Stellenwert der abstinenzorientierten

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Stellenwert der abstinenzorientierten
ISF Forum 02.06.2003
Stellenwert der
abstinenzorientierten /
abstinenzgestützten Therapie
heute
A. Uchtenhagen
Institut für Suchtforschung Zürich
Warum „abstinenzgestützt“ ?
• Suchtfreiheit als therapeutisches Mittel zur
Veränderung von Integration und
Lebensqualität, nicht als Selbstzweck
• Nach Therapie unter Abstinenzbedingungen gibt
es nur in einer Minderzahl fortdauernde
Abstinenz, aber in grösserer Zahl andere
Konsummuster (gelegentlicher, mässiger,
aber auch exzessiver Konsum)
–Polich, Armor & Braiker 1981
–Uchtenhagen & Zimmer-Höfler 1985
Übersicht
• Welchen Anteil erreichen abstinenzgestützte
Behandlungen heute ?
• Gründe für den veränderten Stellenwert
• Heutige Varianten von abstinenzgestützten
Therapien
–Kurzzeitbehandlungen
–Langzeitbehandlungen
• Probleme und Strategien
Welchen Anteil erreichen abstinenzgestützte Behandlungen heute (1)
•Ca.1-10% der Suchtkranken stehen in einer
abstinenzgestützten stationären Behandlung
• Ca.5-15% stehen in einer abstinenzgestützten
ambulanten Behandlung
• 40-60% der Suchtkranken brechen eine
abstinenzgestützte Behandlung ab
• Attraktivität und Abbruchraten sind
veränderbar !
Welchen Anteil erreichen abstinenzgestützte Behandlungen heute (2)
Einige neuere Zahlen (ganze Schweiz):
• 57 % der Neueintritte 1995-99 in eine stationäre
abstinenzgestützte Behandlung haben bereits
Substitutionstherapien erfolglos versucht
(FOS)
• 64% der 1995-2000 wegen Opiatproblemen in
ambulante Suchtbehandlung/beratung
eintretende Personen werden nicht
substituiert, sondern drogenfrei behandelt
(SAMBAD)
Welchen Anteil erreichen abstinenzgestützte Behandlungen heute (3)
Einige neuere Zahlen zur Präferenz:
• ca. 20-24% der aus heroingestützter Therapie
Austretenden gehen in eine
ausstiegsorientierte Behandlung (HegeBe)
• Neueste Umfrage bei Heroinabhängigen in CH :
61% wollen Substitutionsbehandlung, 26%
eine ausstiegsorientierte Behandlung (2003)
Gründe für den veränderten
Stellenwert
• Entwicklung anderer Therapieformen und -
ziele
–„kontrollierter Konsum“
– Substitutionstherapien
• veränderte Einstellung der Klienten
– Regimes ohne Konsumverzicht bevorzugt
• Veränderungen im Umfeld
– Genuss und Selbstmanipulation statt
Enthaltsamkeit
Heutige Varianten von
abstinenzgestützten Therapien
• Kurzzeitbehandlungen
–Entzug
–Beschleunigter Entzug
•Langzeitbehandlungen
–stationäre Rehabilitation
–nichtpharmakologische Rückfallsprophylaxe
–pharmakologische Rückfallsprophylaxe
1. Indikationen - Zielsetzungen einer
Entzugsbehandlung
• Vorbereitung einer Entwöhnungsbehandlung
• Vorbereitung einer Substitutionsbehandlung
• Moratorium (Unterbrechung einer Sucht)
• Entzug als Palliativbehandlung
Entzug zur Einleitung einer
Entwöhnungsbehandlung
• Die Aufnahme in ein stationäres LangzeitEntwöhnungsprogramm setzt einen körperlichen
Entzug (extern oder intern) voraus
• Die Aufnahme einer ambulanten Behandlung
(Verhaltenstherapie, systemische Therapie u.a.)
setzt (zumindest) einen körperlichen Entzug
voraus
• Funktion : der Entzug soll eine Fortsetzung des
Suchtverhaltens zur Vermeidung von Entzugssymptomen verhindern
Teilentzug zur Einleitung einer
Substitutionsbehandlung
Indikation :
• bei Mehrfachabhängigkeit
• bei riskantem Mehrfachgebrauch
• wenn hohe Anfangsdosierungen geltend gemacht
werden
• Funktion : Eine Substitutionsbehandlung kann
risikoärmer gestaltet werden durch vorherigen
Teil-Entzug
Entzug als Moratorium
Die fortgesetzte Intoxikation mit Suchtmitteln soll
unterbrochen werden, um
• eine gesundheitliche Abklärung vorzunehmen
(maskierte komorbide Zustände !)
• eine Situationsklärung einschliesslich
Motivationsklärung zu ermöglichen
• eine gezielte Behandlungsplanung einzuleiten
• Funktion : der Entzug soll Besinnungs- und
Entscheidungsfähigkeit herstellen/fördern
Entzug als Palliativbehandlung
Der Entzug soll
• gesundheitlichen Risiken der Dauerintoxikation
vorbeugen
• die „Abwärtsspirale“ eines exzessiven Suchtverhaltens aufhalten
• das Umfeld vorübergehend entlasten
• Funktion : der Entzug dient einer momentanen
Entlastung/Erholung, ohne auf Suchtfreiheit
abzuzielen
Multifunktionales Schema
der Entzugsbehandlung
Ambulante
Therapie
DIAGNOSE
Palliation
ENTZUG
Moratorium
Stationäre
Entwöhnung
Substitution
Beschleunigter Entzug
• Ultra-rapid opiate detoxification UROD
• Naltrexone compressed opiate detoxification
NCOD
•Prinzip : Verdrängung der Opiate von den
Rezeptoren
•Als Antagonist wird Naltrexon verwendet
•Anwendung mit oder ohne Narkose
•Meist stationär durchgeführt
Ergebnisse von
Entzugsbehandlungen
• Motivation und Patienten-Erwartungen sind für
den Erfolg wichtiger als die Überlegenheit einer
bestimmten Methode
• Aufwendige Betreuung und Aktivierung haben
bessere Ergebnisse
• Bessere Kosteneffektivität stationärer Entzüge
• Variable Abbrecherquoten (bis 60%)
• Ohne Anschlussbehandlung hohe Rückfallsraten
und Mortalitätsrisiko
Mortalität nach Entzugsbehandlung
Studie von Strang et al (2003)
– 5 von 137 Patienten starben innert 1 Jahr (3.6%)
– 3 dieser Patienten starben innert 4 Monaten an
Überdosis (2.2%)
– alle Todesfälle betrafen die Patientengruppe, welche
die Entzugsbehandlung vollständig durchlief und
damit die Opiattoleranz verlor (3 von 37 = 8.1%)
– die Verstorbenen unterschieden sich signifikant vom
Rest durch soziale Isolierung und unregelmässigen
Heroinkonsum
– Konsequenzen Patienten informieren (nicht alleine
spritzen! Dosierungen beachten!)
Auswertung beschleunigter
Entzugsverfahren
• Kontrollierte Studien
– UROD ohne Naltrexon Anschlusstherapie : 80%
Rückfälle innert 6 Mten (Cucchia et al 1998)
– N plus Clonidine,Clonidin allein haben mehr Abrüche
als Buprenorphin allein (O‘Connor et al 1997)
– N plus Buprenorphin hat mehr Abbrüche als
Buprenorphin allein plus N am 8. Tag (Umbricht et al
1999)
• Schlussfolgerung
– Naltrexon führt wegen vermehrter Nebenwirkungen zu
höherer Abbruchrate
Naltrexone maintenance nach
beschleunigtem Entzug
• UROD
– hohe Drop-out Rate bei maintenance innert 6 Mten
(Digiusto et al : National evaluation of pharmacotherapies for opioid dependence NEPOD - why have we
done it ? Drug Alcohol Rev 20 (2002) 139-141)
– 12 und 18 Mte nach UROD geringere Abstinenzraten
als nach stationärem Entzug (Lawental 2000)
• NCOD
– Compliance : 68% nach 6 Mten, 30% nach 12 Mten
– Rückfälle : 39% innert 6 Mten, 49% innert 12 Mten
(Beaini et al 2000)
Befunde bei stationären
Langzeittherapien
• Selektivität
• Abbrüche
• Outcome
Selektivität stationärer
Langzeittherapien (CH)
• Nehmen ca. 3-5% der Heroinabhängigen auf (ca.
50-65% gehen in Substitutionstherapien)
• Einige Zielgruppen sind unterrepräsentiert :
Frauen, Migranten, Personen mit körperlicher
oder psychiatrischer Komorbidität
• Sozialdienste ziehen z.T. ambulante
Behandlungen aus Kostengründen vor
Retention und Therapieabbrüche in
stationärer Behandlung (FOS)
• In der Regel ist Behandlungsdauer von 6-12
Mten beabsichtigt
• Vorzeitiger Therapieabbruch in ca. 50% aller
Austritte (bei Methadonsubstitution ca. 43%)
• Erhöhtes Abbruchrisiko für Mehrfachabhängige
und Dualpatienten
• Spätabbrüche bei antizipiertem Scheitern
• Hauptrisiko des Therapieabbruchs : Tod durch
Überdosis
Abbrüche :6 und 12 Mte nach
Therapiebeginn
TG Italien 2000 (n=721) (Nicoletti et al 2002)
• Drop-out Raten
– 11.3% innert 1 Monat
– 17.2% innert 2 Mten
– 26.7% innert 3 Mten
• Risikofaktoren für Drop-out
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defiziente Therapiemotivation bei Eintritt
Komorbidität: Depression
Schlafstörungen
soziale Isolierung
Outcome :12 Mte nach Austritt
FOS 1998 (n=189) mittl. Therapiedauer 286 Tage
(Dobler et al 2000)
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37% keine harten Drogen seit Austritt
48% keine Probleme mit Polizei/Justiz
57% im Arbeitsmarkt integriert
79% gute soziale Vernetzung
43% erneut in Behandlung
20% vollständig rehabilitiert (incl. Drop-outs )
Zahl der Desintegrierten reduziert von 67 auf 25%
Rückfallsprophylaxe :
nichtpharmakologische Methoden
• Erkennen von und Umgang mit Risikosituationen
lernen; gesteigertes Bewusstsein von Selbstwirksamkeit verringert Rückfallsrisiken (Marlatt und
Gordon)
• Desensibilisierung von konditioniertem
Suchtverlangen (Saunders und Alsop)
• Selbstkontrolle des Konsumverhaltens lernen
• Unspezifisches Training sozialer Fähigkeiten
• Nachbetreuung mit Krisenintervention
Rückfallsprophylaxe :
pharmakologische Methoden
• Aversionstherapie (Antabus)
• Anti-craving Medikation (Acamprosat)
• Antagonisten (Dauertherapie mit Naltrexon)
Anti-craving Therapie mit
Acamprosat
• Randomisierte Studie (A allein, A mit
motivational enhancement, A mit Kurzinterventionen), 14 Polikliniken, n=241
– 53% Abbrüche innert 6 Mten (alle Varianten)
– zusätzliche psychosoziale Interventionen bringen keine
generelle Verbesserung der Ergebnisse (gemessen an
Trinkverhalten, compliance mit Medikation und
psychischem Befinden)
(De Wildt et al 2002)
Naltrexon Dauertherapie
Zusammenfassung klinischer Studien
• weniger Craving, mehr Abstinenz, besseres
soziales Funktionieren bei einigen Patienten
• Hauptprobleme : schlechte Akzeptanz &
Compliance
• bessere Ergebnisse, wenn mit psychosozialer
Therapie kombiniert
(Tucker & Ritter, Drug and Alcohol Review 19 (2000)
73-82)
Naltrexon Dauertherapie
kontrollierte Studien
– Weniger Abbrüche und Rückfälle, wenn
sporadischer Heroinkonsum toleriert wird
(Hulse & Basso 1999)
– Bessere Compliance wenn kombiniert mit
Familientherapie, mit täglicher Supervision
(Hulse & Basso 2000), mit Contingency
management (Preston et al 1999), mit regelmässiger Beratung (Rawson et al 2001)
– Bessere Compliance bei Patienten aus
Methadonbehandlungen (Saunders 2002)
Probleme und Strategien
• Effektivitäts-Steigerung
–evidence-based practice
–Rolle der Patienten-Motivation
–integrierte Therapie der Komorbidität
• Nachweis der Kosten-Effektivität
–comparative economic evaluation
•Einstellung auf neue Konsumformen und Zielgruppen
• Finanzierung
13 principles of effective drug
addiction treatment (NIDA 1999)
A research based Guide
• Matching treatment to all patient needs
• Immediate availability and accessability
• Minimal duration needed is 3 months
• Behavioural therapies are indispensable
• Integrated treatment of comorbidity
• Sanctions / enticements can be effective
Rolle der Patientenerwartungen
• Positive Erwartungen verbessern das Resultat
(deLeon 2000)
• Defizit an Anfangsmotivation kann kompensiert
werden (z.B. bei Therapie auf richterliche
Anordnung) (Grichting et al 2002)
• Motivierende Interviews verbessern
Therapiebereitschaft (Miller & Rollnick 1991)
• Motivationsverbessernde Methoden vermindern
Abbrüche (Simpson 1998)
Behandlung von Komorbidität
stationär
(nach Moggi et al 1996, 2002)
• Unterschiede zur sonstigen Langzeittherapie :
- erweiterte Diagnostik
- spezifisches Phasenkonzept
- spezifische Motivationsarbeit
- Verzicht auf Konfrontationsmethoden
- Stellenwert der Pharmakotherapie
• Voraussetzung : psychiatrische Kompetenz im
Team
Probleme und Strategien
• Effektivitäts-Steigerung
–evidence-based practice
–Rolle der Patienten-Motivation
–integrierte Therapie der Komorbidität
• Nachweis der Kosten-Effektivität
–comparative economic evaluation
•Einstellung auf neue Konsumformen und Zielgruppen
• Finanzierung
Fazit
Abstinenzgestützte Therapien haben einen
beträchtlichen, wenn auch begrenzten Stellenwert
heute und in Zukunft
aber sie können diesen Stellenwert nur behalten,
wenn sie sich den veränderten Anforderungen
stellen