Die kulturelle Chiffrierung der Krise

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Die kulturelle Chiffrierung der Krise
Neoliberale Alltagsmythologien in der Krise
Zwischen bürgerlichem Ressentiment und Gangsta Rap
Von Max Lill
(erschienen in: Sozialismus 5/2011, S. 52-59)
Die Situation ist ernüchternd: Es knirscht gewaltig im Gebälk des globalen
Kapitalismus, Währungsregime und Staaten geraten ins Wanken, sogar
demokratische Umstürze und neue Kriege ereignen sich vor den Toren der Festung
Europa. Auch in Deutschland verschiebt sich das politische Koordinatensystem
grundlegend. Die Linke jenseits der Grünen aber bleibt, trotz Mobilisierungserfolgen
in Gorleben und Stuttgart, in der Defensive. Bisher erntet v.a. der Rechtspopulismus
die Früchte der verstärkt artikulierten Kapitalismuskritik.1 Diese missliche Lage hat
wenigstens die eine erfreuliche Folge, dass Fragen nach der Entwicklung des
Alltagsbewusstseins wieder etwas breiter diskutiert werden. Damit wird auch die
einst von Antonio Gramsci, ebenfalls in Zeiten politischer Ernüchterung, ins
Stammbuch der Linken geschriebene Forderung aktualisiert, wonach es gelte, die
„Kasematten“ der bürgerlichen Ordnung in Kultur und Zivilgesellschaft schärfer ins
Auge zu fassen.
Als Beitrag hierzu sollen im Folgenden einige Aspekte der kulturellen Überprägung
von Krisenerfahrungen diskutiert werden. Im Fokus stehen dabei klassenspezifische
Varianten einer neoliberal gefärbten Alltagsmythologie, die eine emanzipatorische
Wendung der Legitimationskrise bisher erschweren. Aufbauend auf einigen
ideologiekritischen Grundüberlegungen, konzentriere ich mich dabei zum einen auf
das aktuell zu beobachtende Erstarken bürgerlicher Ressentiments gegenüber sozial
marginalisierten Gruppen. Zum anderen diskutiere ich die Einschreibung eines stark
nihilistisch geprägten Individualismus in die Populärkultur prekarisierter
Klassenfraktionen. Beide Phänomene sind m.E. eng aufeinander bezogen und beide
implizieren eine, in materialistischen Analysen meist vernachlässigte, ästhetischperformative Dimension. So sehr damit der Blick auf skeptisch stimmende Kräfte der
Beharrung und Entzivilisierung in der Alltagskultur gerichtet wird, so sehr zeichnen
sich auch die Konturen eines ideologischen Zerfallsprozesses ab, der die neoliberale
Utopie der Eigentümer- und Leistungsgesellschaft untergräbt.
Die kulturelle Chiffrierung der Krise
Das Alltagsbewusstsein erweist sich gegenwärtig einmal mehr als träger und
eigenwilliger als viele Linke auf dem Höhepunkt der Rezession 2008/09 mit ihren
Schreckensszenarien und jäh aufbrechenden Abgründen gehofft hatten. Nun wird
der Blick neu justiert, die Eigendynamik der Lebenswelten wieder stärker betont.
Eine wichtige Einsicht ist dabei: Die Krise des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus
und die damit einher gehende Erschütterung der weit ausdifferenzierten sozialen
Felder bildet sich im Alltagsbewusstsein v.a. als Beschleunigung langfristiger
Verunsicherungsprozesse und als De-Legitimierung der bestehenden Ordnung ab.
Angesichts der Dominanz der Geldkapitalakkumulation – einer besonders
vermittelten und mystifizierten Kapitalform – und der Undurchsichtigkeit
flexibilisierter betrieblicher Kontrollregime konnten bisher i.d.R. keine tragfähigen
1
Vgl. hierzu die Beiträge von Guido Speckmann und Bernhard Müller im Sozialismus 2/2011.
1
Erklärungen für die erlebten Destabilisierungsprozesse entwickelt werden. „Dem
heutigen Krisenbewusstsein liegen damit andere – verschlüsseltere – Strukturen
zugrunde, als es in den 1970/80er Jahren – als größere ‚Bewusstseinsstudien’ erstellt
wurden
–
oder
noch
vor
10
Jahren
in
der
Studie
von
2
Bergmann/Bürckmann/Dabrowski (2002) der Fall war.“ „Die Menschen sind sich
der Krise bewusst, aber sie haben noch keinen Namen dafür.“3 Trifft diese
Einschätzung zu, dann unterstreicht das die Bedeutung der nicht oder nur begrenzt
reflektierten Tiefenschichten alltagskultureller Wahrnehmung.
Beim Versuch, in diese schillernden Dimensionen des Krisenbewusstseins
vorzudringen, gilt es zunächst, sich zu vergegenwärtigen, dass in allen
herrschaftsförmig strukturierten Gesellschaften eine Einschreibung sozialer
Ungleichheiten in Alltagsroutinen und Empfindungsweisen, in ästhetische und
körperliche Dispositionen zu beobachten ist. Im Anschluss etwa an Pierre Bourdieu
wäre demnach jener „magische Prozess“ zu beschreiben, in dem über die
Homologien von sozialem Feld und Habitusstruktur die „Grundfeste der Körper
gewordenen sozialen Ordnung“ reproduziert werden.4 Über die Rekonstruktion der
relationalen
und
fortlaufend
transformierten
Bezüge
zwischen
den
Lebensstilmustern erschließt sich uns eine Landkarte der kulturellen Chiffrierung
sozialer Ungleichheitsverhältnisse. Zugleich zielt die aufgeworfene Frage nach dem
Krisenbewusstsein nicht nur auf die Strukturen der Wahrnehmung und
Reproduktion sozialer Ungleichheit, sondern darüber hinaus auch auf die
weltanschaulichen und politischen Subtexte, die in bestimmten kulturellen
Aneignungsweisen mitschwingen.5
Wie aber lassen sich Deutungsweisen analytisch fassen, wenn sie überwiegend nicht
(mehr) die Form relativ klar konturierter „großer Erzählungen“ annehmen, wenn sie
diffus und implizit bleiben? Eine nahe liegende Möglichkeit wäre die Interpretation
entlang der Kategorie des Mythos, schließlich gewinnt dieser nach vorherrschender
Lesart gerade in Zeiten der Krise an Bedeutung.6 Dagegen ließe sich einwenden, dass
die empirische Religionssoziologie mit Blick auf Mitteleuropa noch immer starke
Indizien für einen langfristigen Trend zur Säkularisierung liefert.7 Die Zersplitterung
der klassischen Glaubensgebäude in synkretistische und stark individualisierte
Patchwork-Religionen einerseits und konservative oder gar fundamentalistische
Enklaven andererseits, lässt die verbreitete Rede von einer generellen „Rückkehr der
Religionen“ zweifelhaft erscheinen.
2
Richard Detje / Wolfgang Menz / Sarah Nies / Dieter Sauer: Krise ohne Konflikt? Interessen- und
Handlungsorientierungen im Betrieb – die Sicht der Betroffenen, Hamburg 2011, S. 136
3
Joachim Bischoff / Richard Detje / Christoph Lieber / Bernhard Müller / Gerd Siebecke: Die Große Krise.
Finanzmarktcrash – verfestigte Unterklasse – Alltagsbewusstsein – Solidarische Ökonomie, Hamburg 2010, S.
113
4
Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1987, S.
740, Hervorherbung im Original
5
Vgl. hierzu auch Sebastian Herkommer: Metamorphosen der Ideologie. Zur Analyse des Neoliberalismus nach
Pierre Bourdieu und aus marxistischer Perspektive, Hamburg 2004
6
Häufig wird etwa auf die theoretischen Arbeiten von Ernst Cassirer verwiesen, um die Aufwertung des
Symbolischen in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche zu erklären. Der Mythos ist demnach diejenige
Bewusstseinsform, die jene Aspekte der Erfahrung verarbeite, die (noch) nicht durch sprachliche und kausallogische Reflexionen erfasst werden können. Dabei finde eine Übersetzung komplexer Erfahrungen in
dichotomisch strukturierte Bilder statt, deren sinnliche Vehemenz den Individuen eine unmittelbare Erfahrung
von Ganzheitlichkeit eröffne, sie dabei aber letztlich auf Funktionen des Kollektivs reduziere.
7
Vgl. Detlef Pollack: Säkularisierung – ein moderner Mythos? Tübingen 2003
2
Fiktionsweise ohne Phantasie
Der religiöse Glaube ist jedoch nur eine mögliche Form, Kontingenzerfahrungen,
also die Wahrnehmung der Welt als unbegreifliches, willkürliches Geschehen, und
die sich mit (existenziellen) Krisenerfahrungen stellenden Sinnfragen zu bearbeiten.
Statt explizite Transzendenzvorstellungen über Götter, Geister und übernatürliche
Kräfte
zu
postulieren
und
diese
–
verknüpft
mit
symbolischen
Repräsentationsformen des Kollektivs – durch Rituale in den emotionalen und
körperlichen Habitusstrukturen der Individuen zu verankern, können auch
innerweltliche Objekte, Ideologien und Strukturen mystifiziert werden. In Teilen der
Linken lässt sich derzeit z.B. eine Renaissance der Mystifizierung der Revolte
beobachten, prominent vertreten durch die anonym heraus gegebene französische
Schrift „Der kommende Aufstand“.8 Daneben wird in der bürgerlichen Gesellschaft
v.a. die Schöpfungskraft und Durchsetzungsfähigkeit des Individuums zum Kern
einer säkularisierten Mythologie. Entgegen der Vorstellung, das Kapital befördere
generell die nüchterne Analyse und effiziente Kalkulation, privilegiere den Geist
gegenüber der emotional-sinnlichen Suggestion, wäre zu zeigen, wie sich hierzu
gegenläufige Tendenzen einer ästhetisierten „Sakralisierung des Selbst“ (Luckmann)
herausbilden.
Einen Ausgangspunkt meiner, hier nur anzudeutenden, Interpretation dieser
Phänomene bildet die Marx’sche Theorie vom Schein der einfachen
Warenzirkulation9: Die formelle Freiheit und Gleichheit an der Oberfläche der
bürgerlichen Austausch- und Rechtsverhältnisse verdeckt tendenziell die sozialen
Klassengegensätze und lässt die verselbstständigte Bewegung des Kapitals als
Ergebnis des Handelns autonomer Individuen erscheinen. Durch die Konfrontation
mit einer undurchsichtigen Marktdynamik tritt dabei das einzelne
Anschauungsobjekt, sei es das Merkmal eines Menschen, sei es ein sachlicher
Gegenstand, zunächst relativ isoliert und heraus gelöst aus dem Fluss der Ereignisse
und Kausalketten vor die Augen der Betrachter_in. Die Erscheinungsweisen der
Dinge, neben ihrem ökonomischen „Peis“ also ihre äußeren, nicht zuletzt
ästhetischen Eigenschaften, bilden so den Ausgangspunkt für die Konstruktion von
Bedeutungszuschreibungen – nicht ihre (weitgehend verborgene) historische Genese
oder, wie in traditional strukturierten Gemeinwesen, ihr a priori fester Platz in einer
durch transzendentale Mächte gesetzten Ordnung. Die betrachteten Gegenstände
können damit essentialistisch begriffen werden, von ihrer dekontextualisierten
Erscheinung wird auf eine zugrunde liegende „Natur“ der Sache geschlossen.
Zugleich sind die Menschen, infolge ihrer sukzessiven Freisetzung aus direktpersönlichen
Abhängigkeitsverhältnissen
und
klar
vorstrukturierten
Rollenvorgaben, gezwungen, sich als Subjekte mit persönlicher Identität – wie
8
Die ästhetische Verklärung von existenzialistischem Widerstand verbindet sich hier mit der Verteufelung der
Totalität der modernen, kapitalistischen Gesellschaft und der Feier direkt-persönlicher, affektiv aufgeladener
Bindungen. Der Glaube an die kleinräumige Kommune, die der abstrakten Gesellschaft die Wärme und
Verantwortlichkeit der Gemeinschaft gegenüber stellt, bezeichnet eine romantische Rückprojektion von
egalitären Utopien auf eine längst vergangene, letztlich traditionale Sozialform (vgl. Unsichtbares Komitee: Der
kommende Aufstand, Hamburg 2010). Auch jenseits der linksradikalen Szene, etwa unter gewerkschaftlichen
Vertrauensleuten und Betriebsräten, sind Protestphantasien angesichts der empfundenen Ohnmacht derzeit weit
verbreitet (vgl. Detje et. al. a.a.O., S. 112 ff.)
9
Eine ausführlichere Begründung der theoretischen Argumentation folgt im Supplement des Sozialismus vom
Juli 2011.
3
brüchig auch immer – zu begreifen. Sie tun dies auf der Grundlage von individuellen
Aneignungsprozessen, die zwar eigensinnig sind, in ihren gesellschaftlichen und
klassenspezifischen Voraussetzungen aber nur begrenzt reflektiert werden können.
Die Phänomenologie des Alltagslebens, speziell die Selbstpräsentationsformen,
werden so zu Projektionsflächen säkularer Mythen von einer sich selbst
begründenden Individualität jenseits sozialer Restriktionen. Diese Ideologien
verzerren sowohl die fortschreitenden Subjektivierungsprozesse, als auch die
Wahrnehmung der Klassengegensätze. Die Entfesselung der Märkte im flexiblen
Kapitalismus lässt diese spezifisch bürgerliche „Fiktionsweise ohne Phantasie“10
wieder stärker hervor treten und auch weit jenseits der ökonomischen Sphäre, etwa
in den Intimbeziehungen, im Bildungs- und Gesundheitswesen, in Kunst oder
Politik, wirksam werden.
Klassenübergreifende Ästhetisierung des Alltagslebens
Die Wendung fetischistischer Bewusstseinsformen ins Performative wird zudem im
aktuellen Umwälzungsprozess noch durch besondere historische Voraussetzungen
modifiziert und verstärkt. Denn die in der großen Krise kulminierenden neoliberalen
Umbauprozesse vollziehen sich von Beginn an vor dem völlig neuartigen
Hintergrund einer klassenübergreifenden Ästhetisierung des Alltagslebens entlang
subjektiver Ausdrucks- und Erlebnisbedürfnisse.11 Diese populärkulturellen
Repräsentationsformen sind unter spätkapitalistischen Bedingungen immer zugleich
Mittel der Gestaltung und Reflexion des individuellen Lebens, wie
Vermittlungsmoment innerhalb verselbstständigter und mystifizierter SelbstÖkonomisierungszwänge. Der Habitus wird nicht mehr nur durch
klassenspezifische Sozialisationsprozesse in Familie, Schule und Betrieb erworben, er
wird vielmehr zum Gegenstand einer kontinuierlichen Arbeit am Selbst.12 Die
kulturelle Norm der Gegenwart fordert die expressive und flexible Inszenierung und
Inwertsetzung der Person mit den Mitteln der Alltagsästhetik.
Die Darstellung individueller Souveränität wirkt unter diesen Bedingungen nicht
zuletzt autosuggestiv und in Grenzen als selbst erfüllende Prophezeiung. Es fällt also
besonders schwer, sich und anderen persönliche Überforderungen einzugestehen.
Sie werden oft lange geleugnet, um schließlich in die wuchernde Volkskrankheit
Depression zu münden. Folgt man der jüngst von der Friedrich-Ebert-Stiftung
herausgegebenen Studie „Die Mitte in der Krise“, so laufen gesellschaftliches
Krisenbewusstsein und die Bekundung subjektiver Zufriedenheit mit der beruflichen
Situation deutlich auseinander. Die Menschen sehen die wirtschaftliche und
politische Gesamtentwicklung düster, meinen aber zugleich, persönlich damit fertig
zu werden. Die „Verrechnungskosten“ der Krise fallen „nicht am Ort des
Geschehens“ an, „dafür aber im privaten Lebensbereich.“13 Der narzisstischen
Besetzung der eigenen Person korreliere dabei, so die Studie weiter, angesichts der
faktisch zunehmenden Ohnmachtserfahrungen die – wiederum personalisierte –
Frage nach den Schuldigen. Die Krise wird also zunächst ins Private verschoben, um
MEW 26.3, S. 445
Vgl. Kaspar Maase (Hg.): Die Schönheit des Populären. Ästhetische Erfahrung der Gegenwart, Frankfurt a.M.
2008
12
Vgl. Robert Schmidt: Pop – Sport – Kultur. Praxisformen körperlicher Aufführungen, Konstanz 2002
13
Zitiert nach Speckmann a.a.O., S. 24. Auch Heitmeyer et. al. beobachten eine solche „Aufspaltung der
Realität“ (vgl. Heitmeyer a.a.O., S. 17)
10
11
4
von dort aus, als Teil eines sozial-psychologischen Verdrängungsmechanismus’,
zurück projiziert zu werden in eine Öffentlichkeit, die in Zeiten der medialen
Durchdringung nahezu aller Winkel des sozialen Lebens einer „Ökonomie der
Aufmerksamkeit“14 unterworfen ist und in der Persönlichkeitsinszenierungen
gesellschaftliche Kontroversen überlagern.
Zugleich stellt sich die Frage, inwieweit mit der Zuspitzung der krisenhaften
Dynamik auch gegenläufige Bewegungen einer Entmystifizierung verbunden sind.
Die These von Joachim Bischoff et. al., wonach „der Schein der Selbstständigkeit und
Ahistorizität […] unter Krisenbedingungen brüchig geworden ist“15, wäre dazu auch
auf der Ebene kultureller Hegemonieverhältnisse empirisch zu überprüfen.
Radikalisierung bürgerlicher Kulturkämpfe
Zunächst zur Bestandsaufnahme der explizit geäußerten Ressentiments: Die Ende
2010 veröffentlichten Ergebnisse der Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ von
Wilhelm Heitmeyer et. al. sind besonders in ihrer Diagnose einer zunehmend „rohen
Bürgerlichkeit“ beunruhigend. Während in früheren Untersuchungen der
Zusammenhang von Prekarisierung und Ressentiment stärker betont wurde, kommt
die Bielefelder Forschungsgruppe diesmal zu der Schlussfolgerung: „Vor allem in
den
höheren
Einkommensgruppen
steigt
die
Gruppenbezogene
16
Menschenfeindlichkeit.“
Dies gelte insbesondere für die Abwertung von
vermeintlich Leistungsschwachen: Langzeitarbeitslose, „Fremde“ (v.a. Angehörige
islamischer Glaubensgemeinschaften), Obdachlose. Dem stehe bei Gutverdienern mit
monatlichen Einkommen von mindestens 2598 EUR zunehmend die Wahrnehmung
gegenüber, man erhalte seinen „gerechten Anteil“ nicht – allen gegenteiligen
Entwicklungen der Verteilungsverhältnisse zum Trotz. Die Betonung von
Etabliertenvorrechten auf der Grundlage eines ökonomistischen, auf die Nützlichkeit
von Menschen fixierten, Leistungsethos nehme in dieser Gruppe deutlich zu.
Besonders bei Älteren, sowie bei jenen, die sich von der Krise bedroht fühlen,
schlügen diese Varianten einer „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ in offen
rechtspopulistische Einstellungen um. Bedrohlich sei diese „entsicherte und
entkultivierte Bürgerlichkeit“ v.a. wegen „der Einflussmächtigkeit dieser höheren
Einkommensgruppen zur negativen Veränderung des sozialen und politischen
Klimas“.17
Wie aber lassen sich die performativen Brechungen dieser Ressentiments beschreiben
und welche spezifische Wirkung entfalten sie? Inwiefern bezeichnet etwa der
Sarrazin-Hype ein ästhetisch vermitteltes Spektakel? Verglichen mit der Lust der
Faschisten an der perversen „Schönheit“ des Krieges, die Walter Benjamin einst
14
Vgl. Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München / Wien 1998
Sozialismus 11/2010, S. 12
16
Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände, Folge 9, Frankfurt a.M. 2010. Die Zitate sind der
Pressemitteilung vom 03.12.2010, S. 4 entnommen, nachzulesen unter: http://www.uni-bielefeld.de/ikg/. Vgl.
zur Infragestellung der These vom Zusammenhang zwischen ökonomischer Benachteiligung und Ressentiment
auch die Ausführungen von Speckmann zur Studie von Bernd Sommer zu „Prekarisierung und Ressentiment“
(Speckmann a.a.O., S. 25).
17
Ebd. S. 15. Auch Heitmeyer et. al. führen die Zunahme von Ressentiments speziell in den höheren
Einkommensgruppen neben den unmittelbaren Wirkungen der Krise auf „eine ökonomistische Durchdringung
sozialer Verhältnisse“ und einen dadurch frei gesetzten „Flexibilitätszwang“ zurück. In letzter Instanz verweist
also auch ihre Analyse auf den zuvor diskutierten Zusammenhang von neoliberaler Reorganisation des
Kapitalismus und bürgerlicher Mystifikation von individueller Leistungsfähigkeit.
15
5
wortgewaltig beschrieben hat, kommt die Reaktion unserer Tage doch recht dröge
daher. Auffällig war an der Sarrazin-Debatte ja nicht nur das Ausmaß, in dem die
zahlreich aufgebotenen Fakten und Statistiken zurück traten gegenüber kulturellen
Bildern vom angeblich Fremden und Nutzlosen. Bemerkenswert war auch, dass hier
kein elektrisierender Volkstribun oder wenigstens ein talentierter Redner bejubelt
wurde, wie etwa im Falle von Gauck und Guttenberg oder – mit Blick auf die
politische Linke – während der Obama-Euphoriewelle. Vielmehr war es die
Karikatur eines spröden Bürokraten, die Personifizierung von Fleiß und
Sparsamkeit, die einen Dammbruch chauvinistischer und islamophobischer
Einstellungen auslöste.
Aber auch das ist eine personalisierte Inszenierung (die keineswegs bewusst
betrieben werden muss). Sozialdarwinistische und biologistische Thesen verfingen,
ähnlich wie im Fall der „Tea Party“ in den USA18, nicht in erster Linie auf der Basis
bewusst reflektierter gesellschaftlicher Krisendeutungen – denen dann auch durch
rationale Argumente entgegen getreten werden könnte. Vielmehr dominieren
offenbar habituell verfestigte Bilder von vermeintlich unproduktiven Klassen,
Kulturen und Rassen, denen Figuren entgegen treten, die den fleißigen Kleinbürger
oder andere „Leistungsträger“ in Persona repräsentieren. Das ist zwar ideologisch
abgesichert durch die langjährige Hegemonie neoliberaler und neusozialdemokratischer Deutungen, in denen die Krise als Folge fehlender
Leistungsbereitschaft und überbordender Sozialtransfers erscheint.19 Die so
verfestigten Ressentiments realisieren sich aber wesentlich auf der Ebene
theatralischer Aufführungen kulturell imprägnierter Subjekte.
Verfallsdiskurse und Feindbilder
Die Wirkungsmacht dieser Inszenierungen hat damit zu tun, dass die Krise vom
Bürgertum stärker ideell, als materiell erfahren wird. Das Modell des „flexiblen
Menschen“, dem auch und gerade die ökonomischen Gewinner heute entsprechen
müssen, bringt einen kulturellen Orientierungsverlust mit sich. Dem begegnet das
konservative Bürgertum, gerade mit Blick auf die eigenen Kinder, mit der
zunehmend abstrakten, weil wirklichkeitsfernen Beschwörung der alten
bürgerlichen Werte von Verlässlichkeit, Leistung und Autorität.20 Dies führt dann
nicht nur zu einem neuen Kult der Familie, sondern auch zur Restauration der alten
Formeln vom „Lob der Disziplin“ (Bernhard Bueb). Dazu passt, dass die Erklärung
der gesellschaftlichen Krisenphänomene als Spätfolge der Kulturrevolte der
Achtundsechziger seit längerem Hochkonjunktur hat.21 Der exzessive Drang nach
individueller Selbstverwirklichung und sinnlicher Expressivität im Hier und Jetzt,
der Mangel an Charakter und fester Moral erscheinen als Ursachen des Verfalls.
Diese Verklärung der tradierten bürgerlichen Normen wirkt wie ein Filter auf die
Wahrnehmung der Rolle der prekarisierten Klassen in der gesellschaftlichen Krise.
Und wie bei jeder Ideologie finden sich reelle Anknüpfungspunkte auf der Ebene
äußerer
Anschauung.
So
umfasste
der
Wandel
der
kulturellen
Hegemonieverhältnisse, der mit den anti-autoritären Revolten am Ende des
18
Vgl. den Beitrag von Ingar Solty im Sozialismus 11/2010, S. 45 ff.
Vgl. den Beitrag von Joachim Bischoff und Christoph Lieber im Sozialismus 10/2010, S. 6 ff.
20
Vgl. Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998, S. 15 ff.
21
Vgl. etwa Norbert Bolz: Götterdämmerung der Achtundsechziger, Hamburger Abendblatt vom 15.09.2010
19
6
Fordismus eingeleitet wurde, nicht zuletzt eine Aneignung und Transformation
populärkultureller Ausdrucksformen durch die nachwachsenden Generationen der
neuen Mittelschichten. Diese v.a. körperlich-expressiven Vergnügungs- und
Subjektivierungsformen waren zuvor überwiegend von unterbürgerlichen Schichten
getragen worden.22 Der Hedonismus der neuen Mittelschichten erscheint so, bewusst
oder unbewusst, als eine Art Infektion der Gebildeten durch die Unkultur des
Subproletariats.
Erst vor diesem Hintergrund greifen die demagogischen Sprechblasen von der
„spätrömischen Dekadenz“ (Westerwelle) und der Teilung der Gesellschaft in
„gebende“ und „nehmende“ Klassen (Sloterdijk). Die neuen „Kulturkämpfe“23 des
teilweise radikalisierten bürgerlichen Lagers zielen auf die täglich via Massenmedien
in alle Mittel- und Oberschichtenwohnzimmer verbreiteten Bilder von einem
kulturell verkommenen „abgehängten Prekariat“. Mit Grausen beschwört man das
„Panorama einer neuen Unterschicht, die nichts außer Nahrungsaufnahme will und
deren analphabetisches Bewusstsein und deren Sich-gehen-Lassen zu einer
allgemeinen Norm zu werden droht, weil es keine Eliten und Institutionen mehr
gibt, die über ihre Funktion hinaus so etwas wie eine kulturelle Alternative setzten“
– so Karl Heinz Bohrer, Herausgeber der selbst erklärt elitären Monatszeitschrift
„Merkur“, die schon 2007 unter dem Titel „Dekadenz. Kein Wille zur Macht“
zahlreiche Texte in ähnlichem Tenor versammelte.24 Solche pauschalen Abwertungen
setzen soziale Benachteiligung nicht nur mit Verrohung gleich, sie stellen auch den
Verursachungszusammenhang
zwischen
Prekarisierung
und
kulturellem
Orientierungsverlust auf den Kopf. Sie weisen, aufbauend auf den eingangs
benannten grundlegenden Mystifikationen des bürgerlichen Bewusstseins, die
Verantwortung für soziale Krisenprozesse Individuen und ihrer vermeintlich
falschen Kultur zu.
Gangsta Rap im medialen Spiegelstadium
Dabei ist bemerkenswert, dass sich die Aufmerksamkeit der bürgerlichen
Öffentlichkeit seit einigen Jahren überhaupt derart auf kulturelle Folgen sozialer
Ausgrenzung und Desintegration, sowie speziell migrantisch geprägte Jugendliche
richtet. Die von der Sozialismus-Redaktion allgemein diagnostizierte Tendenz zum
Autonomieabbau der einzelnen sozialen Felder im Zuge der Krisenprozesse realisiert
sich zunächst in einer schärferen, v.a. medial vermittelten, Wahrnehmung der
Klassenfraktionen untereinander.
Machen wir es konkret: Es ist nicht zuletzt die Angst vor Figuren wie dem Chartsund Bestsellerlisten stürmenden Berliner Rapper „Bushido“, mit seinem offen zur
Schau gestellten Nihilismus und seinen brutalen Macho-Allüren, die die
bildungsbürgerlichen Eltern in Hamburg auf die Schulbarrikaden treibt, um „ihre“
Gymnasien vor dem befürchteten Ansturm bildungsferner Kinder aus Familien mit
türkischer oder arabischer Herkunft zu verteidigen. In ihrer Zuspitzung sind diese
Ängste natürlich irrational, aber sie entstehen nicht zufällig. Stars wie „Bushido“
sind Idole für viele Jugendliche – nicht nur an deutschen Hauptschulen, sondern
22
Vgl. Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 414
ff.
23
Vgl. PROKLA 160. Zeitschrift für kritische Sozialforschung: Kulturkämpfe, Nr. 3, September 2010
24
Zitiert nach von Albrecht von Lucke: Propaganda der Ungleichheit. Sarrazin, Sloterdijk und die neue
„bürgerliche Koalition“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 12-2009, S. 60
7
deutlich darüber hinaus. Wollen wir die Radikalisierung bürgerlicher Ressentiments
begreifen, so müssen wir auch diese Phänomene ins Auge fassen.
Die Gangster-Stereotype lassen sich sicher nicht als bloße Inszenierungen
geschäftstüchtiger Popunternehmer abtun. Dabei sind sie natürlich immer auch das:
Für kommerzielle Zwecke erzeugte Imaginationen, eine Melange aus provokativen
Übertreibungen, die Antizipation eben jener bürgerlichen Klischeebilder. Das wirkt
zunächst wie eine Art Lacan’sches „Spiegelstadium“ medialer Projektionen zwischen
konservativer Mittelschicht und prekarisierten Jugendlichen. Die angesichts extrem
instabiler sozialer Verhältnisse in den subalternen Klassen besonders brüchigen
Selbstbilder begünstigen die Verinnerlichung dieser Zuschreibungen. Das perfide
daran ist, dass sich aus Sicht der Betroffenen überhaupt erst durch die partielle
Übernahme der ressentimentgesättigten Bilder in die Selbstdarstellung eine
aufmerksamkeitsökonomisch privilegierte Sprecherposition besetzen und so Zugang
zu öffentlich begehrten Subjektivierungsweisen erlangen lässt.25
Dennoch sollte die Betrachtung nicht bei den Rückkopplungseffekten des medialen
Feldes und der Eigenlogik diskursiver und performativer Identitätskonstruktionen
stehen bleiben. Weder erschöpfen sich die symbolischen Repräsentationsformen der
subalternen Klassen in der Reproduktion äußerer Zuschreibungen, noch lassen sie
sich allein als (widerständiges) Spiel um Distinktionsgewinne begreifen.26 Zwar
beruht ein erheblicher Teil der Hysterie um die verbalen Gewaltorgien des Gangsta
Rap auf dem Missverständnis, die Attacken wörtlich zu nehmen und ihren bewusst
inszenierten Charakter als symbolische Schaukämpfe und Provokationen zu
verkennen. Doch der Erfolg dieser kulturellen Formate verweist auf einen weit
reichenden Wandel in den Alltagskulturen marginalisierter Gruppen. 27
Ruppiger Individualismus
Ziehen wir noch einmal die aktuelle Studie von Heitmeyer et. al. heran, so erscheint
das Bild bei den ärmeren Bevölkerungsteilen zunächst weniger düster. Ihnen wird
ein im Durchschnitt deutlich höheres Maß an Solidarität mit Arbeitslosen und
Hilfsbedürftigen attestiert. Diese Einstellungen basierten auf einer stärkeren
Verankerung von Prinzipien der Bedarfs- statt Leistungsgerechtigkeit. Daraus sollte
allerdings nicht vorschnell auf günstige Bedingungen für eine Beantwortung des
25
Vgl. Martin Seeliger/ Katharina Knüttel: „Ihr habt alle reiche Eltern, also sagt nicht, ‚Deutschland hat kein
Ghetto’“, in: PROKLA 160 a.a.O., S. 395 ff.
26
Diese Einengung der Perspektive bildet in zahlreichen kritischen Analysen aus dem Feld der Alltags- und
Populärkultur ein erhebliches Problem (vgl. etwa Lothar Mikos: Vergnügen und Widerstand. Aneignungsformen
von HipHop und Gangsta Rap, in: Udo Göttlich / Rainer Winter (Hg.): Politik des Vergnügens. Zur Diskussion
der Populärkultur in den Cultural Studies, Köln 2000).
27
Historisch geht das Genre des Gansta Rap v.a. auf die Gangkultur der US-amerikanischen Westküste zurück.
Nach der brutalen polizeilichen Zerschlagung der Black Panthers Anfang der 70er Jahre und später im Zuge des
Verfalls der Innenstädte nach der neoliberalen Wende, transformierten sich die einst politisch militanten Banden
in den schwarzen Ghettos von Los Angeles in eine „Mischung aus Jugendkultur und Proto-Mafia“ (Mike Davis:
City of Quartz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles, Berlin 1994, S. 342). Aus dieser Lebenswelt heraus
wurde seit den 80er Jahren von Rappern wie N.W.A., Ice-T und Tupac Shakur musikalisch-performativ berichtet
– stets in einem ambivalenten Wechselspiel zwischen realistischer Reportage und glorifizierender Stilisierung
der Gewalt-, Sex- und Konsumorgien, die die mythische Figur des Gangsta charakterisieren. Der gigantische
kommerzielle Erfolg dieser Identifikationsangebote auch bei (weißen) Jugendlichen der Mittelschicht löste in
den USA schon seit Ende der 80er Jahre heftige Kulturkämpfe mit konservativen Ideologen aus (vgl. auch Mikos
a.a.O.). Im deutschen HipHop ist das Genre des Gansta Rap erst seit ca. 2005 hoch erfolgreich. Es wird
überwiegend von jungen Männern aus den migrantischen Milieus der Großstädte getragen.
8
nicht nur ökonomischen, sondern auch „semantischen Klassenkampfs von oben“28
durch politische Klassenkämpfe von unten geschlossen werden. Die Autor_innen der
Studie betonen, dass die Zunahme von Ressentiments klassenübergreifend mit der
wachsenden Verbreitung eines aggressiv aufgeladenen Gefühls der Bedrohung
durch die Krise, sowie dem Eindruck einer Entleerung der Demokratie korreliere. Ob
der Legitimationsverlust der herrschenden Verhältnisse in den unteren
Einkommensgruppen politisch eher nach rechts oder links kippt, sei noch nicht klar
auszumachen.
Hinzu kommen Ungleichzeitigkeiten zwischen jenen Einstellungen, die die
Gesellschaft oder soziale Gruppen insgesamt betreffen und jenen, die in der
alltäglichen Interaktion mit konkreten Individuen handlungsleitend sind.29 Auf
lebensweltlicher Ebene haben sich gerade unter den Marginalisierten Kulturen
entwickelt, die durch fehlende Möglichkeiten zur Entwicklung emotionaler und
psycho-sozialer Kompetenzen und blanke Desillusionierung geprägt sind. Hier
existiert oft eine besonders robuste Form des Individualismus. Überspitzt formuliert:
Der geringen Legitimation des Neoliberalismus in den prekarisierten Klassen auf
politischer Ebene, korrespondiert dessen relative Stabilität in der Alltagskultur –
allerdings in einer gänzlich anderen Gestalt als im Bürgertum, viel fatalistischer und
mit einer brüchigeren Vorstellung vom Zusammenhang zwischen Leistung und
Belohnung.
Eva Illouz hat diesen rauen emotionalen Stil im Kontrast zum Modell der emotionalreflexiven „Kommunikation“ der neuen Mittelschichten untersucht und v.a. auf
unterschiedliche Erfahrungen in der Erwerbsarbeit zurück bezogen. Ihre
Beobachtungen sind über die allgemeinen Wirkungen der Organisation manueller
bzw. intellektueller Arbeit hinaus, in den Prozess der neoliberalen Umgestaltung von
Arbeit und Leben einzuordnen, von dem auch die vom Arbeitsmarkt
ausgeschlossenen Gruppen betroffen sind: „Der Individualismus der Arbeiter und
Arbeiterinnen ist geprägt von Erzählungen über den Kampf gegen Widrigkeiten; es
ist ein ruppiger Individualismus, für den Misstrauen, Härte und körperliche Kraft im
Vordergrund stehen. Im Gegensatz dazu kann der Individualismus der mittleren
und oberen Mittelschicht als ‚sanfter psychologischer Individualismus’
charakterisiert werden, bei dem ein Gefühl der Einzigartigkeit, Individualität und
des Selbstvertrauens im Verbund mit Emotionen, Bedürfnissen und Wünschen des
emotionalen Selbst im Vordergrund stehen. Diese Unterschiede sind meines
Erachtens nichts anderes als Ungleichheiten in Bezug auf die Chancen, Zugang zu
gewöhnlichen Formen des Wohlbefindens zu erlangen.“30
Auch wenn hier sicherlich genauer entlang horizontaler Milieudifferenzierungen
unterschieden werden müsste: Illouz trifft einen Aspekt des klassenspezifischen
Alltagsbewusstseins, der in vielen linken Analysen (aus nachvollziehbaren Gründen)
unterbelichtet, wenn nicht gar tabuisiert bleibt. Wer sich in diesen Lebenswelten
Respekt verschaffen will, der muss Abgebrühtheit zeigen. Das Verhalten von
28
Heitmeyer a.a.O., S. 16
Dieser Differenz liegt die Unterscheidung von persönlichem und Klassenindividuum als Grundbestimmung
bürgerlichen Alltagsbewusstseins zugrunde (vgl. dazu aktuell Bischoff et. al. a.a.O., S. 115 ff.).
30
Besonders deutlich zeigt sich dies an der klassenspezifischen Ausgestaltung des Geschlechterverhältnisses:
„Im Gegensatz zu den Männern der Mittelschicht, deren emotionale Konstitution ihre Arbeitsleistung
maßgeblich beeinflusst, entsprechen die Arbeiter mit größerer Wahrscheinlichkeit dem Modell hegemonialer
Männlichkeit.“ (Eva Illouz: Die Errettung der modernen Seele, Frankfurt a. M. 2009, S. 387 ff)
29
9
besonders auffälligen „Problem-Kindern“, das im sozial-pädagogischen und
öffentlichen Diskurs oft als irrationale Selbstzerstörung erscheint, kann sich
innerhalb der alltäglichen Erfahrungsräume wenigstens kurzfristig als durchaus
rational erweisen. Es ist kein Zufall, dass eines der seit vielen Jahren geläufigsten
Schimpfworte unter sozial benachteiligten Jugendlichen schlicht „Du Opfer!“
lautet.31
Zwischen Klassenbewusstsein und „cool capitalism“
Vor diesem Hintergrund spielt in die Inszenierungen des Gansta Rap immer auch
die Lust an der Schockwirkung hinein – und die hat viel mit Klassenbewusstsein zu
tun. Die Härte der Straße, die massive Körperlichkeit und aggressive Sprache wird
zugespitzt in Szene gesetzt, jeder bürgerliche, aber auch politisch korrekte Anstand
gezielt mit Füßen getreten, um so eine zentrale Botschaft an die Privilegierten zu
senden: Eure ganze Moral, euer Gerede von Chancengleichheit und Nachhaltigkeit,
von Disziplin und Leistungsbereitschaft, ja selbst noch eure idealistischen
Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit und Solidarität sind nicht ernst zu nehmen.
Wenn man da her kommt, wo wir her kommen, wenn man das „wirkliche Leben“
kennt, dann genießt man es, euch immer wieder an die Verkommenheit der Welt zu
erinnern, indem man alle eure Regeln gezielt symbolisch attackiert und dabei noch
zeigt, dass man viel weniger verklemmt ist, als ihr es je sein werdet, dass man
Rhythmus- und Körpergefühl hat und sich all das offen zu praktizieren traut, was ihr
nur als dunkle Perversionen verdrängt.
Darin kommt auch eine Wut über die jahrelange Missachtung und ein gehöriges Maß
an Selbstbewusstsein über die eigenen kulturellen Leistungen zum Ausdruck. Wie
Murat Güngör und Hannes Loh in ihrem Buch „Fear of a Kanak Planet“ beschreiben,
ist HipHop in Deutschland in den 80er Jahren wesentlich von Migrant_innen
aufgebaut worden. Erfolgreich waren damit in den 90er Jahren aber hauptsächlich
weiße Mittelschichtenkinder wie „Die fantastischen Vier“ oder „Fettes Brot“ mit
einem überwiegend selbstzufriedenen Spaßrap. Spätestens seit „Aggro Berlin“ ist
das anders: „Wenn ich den Fernseher anmache und sehe den Deutsch-Tunesier
Bushido rappen, muss der gar keine politische Botschaft thematisieren. Das ist selbst
schon politisch. Die Leute haben lange keinen Platz gehabt in Deutschland. Man hat
diese Gesichter nicht gesehen im Fernsehen. Auf einmal sieht man sie. Das ist ein
Perspektivwechsel. Zumal er von einem anderen Leben erzählt.“32
Dieses andere Leben ist allerdings auch von den Idealen der Linken denkbar weit
entfernt. Das gilt nicht nur für die offene Beschimpfung von Frauen und
Homosexuellen oder das Kokettieren mit nationalistischen und rassistischen
Klischees und Gewaltphantasien. Auch das Ausmaß der explizit rücksichtslosen
Geschäftstüchtigkeit und der knallharte Zynismus sind verstörend. Die
Autobiographie des in den letzten Jahren global erfolgreichsten US-amerikanischen
Rappers „50 Cent“ lautet programmatisch: „Get rich or die tryin’“. Das signalisiert
die extrem schwierige Lage, vor der die Linke heute steht: Gerade in den am
stärksten prekarisierten Klassen besitzt der „antimythische Mythos“ des
31
Wer über derart desillusionierenden Indizien die eigentümliche Größe, Cleverness und Solidarität nicht
vergessen will, mit der gerade viele junge Frauen den alltäglichen Irrsinn in sozial marginalisierten Milieus
meistern, der sollte sich mit der von Bettina Blümner filmisch hoch sensibel portraitierten Kreuzberger
Mädchenclique ins „Prinzessinnenbad“ begeben.
32
Murat Güngör im Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 28.06.2005, S. 13
10
„kapitalistischen Realismus“33 wenigstens auf lebensweltlicher Ebene viel
Plausibilität. Kultur ist demnach auch nichts anderes als Business. Die
Alltagsreligion des Neoliberalismus schlägt hier unverstellt in ihre letzte Konsequenz
um: Den Zerfall der Gesellschaft in offene Gewaltmärkte, die für die Möglichkeit
einer ganz anderen Form der Abschaffung des Kapitalismus stehen. 34
Vereinnahmungsversuche als Offenbarungseid
Insofern bleiben auch die bürgerlichen Vereinnahmungsversuche ideologisch
zwiespältig. Bushido präsentiert sich inzwischen ja auch in Johannes B. Kerners
abendlicher Sendung erfolgreich als authentischer, im Kern doch guter Junge von der
Straße, der, zunächst auf der schiefen Bahn gelandet, nun zu Ruhm und Ehre
gekommen sei, um sich im nächsten Moment, in quasi pädagogischem Gestus dem
Publikum als virtueller Streetworker anzudienen – als Hohepriester der Lehre vom
individuellen Aufstieg durch harte Arbeit und Willensstärke, als geläuterte und
deshalb wieder in die Arme der Mehrheitsgesellschaft zu schließende Verkörperung
der Botschaft: Du – ganz allein – kannst es schaffen!
Das ist auch die Kernaussage der von Bernd Eichinger produzierten Verfilmung von
Bushidos Autobiographie „Zeiten ändern dich“, in der die Schattenseiten seiner
Karriere geglättet und zum klassischen Mythos vom Aufstieg aus der Gosse verklärt
werden. „Ein geglücktes Umerziehungsprogramm“ kommentiert Jens-Christian
Rabe in der SZ: „Wir sehen das sich selbst zähmende Andere, also den
sozialpolitischen Glücksfall schlechthin“, in dem die Gesellschaft zum „gütigen
Komplizen“ wird. „Im Protagonisten findet unsere Art zu Leben und zu Denken erst
wirklich zu sich selbst.“ Und so steht schließlich Horst Seehofer strahlend in einem
Münchner Luxushotel neben Bushido und teilt mit, dass ihn dessen „Zuversicht, sein
Optimismus und seine Einstellung, dass man im Leben etwas bewegen kann“,
beeindruckt habe.35 Bushido selbst betreibt inzwischen eine Immobilienfirma und
gibt zu Protokoll, er sei heute eigentlich ein Spießer, der es genießt, die Hecken im
33
Vgl. Mark Fisher: Kapitalistischer Realismus. Interview mit Johannes Springer im Sozialismus 1/2010, S. 64
ff.
34
Dabei steht natürlich außer Frage, dass nach wie vor auch eindeutig progressive HipHop-Kulturen existieren,
die eine praktische Form der Selbstermächtigung sozial ausgegrenzter Jugendlicher darstellen und explizite
Sozialkritik oder politische Botschaften vermitteln. Die Stärke des HipHop besteht dabei zum einen in der
zentralen Rolle von Sprache, die eine differenzierte und relativ eindeutige Artikulation sozialer Erfahrungen
erlaubt. Zum anderen ist HipHop eine Kultur, die auf Sichtbarkeit im urbanen Raum angelegt ist – und die für
die damit verbundene demonstrative Missachtung von Privatbesitz (speziell im Zusammenhang mit Graffiti)
nach wie vor staatlich äußerst scharf verfolgt wird. Als aktuelles Beispiel für den emanzipatorischen Einsatz von
HipHop sei auf den Dokumentarfilm „Neukölln Unlimited“ von Augostino Imondi und Dietmar Ratsch
verwiesen, der vom Kampf einer libanesischstämmigen Familie gegen die ständige Bedrohung durch
Abschiebung erzählt. Im Kontext der arabischen Aufstände, besonders pointiert in Tunesien, tritt HipHop derzeit
sogar klassenübergreifend als Sprachrohr der Revolution auf. Für Deutschland zeigen Wetzstein et. al. anhand
von Fallbeispielen die innere Dynamik und Komplexität des HipHop. Er dient ihnen zufolge einmal dazu, der
bürgerlichen Langeweile zu entfliehen, ein andermal artikuliert er die Alltagsprobleme sozial ausgegrenzter
Jugendlicher und kanalisiert sie in gegenseitiger Aggression. In wieder anderen Fällen ist er Vehikel des sozialen
Aufstiegs, vermittelt Selbstvertrauen und einen disziplinierten Leistungsethos. In jedem Fall aber beinhaltet er in
seinen zeitgenössisch vorherrschenden Varianten Elemente einer performativen Inszenierung von Wettkämpfen
(vgl. Thomas A. Wetzstein / Christa Reis / Roland Eckert: Fame & Styla, Poser & Reals. ‚Lesarten’ des HipHop
bei Jugendlichen. Drei Fallbeispiele, in: Göttlich/Winter a.a.O.).
35
Zitiert nach Jens-Christian Rabe: Ein Imperium, das wär’s, in: Süddeutsche Zeitung vom 05.02.2010
11
Garten seiner Villa im Berliner Nobelbezirk Dahlem zu stutzen, ansonsten aber unter
Depressionen und Einsamkeit leide.36
Gerade das friedliche Einvernehmen zwischen Bushido und Seehofer signalisiert die
aus Sicht des konservativen Bürgertums abgründige Pointe dieser Art der
Integration. Denn was die Krawall-Rapper für viele Jugendliche auch jenseits der
sozialen Brennpunkte so attraktiv macht, ist die Tatsache, dass sie die Spielregeln der
zerfallenden Gesellschaft des entfesselten Kapitalismus ungeschminkt aussprechen.
Auch Bushido mag unaufrichtig posieren und sogar offensichtlich lügen, er macht
aber im Gegensatz zu den Blendern des bürgerlichen Lagers wie Guttenberg und
Westerwelle keinen Hehl aus seiner Scharlatanerie, er benennt sie vielmehr
achselzuckend als Teil des Spiels um Macht, Reichtum und Aufmerksamkeit. Das
konservative Bürgertum aber phantasiert von der meritokratischen Verbindung
zwischen ehrlicher Leistung, Verantwortung und Entlohnung – und projiziert sie in
vermeintliche Lichtgestalten hinein, die bei der erstbesten Prüfung in immer
kürzeren Intervallen wie Seifenblasen zerplatzen. Die Tatsache, dass sich die
Hoffnungen des bürgerlichen Lagers zuletzt auf einen durchgestylten
Adelssprössling mit einer öffentlich inszenierten Leidenschaft für die Prollrocker von
AC/DC fixierten, dass sich diese Hoffnungen selbst nach der (von Spitzen der Union
lange sekundierten) offenen Verhöhnung fundamentaler bürgerlicher Werte in der
Plagiats-Affäre nur sehr allmählich auflösten – all das verdeutlicht den politischmoralischen Verfall des Bürgertums. Nicht zum ersten Mal in der Geschichte hält das
Proletariat den Privilegierten also den Spiegel vor, im Bild eines Bushido erschrickt
der distinguierte Neoliberalismus vor seiner eigenen Fratze. Denn „die
Lebensbedingungen der alten Gesellschaft sind schon vernichtet in den
Lebensbedingungen des Proletariats. […] Die Gesetzte, die Moral, die Religion sind
für ihn [den Proletarier] ebenso viele bürgerliche Vorurteile, hinter denen sich ebenso
viele bürgerliche Interessen verstecken.“37
Daraus allerdings unmittelbar auf ein neues revolutionäres Subjekt zu schließen,
dürfte voreilig sein. Marxismus funktioniert nicht nach dem Prinzip Hoffnung. Im
Gegenteil: „Die Kritik [...] enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine
Wirklichkeit gestalte wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch“. 38 Erst
wenn es der Linken gelingt, den zunehmend gebrechlichen Personifizierungen
klassenspezifischer neoliberaler Mythologien nicht nur ihre besseren Theorien,
sondern auch attraktivere politisch-kulturelle Räume der Partizipation gegenüber zu
stellen, kann aus Enttäuschung Handlungsmacht werden.
36
Vgl. das Interview von Alexander Hagelüken und Alexander Mühlauer in der Süddeutschen Zeitung vom
25.01.2008
37
Karl Marx / Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Stuttgart 2005, S. 31
38
MEW Bd. 1 1974, S. 379
12