überbordender Sozialtransfers erscheint.19 Die so verfestigten Ressentiments realisieren sich aber wesentlich auf der Ebene theatralischer Aufführungen kulturell imprägnierter Subjekte. Verfallsdiskurse und Feindbilder Die Wirkungsmacht dieser Inszenierungen hat damit zu tun, dass die Krise vom Bürgertum stärker ideell, als materiell erfahren wird. Das Modell des „flexiblen Menschen“, dem auch und gerade die ökonomischen Gewinner heute entsprechen müssen, bringt einen kulturellen Orientierungsverlust mit sich. Dem begegnet das konservative Bürgertum, gerade mit Blick auf die eigenen Kinder, mit der zunehmend abstrakten, weil wirklichkeitsfernen Beschwörung der alten bürgerlichen Werte von Verlässlichkeit, Leistung und Autorität.20 Dies führt dann nicht nur zu einem neuen Kult der Familie, sondern auch zur Restauration der alten Formeln vom „Lob der Disziplin“ (Bernhard Bueb). Dazu passt, dass die Erklärung der gesellschaftlichen Krisenphänomene als Spätfolge der Kulturrevolte der Achtundsechziger seit längerem Hochkonjunktur hat.21 Der exzessive Drang nach individueller Selbstverwirklichung und sinnlicher Expressivität im Hier und Jetzt, der Mangel an Charakter und fester Moral erscheinen als Ursachen des Verfalls. Diese Verklärung der tradierten bürgerlichen Normen wirkt wie ein Filter auf die Wahrnehmung der Rolle der prekarisierten Klassen in der gesellschaftlichen Krise. Und wie bei jeder Ideologie finden sich reelle Anknüpfungspunkte auf der Ebene äußerer Anschauung. So umfasste der Wandel der kulturellen Hegemonieverhältnisse, der mit den anti-autoritären Revolten am Ende des 18 Vgl. den Beitrag von Ingar Solty im Sozialismus 11/2010, S. 45 ff. Vgl. den Beitrag von Joachim Bischoff und Christoph Lieber im Sozialismus 10/2010, S. 6 ff. 20 Vgl. Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998, S. 15 ff. 21 Vgl. etwa Norbert Bolz: Götterdämmerung der Achtundsechziger, Hamburger Abendblatt vom 15.09.2010 19 6 Fordismus eingeleitet wurde, nicht zuletzt eine Aneignung und Transformation populärkultureller Ausdrucksformen durch die nachwachsenden Generationen der neuen Mittelschichten. Diese v.a. körperlich-expressiven Vergnügungs- und Subjektivierungsformen waren zuvor überwiegend von unterbürgerlichen Schichten getragen worden.22 Der Hedonismus der neuen Mittelschichten erscheint so, bewusst oder unbewusst, als eine Art Infektion der Gebildeten durch die Unkultur des Subproletariats. Erst vor diesem Hintergrund greifen die demagogischen Sprechblasen von der „spätrömischen Dekadenz“ (Westerwelle) und der Teilung der Gesellschaft in „gebende“ und „nehmende“ Klassen (Sloterdijk). Die neuen „Kulturkämpfe“23 des teilweise radikalisierten bürgerlichen Lagers zielen auf die täglich via Massenmedien in alle Mittel- und Oberschichtenwohnzimmer verbreiteten Bilder von einem kulturell verkommenen „abgehängten Prekariat“. Mit Grausen beschwört man das „Panorama einer neuen Unterschicht, die nichts außer Nahrungsaufnahme will und deren analphabetisches Bewusstsein und deren Sich-gehen-Lassen zu einer allgemeinen Norm zu werden droht, weil es keine Eliten und Institutionen mehr gibt, die über ihre Funktion hinaus so etwas wie eine kulturelle Alternative setzten“ – so Karl Heinz Bohrer, Herausgeber der selbst erklärt elitären Monatszeitschrift „Merkur“, die schon 2007 unter dem Titel „Dekadenz. Kein Wille zur Macht“ zahlreiche Texte in ähnlichem Tenor versammelte.24 Solche pauschalen Abwertungen setzen soziale Benachteiligung nicht nur mit Verrohung gleich, sie stellen auch den Verursachungszusammenhang zwischen Prekarisierung und kulturellem Orientierungsverlust auf den Kopf. Sie weisen, aufbauend auf den eingangs benannten grundlegenden Mystifikationen des bürgerlichen Bewusstseins, die Verantwortung für soziale Krisenprozesse Individuen und ihrer vermeintlich falschen Kultur zu. Gangsta Rap im medialen Spiegelstadium Dabei ist bemerkenswert, dass sich die Aufmerksamkeit der bürgerlichen Öffentlichkeit seit einigen Jahren überhaupt derart auf kulturelle Folgen sozialer Ausgrenzung und Desintegration, sowie speziell migrantisch geprägte Jugendliche richtet. Die von der Sozialismus-Redaktion allgemein diagnostizierte Tendenz zum Autonomieabbau der einzelnen sozialen Felder im Zuge der Krisenprozesse realisiert sich zunächst in einer schärferen, v.a. medial vermittelten, Wahrnehmung der Klassenfraktionen untereinander. Machen wir es konkret: Es ist nicht zuletzt die Angst vor Figuren wie dem Chartsund Bestsellerlisten stürmenden Berliner Rapper „Bushido“, mit seinem offen zur Schau gestellten Nihilismus und seinen brutalen Macho-Allüren, die die bildungsbürgerlichen Eltern in Hamburg auf die Schulbarrikaden treibt, um „ihre“ Gymnasien vor dem befürchteten Ansturm bildungsferner Kinder aus Familien mit türkischer oder arabischer Herkunft zu verteidigen. In ihrer Zuspitzung sind diese Ängste natürlich irrational, aber sie entstehen nicht zufällig. Stars wie „Bushido“ sind Idole für viele Jugendliche – nicht nur an deutschen Hauptschulen, sondern 22 Vgl. Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 414 ff. 23 Vgl. PROKLA 160. Zeitschrift für kritische Sozialforschung: Kulturkämpfe, Nr. 3, September 2010 24 Zitiert nach von Albrecht von Lucke: Propaganda der Ungleichheit. Sarrazin, Sloterdijk und die neue „bürgerliche Koalition“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 12-2009, S. 60 7 deutlich darüber hinaus. Wollen wir die Radikalisierung bürgerlicher Ressentiments begreifen, so müssen wir auch diese Phänomene ins Auge fassen. Die Gangster-Stereotype lassen sich sicher nicht als bloße Inszenierungen geschäftstüchtiger Popunternehmer abtun. Dabei sind sie natürlich immer auch das: Für kommerzielle Zwecke erzeugte Imaginationen, eine Melange aus provokativen Übertreibungen, die Antizipation eben jener bürgerlichen Klischeebilder. Das wirkt zunächst wie eine Art Lacan’sches „Spiegelstadium“ medialer Projektionen zwischen konservativer Mittelschicht und prekarisierten Jugendlichen. Die angesichts extrem instabiler sozialer Verhältnisse in den subalternen Klassen besonders brüchigen Selbstbilder begünstigen die Verinnerlichung dieser Zuschreibungen. Das perfide daran ist, dass sich aus Sicht der Betroffenen überhaupt erst durch die partielle Übernahme der ressentimentgesättigten Bilder in die Selbstdarstellung eine aufmerksamkeitsökonomisch privilegierte Sprecherposition besetzen und so Zugang zu öffentlich begehrten Subjektivierungsweisen erlangen lässt.25 Dennoch sollte die Betrachtung nicht bei den Rückkopplungseffekten des medialen Feldes und der Eigenlogik diskursiver und performativer Identitätskonstruktionen stehen bleiben. Weder erschöpfen sich die symbolischen Repräsentationsformen der subalternen Klassen in der Reproduktion äußerer Zuschreibungen, noch lassen sie sich allein als (widerständiges) Spiel um Distinktionsgewinne begreifen.26 Zwar beruht ein erheblicher Teil der Hysterie um die verbalen Gewaltorgien des Gangsta Rap auf dem Missverständnis, die Attacken wörtlich zu nehmen und ihren bewusst inszenierten Charakter als symbolische Schaukämpfe und Provokationen zu verkennen. Doch der Erfolg dieser kulturellen Formate verweist auf einen weit reichenden Wandel in den Alltagskulturen marginalisierter Gruppen. 27 Ruppiger Individualismus Ziehen wir noch einmal die aktuelle Studie von Heitmeyer et. al. heran, so erscheint das Bild bei den ärmeren Bevölkerungsteilen zunächst weniger düster. Ihnen wird ein im Durchschnitt deutlich höheres Maß an Solidarität mit Arbeitslosen und Hilfsbedürftigen attestiert. Diese Einstellungen basierten auf einer stärkeren Verankerung von Prinzipien der Bedarfs- statt Leistungsgerechtigkeit. Daraus sollte allerdings nicht vorschnell auf günstige Bedingungen für eine Beantwortung des 25 Vgl. Martin Seeliger/ Katharina Knüttel: „Ihr habt alle reiche Eltern, also sagt nicht, ‚Deutschland hat kein Ghetto’“, in: PROKLA 160 a.a.O., S. 395 ff. 26 Diese Einengung der Perspektive bildet in zahlreichen kritischen Analysen aus dem Feld der Alltags- und Populärkultur ein erhebliches Problem (vgl. etwa Lothar Mikos: Vergnügen und Widerstand. Aneignungsformen von HipHop und Gangsta Rap, in: Udo Göttlich / Rainer Winter (Hg.): Politik des Vergnügens. Zur Diskussion der Populärkultur in den Cultural Studies, Köln 2000). 27 Historisch geht das Genre des Gansta Rap v.a. auf die Gangkultur der US-amerikanischen Westküste zurück. Nach der brutalen polizeilichen Zerschlagung der Black Panthers Anfang der 70er Jahre und später im Zuge des Verfalls der Innenstädte nach der neoliberalen Wende, transformierten sich die einst politisch militanten Banden in den schwarzen Ghettos von Los Angeles in eine „Mischung aus Jugendkultur und Proto-Mafia“ (Mike Davis: City of Quartz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles, Berlin 1994, S. 342). Aus dieser Lebenswelt heraus wurde seit den 80er Jahren von Rappern wie N.W.A., Ice-T und Tupac Shakur musikalisch-performativ berichtet – stets in einem ambivalenten Wechselspiel zwischen realistischer Reportage und glorifizierender Stilisierung der Gewalt-, Sex- und Konsumorgien, die die mythische Figur des Gangsta charakterisieren. Der gigantische kommerzielle Erfolg dieser Identifikationsangebote auch bei (weißen) Jugendlichen der Mittelschicht löste in den USA schon seit Ende der 80er Jahre heftige Kulturkämpfe mit konservativen Ideologen aus (vgl. auch Mikos a.a.O.). Im deutschen HipHop ist das Genre des Gansta Rap erst seit ca. 2005 hoch erfolgreich. Es wird überwiegend von jungen Männern aus den migrantischen Milieus der Großstädte getragen. 8 nicht nur ökonomischen, sondern auch „semantischen Klassenkampfs von oben“28 durch politische Klassenkämpfe von unten geschlossen werden. Die Autor_innen der Studie betonen, dass die Zunahme von Ressentiments klassenübergreifend mit der wachsenden Verbreitung eines aggressiv aufgeladenen Gefühls der Bedrohung durch die Krise, sowie dem Eindruck einer Entleerung der Demokratie korreliere. Ob der Legitimationsverlust der herrschenden Verhältnisse in den unteren Einkommensgruppen politisch eher nach rechts oder links kippt, sei noch nicht klar auszumachen. Hinzu kommen Ungleichzeitigkeiten zwischen jenen Einstellungen, die die Gesellschaft oder soziale Gruppen insgesamt betreffen und jenen, die in der alltäglichen Interaktion mit konkreten Individuen handlungsleitend sind.29 Auf lebensweltlicher Ebene haben sich gerade unter den Marginalisierten Kulturen entwickelt, die durch fehlende Möglichkeiten zur Entwicklung emotionaler und psycho-sozialer Kompetenzen und blanke Desillusionierung geprägt sind. Hier existiert oft eine besonders robuste Form des Individualismus. Überspitzt formuliert: Der geringen Legitimation des Neoliberalismus in den prekarisierten Klassen auf politischer Ebene, korrespondiert dessen relative Stabilität in der Alltagskultur – allerdings in einer gänzlich anderen Gestalt als im Bürgertum, viel fatalistischer und mit einer brüchigeren Vorstellung vom Zusammenhang zwischen Leistung und Belohnung. Eva Illouz hat diesen rauen emotionalen Stil im Kontrast zum Modell der emotionalreflexiven „Kommunikation“ der neuen Mittelschichten untersucht und v.a. auf unterschiedliche Erfahrungen in der Erwerbsarbeit zurück bezogen. Ihre Beobachtungen sind über die allgemeinen Wirkungen der Organisation manueller bzw. intellektueller Arbeit hinaus, in den Prozess der neoliberalen Umgestaltung von Arbeit und Leben einzuordnen, von dem auch die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossenen Gruppen betroffen sind: „Der Individualismus der Arbeiter und Arbeiterinnen ist geprägt von Erzählungen über den Kampf gegen Widrigkeiten; es ist ein ruppiger Individualismus, für den Misstrauen, Härte und körperliche Kraft im Vordergrund stehen. Im Gegensatz dazu kann der Individualismus der mittleren und oberen Mittelschicht als ‚sanfter psychologischer Individualismus’ charakterisiert werden, bei dem ein Gefühl der Einzigartigkeit, Individualität und des Selbstvertrauens im Verbund mit Emotionen, Bedürfnissen und Wünschen des emotionalen Selbst im Vordergrund stehen. Diese Unterschiede sind meines Erachtens nichts anderes als Ungleichheiten in Bezug auf die Chancen, Zugang zu gewöhnlichen Formen des Wohlbefindens zu erlangen.“30 Auch wenn hier sicherlich genauer entlang horizontaler Milieudifferenzierungen unterschieden werden müsste: Illouz trifft einen Aspekt des klassenspezifischen Alltagsbewusstseins, der in vielen linken Analysen (aus nachvollziehbaren Gründen) unterbelichtet, wenn nicht gar tabuisiert bleibt. Wer sich in diesen Lebenswelten Respekt verschaffen will, der muss Abgebrühtheit zeigen. Das Verhalten von 28 Heitmeyer a.a.O., S. 16 Dieser Differenz liegt die Unterscheidung von persönlichem und Klassenindividuum als Grundbestimmung bürgerlichen Alltagsbewusstseins zugrunde (vgl. dazu aktuell Bischoff et. al. a.a.O., S. 115 ff.). 30 Besonders deutlich zeigt sich dies an der klassenspezifischen Ausgestaltung des Geschlechterverhältnisses: „Im Gegensatz zu den Männern der Mittelschicht, deren emotionale Konstitution ihre Arbeitsleistung maßgeblich beeinflusst, entsprechen die Arbeiter mit größerer Wahrscheinlichkeit dem Modell hegemonialer Männlichkeit.“ (Eva Illouz: Die Errettung der modernen Seele, Frankfurt a. M. 2009, S. 387 ff) 29 9 besonders auffälligen „Problem-Kindern“, das im sozial-pädagogischen und öffentlichen Diskurs oft als irrationale Selbstzerstörung erscheint, kann sich innerhalb der alltäglichen Erfahrungsräume wenigstens kurzfristig als durchaus rational erweisen. Es ist kein Zufall, dass eines der seit vielen Jahren geläufigsten Schimpfworte unter sozial benachteiligten Jugendlichen schlicht „Du Opfer!“ lautet.31 Zwischen Klassenbewusstsein und „cool capitalism“ Vor diesem Hintergrund spielt in die Inszenierungen des Gansta Rap immer auch die Lust an der Schockwirkung hinein – und die hat viel mit Klassenbewusstsein zu tun. Die Härte der Straße, die massive Körperlichkeit und aggressive Sprache wird zugespitzt in Szene gesetzt, jeder bürgerliche, aber auch politisch korrekte Anstand gezielt mit Füßen getreten, um so eine zentrale Botschaft an die Privilegierten zu senden: Eure ganze Moral, euer Gerede von Chancengleichheit und Nachhaltigkeit, von Disziplin und Leistungsbereitschaft, ja selbst noch eure idealistischen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit und Solidarität sind nicht ernst zu nehmen. Wenn man da her kommt, wo wir her kommen, wenn man das „wirkliche Leben“ kennt, dann genießt man es, euch immer wieder an die Verkommenheit der Welt zu erinnern, indem man alle eure Regeln gezielt symbolisch attackiert und dabei noch zeigt, dass man viel weniger verklemmt ist, als ihr es je sein werdet, dass man Rhythmus- und Körpergefühl hat und sich all das offen zu praktizieren traut, was ihr nur als dunkle Perversionen verdrängt. Darin kommt auch eine Wut über die jahrelange Missachtung und ein gehöriges Maß an Selbstbewusstsein über die eigenen kulturellen Leistungen zum Ausdruck. Wie Murat Güngör und Hannes Loh in ihrem Buch „Fear of a Kanak Planet“ beschreiben, ist HipHop in Deutschland in den 80er Jahren wesentlich von Migrant_innen aufgebaut worden. Erfolgreich waren damit in den 90er Jahren aber hauptsächlich weiße Mittelschichtenkinder wie „Die fantastischen Vier“ oder „Fettes Brot“ mit einem überwiegend selbstzufriedenen Spaßrap. Spätestens seit „Aggro Berlin“ ist das anders: „Wenn ich den Fernseher anmache und sehe den Deutsch-Tunesier Bushido rappen, muss der gar keine politische Botschaft thematisieren. Das ist selbst schon politisch. Die Leute haben lange keinen Platz gehabt in Deutschland. Man hat diese Gesichter nicht gesehen im Fernsehen. Auf einmal sieht man sie. Das ist ein Perspektivwechsel. Zumal er von einem anderen Leben erzählt.“32 Dieses andere Leben ist allerdings auch von den Idealen der Linken denkbar weit entfernt. Das gilt nicht nur für die offene Beschimpfung von Frauen und Homosexuellen oder das Kokettieren mit nationalistischen und rassistischen Klischees und Gewaltphantasien. Auch das Ausmaß der explizit rücksichtslosen Geschäftstüchtigkeit und der knallharte Zynismus sind verstörend. Die Autobiographie des in den letzten Jahren global erfolgreichsten US-amerikanischen Rappers „50 Cent“ lautet programmatisch: „Get rich or die tryin’“. Das signalisiert die extrem schwierige Lage, vor der die Linke heute steht: Gerade in den am stärksten prekarisierten Klassen besitzt der „antimythische Mythos“ des 31 Wer über derart desillusionierenden Indizien die eigentümliche Größe, Cleverness und Solidarität nicht vergessen will, mit der gerade viele junge Frauen den alltäglichen Irrsinn in sozial marginalisierten Milieus meistern, der sollte sich mit der von Bettina Blümner filmisch hoch sensibel portraitierten Kreuzberger Mädchenclique ins „Prinzessinnenbad“ begeben. 32 Murat Güngör im Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 28.06.2005, S. 13 10 „kapitalistischen Realismus“33 wenigstens auf lebensweltlicher Ebene viel Plausibilität. Kultur ist demnach auch nichts anderes als Business. Die Alltagsreligion des Neoliberalismus schlägt hier unverstellt in ihre letzte Konsequenz um: Den Zerfall der Gesellschaft in offene Gewaltmärkte, die für die Möglichkeit einer ganz anderen Form der Abschaffung des Kapitalismus stehen. 34 Vereinnahmungsversuche als Offenbarungseid Insofern bleiben auch die bürgerlichen Vereinnahmungsversuche ideologisch zwiespältig. Bushido präsentiert sich inzwischen ja auch in Johannes B. Kerners abendlicher Sendung erfolgreich als authentischer, im Kern doch guter Junge von der Straße, der, zunächst auf der schiefen Bahn gelandet, nun zu Ruhm und Ehre gekommen sei, um sich im nächsten Moment, in quasi pädagogischem Gestus dem Publikum als virtueller Streetworker anzudienen – als Hohepriester der Lehre vom individuellen Aufstieg durch harte Arbeit und Willensstärke, als geläuterte und deshalb wieder in die Arme der Mehrheitsgesellschaft zu schließende Verkörperung der Botschaft: Du – ganz allein – kannst es schaffen! Das ist auch die Kernaussage der von Bernd Eichinger produzierten Verfilmung von Bushidos Autobiographie „Zeiten ändern dich“, in der die Schattenseiten seiner Karriere geglättet und zum klassischen Mythos vom Aufstieg aus der Gosse verklärt werden. „Ein geglücktes Umerziehungsprogramm“ kommentiert Jens-Christian Rabe in der SZ: „Wir sehen das sich selbst zähmende Andere, also den sozialpolitischen Glücksfall schlechthin“, in dem die Gesellschaft zum „gütigen Komplizen“ wird. „Im Protagonisten findet unsere Art zu Leben und zu Denken erst wirklich zu sich selbst.“ Und so steht schließlich Horst Seehofer strahlend in einem Münchner Luxushotel neben Bushido und teilt mit, dass ihn dessen „Zuversicht, sein Optimismus und seine Einstellung, dass man im Leben etwas bewegen kann“, beeindruckt habe.35 Bushido selbst betreibt inzwischen eine Immobilienfirma und gibt zu Protokoll, er sei heute eigentlich ein Spießer, der es genießt, die Hecken im 33 Vgl. Mark Fisher: Kapitalistischer Realismus. Interview mit Johannes Springer im Sozialismus 1/2010, S. 64 ff. 34 Dabei steht natürlich außer Frage, dass nach wie vor auch eindeutig progressive HipHop-Kulturen existieren, die eine praktische Form der Selbstermächtigung sozial ausgegrenzter Jugendlicher darstellen und explizite Sozialkritik oder politische Botschaften vermitteln. Die Stärke des HipHop besteht dabei zum einen in der zentralen Rolle von Sprache, die eine differenzierte und relativ eindeutige Artikulation sozialer Erfahrungen erlaubt. Zum anderen ist HipHop eine Kultur, die auf Sichtbarkeit im urbanen Raum angelegt ist – und die für die damit verbundene demonstrative Missachtung von Privatbesitz (speziell im Zusammenhang mit Graffiti) nach wie vor staatlich äußerst scharf verfolgt wird. Als aktuelles Beispiel für den emanzipatorischen Einsatz von HipHop sei auf den Dokumentarfilm „Neukölln Unlimited“ von Augostino Imondi und Dietmar Ratsch verwiesen, der vom Kampf einer libanesischstämmigen Familie gegen die ständige Bedrohung durch Abschiebung erzählt. Im Kontext der arabischen Aufstände, besonders pointiert in Tunesien, tritt HipHop derzeit sogar klassenübergreifend als Sprachrohr der Revolution auf. Für Deutschland zeigen Wetzstein et. al. anhand von Fallbeispielen die innere Dynamik und Komplexität des HipHop. Er dient ihnen zufolge einmal dazu, der bürgerlichen Langeweile zu entfliehen, ein andermal artikuliert er die Alltagsprobleme sozial ausgegrenzter Jugendlicher und kanalisiert sie in gegenseitiger Aggression. In wieder anderen Fällen ist er Vehikel des sozialen Aufstiegs, vermittelt Selbstvertrauen und einen disziplinierten Leistungsethos. In jedem Fall aber beinhaltet er in seinen zeitgenössisch vorherrschenden Varianten Elemente einer performativen Inszenierung von Wettkämpfen (vgl. Thomas A. Wetzstein / Christa Reis / Roland Eckert: Fame & Styla, Poser & Reals. ‚Lesarten’ des HipHop bei Jugendlichen. Drei Fallbeispiele, in: Göttlich/Winter a.a.O.). 35 Zitiert nach Jens-Christian Rabe: Ein Imperium, das wär’s, in: Süddeutsche Zeitung vom 05.02.2010 11 Garten seiner Villa im Berliner Nobelbezirk Dahlem zu stutzen, ansonsten aber unter Depressionen und Einsamkeit leide.36 Gerade das friedliche Einvernehmen zwischen Bushido und Seehofer signalisiert die aus Sicht des konservativen Bürgertums abgründige Pointe dieser Art der Integration. Denn was die Krawall-Rapper für viele Jugendliche auch jenseits der sozialen Brennpunkte so attraktiv macht, ist die Tatsache, dass sie die Spielregeln der zerfallenden Gesellschaft des entfesselten Kapitalismus ungeschminkt aussprechen. Auch Bushido mag unaufrichtig posieren und sogar offensichtlich lügen, er macht aber im Gegensatz zu den Blendern des bürgerlichen Lagers wie Guttenberg und Westerwelle keinen Hehl aus seiner Scharlatanerie, er benennt sie vielmehr achselzuckend als Teil des Spiels um Macht, Reichtum und Aufmerksamkeit. Das konservative Bürgertum aber phantasiert von der meritokratischen Verbindung zwischen ehrlicher Leistung, Verantwortung und Entlohnung – und projiziert sie in vermeintliche Lichtgestalten hinein, die bei der erstbesten Prüfung in immer kürzeren Intervallen wie Seifenblasen zerplatzen. Die Tatsache, dass sich die Hoffnungen des bürgerlichen Lagers zuletzt auf einen durchgestylten Adelssprössling mit einer öffentlich inszenierten Leidenschaft für die Prollrocker von AC/DC fixierten, dass sich diese Hoffnungen selbst nach der (von Spitzen der Union lange sekundierten) offenen Verhöhnung fundamentaler bürgerlicher Werte in der Plagiats-Affäre nur sehr allmählich auflösten – all das verdeutlicht den politischmoralischen Verfall des Bürgertums. Nicht zum ersten Mal in der Geschichte hält das Proletariat den Privilegierten also den Spiegel vor, im Bild eines Bushido erschrickt der distinguierte Neoliberalismus vor seiner eigenen Fratze. Denn „die Lebensbedingungen der alten Gesellschaft sind schon vernichtet in den Lebensbedingungen des Proletariats. […] Die Gesetzte, die Moral, die Religion sind für ihn [den Proletarier] ebenso viele bürgerliche Vorurteile, hinter denen sich ebenso viele bürgerliche Interessen verstecken.“37 Daraus allerdings unmittelbar auf ein neues revolutionäres Subjekt zu schließen, dürfte voreilig sein. Marxismus funktioniert nicht nach dem Prinzip Hoffnung. Im Gegenteil: „Die Kritik [...] enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch“. 38 Erst wenn es der Linken gelingt, den zunehmend gebrechlichen Personifizierungen klassenspezifischer neoliberaler Mythologien nicht nur ihre besseren Theorien, sondern auch attraktivere politisch-kulturelle Räume der Partizipation gegenüber zu stellen, kann aus Enttäuschung Handlungsmacht werden. 36 Vgl. das Interview von Alexander Hagelüken und Alexander Mühlauer in der Süddeutschen Zeitung vom 25.01.2008 37 Karl Marx / Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Stuttgart 2005, S. 31 38 MEW Bd. 1 1974, S. 379 12