Vergessene Orte: Topographien des Todes in Maja - UvA-DARE
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Vergessene Orte: Topographien des Todes in Maja - UvA-DARE
Zur Sprache kommen Maja Haderlaps Roman Engel des Vergessens und die Echos der Sprachtheorie Walter Benjamins “Es ist die Vergangenheit, mit der man rechnen muss.“ Alexandra John Masterscriptie Duits Begeleider: Prof. Dr. Carla Dauven van Knippenberg Universiteit van Amsterdam, November 2012 1 1. Inhaltsangabe 2. Einleitung 3 3. Maja Haderlap 6 3.1. Bewegung aus Leiderfahrung 6 3.2. Aufbau des Buches 7 3.3. Der Roman Engel des Vergessens 8 3.4. Einordnung des Textausschnittes Im Kessel 20 3.5. Unbehaust sein in der Sprache / Exil 21 4. Walter Benjamin Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen 4.1. Kurze Einführung in den Zusammenhang 23 23 4.2. Benjamins Theorie der Sprachmagie – Von der Schöpfungsgeschichte bis zum Sündenfall der Sprache 4.3. Kommentar 24 30 5. Echos der Sprache im Geschichtsraum 5.1. Trauma wird Notwendigkeit 35 5.2. Benjamins Sprachechos in Haderlaps Roman – Von der Schöpfungsgeschichte bis zum Sündenfall der Sprache bei Haderlap 41 5.3. Die Landschaft, die zum Geschichtsraum wird 46 5.4. Benjamins Engel: Die Zukunft ist ohne die Vergangenheit nicht zu Haben 49 5.5. Literatur als Utopie, utopische Literatur 50 6. Schlusskommentar 52 7. Bibliografie 58 2 2. Einleitung Die Basis für diese Arbeit legt das Romandebüt von Maja Haderlap Engel des Vergessens. Dieses Buch erschien im Juli 2011, einen Tag nachdem die Autorin mit einem Auszug aus dieser „notwendigen Geschichte“1 mit dem Ingeborg Bachmann Preis ausgezeichnet wurde. Der Roman erzählt vom Niemandsland der Kärntner Slowenen und thematisiert eine Zukunft, die ohne Vergangenheit „nicht zu haben ist“2. Maja Haderlap berichtet vom Widerstand der slowenischen Minderheit in Kärnten gegen den österreichischen Nationalsozialismus, der mit dem Anschluss von Österreich an NaziDeutschland 1938 die Norm war; von der Inhaftierung, Folterung und Ermordung vieler slowenischsprachiger Österreicher; von der Verschleppung – auch von Frauen und Kindern – in Konzentrationslager; von der rigorosen Verdrängung des Themas nach 1945. Aus Engel des Vergessens spricht ein glaubhafter Schmerz, der in die Gegenwart hinein reicht. Haderlap erzählt eine Geschichte, die sie bisher nicht erzählen konnte. Die auch bei vielen anderen Schriftstellern nicht groß Beachtung fand3. Die Frage, die sie in ihrem Roman erörtert ist, wie soll man von einer Vergangenheit erzählen, die so viel Leid und schmerzliche Erinnerungen hinterlassen hat. Gibt es eine angemessene Darstellung dieser massiven Traumas und wie kann man mit einem Trauma weiterleben? Anhand der Geschichten ihrer Großmutter und ihres Vaters rekonstruiert Haderlap das Erlebte, dass keinen Platz im Erlebten hat. Das verdrängte Erlebte und Vergessene transformiert sich durch Haderlap’s Schreiben und offenbart sich in diesem Roman als ein Zeugnis. Sie gibt dem Vergangenen, das nicht einmal das Eigene sein muss, eine Form, eine Sprache, einen Atem. Die Geschichte Kärntens bekommt dadurch Existenz. Haderlaps Roman gibt dem topographisch bestimmten Ort eine besondere Strahlkraft, womit er ein Ort des Gedächtnisses wird. Die Ereignisse, die sich vorgetan haben, müssen aus dem Geschehenen in Schrift übersetzt werden, um sie dem kulturellen Gedächtnis zu überliefern4. Erst durch das Erzählen werden sie Geschichte. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem Denken und Schreiben einer traumatischen Vergangenheit, die eben nicht die Eigene sein muss. Im Besonderen geht es um das Erzählen der Geschichte eines Volkes, die noch keinen Platz in der Gegenwart hat. Ursprung des Schreibens bei 1 So die Wiener Jurorin des Bachmann-Preises Daniela Strigl. 2 Christa Gürtler: Zu Bruchstücken zerfallen. Der Standard, Ausgabe 6845, 29. Juli 2011. S. A10. 3 Im renomierten Literaturbetrieb beschäftigt sich in letzter Zeit zufällig Peter Handke mit dem gleichen Thema. In seinem Buch Immer noch Sturm (2010) zeigt er den Zweiten Weltkrieg aus Sicht der unterdrückten Kärntner Slowenen. Es war der einzige Partisanenkampf innerhalb des Dritten Reiches. Auch Handke setzt diesen Freiheitskämpfern ein literarisches Denkmal. 4 Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis, Verlag C.H. Beck, 2007, S. 71. 3 Haderlap sind traumatische Ereignisse, die sie teilweise selber erlebt hat. Das größte Trauma wird aber durch die Erzählungen der Großmutter und des Vaters weitergegeben. Haderlap ist die Vermittlerin von Geschichten, die durch sie zur Sprache kommen. Diese Geschichten bekommen eine Existenz, indem sie aufgeschrieben werden. Wir gehen mit Haderlap auf eine Reise in die Zukunft unserer Vergangenheit, wenn Haderlap ihren Roman mit einem Hinweis auf Walter Benjamins Engel der Geschichte beendet, dem die Geschichte vorkommt wie „eine einzige Katastrophe“5. Ziel dieser Arbeit ist zu untersuchen, was eine Verortung6 in der Vergangenheit bedeutet für ein Leben in der Zukunft. Kann man Geschichten erzählen, die nicht verortet sind? Sind diese Geschichten wahr? Und was ist Wahrheit7? Haben die persönlichen Erlebnisse und Geschichten einen Status, wenn sie nicht aufgeschrieben sind? Ist eine Verortung der Erlebnisse Bedingung zum Überleben des Unfassbaren? Was bedeutet der Engel der Geschichte von Benjamin am Ende des Romans? Was stellt Haderlap dem gegenüber? In der folgenden Arbeit werde ich die Sprachfindung Haderlaps erörtern mit Hilfe der Sprachtheorie Benjamins. Bei Benjamin, wie auch bei Haderlap, bilden die Sprache und die Geschichte die Pole, um denen ihr Denken kreist. Muss diese Sprache übersetzt werden aus gesprochenem Wort in Schrift? Teilt sich in dieser Schrift der Geschichtsraum mit? Wird der Geschichtsraum durch die Sprache mitgeteilt? Und offenbart sich durch die Sprache die Welt? Benjamin ist in seinem Sprachaufsatz der Meinung, dass man Sprache nicht reduzieren kann als ein bloßes Vehikel menschlicher Mitteilung in dem er sagt: „Jede Äußerung menschlichen Geistesleben kann als Art der Sprache aufgefasst werden“8. Diese Sprache muss auf eine Art und Weise ihren Niederschlag in der Schrift finden, in der sie verortet wird. Erst dann kann sie Geschichte werden. In diesem Zusammenhang werde ich Stücke aus Walter Benjamins Sprachtheorie gebrauchen im Hinblick auf eine Auseinandersetzung mit der Sprachfindung bei Haderlap. Der Sprachaufsatz Über 5 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, 9te These, S. 146. 6 Der Ort hilft uns die Vergangenheit zu beschreiten. Er wird hier verstanden als physischer Ort und der Begriff der „Verortung“ wird für die Konstruktion oder Bewahrung eines solchen Ortes verwendet. 7 Dem Begriff Wahrheit werden verschiedene Bedeutungen zugeschrieben, wie Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, einer Tatsache oder einem Sachverhalt, aber auch einer Absicht oder einem bestimmten Sinn bzw. einer normativ als richtig ausgezeichneten Auffassung („Truism“ oder Gemeinplatz) oder den eigenen Erkenntnissen, Erfahrungen und Überzeugungen (auch „Wahrhaftigkeit“).. Das zugrundeliegende Adjektiv „wahr“ kann aber auch die Echtheit, Reinheit oder Authentizität einer Sache, einer Handlung oder einer Person, gemessen an einem bestimmten Begriff, beschreiben („Ein wahrer Freund“). Alltagssprachlich kann man die „Wahrheit“ von der Falschheit, der Lüge als absichtlicher Äußerung der Unwahrheit und dem Irrtum als dem fälschlichen Fürwahrhalten abgrenzen 8 Walter Benjamin: Sprache und Geschichte. Philipp Reclam, Stuttgart 1992, S. 30. 4 Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen wird im zweiten Kapitel einen zentralen Platz einnehmen. Der Text Die Aufgabe des Übersetzers wird wegen ein paar essentiellen Aspekten erwähnt. Der erste Teil dieser Arbeit ist Haderlaps Roman Engel des Vergessens gewidmet. Ich werde eine Zusammenfassung und Einordnung des Bachmann-Preis-Textes Im Kessel geben. Eine Interpretation des Geschriebenen kann dabei nicht ausbleiben. Im zweiten Teil werde ich eingehen auf die wichtigsten Aspekte von Benjamins Sprachaufsatz Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen und die Bedeutung für Haderlaps Roman deutlich machen. Der dritte Teil hat einen verbindenden Karakter. In diesem Teil werde ich die verschiedenen Ebenen zusammenbringen. Angefangen bei den traumatischen Erlebnissen, die sich in der Landschaft abgespielt haben und die aus dem Erzählten in Schrift gefasst werden mussten. Dann zur Landschaft, die Geschichtsraum wird, indem sie durch die Sprache mitgeteilt wird. Um schließlich zu enden bei einem Ausblick auf unsere Zukunft, die ohne diesen Geschichtsraum, diese Vergangenheit, nicht zu haben ist. Der dritte Teil fängt Echos ein. Echos von Freud und seine Arbeit zum Thema Trauma, Echos von Benjamins Sprachtheorie und das Echo des Engels der Geschichte. Alle Echos werden auf Haderlaps Roman zurückschallen. 5 „ WENN DIE MENSCHEN SCHWEIGEN, SO WERDEN DIE STEINE SCHREIEN“ 9. 3. Maja Haderlap (1961 – heute) 3.1. Bewegung aus Leiderfahrung Manche Bücher brauchen Zeit. Sie schreiben sich von einem bestimmten Datum her, weil in ihrer Geschichte Privates und Politisches einen Platz haben. Die Österreicherin Maja Haderlap ist 50 Jahre, als ihr erster Roman Engel des Vergessens (2011) veröffentlicht wird, für den sie den Ingeborg Bachmann-Preis10 erhält. Das Haderlap für ihren Roman den Bachmann-Preis gewonnen hat, kommt nicht von ungefähr. Herkunft, Themen und Sprachgebrauch beider Frauen sind ähnlich. Beide thematisieren den Einfluss der Geschichte auf die Sprachkonzeption. Auch brauchte sie nicht mehr ‚entdeckt’ zu werden, jedenfalls nicht in Österreich. Unter den 14 zum Literaturbewerb angetretenen Kandidaten war Haderlap die im Kulturbetrieb wohl renommierteste: „eine preisgekrönte Lyrikerin, 15 Jahre lang Chefdramaturgin am Stadttheater Klagenfurt, Übersetzerin vom Slowenischen ins Deutsche“ 11 – eine, die sich mit der Sprache auskennt. 1977 wurde der Preis zum ersten Mal vergeben. Erst 35 Jahre später soll eine Österreicherin wieder Trägerin des Preises werden. Mit der Kärntnerin Maja Haderlap ging der mit 25.000 Euro hoch dotierte Preis nun zum zweiten Mal in die Heimat der Namensgeberin 12. Erst im vierten Wahlgang setzte Maja Haderlap sich durch und bekam den Preis für ihren Textausschnitt Im Kessel. Dieser Ausschnitt ist Teil dieses Romans, der den Widerstand der Kärntner Slowenen gegen das NS-Regime beschreibt. Haderlap thematisiert die Unfähigkeit einer Familie, sich den Gewalterfahrungen aus der Nazizeit zu stellen in einem präzise gearbeiteten, streckenweise hochpoetischen Text. Dabei dient der 9 J. G. Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität. (hg. v. H. Stolpe). Band 2, Berlin: Aufbau 1971, 92f. 10 Der Ingeborg-Bachmann-Preis ist ein in Klagenfurt seit 1977 jährlich stattfindender Literaturpreis, der auch als die „Tage der deutschsprachigen Literatur“ bezeichnet wird. Die Besonderheit des Ingeborg Bachmann Preises ist, dass von der Fachjury vorgeschlagene Autoren ihre Texte in dreißig Minuten vor den Juroren und einem Livepublikum vortragen, worauf die Jury über den vorgetragenen Text diskutiert. Zum Vorbild für das ‚Wettlesen‘ wurde der von der „Gruppe 47“ eingeführte öffentliche Vortrag der Werke durch die Autoren selbst vorgelesen. In diesem Zusammenhang muss angemerkt werden, dass Ingeborg Bachmann Mitglied der Gruppe 47 war. Der Ingeborg Bachmann-Preis ist der 1973 verstorbenen Schriftstellerein gewidmet. 11 Brigitte Schwens-Harrant: Im Wald der Geschichten . ‚Die Furche’, 14.07.2011, Ausgabe 28. 12 Der Kärntner Gert Jonke war 1977 der erste Bachmann-Preisträger. 6 Wald als Großmetapher, als Schutz- und Angstraum, zugleich erweitert sich die Landschaft zum Geschichtsraum, in dem „die Sprache eine Mitteilung geistiger Inhalte“13 ist. Dieser Text berührt zutiefst, nicht nur weil er autobiografisch ist. Haderlap versucht der Magie der Sprache, von der Benjamin spricht, Ausdruck zu geben, indem sie das Dasein der Sprache auf schlechthin alles bezieht. Wie sie das macht werden wir im Zweiten und Dritten Teil sehen. Die Preisträgerin ist keine junge Roman-Debütantin, sondern eine erfahrene, belesene Autorin, die 1961 geboren wurde. Sie arbeitete 15 Jahre lang in Klagenfurt als Theaterdramaturgin und hatte in früheren Jahren zwei Gedichtbände auf Slowenisch veröffentlicht. Sie gilt als etablierte, slowenisch schreibende Dichterin. Das Buch Engel des Vergessens hat Haderlap in der deutschen Sprache niedergeschrieben. Das Deutsch habe ihr geholfen, die nötige Distanz zu ihrem „ratlosen Kreisen in der Familienvergangenheit“14 aufzubauen. „Weil Großmutter mein Kindheitsstock ist, an dem ich mich festhalte“( 13). Ihr A und O15. Haderlap verarbeitet Geschichten, mit denen sie aufgewachsen ist, Geschichten jener Kärntner Slowenen, die als Partisanen gegen Hitler kämpften und von denen viele starben in den Konzentrationslagern. Haderlap ist auf Spurensuche in die leidvolle Geschichte der slowenischen Minderheit in Österreich. Um mit Bachmanns Worten zu sprechen: „aber Sie wissen, wie schwierig es ist, über Dinge zu sprechen, die noch nicht feste Formen angenommen haben: sie brauchen sehr viel Zeit“16. Sie gibt speziell den Kärntner Partisanen postum eine Stimme, denen immer noch eine weitgehend verweigerte Beachtung widerfährt in einem prekären Kapitel österreichischer Vergangenheit. Mit diesem Roman hat Haderlap ein immerwährendes Denkmal geschaffen für ihre Vorfahren (und beispielhaft auch für andere Familien). 3.2. Aufbau des Buches Der Roman ist nicht eingeteilt in nummerierte Kapitel. Jeder Abschnitt beginnt mit einem großen Buchstaben. Geht man den Abschnitten aber nach, so entdeckt man 54 Kapitel, mit ganz bestimmtem Inhalt. Der Roman ist eine Komposition und sorgfältig orchestriert. Der Text hat drei zeitliche Schichten: das Leben des Mädchens in den 60er und 70er Jahren (1967 – 1975), der Vater, das Studium in Wien, der Jugoslawienkrieg (1979 – 1994) und die Heimkehr der Überlebenden (1995 – 2004). 13 Walter Benjamin: Sprache und Geschichte. Philipp Reclam, Stuttgart, 1992, S. 30. 14 Maja Haderlap: Engel des Vergessens. Wallstein Verlag, 2011, S. 280. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird die Angabe eines Zitates als Seitenzahl im Fliesstext angegeben. 15 Anspielung an ein Zitat von Hamann: „Sprache, die Mutter der Vernunft und Offenbarung, ihr A und O“. Auf dieses Zitat werde ich im 4ten Kapitel über Walter Benjamin zurückkommen. 16 Ingeborg Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden. Piper, 1983, S. 13. 7 Die Nummerierung der Kapitel läuft auffallend synchron mit den Ereignissen in Haderlaps eigenem Leben, die auf der Ebene des Erzählens liegen. Ganze 50 Jahre liegen zwischen den Kapiteln und dem wirklichem Ereignis. Eine verblüffende Übereinstimmung, da Haderlap beim Erscheinen des Romans auch 50 Jahre alt ist. Nehmen wir zum Beispiel das 38ste Kapitel auf Seite 209. Der erste Satz referiert an den Anschluss Österreichs an das „Dritte Reich“ vor fünfzig Jahren. Das Datum war der 12. März 1938. Das Ich in der Erzählung befindet sich in diesem Kapitel im Jahre 1988. Haderlap ist dann in Wirklichkeit 27 Jahre alt, als dem Vater eine Wiedergutmachungsprämie vom österreichischem Staat angeboten wird. 3.3 Engel des Vergessens Der Roman ist autobiografisch und hat drei Teile. Der erste Teil umfasst die Kindheit in den 60er und 70 Jahren. Diese private Dimension umfasst das halbe Buch. Beschrieben wird das Leben eines Mädchens, dass für eine Zukunft kämpft. Aber in dieser Familie ist diese Zukunft nicht ohne Widerstand und Kampf zu haben. Der erste Teil endet mit dem Tod der Großmutter im Jahre 1975. Das Mädchen ist ungefähr 14 Jahre alt. Der zweite Teil umfasst ein Drittel des Buches und beschäftigt sich mit dem Leben nach Großmutters Tod. Der Vater bekommt hier einen prominenten Platz. Die Geschichte wird in der jüngeren Vergangenheit situiert und spielt sich vor allem in den 80er Jahren ab. Das Mädchen geht ins Klagenfurter Gymnasium, später zum Studium nach Wien um Theaterwissenschaften zu studieren, nach Ljubljana, wo sie sich aufhält, als der Krieg in Jugoslawien 1991 ausbricht. Es löst sich von der beklemmenden Umgebung ihrer Heimat. Auch läuft der zweite Teil verblüffend synchron zu den politischen Zeitläufen ihres Heimatlandes. Die Kapitel 39 – 44 widerspiegeln die historischen Daten und thematisieren parallel, mit einem Abstand von genau 50 Jahren, den Zweiten Weltkrieg und den nahenden Jugoslawien-Krieg (ab 1991). Mit dem Aufkommen des Krieges werden die Wunden, die der Partisanenkrieg im Zweiten Weltkrieg hinterlassen hat, erneut aufgerissen. Der dritte Teil ist ein Ausblick nach dem Jugoslawien-Krieg (1995) und thematisiert die Heimkehr der Überlebenden, eigentlich aus beiden Kriegen. Der Vater hat in diesem Teil wieder einen prominenten Platz. Haderlap durchläuft das Leben des Vaters als eine Vorschau auf die Vergangenheit „An einem Sommertag wird er seinen Bauernwillen zu Grabe tragen. Ich werde diesen Sonntag mit ihm verbringen“ (259). Haderlap geht zurück in die Zeit vor ihrer Zeit und durchschreitet noch einmal die Erzählung der Großmutter. Die Erinnerungsstücke der Großmutter haben Haderlap zum Erzählen gebracht. Der Ravensbrücklöffel, der Rosenkranz aus mit Speichel gerollten Kugeln oder zum Beispiel das rötlich fleckige Gefängnistagebuch. Sie fährt in das ehemalige Lager Ravensbrück an exakt demselben Tag, den 13. November 2003, 60 Jahre später, an dem die 8 Großmutter ins Konzentrationslager deportiert wurde. Dieser Besuch ist eine Art ‚Eingedenken’17, „um von einem vertrauten Ort Abschied zu nehmen“ (283). Haderlap beendet ihren Roman mit einem der zentralen Bilder von Walter Benjamin aus seinem letzten Essay Über den Begriff der Geschichte: „Der Engel der Geschichte wird über mich geflogen sein. Seine Flügel werden einen Schatten auf das Lagerantlitz geworfen haben“ (286). Diesem Engel stellt sie einen Engel des Vergessens zur Seite. Denn, es ist die Vergangenheit, mit der man rechnen muss. Es gibt keinen Blick auf die Zukunft, ohne eine Vergangenheit. Bei ihrem Besuch an das Konzentrationslager Ravensbrück, in den Fußspuren der Großmutter, begleitet dieser Engel sie in die Gegenwart und entfernt die „Engelbildchen über ihrem Kinderbett“ (287) endgültig. Dieser Engel hat vergessen die „Spuren der Vergangenheit aus (ihrem) Gedächtnis zu tilgen“ (286). Diese Spuren sind aber notwendig. „Man musste zuerst anfangen, im neuen Leben, das alte zu vergessen. Zuerst das Einmaleins des Vergessens, eine harte Schule?“ (216). Haderlap hat mit diesem Roman dem Engel eine Gestalt gegeben in der Form einer Erzählung. In Engel des Vergessens ist die Form nicht vom Inhalt zu trennen. Es ist eben nicht nur wichtig, wie etwas erzählt wird, sondern auch was jemand zu erzählen hat. Hier geht es um die zu Sprache gewordene Geschichte. 3.3.1. Erster Teil: Die Kindheit in den 60er und 70er Jahren (1967 – 1975) Die Großmutter Der Roman beginnt mit der Beschreibung des Bauernlebens der Großmutter Mitzi in den sechziger Jahren. Vater Zdravko und Mutter Karla gesellen sich in der Beschreibung seitlings dazu. Der Roman ist stark autobiografisch. Die Autorin erzählt von ihrer Kindheit in den 60er und 70er Jahren in Kärnten. Die Erzählung entfaltet sich aus dem Dunkel einer „schwarzen“ (5) Küche, einer „dunklen“ [und] „schlecht beleuchteten Grotte“ (5), in der die Gerüche nach Erde, Rauch und gesäuerter Luft hängen. Ein „Häuflein Asche“ (5) liegt unter dem Ofenloch. Sie erzählt von „Speisen für Lebende und für Tote“ (6). Sie habe die Kessel gewaschen im Lager, dadurch konnte sie sich am Leben halten, auch wenn es nur eine Kartoffelschale war. In der Erzählung ist die Großmutter die „Bienenkönigin“, [das Mädchen] „ihre Drohne“ (7), die ihr überall hin folgt. Großmutters Zimmer ist die formende Keimzelle. Vom Räucherfleisch und geröstetem Hafer, vom Bienenhaus und Brotbacken ist die Rede. Sie spricht vom „Ofenrachen [der mit] grauweißen Mehlbäuchen gefüttert“ (9) wird. Aber auch vom wenigen Brot, dass es zu essen gab im Lager. Und dann verteilt die Großmutter die Brotkrümel und Brotrinden an die Tiere, „denn, das Brot das du verteilst, kommt wieder zurück“ (10). Ein andermal 17 Im Celanschen Sinn 9 zeigt sie ihren „schönsten Wintermantel“ (21), den sie bei der Räumung des Lagers getragen hat und erwähnt immer wieder ihre Ziehtochter Mici und ihre Schwägerin Katrca, die als Asche aus dem Lager zurück kamen. Unwillkürlich beschleicht den Leser das Gefühl, dass Großmutters Küche einem Ofen gleicht, einem Verbrennungsofen. Großmutter wusste schon, wie man damit umgehen musste. Sie war „vertraut mit dem Tod“ (11). Die Mutter Im krassen Gegensatz dazu wird die Mutter geschildert. Sie kommt im Roman nur am Rande vor. Die Mutter liebt es „während der Arbeit zu singen“, [ihre] „Zärtlichkeiten sind ungestüm“ (11). Die Mutter ist mit den einfachsten Dingen zufrieden und verrichtet mit einer spröden Stummheit die kräftezehrenden Arbeiten auf dem Hof. Ihr Weg zu Gott ist der „Fleiß und das Einhalten der Gebote Gottes“, [ihr] „Wunschraum ist der Altarraum“ (25). Das Mädchen schläft mit sechs, sieben Jahren schon bei der Großmutter im Zimmer und die Mutter befestigt zwei gerahmte Engelbildchen über dem Bett. Mit Skepsis betrachtet das Mädchen die Engel, die ihr zu „naiv und unerfahren“ (14) erscheinen, um auf sie aufzupassen. Das Thema der Engel läuft hinaus auf eine Glaubensfrage. Die Mutter glaubt an die Kirche, die Großmutter hat den Glauben verloren und „eigene Absprachen mit der Natur“ (27) gemacht, die eher übernatürlicher Natur sind. Die Mutter kennt aber auch Niedergeschlagenheit, Kummer und Verzweiflung. „Zuweilen finde ich Mutter im elterlichen Schlafzimmer.[…]. Ihre Verzweiflung muss groß sein, denn die Gummistiefel und ihre gefleckte Schürze passen so gar nicht zur hellen, leinenen und mit bunten Blumen bestickten Tagesdecke, die sie über das Ehebette gebreitet hat“ (12). Es kommt sogar so weit, dass die Mutter ihr fünftes Kind zur Welt bringt und der Vater es nicht anerkennen will (145). An den Wochenenden schickt die Mutter das Kind ins Gasthaus um den Vater zu holen, anstatt selber zu gehen. Die Mutter wird später mit ihrem Moped „ein unzertrennliches Paar“ (207) und sie wird aus dem ‚Graben’ immer wieder wegfahren. Sie ist die Einzige, die sich den Erzählungen entziehen kann. Sie schafft das wahrscheinlich wegen ihres ‚einfachen’ Bauernglaubens. „Sie ist der Meinung, dass man sich im Leben zusammenreißen und Geschichten mit gutem Ausgang erzählen müsse“ (205). Der Vater Der Vater wird behutsam in die Geschichte eingeführt. Man sieht ihn „immerfort die Hände reiben“, [vor] „Ungeduld oder vor Freude“ (15). Am „Mistflug“ (16) ist seine Laune zu erkennen. Das heißt an der Art der Bewegung der Mistgabel: manchmal energisch, dann wieder sanft. In den energischen 10 Momenten setzt sich alles auf dem Hof in Bewegung. Man kommt nicht um ihn herum. Seine Vorliebe ist das Rauchen und das Bienenhaus. „Sein Tabak lähme die grimmigsten Tiere“ (20)18. Langsam tretet sein stärker werdender Jähzorn auf, seine Schlafstörungen und sein Alkoholismus. Mit seiner großen Schwermut und den Selbstmordgedanken terrorisiert er die ganze Familie, wenn das Schuldgefühl überlebt zu haben, zu groß wird: „Mit dem Kälberstrick in der Hand sitzt er in der Küche und denkt laut über Selbstmord nach […]. Zdravko, du kannst doch nicht ewig ans Sterben denken. Du musst aufhören damit! Ich weiß, wie man sich fühlt, wenn man nicht mehr weiterleben will, aber du wirst ja alle um dich herum kaputtmachen“ (149). Und dann sieht das Kind einen in der Küche liegenden, blutenden Vater, der bei einem Unfall verletzt wurde. Mitunter findet man ihn neben dem Gewehr liegend, dessen Lauf ins Nirgendwo gerichtet war. Nur bei der Jagd findet er Zuflucht, bei der Natur, im Wald, auch wenn der Wald ‚zwiespältig’ ist. Er ist Versteck, aber auch Jagd- und Kampfschauplatz der Partisanen gewesen. Mit zwölf Jahren wurde er von der Nazi-Polizei verhört und sollte die Verstecke der Partisanen im Wald verraten. Mit einem Strick um den Hals wurde er immer wieder an einem Baum hochgezogen. „Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert“19, schreibt Jean Amery. Der Vater ist ein potentieller Selbstmörder bis zu seinem Ende, auch wenn er eines natürlichen Todes stirbt. Dieser Mann baut ein Haus für seine immer größer werdende Familie. Ein Haus, das Symbol steht für das Leben seines Erbauers. Gegen den Willen der Großmutter muss das alte Haus, man findet einen Stein mit der Jahreszahl 1743, abgerissen werden. Nur mühsam setzt sich der Vater durch, lässt aber immerhin den alten Keller stehen, so „das das neue Haus auf dem Fundament des alten stehe“ 18 Der Konjunktiv II drückt einen möglichen, angenommenen, nur gedachten aber nicht realen Sachverhalt aus. In dieser Funktion kommt er aber in einem unabhängigen Hauptsatz nur selten vor. Der Konjunktiv II wird auch Irrealis genannt. Durch die Formulierung von Bedingungen und ihren Folgen lassen sich auch Vorstellungen und Wünsche, die wahrscheinlich nicht eintreten werden oder unmöglich sind, oder die Zweifel des Sprechers an bestimmten Sachverhalten zum Ausdruck bringen. Haderlap gebraucht im Zusammenhang mit ihrem Vater öfter den Konjunktiv II. 19 Der österreichische Schriftsteller und Widerstandskämpfer Jean Améry sagte einmal über seine in KZ-Haft erlittene Folter, dass man „[die Folter] nicht beschreiben kann, weil die Gefühlsqualität des physischen Erleidens prinzipiell sich der MitTeilung entzieht.“ (zit. nach Leo A. Müller 1989: betrifft: amnesty international, Seite 69). Wer gefoltert wurde, leidet oft sein Leben lang an den körperlichen und seelischen Verletzungen. „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt.“ (zit. nach Leo A. Müller 1989: betrifft: amnesty international, Seite 78). Menschen werden gefoltert, um sie körperlich und seelisch zu zerstören. Folter betrifft aber nicht nur die Gefolterten, sie hat auch einen weit reichenden politisch-psychologischen Effekt auf die Bevölkerung. Die Angst, Opfer von Folterungen oder Misshandlungen zu werden, führt zum Verzicht auf die Wahrnehmung grundlegender Bürgerrechte, wie zum Beispiel Meinungs- oder Versammlungsfreiheit, und zur Unterdrückung jeglichen oppositionellen politischen Handelns. 1978 nahm sich Jean Améry 61-jährig das Leben. Ein weltweites Problem ist die Straffreiheit der Täter. Dadurch werden die Opfer ein zweites Mal gedemütigt. 11 (64). Mit dem Abriss des Hauses scheint sich auch ein Teil „aus Großmutters zartem Körper zurückzuziehen“ (61). Am Ende wird dies ein Haus ohne Zentralheizung und ohne warmes Wasser, indem es im Winter eisigkalt ist. Das Kind bekommt aber auch ein eigenes Zimmer und verlässt damit den Wirkungsraum der Großmutter. So quälend das Leben für diesen Mann, „sein Toben erinnert an Schreie eines zum Tode Verurteilten“ (165), so unerträglich ist es auch für all diejenigen in seiner Nähe. Seine Zerstörungswut richtet sich nach innen und entlädt sich später nach außen, gegen die Mutter und das Kind, das dennoch ein „Vaterkind“ (274) bleibt. Besonders für seine Frau, in ihrer stummen Traurigkeit, wenn deutlich wird, warum sie in dieser Erzählung eine Randfigur bleiben wird: „Großmutter hört nicht auf, sich zu beschweren dass Mutter etwas Besseres sein möchte, dass sie keine Ahnung von den Menschen und von der Welt habe, weil sie in ihrem Leben noch nie gelitten habe, weil sie keine Vorstellung vom Leid habe“ (104). Der Mutter wird der Vorwurf gemacht nicht mitzuzählen, weil sie von den Verfolgungen der Nazis verschont geblieben ist. Das erfahrene Leid wird als Eintrittskarte gesehen in die Gemeinschaft 20. Die Lehre bei Großmutter In diesen dunklen Momenten des Vaters ist es die Großmutter und nicht seine Frau, die ihn mit einer Gusseisenpfanne mit rauchenden Weidenruten, die sie im Raum herumschwenkt, zurückholt. Praktiziert wird ein strenggläubiger Katholizismus, in dem die Großmutter ihrem „Glauben“ anhängt, aber nicht der Kirche: „Den Glauben an Gott müsse man im Herzen tragen […] Auf die Kirche sei kein Verlass, findet sie, man könne ihr nicht vertrauen“ (27). Die Großmutter glaubt an die Macht des gesprochenen Wortes, an „Wort, das Brot geworden ist“ (28), an „Wortzauber“, […] „Wortdach“ [und] „Wortfittiche“ (29). Der Schutz kam durch das Wort, „denn die Wirkung liege im Gesprochenen, nicht im Geschriebenen“ (29). Diese Großmutter beschließt die Erziehung des Mädchens zu übernehmen. Sie unterrichtet sie in Sachen, die ihrer Meinung nach wichtig sind für ein Mädchen. Das ist das Tanzen, das Kartenspiel und die Bewirtung der Besucher. Das Bücherlesen beargwöhnte sie. Das kleine Mädchen hört zum ersten Mal den Namen Ravensbrück, der sich in seinen Wortschatz nestelt. Es sieht ein „Arbeitsbuch“ mit dem deutschen Reichsadler, später dann auch die „Lagernummer“ auf dem Unterarm der Großmutter (36). Nach dem Besuch von Großvaters Grab wird dem Mädchen deutlich, dass „Großmutters Todessehnsucht von weiter her kommt und eine verborgene Ursache hat“ (40), denn die Großmutter wurde am 12. Oktober 1943 verhaftet und mit anderen Frauen deportiert. Sie ist zu diesem Zeitpunkt 39 Jahre alt. Sie erzählt auch, wer 20 Erst viel später erfährt die Erzählerin von einem Freund der Familie, das auch in der Familie der Mutter Opfer gefallen sind: „[…] weil ich erstaunt bin, das erste Mal zu hören, das drei Onkel meiner Mutter bei den Partisanen gefallen sind. […] und niemand aus unserer Familie hat es je für wert gefunden, sie in die Familienerzählung aufzunehmen“ (218). 12 zurückkam und wer nicht und vor allem, wie jemand zurückkehrte. Ihre Odyssee führt schließlich Anfang 1945 nach Ravensbrück, wo sie die Ermordung vieler miterleben musste. Auch sie lag in „der Typusbaracke“[…], „bereit für den Abtransport ins Gas“ (129), als sie die Identität einer Toten annahm, um nicht deportiert zu werden. Ein halbes Jahr lebte sie als Tote und „illegal“ (130) im Lager, bis sie dann schließlich befreit wurde. Aus dem Lager musste sie getragen werden, weil sie zu schwach war, um selber zu gehen. Von einer Nachbarin aus dem Lepenatal wurde sie drei Tage lang getragen, bis sie endlich zu Hause ankam (60). Der erste Todesatem Immer mehr gerät das Kind in den Sog der Geschichten. Mit ungefähr acht Jahren ist das Kind zum ersten Mal in „den Todesköcher geraten“ und hat „den Todesatem gehört, seinen Schlund gespürt“ (69). Dieser Schlund befindet sich in dem Teil von Österreich, wo man Deutsch spricht. Die Großmutter fährt mit ihr in den Ferien ins Schloss zu ihrem anderen Sohn. Bei diesem Aufenthalt ertrinkt das Küchenmädchen Iris beim Baden. Iris sollte auf die Kinder aufpassen, bekommt aber im Wasser einen epileptischen Anfall. Die kindliche Idylle wird zerstört, weil das Kind sich mitverantwortlich fühlt für den tödlichen Badeunfall. Erst zwei Jahrzehnte später wird das Kind, die junge Frau, aufgeklärt über den Vorgang und ihre Unschuld daran. All die Zeit hat sie das Schuldgefühl und die Angst mit sich herumgetragen. „Hätte ich das gewusst, ich hätte als Kind mein Überleben leichter ertragen und wäre nicht mit Bangen in jedes Schwimmbecken gestiegen“ (74). Das Kind fühlt sich als „eine winzige Leiche, die spricht und unter Menschen lebt, die sich an ihr stoßen“ und glaubt, „dass das Leben für [sie] keine Zukunft bereithält“ (74). Hier wird deutlich, dass die das Kind umgebenden Erwachsenen nichts von dem Schuldgefühl des Kindes ahnen, das erst so viele Jahre später, von der sich selbst auferlegten Schuld, freigesprochen wird. Im Kessel (Textauszug für Bachmann-Preis) Haderlap gebraucht an dieser Stelle des Romans einen jener Exkurse, in der sie die Landschaft beschreibt. Das Kind geht mit dem Vater entlang der Grenze von Österreich und Jugoslawien spazieren und zusammen vermessen sie das geschichtliche und konkrete Gebiet. Die Metaphern für die Landschaftsbeschreibung werden dem Wasser entlehnt. Für diesen Textabschnitt, den Haderlap Im Kessel nennt, hat sie den Bachmann-Preis bekommen. „In den Wald gehen bedeutet in unserer Sprache nicht nur Bäume zu fällen, zu jagen oder Pilze zu sammeln. Es heißt auch, wie immer erzählt wird, sich zu verstecken, zu flüchten, aus dem Hinterhalt anzugreifen“ (75). Diese zwei Sätze beschreiben genau das Thema dieses Textes. „Haderlap führt darin ein Mädchen mit ihrem Vater in den Wald. Und in die Abgründe der Geschichte und der 13 Gegenwart“21. Die Abgründe sind die Waldhänge, der Wald das „grüne Meer“ (75). „Wir bleiben stehen und schauen aus dem grünen Dickicht heraus. Wie zwei Fische, fällt mir ein, die aus dem Tang hervorlugen“ (82). Der Wald ist Zufluchtsort und Hölle zugleich. Wenn das Wild nicht gejagt wurde, dann wurden die Menschen gejagt. Die Partisanen hatten im Wald „Versteck- und Überlebensplätze“ (76) gebaut. Das Leben spielte sich ab in der Nacht. Nur ab und zu verließen die Partisanen ihr Versteck. Und dann kam es darauf an, „wie jemand in den Wald gegangen oder aus dem Wald gekommen ist“ (85). Das hat verraten wie lange er sich versteckt halten musste. Ging er mit Hosen und Jacken, dann würde er lange wegbleiben. Alle Erzählungen kreisen um den Wald. Der Wald kreist um die Höfe. Die Höfe sind eingeschlossen, eben wie in einem Kessel. Der Kessel wird zu einer großen Topografie des Todes. Bei der Wanderung laufen sie an der Grenze entlang. Das Kind stellt erstaunt fest, dass die jugoslawische Seite des Waldhanges der österreichischen Seite gleicht und „sich als eine Fortführung der vertrauten Landschaft offenbart“ (80). Der Vater erzählt vom Krieg, sie kommen entlang der früheren Kampfplätze, Bäume, an denen jemand erhängt wurde, Höfe, an denen Menschen exekutiert wurden. Der Text zeichnet die Spuren nach, die dieser Krieg in die Landschaft und in die Menschen geschrieben hat. „Hier war die Front nicht irgendwo in der Ferne. Man kämpfte in den eigenen Obstgärten, versteckte sich in den Ställen“22. Langsamer Rückzug aus der Kindheit - Entfernung Mittlerweile ist schon viel mehr geschehen, „als einer Kindheit zuträglich wäre“ (101), meldet das Kind. Es ist an der Zeit in etwas hinüberzuwechseln, wofür es noch keinen Begriff gibt. Das Kind kommt in die Pubertät und mit der beginnenden Adoleszenz werden die Geschichten immer heftiger. Das Kind entwickelt sich in der Erzählung zu einem Mädchen. Nicht nur Großmutter zieht sich körperlich zurück, es tritt auch eine Entfernung auf zwischen ihr und dem Kind. Und das Kind wiederum denkt daran, sich „aus der Kindheit zurückzuziehen, weil ihr Dach undicht geworden ist“ (100). Es geht auf das Gymnasium, etwas, für das sich die Mutter unnachgiebig eingesetzt hat. Auch zeigt sich immer deutlicher die Entfernung zwischen dem Ehepaar. Die Mutter ist unzufrieden mit ihrem Leben und kauft sich ein Moped, der Vater verweigert die Vaterschaft seines fünften Kindes und beginnt sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurückzuziehen. Die Großmutter nimmt das Mädchen mit zur Totenwache der alten Pecnica, die in der Nachbarschaft eine bedeutende Rolle am Ende des Krieges gespielt hat. Auch der Vater erzählt Geschichten von Menschen, die mit Benzin übergossen wurden und verbrannten, Polizisten, die jemanden schlugen 21 Brigitte Schwens – Harrant: Im Wald der Geschichten. ‚Die Furche’, 14.07.2011, Ausgabe 28. 22 Paul Jandl: Verwerfung in Kärnten. ‚Die Welt’, 16.07.11, Ausgabe 28. 14 mit seinen Krücken und das Hirn an den umstehenden Bäumen klebten. Hier begreift das Mädchen, „dass es die Vergangenheit ist, mit der es rechnen muss“ (109). Dem Vater gegenüber bildet das Mädchen sich ein, einen Auftrag erfüllen zu müssen um ihn zu retten vor seiner Selbstvernichtung. Die angestaute Verzweiflung lässt sie zusammenbrechen. Die Mutter entgegnet mit dem Satz: „er habe das Kind um den Verstand gebracht“ (116). Großmutters Gedächtnisort In diesem erschöpften Zustand teilt das Mädchen mit der Großmutter wieder das Bett. Sie sieht das Schlafzimmer als einen Gedächtnisort, als eine Keimzelle, die sie formt. Von hier aus geht ihre Orientierung. Das Mädchen ist der Vermittler für die Geschichten der Großmutter, die sich beginnt auszuziehen und sich im Unterhemd auf das Bett setzt. Entblößt erzählt sie von „jenen zwei Jahren ihres Lebens, die sie am tiefsten gezeichnet haben“ (118). „Aber das Grauen zeichnet sich nicht ab. Es hinterlässt keine sichtbaren Narben“ (122). Die Großmutter hat ihr Kleid abgelegt und erzählt von den zwei Jahren, die sie in den Konzentrationslagern der Nazis verbracht hat. Zwischen dem Mädchen und der Großmutter findet eine Art Schlagabtausch statt. Nach dieser Nacht verändert sich die Beziehung zwischen der Großmutter und dem Mädchen. Nichts wurde mehr, wie es einmal war, „als ob wir uns in der Nacht zu nahe gekommen waren“ (132). Das Mädchen hat die Unschuld verloren und wird mit seinen elf Jahren ins Gymnasium gehen, wo es seinen „Rückzugsraum“ (143) findet. Hier hat sie zum ersten Mal Angst-Visionen von ihrer Nacktheit inmitten vieler Menschen. Haderlap beschreibt diese Visionen in der Form des Traumes. Die gegensätzliche Entwicklung, die die Großmutter und das Mädchen durchmachen, wird veranschaulicht als das Mädchen zu Hause zum ersten Mal einen Bikini trägt. Die Vertrautheit mit ihr [der Großmutter] lässt nach, „weil sie sich in ihr Wenigerwerden zurückzieht“ (141). Wenige Monate später ist die Großmutter tot. Dieser Tod wird detailgetreu erzählt. Die Tote wird beschrieben als „unser liebliches Kind, das umsorgt und für die Gäste geschmückt werden muss“ (150). Die Geschichten vom Krieg werden wiederholt, vom Vater, vom Großvater, den Partisanen. Die Geschichten sind schon so oft erzählt, dass das Mädchen sagt: „Seine Erzählung ist zu meiner geworden“ (155). Je kleiner und weniger die Großmutter geworden ist, desto größer das Mädchen. „Nach Großmutters Beisetzung wird auch mir kondoliert, was mich erstaunt, weil ich mich bis dahin nicht als Erwachsene wahrgenommen hatte“ (162). 15 3.3.2. Zweiter Teil: Der Vater, das Studium in Wien, der Jugoslawienkrieg (1979 – 1994) Nach Großmutters Tod „Nach Großmutters Tod werden die Abläufe im Haus neu geordnet“ (163). Das Kind wird jetzt in der Ich-Form beschrieben und erlangt seine erste Gestalt durch Erbstücke von der Großmutter. Die Mutter übernimmt die Organisation der Familie, der Vater beginnt ein Doppelleben: nach außen hin ist er lustig, nach innen zerstörend. Seine Nervenkrisen „wirken als stilles Gift, das uns Kindern Tröpfchen für Tröpfchen eingeflößt wird“ (166). Die Ich-Erzählerin lebt im Schülerheim vor ihrer Matura (Abitur) in einem „Niemandsland“ (168), in dem sie zur Sprache kommen wird. Sie schreibt ihre ersten Gedichte. Mit der Matura und dem beginnenden Studium in Wien entwickeln sich die Reisen zum Heimatort zu „Zeitexpeditionen, zu Fahrten durch unterschiedliche Zeitläufe und Geschichtsvarianten“ (185). Die Heimat steht für eine Fahrt in die Vergangenheit, die Fahrt nach Wien in die Zukunft. An beiden Orten ist sie nie zeitgleich: „als eine aus der Zukunft Gefallene oder als verspätet Angekommene“ (185). Sie umschreibt diesen Raum wieder als ein Niemandsland, jetzt als ein Niemandsland in einem „dunklen, vergessenen Kellerabteil des Hauses Österreichs und seinen hellen, reich ausgestatteten Räumlichkeiten“ (185). Dieses Haus gleicht dem elterlichen Haus. Episoden mit dem Vater, Bruchstücke In Wien hat sie begonnen in „öffentlichen Zusammenhängen“ (185) zu denken. Die Hilferufe des Vaters interpretiert sie nun eher als gesellschaftliche und politische. Eine Episode im Wirtshaus zeigt, dass das Land noch immer gespalten ist. Die Männer im Wirtshaus erzählen einander Geschichten aus der Partisanenzeit, als sie bemerken, dass „die Tischrunde in einen Hinterhalt geraten ist“ (178). Die „gegnerische Tischrunde“ durchbricht die „Frontlinie“, der „kriegerische Verteidiger“ (180) droht mit einem Gewehr. Der Vater wird als Bandit und Spitzel bezeichnet. Sogar in einem Wirtshaus, Jahrzehnte nach dem Krieg, ist man seines Lebens noch nicht sicher. Kurz danach fährt sie mit dem Vater nach Hause. Unterwegs verlieren sie die Handschuhe, die der Vater mitten in der Nacht in Schnee und Eis suchen wird. Sie findet den Vater im Schnee liegend zurück. Am liebsten würde er liegen bleiben. Erst als die Tochter, mit einem an Hitler erinnernden Appell, dem Vater gebietet aufzustehen, rührt dieser sich. In diesem Teil des Romans versucht die Erzählerin die zu Bruchstücken zerfallene Geschichte zu ordnen (240). Sie versucht, die Vergangenheit der Familie zu erfassen, indem sie zurückkehrt in die Heimat. Der Vater und die Mutter werden befragt, die Orte des Kriegsgeschehens besucht, die Aufzeichnungen der Großmutter gelesen. Auch erscheint ihr erster Lyrikband auf Slowenisch. Die zahlreichen Erfahrungen und Erinnerungen aus der Kindheit 16 werden rekonstruiert und gedeutet. Dazu gebraucht sie Traumbilder und Landschaftsbeschreibungen23. Drohender Jugoslawienkrieg Mit dem Ausbrechen des Jugoslawien-Krieg wird sie selber Zeuge der Zerstörung. In diesem Teil des Romans wird der Partisanenkampf geschildert. Die Kapitel 39 – 45 beschäftigen sich mit den Themen Grenzverlauf, das Bildnis des unbekannten Partisanen, die Irritation beim Vater über den drohenden Jugoslawien-Krieg, der Krieg auf den Höfen und die Heimkehr der Überlebenden im letzten Kapitel. Sie erlebt am eigenen Leibe wie es ist, „wenn der Krieg eine Landschaft unterjocht“ (235). Der zweite Teil des Romans läuft auffallend zeitgleich mit den Jahren des Zweiten Weltkrieges. Exakt fünfzig Jahre liegen dazwischen. Die Erinnerung an den Krieg vergleichen die Menschen mit einem Film (235). „Sie wissen, dass ihre Vergangenheit in den österreichischen Geschichtsbüchern nicht vorkommt, noch weniger in den Kärnter Geschichtsbüchern, wo die Geschichte des Landes mit dem Ersten Weltkrieg beginnt, dann eine Unterbrechung macht und mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder einsetzt“ (236). 23 Eines ihrer ersten Gedichte wurde in Literatur und Kritik, 1995, Ausgabe Feb/März, S. 44 veröffentlicht. Schon in diesem Gedicht thematisiert Haderlap den Wald. ich weiß noch, wir saßen im wald und kauten an blättern. du sagtest: die kriegspilze wachsen im inneren. In gärung gebracht, schimmert das alternde wasser unter der haut. das ist der hass, meine liebe. ich zog indessen würmer aus meinem unterleib, sah den gerechten gott ein rad schlagen und sich die beine brechen, sah das fluten der nacht. mein muttermal schwoll und schnecken zogen den baumstamm hinauf. es könnte was kommen, es könnte alles kommen!aber du hieltest mich fest: komm sagtest du, komm! Nichts wartet auf uns. niemand hütet das haus. 17 Die „grünen“ Kapitel Immer wieder gebraucht Haderlap in den Kapiteln einen jener Exkurse über das Einswerden mit der Natur, worin sie die heimatlichen Hügel als Falle und Graben beschreibt. Der Talgraben wird als „Landschaftsgasse entworfen [...], in der die Wege und Straßen an einen toten Punkt auslaufen“ (190). Der Naturbeschreibung werden menschliche Metaphern zugefügt, wie „Talsohle“ (191), „Gebirgsskelett“ (191), „Wiesenschaukel“ (192). „Der Zustand der Natur wurde täglich mit den Augen betastet“ (192). Diese Landschaft hat menschliche Züge. Jede Anstrengung, ihr nahezukommen, führt in die Irre. Sie ist mächtig, denn sie wird die Unschuldigen verschlingen und unverdaut wieder ausspucken. Sie bestimmt das Wohlsein, weil die satte Landschaft auf dem Magen liegen kann. Sie ist hinterhältig, weil sie die Blicke durchsetzt mit spitzen Gräsern und Gewächsen (194). Die kindliche Idylle bricht an immer mehr Stellen auf, die Landschaft erweitert sich zum Geschichtsraum, und der Wald wird zum Symbol für das Leben der Partisanen und damit für die verlorene Unschuld der Erinnerungslosigkeit. Die Partisanen Haderlap widmet mehrere Kapitel der Beschreibung des Partisanenlebens, aber immer zusammen mit den „grünen Kapiteln“. Immer wieder kehrt sie zurück in die Südkärntner Wälder und Hügel bei Eisenkappel, „in das Gebiet der Angst und der Zuflucht“24, wo der Partisane ein Verbündeter der Landschaft war: „Er muss die Farben und Formen des Landstrichs annehmen, unsichtbar werden, ein Berg und ein Bach sein, eine Fichte, ein Haus, ein Hügel, ein Wald, ein Kauz, eine Schlange. […] Ein Partisan muss sich wie ein Fisch im Wasser bewegen“ (228). Der Zufluchtsort der Partisanen waren die Wälder. Hier versteckten sie sich vor den Nazis und wurden aber auch von ihnen gejagt wie Wild. Sie hausten in Erdlöchern, die Zweige wurden ihr Deckmantel. Ein Partisane schlief nicht, weil es die Nacht war, in der er sich bewegte. Die Kärntner Partisanen haben das Unmögliche geleistet: den Widerstand gegen Hitler. Es war ein Todeskampf, der sich von den militärischen Feldzügen des Zweiten Weltkrieges unterschied in seiner grausamen Unmittelbarkeit: „Hier war die Front nicht irgendwo in der Ferne. Man kämpfte in seinen Obstgärten, versteckte sich in den Ställen“25. Es gab keinen Hof, auf dem nicht gemordet wurde oder Familien in die Konzentrationslager verschleppt wurden. Das Partisanenleben war nur auszuhalten in der Gewissheit, „gegen die Nazis gekämpft zu haben, etwas unternommen zu haben gegen ihren totalen Krieg“ (245). 3.3.3. Dritter Teil: Die Heimkehr der Überlebenden (1995 – 2004) 24 Paul Jandl, Verwerfung in Kärnten. ’Die Welt’, 16.07.2011, Ausgabe 28, S. 6. 25 Paul Jandl, ebd. 18 Der dritte Teil beschäftigt sich mit dem Leben nach dem Krieg. Wie kommen die Überlebenden aus dem Krieg zurück? Haderlap beschreibt die Auswirkungen auf die Familien und die Landschaft. Die schizophrene Lage der Partisanen führt zu einem triumpflosen Sieg, indem die Verbündeten zu Gegnern werden. Überlebende, die auf die Höfe zurückkehren, werden durch diese Erfahrung „die Erinnerung an den Krieg mit Schweigen aushungern“ (250). Diejenigen, die nicht vergessen können, warten auf eine Anerkennung. Der Vater nach dem Krieg Haderlap beschreibt das Leben des Vaters in einer Vorschau auf die Vergangenheit. Es ist ein beschwörender Text. Haderlap schildert das Leben des Vaters bis zu seinem Tod in einer utopischen Sprache. Sie beschreibt eine Episode, die ihm den letzten Lebenswillen nimmt. Seine Gesundheit wird immer schlechter und „an einem Sommertag wird er seinen Bauernwillen zu Grabe tragen“ (259). Seine beste Kuh musste kalben und rutschte hochträchtig einen steilen Abhang in den Bach. Der Zaun war jedoch defekt. Das Kalb ist nur halb geboren und schon verendet. Die Kuh liegt im Bach, fiebert und kann nicht aufstehen. „Ihre Augen verströmen eine derart tiefe kreatürliche Trauer, dass die Männer das Tier nicht ansehen, weil sie der Anblick an etwas erinnern würde, dass sie in diesem Moment nicht ertragen könnten“ (260). Die Kuh muss vom Tierarzt erschossen werden. „Pepi holt das Schießgerät, und als er wieder im Wasser steht, sagt er zu Vater, das kalbende Kühe nicht sterben könnten, er mache das ungern, er würde es nur aus Freundschaft erledigen, er müsse sich sehr überwinden, es sei kaum zu machen“(261). Dieses unglaublich traurige Ereignis verkraftet der Vater nicht mehr. Er gibt der Mutter die Schuld, da sie die Kuh auf die Wiese mit dem defekten Zaun gelassen hatte und sagt: […] „er wolle nicht mehr“26. Der Vater bekommt eine Lungenentzündung und takelt weiter ab. Im vorletzten Lebensjahr bekommt er eine Wiedergutmachungspremie aus dem neu gegründeten Österreichischen Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus. Was ihm daran gefällt ist, „dass sein Leiden wahrgenommen wurde“ (263). Dennoch geht es dem Vater immer schlechter, er braucht ein Sauerstoffgerät. Seine Schmerzen nehmen zu, bis im Spätherbst 1998 sein Körper von einem „Schmerzschraubstock“ (268) umschlossen wird. Noch Monate wird es dauern bis er am 7. Januar 1999, vier Tage nach seinem Geburtstag, stirbt. Nach Vaters Tod 26 Auch in diesem Zitat gebraucht Haderlap den Konjunktiv II für ein Geschehen, dass nicht wirklich ist. 19 Haderlap beschreibt, wie die Familie nach dem Begräbnis einander gegenüber sitzt. Jeder mit „seiner eigenen Vaterfigur um den Hals, […], müde vom Vatergewicht, erschöpft von den Geschichten und Erinnerungen“ (274). Die Mutter befindet sich auf „dem Höhepunkt einer Monate, wenn nicht Jahre dauernden Erschöpfung“ (274). Die Erzählerin will neu anfangen und nimmt sich vor, erst einmal eine Pause zu nehmen. Es gelingt ihr aber nicht, sie wird nicht in Ruhe gelassen. Die Erinnerungen sind nicht auszubannen: „Ich lerne, im selbstvergessenen Kärnten nicht vergessen zu können“ (275). Sie geht selber auf Spurensuche und findet im Nachtkästchen des verstorbenen Vaters das Lagerbuch der Großmutter. Die Erzählerin liest zum ersten Mal, was ihre Großmutter aufgeschrieben hat. Zum Aufenthalt in Ravensbrück versagt der Großmutter die Sprache: “Sie benötigte für eineinhalb Jahre Konzentrationslager nur drei kleine Seiten“ ( 277). Sie beschließt, selber nach Ravensbrück zu fahren. „Ich will Großmutters Erzählung noch einmal durchschreiten, um von einem vertrauten Ort Abschied zu nehmen“ (283). Genau sechzig Jahre nach der Einlieferung der Großmutter ins KZ, am 13. November 2003, betritt sie Ravensbrück in der Hoffnung, hier Trost und Erleichterung zu finden. Ihr wird klar, dass sie den Engel des Vergessens, der auf Walter Benjamins berühmten „Engel der Geschichte“ anspielt, nicht zu Gesicht bekommen wird. „Er wird keine Gestalt haben. Er wird in den Büchern verschwinden. Er wird eine Erzählung sein“ (287). Er wird ihre Erzählung sein. 3.4. Einordnung des Textabschnittes Im Kessel „Als einen Idealfall, wie Literatur sich mit Geschichte beschäftigen kann“, bezeichnete Daniela Strigl den Prosatext der Autorin27, für den sie den Bachmann-Preis bekommen hat. Haderlap führt darin ein Mädchen mit dem Vater in den Wald - und in die Abgründe der Geschichte und der Gegenwart. Wie von ungefähr treffen Vater und Tochter bei ihrer Waldwanderung auf jeder Seite weitere Personen, die ihnen lehrreiche, aber auch erschütternde Auskünfte geben. „Das Gehen ist eine Bewegung, die mich erklärt“ (100). In diesem Text wird die konkrete und historische Umgebung vermessen, in einer bildhaften und dichten Sprache. Und das alles in einem Spaziergang entlang der Grenze, über die Südkärntner Hügel. Haderlap führt uns in die Tiefen der Geschichte. Das Wäldchen „hat sich dem großen Wald angeschlossen und sich in ein grünes Meer gewandelt, voll spitzer Nadeln und scharfkantiger Schuppen, mit einem wogenden, ausufernden Unterholz aus rauen Borken. […] Eines Tages wird er über seine Ufer treten, fürchte ich, und die Waldraine verlassen, er wird unsere Gedanken überfluten […]“ (75). Im Kessel ist das erste der grünen Kapitel, so ziemlich genau auf der Hälfte des ersten Teiles. Der Text umfasst drei Kapitel und beschreibt das Waldleben der Partisanen im Krieg, an dem der Vater als 27 Brigitte Schwens-Harrant: Im Wald der Geschichten. ‚Die Furche’, 14.07.2011, Ausgabe 28. 20 Junge teilgenommen hat. Der Vater geht mit dem Mädchen in den Wald und erzählt vom Krieg. Sie tauchen förmlich in den Graben. Der Vater zeigt dem Mädchen die Kriegsschauplätze und erzählt was sich wo abgespielt hat. Als Partisane musste er eins werden mit der Natur. Ein Partisane bewegte sich im Wald wie ein Fisch im Wasser. Haderlap verwendet viele Wasser-Metaphern, um die Natur des Waldes im Lepenatal zu beschreiben. „Wir bleiben stehen und schauen aus dem grünen Dickicht heraus. Wie zwei Fische, fällt mir ein, die aus dem Tang hervorlugen“ (82). Der Titel des Ausschnittes heißt auch nicht ohne Grund Im Kessel. Die Großmutter hat ihr Leben zu verdanken, indem sie in der Küche des KZ den Kessel rühren durfte, sie hat aber auch den Tod diesem Tal zu verdanken. Der Wald wurde zu einem Kessel, indem die Fische (Partisanen) in der kochenden Falle wahren. 3.5. Unbehaust sein in der Sprache / Exil Rein faktisch erzählt Haderlap die Geschichte einer Frau, die im Kindesalter mit 8 Jahren beginnt und bis ins 41ste Lebensjahr reicht, als sie 2003 das KZ Ravensbrück besucht. Haderlap bedient sich verschiedener literarischer Register, von der anfänglichen Kinderperspektive, über wortmagische Poesie bis hin zur geschichtskundigen Essayistik. Die Erzählung erstreckt sich über Jahrzehnte. Den Prozess des Erwachsenwerdens markiert Haderlap in der Sprache durch Brüche im Schreiben. Gegen Ende des Buches verfällt sie sogar in eine Beschleunigung: „Die Beschleunigung zeigt ja auch, dass die Vergangenheit in Bewegung gerät, das ich mich von ihr entferne“28. Haderlap benutzt in diesem Buch die verschiedenen Sprachen, in denen sie gewohnt hat: im kräftig-konkreten Slowenisch der Großmutter, im später erlernten Deutsch, das zunächst die Sprache des Lagers war, dann die Sprache des Studiums. Auch das Hochslowenische, dass die Sprache ihrer Gedichte wurde, hat einen Platz in den „verdichteten Bildern“. In der Wahl der Sprache sieht man die Form der Artikulation und nicht die Mitteilbarkeit von Inhalten. „In Wien nehme ich die Schreibversuche wieder auf und schreibe in Slowenisch, als ob ich mich mit dieser Sprache ins Bewusstsein zurückrufen könnte, als ob mich das Slowenische zu meinen Empfindungen zurückführen könnte, die mir fremd geworden sind“ (175). Österreicher und Deutsche sprechen zwar dieselbe Sprache, und trotzdem denken sie anders. Oscar Wilde hat eine ähnliche Vergleichung zwischen Engländern und Amerikanern angestellt. Er hat gesagt: „[…] ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, dass wir heutzutage tatsächlich alles mit Amerika gemeinsam haben, ausgenommen natürlich die Sprache“29. Mit der Verschiedenheit der Sprache geht 28 Christina Repolust: Engel der Erinnerungen. ‚Salzburger Nachrichten’, 21.01.12, Ausgabe 17. 29 Oscar Wilde, Werke in zwei Bänden: Das Gesprenst von Canterville. Hanser, 1970, S. 348. 21 auch ein anderes Denken einher. Ein Schriftsteller liest die Geschichte in seiner eigenen Sprache, und darum liest ein Deutscher die deutsche Geschichte anders als ein Österreicher. Haderlap ist aufgewachsen auf einem Kärntner Bergbauernhof. Ihre Muttersprache ist Slowenisch. Sie hat erst in der zweisprachigen Volksschule Slowenisch gelernt. Mit elf Jahren wird sie von der Mutter ins Gymnasium nach Klagenfurt geschickt. Später studiert sie in Wien in der Deutschen Sprache. Haderlap sah die Deutsche Sprache als Sprache der Reflexion: „Bei meiner Muttersprache geht es mir aber gar nicht so sehr um die Emotion, sondern um die Intimität, die Lyrik braucht“30. Haderlap hat diesen Roman auf Deutsch geschrieben. Sie sagt dazu: „Ich hätte das Buch nicht auf Slowenisch schreiben können. Mir ist das Deutsche inzwischen schon sehr zugewachsen, auch über die Arbeit. Es hält mich auf Distanz zu schmerzvollen Bereichen“31. Die Distanz zum realen Ort erscheint bei Haderlap als Bedingung einer Ortsvorstellung im Imaginären. Im folgende Teil werde ich Benjamnins Sprachaufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen besprechen. Benjamin vertritt die Meinung, dass jede Äußerung menschlichen Geistesleben als eine Art der Sprache aufgefasst werden kann. In Haderlaps Roman habe ich Echos von Benjamins Sprachtheorie gefunden, die im dritten Teil dieser Arbeit widerschallen werden. Nur soviel: Haderlap, sowie Benjamin, sagen in ihren Texten nur einen Bruchteil von dem was die meinen. Auf diese Art und Weise geben sie dem Unsagbaren einen Platz und überwinden die Mangelhaftigkeit der Sprache. 30 Norbert Mayer: Deutsch hält mich auf Distanz zum Schmerz. ‚Die Presse’, 24. März 2012. 31 Ebd. 22 „ALLES IST EINE FRAGE DER SPRACHE UND NICHT NUR DIESER EINEN DEUTSCHEN SPRACHE. DIE MIT ANDEREN GESCHAFFEN WURDE IN BABEL, UM DIE WELT ZU VERWIRREN. DENN DARUNTER SCHWELT NOCH EINE SPRACHE, DIE REICHT BIS IN DIE GESTEN UND BLICKE, DAS ABWICKELN DER GEDANKEN UND DEN GANG DER GEFÜHLE, UND IN IHR IST SCHON ALL UNSER UNGLÜCK“32. 4. Walter Benjamin (1896 – 1940) 4.1. Kurze Einführung in den Zusammenhang Benjamins Sprache ist eine Sprache, die auf der Suche nach der Wahrheit ist. Er gebraucht eine bildhafte Sprache, die mit dem selbstverständlichen und alltäglichen Sprachgebrauch bricht. Will man Benjamin in seinem ungewöhnlichen Sprachgang folgen, dann muss man sich anpassen an seine Geh-und Sehweise. Eine Vorliebe von Benjamin ist es, Begriffe von verschiedenen Seiten und Ebenen zu belichten, sie einzukreisen, sie aber nicht direkt anzugehen und zu enthüllen. Seine Texte, die unter Umständen schwierig zugänglich sind, als hermetische zu beschreiben, wäre unpassend. Vielmehr ist es die Fähigkeit Benjamins, durch Auslassung mehr zu sagen als durch Ausfüllung. Bei Benjamin gibt es eine Sprachschicht mit latenten Bedeutungen. In diesem Sinne kann von einem negativen Denken gesprochen werden, welches von außen an die Dinge, Begriffe und Sachverhalte herangeht, um alles zu sagen, was sie nicht sind 33. Auf diese indirekte Weise kristallisiert sich ein Sinn heraus und ist das Wiederherstellen von einem “ursprünglichen Vernehmen der Worte” 34 möglich. Benjamins Texte sagen nur einen Bruchteil von dem, was sie meinen. Worum es ihnen geht verschweigen sie, doch es ist anwesend. In diesem Aufzeigen und Andeuten sagen sie das Unsagbare mit und überwinden auf ihre Art die Mangelhaftigkeit der Sprache. 32 Ingeborg Bachmann: Das dreißigste Jahr. Die Erzählung ‚Alles’, 1961, S. 66. 33 Th.W. Adorno: Negative Dialektik. 1966, S. 135-206. 34 Walter Benjamin: Sprache und Geschichte. 1992, S. 44ff. 23 4.2. Benjamins Theorie der Sprachmagie – Von der Schöpfungsgeschichte bis zum Sündenfall der Sprache Mit vierundzwanzig Jahren schreibt Benjamin den Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, sein erster sprachphilosophischer Traktat. Er gehört zu seinem frühen Werk, in dem Benjamin35 eine komplizierte mystische Sprachtheorie entwirft, die die “sprach-und geschichtsphilosophischen Fragestellungen und Antworthorizonte”36 in seinem Werk ausmachen. In jedem Sprechakt teilt die Sprache durch zur-Schau-Stellung ihr eigenes Wesen als Sprache mit, als Ausdruck ihrer selbst. Gleichzeitig ist dieser Aufsatz Ausgangspunkt für und Gegenstand von Benjamins späteren Sprachaufsätzen, mit Name Die Aufgabe des Übersetzers, die Lehre vom Ähnlichen und Über das mimetische Vermögen. Der erste Satz des Aufsatzes Über Sprache überhaupt markiert den Gegenstand aller folgenden Erörterungen. Weil dieser Text so logisch aufgebaut eingeteilt ist, werde ich ihn hier ‘chronologisch’ auseinanderlegen. Benjamin beginnt seinen Traktat mit den Worten: “Jede Äußerung menschlichen Geisteslebens kann als eine Art der Sprache aufgefasst werden, ... “ z.B. auch die Sprache der Musik, der Justiz. Sprache bedeutet dann “das auf Mitteilung geistiger Inhalte gerichtete Prinzip in den betreffenden Gegenständen“37. Kurz: Jede Mitteilung geistiger Inhalte ist Sprache, womit sich das Dasein der Sprache nicht nur über alle Gebiete menschlicher Geistesausübung erstreckt, sondern auf schlechthin alles. Benjamin zufolge ist Sprache das, was sich in ihr mitteilt. Dieses “Sich” ist ein geistiges Wesen. Er macht weiter den Unterschied zwischen geistigem Wesen und sprachlichem und meint, dass dieser Unterschied der ursprünglichste ist in einer sprachtheoretischen Untersuchung. Diese Aussage steht im Zentrum Benjamins Sprachtheorie. Aber “was teilt die Sprache mit?”, fragt er weiter. Sie teilt das ihr entsprechende Wesen in der Sprache und nicht durch die Sprache mit. “Jede Sprache teilt sich selbst mit”38. Das sprachliche Wesen der Dinge ist ihre Sprache; das, was an einem geistigen Wesen mitteilbar ist, ist seine Sprache, in ihr teilt es sich mit. Wenn jede Sprache sich selbst mitteilt, dann ist sie im reinsten Sinne das “Medium” der Mitteilung. Sprache ist zu sehen als Form alles dessen, was existiert. Die 35 Walter Benjamin gehört zu der Generation jüdischer Intellektuellen, die aus Deutschland vertrieben worden waren und teilweise aus der Emigration zurückkehrten wie Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, bzw unter radikalen Gegen-Denkern wie Marx und Engels, Freud und Benjamin, Foucault und Lacan. Benjamin kehrte nicht zurück. Er beging 1940 auf der Flucht vor den Nazis, nach dem Grenzübertritt nach Spanien, Selbstmord. Benjamin hat sich ein Leben lang nebeneinander mit den Begriffen Sprache und Geschichte befasst. 36 W. Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, 1980, S. 9. 37 Walter Benjamin: Sprache und Geschichte, 1992, S. 30. 38 Ebd. S. 32 24 Mitteilung durch das Wort ist nur ein besonderer Fall von Sprache. Und hier sind wir beim Grundproblem der Sprachtheorie angelangt. Das ist das Nicht-Mediale, d.h. die „Unmittel barkeit“39 aller geistigen Mitteilung. Benjamin nennt diese „Unmittel barkeit“ magisch. Das Urproblem der Sprache ist demnach ihre Magie und deutet auf ihre Unendlichkeit hin. Was sich in der Sprache mitteilt, kann nicht durch außen beschränkt oder gemessen werden. “Ihr sprachliches Wesen, nicht ihre verbalen Inhalte bezeichnen ihre Grenze” 40. Magisch also nennt Benjamin die Form der Mitteilung. Diese Magie der Sprache erklärt er zum Urproblem der Sprachtheorie. Um dieses Urproblem zu erörtern, geht Benjamin auf den Begriff des „Namen“41 und der „Offenbarung“42 ein. Die ‚Schöpfungsgeschichte’ Benjamin baut seine Interpretation auf eine Reinterpretation der Schöpfungsgeschichte, die in dem Begriff der “Übersetzung” resultiert. Er betrachtet die Sprache in Bezug auf die ersten Genesiskapitel. Für ihn ist die Bibel das Apriori und der begriffliche Hintergrund der Sprachphilosophie: “Mit der schaffenden Allmacht der Sprache setzt er ein (der Schöpfungsakt), und am Schluss einverleibt sich gleichsam die Sprache das Geschaffene, sie benennt es. Sie ist also das Schaffende, und das Vollendende, sie ist Wort und Name. In Gott ist der Name schöpferisch, weil er Wort ist, und Gottes Wort ist erkennend, weil es Name ist”43. Benjamin entlehnt seine Gedanken der Bibel, weil die Bibel “zunächst in dieser Absicht nur darum unersetzlich [ist], weil diese Ausführungen im Prinzipiellen ihr darin folgen, dass in ihnen die Sprache als eine letzte, nur in ihrer Entfaltung zu betrachtende, unerklärliche und mystische Wirklichkeit vorausgesetzt wird. Die Bibel, indem sie sich selbst als Offenbarung betrachtet, muss notwendig die sprachlichen Grundtatsachen entwickeln”44. Gott hat die Natur direkt aus dem Wort, den Menschen aus Materie geschaffen. Die Natur ist als das aus-gesprochene göttliche Wort sprachliches Sein und (göttlicher) Name unmittelbar. Gott hat dem Menschen hingegen die Sprache als “Gabe [...] beigelegt”, als sein geistiges Sein, im „Odem, den er 39 Ebd. S. 32. 40 W. Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, 1980, S.33. Ein Zentrum der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldt ist, dass eine ‘Sprachform’ als solche, unabhängig von ihren jeweiligen Inhalten, an sich selbst einen eigenen ‘Inhalt’ hat. Benjamin hat sich mit Humboldt auseinandergesetzt und der Niederschlag dieser Studien ist zu erkennen in seinen drei Sprachaufsätzen. Ging Humboldts Interesse mehr in Richtung von verschiedenen ‘Charaktern’ bei Nationalsprachen, findet Benjamins Theorie vor allem ihren Niederschlag in der “ Charakteristik individueller, zumeist künstlerischer Sprachgestalten”, -( vgl. W. Menninghaus , Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, S.13) - in gewisser Weise sogar “schlechthin alles”. 41 Walter Benjamin: Sprache und Geschichte, 1992, S. 34. 42 Ebd. S. 36. 43 Ebd. S. 39. 44 Ebd. S. 38. 25 ihm einblies“45. Denn nach Gottes eigenem Bilde geschaffen, sollte der Mensch nicht seiner Sprache „unterstellt“46 werden. Er sollte selbst auch „Namengeber“ der Schöpfung sein. Damit ist der Mensch eindeutig gegenüber der Natur ausgezeichnet, zugleich aber selbst in die Grenzen der Schöpfung verwiesen, die er benennt. Im Unterschied zum Wort Gottes ist der Name nicht ‚spontane Schöpfung’, ‚uneingeschränkt und unendlich’47. Der ‘Name’ Benjamin erörtert zunächst den Begriff des ‘Namens’. Der Name ist Inbegriff der spezifischen Relation zwischen der “Sprache des Menschen” und der “Sprache der Dinge” 48 geworden. Das “Namengeben“49 meint zum einen eine “Übersetzung der Sprache der Dinge”, zum anderen ist es gleichzeitig - eben im „Benennen der Dinge“ - “das innerste Wesen der Sprache selbst”50. Damit wird es ein “magisches” Transzendieren des „Gesprochenen“51. Im Namen teilt sich das geistige Wesen des Menschen Gott mit. Im Namen teilt die Sprache sich mit. Den Namen kann man als die Sprache der Sprache bezeichnen. “Der Mensch allein hat die nach Universalität und Intensität vollkommene Sprache”52. Es können in der Reinterpretation Benjamins zwei Gestalten sprachlicher “Unmittelbarkeit” festgestellt werden: die “extensive” zwischen “Sprache” und “Dingen” und die “intensive” zwischen “Prinzip” der Sprachbewegung als solcher und “Wesen” eines “Sprechers” bzw. “Kunstwerks” 53. Verbindet man nun diese beiden Elemente “sprachlicher Nicht-Instrumentalität”, dann kommt man zum Begriff einer “immanenten eigenen Magie” der “konkreten Sprachelemente”54 (=Namensprache), so Benjamin. Die “abstrakten Sprachelemente” weisen demgegenüber nicht gleich eine innere Relation zur “Sprache der Dinge” auf und werden definiert als eine “andere”, “von außen” produzierte “Magie”55. Die “konkreten Sprachelemente”, oder die Theorie der “Übersetzung”56 im Namen wird anhand der Schöpfungsgeschichte vorgetragen. Die “abstrakten 45 Ebd. S. 38. 46 Ebd. S. 39. 47 Ebd. S. 40. 48 Ebd. S. 34. 49 Ebd. S. 34. 50 Ebd. S. 34. 51 Ebd. S. 35. 52 Ebd. S. 35. 53 W. Menninghaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, 1980, S. 40. 54 Walter Benjamin: Sprache und Geschichte, 1992, S. 45. 55 Ebd. S. 45. 56 Ebd. S. 42. 26 Sprachelemente”, das richtende Wort, Urteil, anhand der Sündenfallgeschichte. Der Sündenfall der Sprache, mit seinen sprachverwirrenden Folgen nach Babel, ist seit je das Urbild für eine heilsgeschichtliche Krise im Bestand der Sprache. Dort, wo der Mensch die ‘Namensprache’ verlässt, entsteht die strengere Reinheit des richtenden Wortes, des Urteils. Das Böse gibt es nur in der Subjektivität des Urteils; es ist objektiv “nicht in der Welt”57, so Benjamin. Demnach ist die Sprache das geistige Wesen der Dinge. Als Mitteilung teilt die Sprache ein geistiges Wesen, das ist eine Mitteilbarkeit schlechthin, mit. Die Gleichsetzung des geistigen Wesens mit dem Sprachlichen kennt nur graduelle Unterschiede, wodurch sich eine Abstufung allen geistigen Seins in Gradstufen ergibt. Benjamin meint aber, dass die Gleichsetzung des geistigen mit dem sprachlichen Wesen in sprachtheoretischer Hinsicht von “großer metaphysischer Tragweite”58 ist. Die ‘Offenbarung’ Diese Gleichsetzung führt nämlich zu dem Begriff der “Offenbarung”, die im Zentrum der Sprachphilosophie die Verbindung herstellt mit der Religionsphilosophie. Menninghaus erklärt den Widerstreit innerhalb aller sprachlichen Gestaltung mit den Worten: “Er sei vielmehr als der wie immer verstellte Reflex der Erfahrung verstehbar, dass sich im Formulierten eine nicht-formulierte Kraft, im Ausgesprochenen ein Unausgesprochenes, und als prädikative Aussage oft sogar “Unaussprechliches” unmittelbar = “magisch” manifestiert“59. Vor diesem Hintergrund ist nämlich “der sprachlich existenteste, d.h. fixierteste Ausdruck, das sprachlich Prägnanteste und Unverrückbarste, mit einem Wort: das Ausgesprochenste zugleich das reine Geistige ”60. In diesem Kontext zitiert Benjamin Hamann: “Bey mir ist weder von Physik noch Theologie die Rede - sondern “Sprache, die Mutter der Vernunft und Offenbarung, ihr A und O”61. Im Grunde geht es darum, dass in der Sprache Dinge zum Ausdruck kommen können, die sich nicht durch verbale Inhalte sagen lassen. Durch den Vortrag oder die Form einer Rede oder Aussage kann der wesentliche Inhalt offenbar werden. Die Sprache ist in den Dingen nicht vollkommen ausgesprochen und andersrum. Sie ist unvollkommen und stumm. Die Gemeinschaft zwischen Sprache und Dingen aber ist unmittelbar und unendlich, wie die jeder sprachlichen Mitteilung. Der Laut ist Symbol für die magische Gemeinschaft der menschlichen Sprache mit den Dingen. Benjamin erwähnt in diesem Zusammenhang die Bibel, die besagt, dass Gott dem Menschen den Odem einblies. Damit hat der Mensch zugleich Leben und Geist der Sprache. 57 Ebd. S. 43. 58 Ebd. S. 36. 59 W. Menninghaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, 1980, S. 20. 60 Walter Benjamin: Sprache und Geschichte, 1992, S. 37. 61 Ebd. S. 37. 27 Benjamins Sprachphilosophie kreist also den Begriff des Nichtmitteilbaren ein. Hier können die Intentionen des Ausdruckslosen zur Geltung kommen. Das Wesentliche der Sprache und des Kunstwerks lässt sich nicht direkt aussagen. Benjamin versucht den nichtmedialen Charakter einer „reinen Sprache“ zu fassen, in der Ausdruck und Ausgedrücktes zusammenfallen. In seinem Text Die Aufgabe des Übersetzers gibt er eine treffende Umschreibung dieses Sachverhaltes: ”[...] das Symbolisierende zum Symbolisierten selbst zu machen, die reine Sprache gestaltet der Sprachbewegung zurückzugewinnen, ist das gewaltige und einzige Vermögen der Übersetzung. In dieser reinen Sprache, die nichts mehr meint und nichts mehr ausdrückt, sondern als ‘ausdrucksloses’ und schöpferisches Wort das in allen Sprachen Gemeinte ist, trifft endlich alle Mitteilung, aller Sinn und alle Intention auf eine Schicht, in der sie zu erlöschen bestimmt sind“62. Sprache ist für Benjamin zunächst nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern das Medium, in dem sich die Welt offenbart. In diesem Medium wird das geistige Wesen der Dinge und der Menschen mitteilbar. Das geistige Wesen ist die Sprache selbst. Dass sich etwas Unaussprechliches zeigt, mit dem Namen “Offenbarung”, ist eine Ausdrucksqualität des Sprechens. Die ‘Übersetzung’ Der Begriff der “Übersetzung” liegt in der tiefsten Schicht der Sprachtheorie begründet. Der “Name” wird im Zusammenhang mit der Theorie der Übersetzung zum Inbegriff einer spezifischen Relation zwischen der “Sprache des Menschen” und der “Sprache der Dinge”. Indem man den Dingen einen Namen gibt, übersetzt man die Sprache der Dinge. Gerade im Benennen der Dinge zeigt sich das innere Wesen der Sprache selbst. Der Mensch kann die stumme, namenlose Sprache der Dinge empfangen und sie in den Namen in Laute übertragen. Jede höhere Sprache, sagt Benjamin, mit Ausnahme des Wortes Gottes, kann als Übersetzung aller anderen betrachtet werden. Übersetzung ist dann die Überführung der einen Sprache in die andere durch ein Kontinuum von Verwandlungen. Die Objektivität der Übersetzung aber ist in Gott verbürgt. Weiter erklärt Benjamin, dass die Sprache der Dinge in die Sprache der Erkenntnis und des Namens nur in der Übersetzung eingehen kann. Darum ist die Zahl der Übersetzungen auch gebunden an die Anzahl der Sprachen: “soviel Übersetzungen, soviel Sprachen”63. Der ‘Sündenfall’ der Sprache Benjamin spricht von einem Sündenfall des Sprachgeistes, weil nun das Wort etwas mitteilen soll. Hatte Gott die Schöpfung als “gut” erkannt, so ist das Wissen um gut und böse, weil nicht begründet 62 Ebd. S. 62. 63 Ebd. S. 43. 28 im Gotteswort, grundlos, “nichtig”. Weil die ewige Reinheit des Namens angetastet wurde, erhebt sich nun die strengere Reinheit des richtenden Wortes, des Urteils. “Der Sündenfall ist die Geburtsstunde des menschlichen Wortes, in dem der Name nicht mehr unverletzt lebte, das aus der Namensprache, der erkennenden, man darf sagen: der immanenten eigenen Magie heraustrat, um ausdrücklich, von außen gleichsam, magisch zu werden” 64. Für die Einordnung des Sündenfall-Abschnittes in die zuvor beschriebene Sprachtheorie betont Benjamin drei Punkte: Erstens durch Heraustreten aus der reinen Sprache des Namens macht der Mensch die Sprache zum Mittel, zweitens durch die verletzte Unmittelbarkeit des Namens entsteht eine neue Magie, die des Urteils und drittens ist der Ursprung der Abstraktion als ein Vermögen des Sprachgeistes im Sündenfall zu suchen. Benjamin führt den „Baum der Erkenntnis“ an, der als Wahrzeichen des Gerichts über den Fragenden im Garten Gottes stand. Im Sündenfall hat der Mensch die Unmittelbarkeit in der Mitteilung des Konkreten, den Namen, verlassen. Das Wort wird nun zum Mittel und damit “Geschwätz“. “Geschwätz war die Frage nach dem Gut und Böse in der Welt nach der Schöpfung” 65. Wird die Sprache zum Geschwätz von Gut und Böse, dann tritt sie aus einer Einfachheit heraus in eine Vielheit. Die Dinge haben keinen Eigennamen mehr, außer in Gott. In der Sprache des Menschen aber sind sie „überbenannt“. Diese Überbenennung ist der tiefste sprachliche Grund aller Traurigkeit und vom Ding aus betrachtet, allen Verstummens: “Benannt zu sein - selbst wenn der Nennende ein Göttergleicher und Seliger ist - bleibt vielleicht immer eine Ahnung von Trauer” 66. Der Plan des Turmbaus von Babel und die Sprachverwirrung sind eine unausbleibliche Folge, weil die Worte als Mittel der Verständigung eingesetzt werden und aufhören Offenbarung der Dinge zu sein. Seit dem Sündenfall ist die Natur dazu verurteilt, stumm zu klagen. Benjamin schreibt: “Sprachlosigkeit: das ist das große Leid der Natur“, oder noch weiter: “die Traurigkeit der Natur macht sie verstummen. Es ist in aller Trauer der tiefste Hang zur Sprachlosigkeit, und das ist unendlich viel mehr als Unfähigkeit oder Unlust zur Mitteilung. Das Traurige fühlt sich so durch und durch erkannt vom Unerkennbaren”67. Damit ist Benjamin zufolge Sprache nicht allein Mitteilung des Mitteilbaren, sondern zugleich Symbol des Nicht-Mitteilbaren. Diese symbolische Seite der Sprache hängt mit ihrer Beziehung zum Zeichen zusammen und erstreckt sich in gewisser Hinsicht auch über Name und Urteil. Der Sündenfall wird zur Geburtsstunde der Subjektivität. 64 Ebd. S. 44. 65 Ebd. S. 45. 66 Ebd. S. 47. 67 Ebd. S. 47. 29 4.3. Kommentar Die ersten Sätze Benjamins markieren den Ausgangspunkt aller folgenden begrifflichen Entwicklungen seines Traktates über die Sprache. Benjamin beginnt seinen Aufsatz mit den Worten: “Jede Äußerung menschlichen Geisteslebens kann als eine Art der Sprache aufgefasst werden [...]”68, wobei der Nachdruck liegt auf einer hypothetischen Auffassung. Die Frage, die gestellt wird, ist: Wie ist der Begriff einer Sprache aufzufassen, die man als eine “Sprache der Sprache” verstehen kann und die unmittelbar nichts zu tun hat mit den primären Daten des Sprechens. Benjamin zufolge ist jede Mitteilung geistiger Inhalte Sprache. Das Dasein der Sprache erstreckt sich somit auf schlechthin alles. Das, was die Sprache mitteilt, hat unmittelbar nichts mit dem Gesprochenen zu tun, es teilt das ihr entsprechende geistige Wesen in der Sprache und nicht durch die Sprache mit. Das “geistige Wesen” ist die “Art des Meinens” einer Sprache. Benjamin geht es dabei ausschließlich um individuelle und künstlerische Sprachgestalten, weniger um Nationalsprachen. Er bezieht sich auf die Begriffe “Ton”, “Stil” und “Sprachform” einer Sprache. Der “Ton” einer Sprache teilt sich nicht “durch die verbalen Inhalte” mit, sondern realisiert sich “unmittelbar” in ihnen. Den “Stil” beschreibt Benjamin als eine “innerlich unvertilgbare Signatur einer Weltanschauung”. Das “geistige Wesen” im Stil ist “Ausdruck und Initiator einer Kommunikation von künstlerischer Produktion und historischer Erfahrung” 69. Die “Sprachform” untersucht das Wesen als solches. Hierbei (re)konstruiert Benjamin den Gehalt, den zum Beispiel der Modus allegorischen Bedeutens an sich selbst zum Ausdruck bringt. Benjamin nennt diese drei Begriffe Paradigmen, die den fundamentalen Unterschied ausmachen zwischen dem, was sich in einer Sprache als solcher, und dem, was sich durch ihre verbalen Inhalte mitteilt. Dort nämlich, wo die Sprache die Form “alles Mitteilbaren” annimmt, tritt sie in die “Zirkulation ein und wird so, wie das Geld, dem jeweils festgesetzten Kurs unterworfen”. Erst die Mitteilbarkeit macht die Sprache zu Zeichen, die zirkulieren können. Diese Form der “Mitteilung” nennt Benjamin “magisch” und erklärt so die “Magie” der Sprache als das “Urproblem” der Sprachtheorie. Die Sprache realisiert als solche etwas, was sie nicht aussagt. Um dieses “Urproblem” zu erörtern bezieht er die mystisch-theologischen Spekulationen über “Namengeben” und “Offenbarung” in Sprache ein. Benjamin will schließlich die “verkrustete Oberfläche” tradierter Worte in “magnetischer Berührung” lösen, um das in ihnen “verschlossene sprachliche Leben […] auszuschalten”70. Nicht durch das Exponieren neuer Worte, sondern durch sich so weit wie möglich an den “alten Worten” zu 68 Ebd. S. 30. 69 W. Menninghaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, 1980, S. 14. 70 W. Benjamin: Briefe, hg. von G. Scholem und Th.W. Adorno, Frankfurt a.M. 1966, S. 329. 30 bewähren, entstehen neue Theorien. Damit wird er zum “Erben der genuinen Spracherfahrung der mystischen Tradition und zum Fortsetzer ihrer Aneignung durch Hamann, die Romantiker und Humboldt”71. Der Begriff des „Namens“ wird nun wichtig als jene Erfahrung der Magie von Sprache. Benjamin geht es um ein magisches Transzendieren des “Benannten”: “Der Mensch teilt also sein eigenes Wesen (sofern es mitteilbar ist) mit, indem er alle anderen Dinge benennt”72. Benjamin zufolge ist die paradiesische Namen-Sprache als die Sprache der Sprache zu bezeichnen, die die “vollkommen erkennende” gewesen ist. Die Einheit von Mensch und Natur ist als eine sprachliche bestimmt. Sie drückt sich aus in den Namen, die Adam den Dingen gibt und in denen er sie erkennt. Die „Offenbarung“ ist nun dasjenige in der Sprache, was sich nicht durch “verbale Inhalte” präzisieren lässt. Es zeigt sich damit etwas Unaussprechliches. Dies ist eine Ausdrucksqualität allen Sprechens und nicht länger ein exklusives Zeugnis des Göttlichen. In der 1959 veröffentlichen Sammlung Unterwegs zur Sprache spricht Heidegger über die Sprache. Ihmzufolge hält der Mensch sich im „Haus“ der Sprache auf, wenn er spricht. Benjamin hätte das anders formuliert, nämlich: Wer eine Sprache spricht, ist im Labyrinth ihrer Stadt unterwegs. Benjamin spricht von der Sprache und ihrer „offenbarenden“ Kraft. Sprache offenbart nicht etwas, sie offenbart sich. Damit setzt sie Möglichkeiten sprachlichen Handelns frei, die nur von der Sprache her verstanden werden können. Ob der Begriff der Offenbahrung, den Benjamin mit der Sprache verknüpft, mit der Theologie zu tun hat, ist in den verschiedenen Interpretationen unterschiedlich gedeutet73. Nur soviel, dass es Benjamin von Anfang an zwar um ein exzentrisches, aber durchaus profanes Verständnis der normalen Sprache geht. Die biblischen Begriffe wie ‚Offenbarung’ und ‚Sündenfall’ dienen ihm als Anhaltspunkte zur Aufdeckung einer nicht-instrumentellen Dimension aller Sprache. Benjamin geht es um etwas, dass das Funktionieren aller Sprache erst ermöglicht. Er entwickelt in seinem Aufsatz den Gedanken einer „reinen Sprache“, in der die Vielheit der bisherigen Sprachen am „messianischen Ende der Geschichte“ unterzugehen bestimmt sind. Die „reine“ Sprache enthält die Offenbarung einer absoluten Sinnordnung, bei der alle Unsicherheiten des Verstehens und Meinens ausgelöscht waren. Die Sprache als „Haus des Seins“, so wie Heidegger das später formuliert hat, ist mit dem Begriff der „reinen Sprache“ nicht mehr aufrecht zu halten. Durch die unwägbare „Korrespondenz“74 in den Sprachen und die ständige Interaktion zwischen ihnen, wird 71 W. Menninghaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, 1980, S. 226. 72 Walter Benjamin: Sprache und Geschichte, 1992, S. 33. 73 Vgl. W. Menninghaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, (20); Bettine Menke: Sprachfiguren. Name-Allegorie-Bild nach Walter Benjamin. München, 1991 74 Der Begriff ‚Korrespondenz’ darf nicht im üblichen Sinne verstanden werden. Sprachliche Handlungen gewinnen ihre Bedeutung nicht aus der Korrespondenz mit einer vorsprachlich gegliederten Welt und ihren Sinn nicht aus einer Korrespondenz mit anderen Sprechern. 31 eine geschichtliche Welt offenbart, in der die Menschen nicht bleibend zu Hause bleiben können. Benjamin geht es folglich um die Situation der sprachlich Lebenden und entwickelt mit seiner Theorie über die Sprache, eine Theorie der „verstellten“ Freiheit. Denn der Mensch lebt eigentlich in einer von Korrespondenzen durchwogten Welt und er spricht eine von Korrespondenzen angetriebene Sprache. Ohne diese Einsicht der „verstellten“ Freiheit werden die Menschen taub und blind für den sich öffnenden Möglichkeitsraum ihrer Wirklichkeit. Hiermit wird ein ethisches Motiv in Benjamins Schriften aufgedeckt, das mit dem Begriff der ‚Offenbarung’ zusammenfließt und damit einen Raum für die Freiheit des Sprechenden schafft. Das Sprechen greift auf Artikulationsmöglichkeiten einer Sprache zurück, die es nicht zu seinen Zwecken entworfen hat. Der Mensch ist aber frei um dieses oder jenes zu sagen. Das Gegebensein einer Sprache eröffnet vielfältige Möglichkeiten des Redens, wobei Sprache nicht etwas offenbart, sondern allein sich selbst. Man muss aber die Position der individuellen Sprecher kennen, anders ist dieses „SichOffenbaren“ nicht verständlich zu machen. In und mit der Sprache sind unendlich viele Möglichkeiten des Sprechens möglich. Sprachliches Handeln bewegt sich in einem unerschöpflichen Spielraum dieser Möglichkeiten. Aber Sprache und Sprechender beziehen ihre Autonomie aus ihrer Abhängigkeit voneinander. Die Begriffe Magie, Offenbarung, Name, Wort, Urteil und Sündenfall der Sprache sind die wichtigsten Termini, die Benjamins Sprachphilosophie beherrschen. Während Benjamin am Traktat Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen schrieb, kannte er noch nicht die Jüdische Kabbala, sondern lediglich Hamanns und Humboldts Sprachtheorien. Benjamins mystischtheologische Terminologie entstammt also anderen als denen der Kabbala. Die von Benjamin ausgearbeiteten Topoi seiner Sprachphilosophie begegnet man fast in der gesamten sprachmystischen Tradition, so etwa auch bei Jakob Böhme in der barocken Sprachphilosophie oder bei Georg Hamann in der romantischen Sprachphilosophie. In den Schriften, wo jenseits der eigenen Kabbala auf diese Topoi eingegangen wird, „figuriert eine zwar nicht historische, wohl aber allgemein sprachphilosophische Vorstellung von der Kabbala als Paradigma und systematischer Konvergenzpunkt der thematisierten Spracherfahrungen“ 75. Gershom Scholem erklärt in seinem Buch Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala, dass die Sprachmystiker von jeher eine gesteigerte Sensibilität für die “unmittelbare Kraft” von Sprachgestalten für das “aus den Worten Ausstrahlende” 76 besaßen. Sie verbanden ihre Sprachliche Handlungen gewinnen ihren Wert aus einer Korrespondenz mit der Sprache, die ihrerseits Effekt vielfacher Korrespondenzen in der Sprache ist. 75 W. Menninghaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, 1980, S. 192. 76 Gershom Scholem: Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala, 1973, S. 68. 32 Wahrnehmung sprachlicher Ausdrucks-Gewalten mit der “biblischen Vorstellung von der ungeheueren Gewalt, die dem Namen Gottes innewohnt”77. Was den Begriff der ‘Offenbarung’ betrifft, meint er häufig gleichzeitig einen religiösen und sprachphilosophischen Sachverhalt. Scholem sagt hierzu: “Die unlösliche Verbindung des Begriffs der Wahrheit der Offenbarung mit dem der Sprache, [...] das ist wohl eine der wichtigsten, vielleicht sogar die wichtigste Erbschaft des Judentums an die Religionsgeschichte” 78. Sprachphilosophisch heißt das: das unsichtbare, unfassbare Wesen Gottes wird im sichtbaren, fixierten Wort seiner Sprache vollkommen erfahrbar, ohne dass er darin doch Aussagen über sich selbst zu treffen braucht. Gott offenbart sich im Wort. Mit Benjamins Worten heißt das: Aus dieser Perspektive ist nämlich “der sprachlich existenteste, d.h. fixierteste Ausdruck, das sprachlich Prägnanteste und Unverrückbarste, mit einem Wort: das Ausgesprochenste das reine Geistige”79. Benjamin gebraucht die Allegorie, um die Denk-, Traum und Erinnerungsbilder als Sedimente jener Erfahrung abzubilden, das als Verfahren des rettenden ‚Eingedenkens’ bezeichnet werden kann. Diese Denkbilder sind geronnenes, erstarrtes, “stillgestelltes” Bild und formen metaphorisch die Schwelle, an der jener Verfall sich zugleich als der ständige Übergang von Traum und Erwachen, von Theorie und Prosa, von Erfahrung und Verfahren in Benjamins Denken und Schreiben selber reflektiert und vollzieht. Es stellt sich die Frage nach der Darstellbarkeit des offenbar Undarstellbaren. Benjamin benennt das nach einer Schreibweise der “unsinnlichen Ähnlichkeit”80. Er entwickelt den Begriff der “unsinnlichen Ähnlichkeit”, um die Verwandlung des mimetischen Vermögens in der “Merkwelt des modernen Menschen” zu charakterisieren. Der Begriff besage, “dass wir in unserer Wahrnehmung dasjenige nicht mehr besitzen, was es einmal möglich machte, von einer Ähnlichkeit zu sprechen, die bestehe zwischen einer Sternenkonstellation und einem Menschen”. In Sprache und Schrift sei aber ein “Archiv unsinnlicher Ähnlichkeiten” vorhanden. Dieses Darstellbarheitsproblem findet man auch bei Maja Haderlap. Im folgenden wird versucht, dieses Darstellbarheitsproblem zu belichten. 77 Ebd. S. 14. In einem Artikel von Ernst Müller, getitelt Kabbala, kann man folgende Ausführungen finden: “Eine der eigentümlichsten Vorstellungen der Kabbala ist die von der schöpferischen Kraft und Wesenhaftigkeit der Laute, welche - im Sinne der alten Logoslehre - im ‘Urwort’ gegründet ist. Die phonetische Spezifizierung der Laute, welche in den Gottesnamen ihren Anfang nimmt, bezeichnet, vom Aspekt der wirkenden Kräfte selbst, verschiedene Etappen des Schöpfungswerkes. Der unmittelbare Niederschlag der Laute sind Buchstaben (...’Zeichen’), deren Form sowie deren spezielle Zusammenfügungen zu Worten, insbesondere nach gewissen Zahlenentsprechungen betrachtet [...] Geheimnisse enthalten”. Ernst Müller: Kabbala, in Jüdisches Lexikon. Berlin 1929, Bd.III, S.516 78 G. Scholem: Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala, Verlag: Leiden, 1973, S. 7. 79 Walter Benjamin: Sprache und Geschichte, 1992, S. 37. 80 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, II, 1. S. 209ff. 33 WIR ABER WOLLEN ÜBER GRENZEN SPRECHEN, UND GEHEN AUCH GRENZEN NOCH DURCH JEDES WORT: WIR WERDEN SIE VOR HEIMWEH ÜBERSCHREITEN UND DANN IM EINKLANG STEHEN MIT JEDEM ORT“81. 5. Echos der Sprache im Geschichtsraum Warum werden Texte geschrieben? Warum sollte jemand seine Geschichte, seine ganz persönlichen Erlebnisse und Erinnerungen, in einem Roman fassen wollen? Ausgangspunkt für ein solches Unternehmen ist ein Gefühl der Notwendigkeit. Bei Haderlap hat dieses Gefühl lange im Dunklen geschwelt, bis sie schlussendlich diesem Gefühl eine Richtung geben konnte. Aus den traumatischen Erlebnissen ihrer Kindheit schöpfte sie einen Text und gab den Erinnerungen eine Lebensberechtigung, „in der Großmutters Erzählungen klingen wie Echos aus lange vergangener Zeit“ (286). In diesem Kapitel werde ich zunächst eingehen auf die allgemeinen Aspekte des Traumas, wie sie Sigmund Freud in seinem 1920 erschienen Buch Jenseits des Lustprinzips beschrieben hat. Danach werde ich die Entstehung des Traumas bei Haderlap belichten als eine Notwendigkeit zum Schreiben. Die Traumas der Großmutter und des Vaters sind so immens, dass sie Folgen haben für weitere Generationen. Mir war wichtig, dem Thema Trauma an dieser Stelle einen Platz einzuräumen, weil ein Trauma der Grund für Bücher sein kann. Benjamins Sprachtheorie werde ich im folgenden anwenden im Zusammenhang mit der Sprachfindung bei Haderlap. Dafür werde ich den Text von Benjamin von der Schöpfungsgeschichte bis hin zum Sündenfall der Sprache bei Haderlap folgen. Diese Sprachfindung findet in der Landschaft statt, die dadurch zu einem Geschichtsraum wird. Können die Spuren des Schreckens verblassen? Haderlap beendet ihr Buch mit einem Hinweis auf Benjamins Engel der Geschichte. Diesem Engel kommt die Geschichte wie eine einzige Katastrophe vor. Haderlaps Engel des Vergessens gesellt sich zu diesem Engel. Es stellt sich die Frage, was Haderlap hiermit bewirken will. Deutlich ist mittlerweile, dass die katastrophale Geschichte, die wir den Holocaust nennen, nicht vergessen werden darf und kann. 81 Ingeborg Bachmann: Werke. Erster Band. Gedichte, Hörspiele, Libretti, Übersetzungen, hg. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster (München: R. Piper & Co., 1993) 1998. So lautet die letzte Strophe des fünften Gedichts aus dem Gedichtzyklus Anrufung des großen Bären. Es handelt sich bei diesem Gedichtzyklus um eine Landschaftsbeschreibung, nämlich um die ihrer Heimat Kärnten. 34 Haderlap geht es in ihrem Roman um ein Erinnern der Vergangenheit und nicht ein Vergessen. Sie geht dabei auf die Suche nach adäquater Wahrnehmung, um das Unbegreifliche, Unsagbare der jüngsten Geschichte, in diesem Fall der Kärntner Slowenen, darzustellen. 5.1. Trauma wird Notwendigkeit Unter dem Einfluss des Ersten Weltkrieges beschäftigt sich Freud in Jenseits des Lustprinzips (1920) ausführlich mit dem Problem der Kriegsneurosen. Im Gegensatz zur „gemeinen traumatischen Neurose“82 heben sich die Traumata, die im Krieg erlitten wurden, durch zwei wesentliche Merkmale ab. Als erstes, und im wesentlichen das Trauma verursachende Moment, nennt Freud den Schrecken. Damit ist etwas anderes als Angst und Furcht bezeichnet. Beim Schrecken steht die Überraschung im Vordergrund, unvorbereitet in große Gefahr zu geraten, das komplette Überrumpeltwerden durch eine für die Psyche unerträgliche Situation. Die Angstbereitschaft – und das damit verbundene mögliche Handeln – auf eine kommende Gefahr fehlt. Der zweite Punkt ist die Tatsache, dass eine gleichzeitig mit dem Trauma erlittene Verletzung der Bildung einer traumatischen Neurose entgegenwirkt83. Für das Trauma sind im Zusammenhang mit dem Schrecken noch weitere Merkmale von Bedeutung. Die ansonsten wirksame Reizabhaltung vermag bei einem traumatischen Vorkommnis die Psyche nicht mehr zu schützen. Die Psyche ist den hereinbrechenden Reizmengen schutzlos ausgeliefert. „Solche Erregungen von außen, die stark genug sind, den Reizschutz zu durchbrechen, heißen wir traumatische“84. Da das Trauma so eine massive psychische Störung verursacht, verliert der Mensch nach einem traumatischen Erlebnis meist sein (Selbst)vertrauen und das Gefühl, was die Welt als Ganzes für ihn früher war. In der traumatischen Situation ist die Integrität und Humanität des Menschen aufgehoben. Je länger sie andauert, desto schädigender ist sie für die Psyche. Die (vielfach demütigenden) Erlebnisse strömen auf den Menschen ein, ohne das die Psyche Zeit hätte, sie zu verarbeiten. Zudem erfährt sich das Individuum als ohnmächtig, als unfähig die Situation zu verändern oder zu bewältigen, gerade weil es unvorbereitet in eine gefährliche Situation gerät. In der Folge des Schreckens wird der auf niedrigen Niveau gehaltene psychische Reizschutz des Menschen durchbrochen. Der psychische Organismus versucht die Reizüberschwemmung durch Gegenmaßnamen zu bewältigen. Bei vorhandener Angstbereitschaft ist die menschliche Psyche auch imstande, gewisse „Erregungsmengen zu binden“85, doch Freud hält fest: „von einer gewissen Stärke 82 Siegmund Freud: Jenseits des Lustprinzips (1920), hg. S. Fischer Verlag, Studienausgabe, Band 3, 1975, S. 222. 83 Ebd. S. 243. 84 Ebd. S. 239. 85 Ebd. S. 241. 35 des Traumas an wird er (der Unterschied zwischen einem unvorbereiteten und vorbereiteten psychischen System) wohl nicht mehr ins Gewicht fallen“86. Die Vorstellung von gebundenen Erregungsmengen ist für das Verständnis des Traumas von großer Bedeutung. Negativ kann also von einem Trauma gesprochen werden, wenn auf die Psyche einströmende Reize nicht mehr in den seelischen Apparat eingeordnet werden können. Das Erlebte hat keinen Platz im Erlebten. Es gibt keine humane Erfahrung, die sich mit dem Trauma vergleichen lässt, kein Bekanntes an das sich anknüpfen ließe. Schutzlos ist das Individuum dem Trauma ausgeliefert. Das Unerträgliche, das Lebensbedrohende muss auf eine bestimmte Weise verdrängt werden. Diese Wahrheit ist dem Menschen in dieser Form nicht zumutbar87. Zu plötzlich war die Reizüberflutung, und zudem war keine Flucht möglich. Eine totale Machtlosigkeit wird erfahren. „Das vergessene und verdrängte Erlebnis kehrt jedoch in Träumen immer und immer wieder zurück (Wiederholungszwang), als ob das Unbewusste gleichsam, allerdings erfolglos, versuchen würde, das Trauma durch nachträgliche Angst, und eben nicht nur durch Schrecken, zu bewältigen“88. Wie wir gesehen haben ist die menschliche Psyche auf solche Reizüberschwemmungen nicht eingestellt. Das menschliche System weiß auf ein traumatisches Erlebnis keine adäquate Reaktion. Dabei taucht die Frage auf, ob es überhaupt eine adäquate Reaktion auf ein Trauma gibt. Vielleicht ist allein das Schweigen die angemessene Reaktion auf ein Erlebnis, für das es keine Worte gibt. Denn das Trauma ist keine gewöhnliche Geschichte, keine alltägliche Geschichte. Das Trauma stellt einen Bruch dar in der Geschichte. Wir können nach einem Trauma nicht zur Tagesordnung übergehen, weil wir nicht mehr weiter als (der gleiche) Mensch leben können. In unserer Geschichte passierte ‚etwas’, dass zu fürchterlich war, als das es einfach in Worte gefasst werden könnte. Die traumatische Geschichte ist eine Geschichte, die (noch) nicht erzählt werden konnte. Normalerweise ist jede Geschichte narrativ konstruktiv bestimmt, d.h. wir machen Geschichten indem wir uns Geschichten erzählen und uns auch danach verhalten. Wichtig ist nun, dass die Geschichte veränderbar ist. Sie kann neu erzählt werden. Im Zusammenhang mit der Frage des Traumas ist es aber entscheidend, dass Geschichte überhaupt, in welcher Form auch immer, erzählt wird. Sei es, um das Leiden der Traumatisierten und den davon Betroffenen zu lindern, sei es, um uns vor einer Wiederholung des Traumas zu schützen, dass es, falls es verdrängt bleibt, sich stets in anderer Form oder gleich wiederholt. Nur so kann eine Verschiebung stattfinden. Vielleicht eine Verschiebung vom Unfassbaren zum Fassbaren, vom Trauma zur geschichtlichen Erinnerung. 86 87 Ebd. S. 241. Zitat in Anlehnung an Ingeborg Bachmanns Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden mit dem Titel: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Werke, Band 4, S. 275. 88 Siegmund Freud: Jenseits des Lustprinzips, 1920, hg. S. Fischer Verlag, Studienausgabe, Band 3, 1975, S. 242. 36 Es stellt sich also die Frage, wie eine permanente, nicht bewusst abrufbare und meist mit starken emotionalen Störungen (Depressionen, Zwangsneurosen, Psychosen) verbundene Erinnerung in ein – allgemein gesprochen – symbolisches Netzwerk eingebunden werden kann? Wir gehen dann davon aus, dass der Versuch nötig ist. Zeugnis ablegen Über die persönliche Wahrheit muss Zeugnis abgelegt werden. Was bedeutet es Zeugnis ablegen, für etwas, was noch nicht gesagt werden konnte? Psychoanalytisch gesprochen bedeutet dieser Prozess eine Verschiebung der immer schon existenten Wahrheit vom Unbewussten zum Bewussten. Der Akt des Zeugnisablegens bildet den Zugang zur unbewussten Wahrheit. Es findet eine Transformation statt, oder mit anderen Worten: die Wahrheit wird ans Tageslicht gebracht. Der biblische Satz: „Die Wahrheit wird euch befreien“ (Jo 8,32) bedeutet psychoanalytisch interpretiert genau den befreienden Vorgang, der beim Aufdecken der (unangenehmen) Wahrheit erfahren wird. In ihrem Buch Testimony ist es Felman/Laub89 erstmals in der Psychoanalyse gelungen zu erkennen, dass ein Mensch auch ohne sprachlichen Zugriff auf die Wahrheit, wie es beim Trauma der Fall ist, Träger von Wahrheit ist: „Psychoanalysis […] profoundly rethinks and radically renews the very concept of testimony, by submitting, and by recognizing for the first time in the history of culture, that one does not have to possess or own the truth, in order to effectively bear witness to it; that speech as such is unwittingly testimonial; and that the speaking subject constantly bears witness to a truth that nonetheless continues to escape him a truth that is, essentially, not available to its own speaker”90. In diesem Zitat wird auch deutlich, wie schwierig es ist, die englischen Ausdrücke „witnessing“, „testimony“, „bear witness“, „testimonial pratice“ usw. zu übersetzen. Die Ausdrücke werden fast ausschließlich mit dem Ausdruck „Zeugnis ablegen“ übersetzt. Wichtig ist dabei auch nicht unbedingt worüber Zeugnis abgelegt wird, sondern was durch den Akt des Sprechens an sich hervorgebracht wird. Damit dieser Akt des Sprechen insofern gelinge als nun bewusst Wahrheit gesprochen wird, gibt es in der Psychoanalyse die Vorraussetzung, deren Methode sie selbst ist, nämlich der psychoanalytische Dialog. Die Anwesenheit eines zweiten Menschen ist unabdingbar für das Hervorbringen der Wahrheit: nicht um dem Zeugen oder der Zeugen das Realwerden der unglaublichen und noch ungeglaubten Wahrheit abzunehmen, sondern um spiegelnd daran 89 Shoshana Felman, Dori Laub: Testimony: crisis of witnessing in literature, psychoanalysis and history. Routledge, Chapman and Hall Inc., 1992. Die Basis für dieses Buch legt die eigene Praxis der zwei Autoren und ihre Erfahrungen mit Erzählungen von Überlebenden. Felman und Laub präsentieren die erste Theorie über “Zeugnis ablegen”: ein radikal neues Konzept über die Beziehung zwischen Kunst und Kultur und dem Zeugnis ablegen von historischen Vorfällen. 90 Ebd. S. 15. 37 teilzuhaben. Die psychoanalytische Situation bietet so Gelegenheit das Unlebbare nochmals bewusst zu durchleben. Mit der psychoanalytischen Methode hat Freud etwas ganz Entscheidendes entdeckt, „an unprecedented kind of dialogue in which the doctor’s testimony does not substitute itself for the patient’s testimony, but reasonates with it, because […] it takes two to witness the unconscious”91. Trauma bei Haderlap Bei Freud rührt das Trauma von Ereignissen her, die nicht in die bewusste Persönlichkeit integriert werden können, aber ihre Spuren im psychischen Apparat hinterlassen haben. Bei Haderlap wird das Trauma vererbt durch die Erzählungen der Großmutter und des Vaters, bei denen die Ereignisse eingeströmt waren, ohne das die Psyche Zeit genug hatte, sie zu verarbeiten: „Seine Erzählung ist zu meiner geworden“ (155). Der Vater verliert im Roman Jahre später, über den drohenden Krieg in Slowenien 1992, beinahe den Verstand. Kurz danach liest die Erzählerin ein Buch über die Spätfolgen der Kriegstraumas. Endlich bekommt der Zustand des Vaters einen Namen, denkt sie. Sie ist erleichtert. Aber kann die Benennung etwas verändern? „Ich lese vom Verschwinden der Empathie im Jetzt, vom Gefangensein im eigenen Körper, in dessen Stoffwechsel die Vergangenheit eingeschlossen ist wie eine lebende Gedächtnismikrobe, die zu bestimmten Anlässen den Menschen in Besitz nimmt, ihn überwuchert und von allem Gegenwärtigen trennt“ (233). Im Zusammenhang mit einem Trauma muss die Geschichte aber erzählt werden. Nur so kann die Verschiebung stattfinden vom Unfassbaren zum Fassbaren, vom Trauma zur geschichtlichen Erinnerung. Wie Felman/Laub schreiben, ist an dieser Stelle das Zeugnis ablegen von großer Wichtigkeit. Dabei kommt es auf den Akt des Sprechens an, nicht unbedingt worüber man spricht. Wie im Text hiervor erklärt, ist die Anwesenheit eines zweiten Menschen unabdingbar für das Hervorbringen der „Wahrheit“. Das Trauma scheint mir ein Grundzug in Haderlaps Schreiben. Als kleines Mädchen schon, vielleicht sechs, höchstens sieben Jahre alt, wird sie Zuhörer der ungeheuerlichen Verbrechen, denen ihre Familie ausgesetzt war. Erzählungen von Unglücksfällen und Selbstmorden, Erfahrungen von Angst und Schrecken, Sprachlosigkeit und Unverständnis prägen die Kindheitslandschaft der Erzählerin. Diese Erzählungen finden Ausdruck in ihren Gedichten und diesem Roman, in denen „die Erinnerung an den Krieg in das Bewusstsein der folgenden Generation“ 92 eindrängt. „Das Kind begreift, dass es die Vergangenheit ist, mit der es rechnen muss“ (109). Geleitet von den Erzählungen von vor allem der Großmutter, muss das Kind sich begeben „in die Zeit vor meiner Zeit“ (109). Die Vergangenheit wirft übergroße Schatten auf die Gegenwart und die Zukunft erweist sich als 91 Ebd. S. 15. 92 Wiebke Porombka: Wenn der Krieg die Landschaft unterjocht. , Frankfurter Allgemeine Zeitung’, 19.07.2011, Ausgabe 165. 38 Leichtgewicht auf diesem Boden. Haderlap befindet sich in einem Verborgenen schwelenden, permanenten Kriegszustand. Sie ist von klein an traumatisiert und dem gibt sie Ausdruck in der Darstellung von zwischenmenschlichen Beziehungen. Da die Leiderfahrung eines jeden Einzelnen aber nicht einfühlbar wird durch die Beschreibung der großen ‚Untaten’, beschreibt Haderlap ihre Beziehung zur Großmutter, dem Vater und der Mutter. Mit der Sprache des Traums hat Haderlap eine Darstellungsmöglichkeit gefunden, in der das Verdrängte vom Unbewussten ins Sprachliche verlagert werden kann. Auch in das Dorf Eisenkappel sind jene zurückgekehrt, welche die Qualen in den Konzentrationslagern überlebt haben. Unter ihnen kommen die Partisanen zurück, die dem blutigen, entbehrungsreichen Partisanenkampf gegen die Eingliederung ins Nationalsozialistische Reich, entkommen sind. Der Kampf der Partisanen ist der einzig nennenswerte militärische Widerstand gegen den Nationalsozialismus, der das Aussichtslose versuchte. Die meisten aber sind mörderisch bestraft. Auch unbeteiligte Angehörige von Partisanen wurden gefoltert und systematisch in Konzentrationslager deportiert. Vor Frauen und Kindern wurde nicht zurückgeschrocken. In der österreichischen Geschichtsschreibung wird diese Tragödie jedoch völlig verschwiegen: „Sie wissen, dass ihre Vergangenheit in den österreichischen Geschichtsbüchern nicht vorkommt, noch weniger in den Kärntner Geschichtsbüchern, wo die Geschichte des Landes mit dem Ende des Ersten Weltkrieges beginnt, dann eine Unterbrechung macht und mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder einsetzt“ (236). Diese historische Tragödie erzählt Haderlap anhand ihrer Familiengeschichte, mit der sie durchdrängt ist. „Ich fürchte, [schreibt sie,] dass sich der Tod in mir eingenistet hat, wie ein kleiner schwarzer Knopf, wie eine dunkle Spitzenflechte, die sich unsichtbar über meine Haut zieht“ (91). Haderlaps Vater wurde als Zwölfjähriger gefoltert, ihre Großmutter überlebte das KZ Ravensbrück. Diese biologischen Koordinaten bestimmen das Trauma der ganzen Familie und reichen weit fort bis in die Gegenwart. Der Vater schreibt sich von diesem Datum 93 her: „Nachdem ich mehrmals beteuert habe, dass ich nichts weiß, haben die Polizisten Seile aus den Säcken gezogen und mir eines um den Hals gelegt. Dann haben sie mich auf einen Ast gehängt, einen Ast des Nussbaumes, der neben der Mühle gestanden ist. Sie zogen mich mit dem Seil hinauf, bis mir schwarz vor den Augen wurde, dann ließen sie mich wieder hinunter. Dann zogen sie mich wieder hinauf, drei Mal hintereinander. […] Dein Hals war blutunterlaufen und die Beine voller blauer Striemen […].Ja, so war es, sagt Vater und verstummt“ (154/155). Die Großmutter schreibt sich von dem folgenden Datum her: „An jenem 12. Oktober 1943 seien von denen mit ihr verhafteten Nachbarn viele in den Tod gegangen, die Mozgan Marija, die Mozgan-Magd Bricl, der Cemer Luka, [….] Zurückgekehrt 93 Gemeint wird die Unterbrechung eines Kontinuums, wobei ein Augenblick in der Geschichte erreicht wird, von dem aus sich die Erfahrung der Autorin herschreibt. 39 seien nur das Mozgan-Mädchen Amalija, die Cemer-Kinder Johi und Katrca […]. Sie sei gerettet worden, ja, ob sie deswegen gerne lebe, wisse sie nicht“ (71). Nicht nur in den Erzählungen, sondern auch in der Landschaft findet man die Spuren des Todes. Der Tod ist überall und allgegenwärtig in einer Landschaft, die vom Krieg durchfurcht ist. Auch das Sterben (durch Verunglücken und Selbstmord) findet kein Ende. Die Großmutter „zeichnet die Anwesen auf ohne Schrift, flicht ein feines Netz von Hof zu Hof, zieht die Namen über den Hügeln zusammen, ein eigentümliches Geflecht, eine verborgene Nachbarschaft der Überwältigten“ (141). Wie ein unsichtbares Netz überzieht der Tod das Leben und die Natur, die nur idyllisch scheint für die nicht Eingeweihten. In der Heimat Haderlaps, in der Umgebung des Lepena-Grabens mit seinen weit verbreitet gelegenen Höfen und Dörfern gibt es kaum ein Gehöft, dass nicht Schauplatz einer Deportation oder Mord geworden ist. Gräben und Risse trennen die Täler, Bäume, an denen jemand erhängt wurde, Wälder die als Schutz aber auch als Kriegsschauplatz gedient haben. Die Großmutter, sowie der Vater, hängen am „Erinnerungshaken“ (92) des „hinterhältigen Menschenfischers“ (92) Krieg im „Wald der Geschichten“, denn „In den Wald gehen bedeutetet in unserer Sprache nicht nur, Bäume zu fällen, zu jagen oder Pilze zu sammeln. Es heißt auch, wie immer erzählt wird, sich zu verstecken, zu flüchten, aus dem Hinterhalt anzugreifen“ (75). Auch wenn der Wald durch die Jahre dichter wird, ehemalige Kampfstätten überwuchern, Bäume gefällt werden, bleibt immer noch die Erinnerung. Der Natur die verlorengegangene Unschuld zurückzugeben wird ein Unternehmen: „Das Kind will [aber] zurück zu den unvermittelten Dingen, wo sich kein Wort zwischen es und die Welt drängte, wo nichts, was es berührte, sich ihm entzog. Es will die Worte von den Dingen pflücken, den Namen Wiesenschelle von der Wiesenschelle und Taubnessel von der Taubnessel“ (133). Als Ursprung der Erinnerung und der Notwendigkeit des Schreibens und als Anfang eines Wissens um den eigenen historischen Ort sind diese Ereignisse schmerzhaft. Durch diese Erfahrung, diese biologische Koordinate, dieses Datum, wird eine Zäsur gezeichnet, mit der eine nicht selbst herbeigeführte historische Verwicklung beginnt. „Ursprung“ meint in diesem Zusammenhang nicht unbedingt Anfang, sondern eher „Entspringen“ im Benjaminschen Sinne. Es ist ein Moment, indem ein bedeutendes Datum der Lebens- und Autorgeschichte kenntlich wird. Das Erinnerungsmoment ist dabei eher als Datum im Celanschen Sinne zu verstehen, denn als historische Datierung. „Mit meiner verbrannten Hand schreibe ich über die Art des Feuers“ 94, eben weil man sich erst die Hand verbrennen muss, will man den Schmerz beschreiben können. Haderlap spricht sich in der Öffentlichkeit für eine Anerkennung der Leiden der SlowenenDeutschen durch die Nazis aus. Notwendig ist das Erinnern der Taten und der Kampf gegen die 94 Ingeborg Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews, Verlag R. Piper & Co., München 1983. S. 71. Dies ist ein Satz von Gustave Flaubert aus seinem Roman Madam Bovary. Ingeborg Bachmann hat ihn adoptiert. Man könnte diesen Satz als allgemeine Charakterisierung von Bachmanns Werk sehen. 40 kollektive Verdrängung, sowie das Vergessen der historischen Vergangenheit. Erst dann kann die Geschichte verblassen, sie muss erst verortet sein. Schlussendlich entspringt das Erzählen von Damals dem Wunsch, endlich vergessen zu können. 5.2. Benjamins Sprachechos in Haderlaps Roman – Von der Schöpfungsgeschichte bis zum Sündenfall der Sprache bei Haderlap In dem hier folgenden Kapitel werde ich die Sprachtheorie Benjamins anwenden im Zusammenhang mit der Sprachfindung bei Haderlap. In seiner Analyse zu einem gereinigten Sprachbegriff, einer „Sprache der Sprache“ 95, baut Benjamin seine Interpretation, wie schon erklärt, auf eine Reinterpretation der Schöpfungsgeschichte auf. Schon Goethe brachte es auf den Punkt: Die Bibel, das „verbindende Urdokument der Menschheit“96. Benjamin behandelt neben dem Schöpfungsakt vier andere Begriffe, die mit der Analyse zu einer reinen Sprache zusammenhängen: den Namen, die Offenbarung, die Übersetzung und den Sündenfall. Bei Benjam in bed eu tet Sp rache “d as au f d ie Mitteilu ng geistiger Inhalte gerichtete Prinzip in d en betreffend en Gegenständ en” . Diese teilen sich nicht durch d ie Sp rache, sond ern in d er Sp rache m it. 97 Bei Benjam in ist d as sp rachliche Wesen u rsp rü nglich, d a es “d ie Dinge benennt” . Diese 98 ‘ad am itische’ od er ‘N am ensp rache’ teilt nichts Inhaltliches m it; d ie Sp rache sp richt sich vielm ehr selbst au s. Bei Benjam in entließ Gott d ie Menschensp rache, d ie ihm als Med iu m d er Schöp fu ng d iente. Er ü berließ im Menschen sein Schöp ferisches. In Benjam ins Sp rachau fsatz ist d er Mensch m it Sp rache begabt. In d iesem Kontext fü hrt Benjam in d en ‘Sü nd enfall d er Sp rache’ ein: d as Wort versu chte nach d em Sü nd enfall sich au szu sagen, etw as m itzu teilen, näm lich d ie Erkenntn is ü ber Gu t u nd Böse. Benjam in verw end et in d iesem Zu sam m enhang d en Begriff “Geschw ätz” . “Geschw ätz” 99 ist Sp rache, d ie nicht w ie d er N am e au f Erkenntnis d er Dinge beru ht. Bei Benjam in ist d er Geschw ätzige d er Sü nd ige. Diesem Sü nd igen kann nu r m it d em m agis chen Wort d es Gerichts begegnet w erd en. Das Geschw ätz ist au ch d ie Mitteilbarkeit d er Mitteilu ng. Das sp rachliche Wesen d es Trau rigen kom m t d u rch d ie ‚Überbenennu ng d er Dinge’ in d ie Menschensp rache. In H ad erlap s Rom an w erd e ich im folgend en nachgehen, w ie d ie fü nf Begriffe au s Benjam ins Sp rachau fsatz zu rü ckschallen als Echo. 95 Walter Benjamin: Sprache und Geschichte, 1992, S.48 96 J. W. Goethe; Schriften zur Literatur. S. 689. 97 Walter Benjamin: Sprache und Geschichte, 1992, S. 30. 98 Ebd. S. 35. 99 Ebd. S. 44. 41 Beginnen wir mit der Schöpfungsgeschichte, deren Akt einsetzt mit der „schaffenden Allmacht der Sprache“100. In Haderlaps Roman ist es die Großmutter, die an die Macht des gesprochenen Wortes glaubt, an „Wort, das Brot geworden ist“ (28). Für die Großmutter kam der Schutz durch das Wort. In Benjamins Sprachaufsatz ist die Allmacht der Sprache Wort und Name. In Gott ist der Name schöpferisch. Und dieser Gott hat die Natur direkt aus dem Wort geschaffen. Dieser Gott hat dem Menschen die Sprache als Gabe beigelegt. Die Großmutter wird die Schöpferin von Haderlaps Identiteit. Sie beschließt sogar die Erziehung der Erzählerin zu übernehmen. Von der Großmutter hört sie zum ersten Mal den Namen Ravensbrück, der sich in ihrem Wortschatz nestelt. Sie sieht das Arbeitsbuch und die Lagernummer auf dem Unterarm der Großmutter. Die Großmutter benennt und übersetzt die Sprache der Dinge in die Sprache der Menschen. Dafür braucht sie ein Gegenüber. Der Empfänger ist die Erzählerin. Die Großmutter bestimmt den Wortschatz der Erzählerin und „richtet ihren Orientierungssinn“ (117), die die „Vibrationen der Großmutter auf die Welt übertragen werden“ (228). Benjamin gibt in seinem Aufsatz dem Namengeber den höchsten Rang: „Gottes Schöpfung vollendet sich, indem die Dinge ihren Namen vom Menschen erhalten, aus dem im Namen die Sprache allein spricht“101. Die Großmutter ist somit nahe bei Gott und der ‚reinen Sprache’. Großmutter benennt nicht nur, sie zeigt. Das Kind fühlt die „Vibrationen“. Benjamin geht es ebenfalls um die Offenbahrung des Wahren in einer wahren Sprache, die allerdings noch eine fremde ist. Die reine, wahre Sprache muss in einer eigenen erlöst werden 102. Die Erzählerin umschreibt diesen Akt mit den folgende Worten: „Ich hoffe, dass ich später die richtige Sprache finden werde, und ersinne Phantomsätze, die ich in die Zukunft vorauswerfe. Das Gedachte und Gefühlte, das Empfundene und Befürchtete, soll erst später zur Sprache kommen, in einem Satz zusammentreffen oder zusammengeführt werden […]“ (168). Es muss also der Versuch unternommen werden, für das Erlebte eine eigene Sprache zu finden, obwohl der Begriff das Original zu zerstören droht, bzw. der persönlichen Erfahrung nicht entspricht. In Haderlaps Roman will das Kind „zurück zu den unvermittelten Dingen, wo sich kein Wort zwischen es und die Welt drängte, wo nichts, was es berührte, sich ihm entzog“ (133). Diese Textstelle finden wir, nachdem die Großmutter ihre Lebensgeschichte erzählt hat. Für das Erlebte der Großmutter muss das Kind eine eigene Sprache finden. Das Kind fährt aus dem Lepena-Graben fort und findet seinen „Rückzugsraum“ (143) im Schülerheim. Aber selbst wenn die sprachliche Offenbahrung gelingt bleibt, so Benjamin, „in aller Sprache und ihren Gebilden außer dem 100 Ebd. S. 39. 101 Ebd. S. 35. 102 Ebd. S. 62. 42 Mitteilbaren ein Nicht-Mitteilbares, ein, je nach dem Zusammenhang, in dem es angetroffen wird, Symbolisierendes oder Symbolisiertes“103. Nach dem Tod der Großmutter kommen die Geschichten von den Trauergästen, „die die Verpflichtung hätten, ihr Wissen an die Jugend weiterzugeben, damit sie nicht eines Tages ohne Erinnerung an ihre Familien zurückblieben“ (160). Diese Geschichten kommen in der jeweiligen Sprache zum Ausdruck. Durch die Form der Rede oder der Aussage kann der wesentliche Inhalt offenbar werden. Benjamins Sprachphilosophie kreist den Bereich des Nichtmitteilbaren ein, denn mein Gegenüber kann die erzählte Geschichte ganz anders verstehen. Es geht dabei um die ‚richtige’ Übersetzung. Aber selbst wenn eine angemessene Form der Übersetzung besteht, gilt – Hoffnung und Verzweiflung zugleich – für Benjamin: „Wenn Übersetzung eine Form ist, so muss Übersetzbarkeit gewissen Werken wesentlich sein“ . Benjamin macht uns insofern Hoffnung, als es für ihn bei aller 104 Flüchtigkeit des Originals, „ein Halten“ 105 gibt. Benjamin hat die These vertreten, dass Übersetzung nicht nur zwischen verschiedenen Sprachen vonstatten geht. Die menschliche Sprache ist überhaupt von einer Arbeit der Übersetzung getragen, indem die Dinge einen Namen bekommen. Der Begriff der Übersetzung liegt in der tiefsten Schicht der Sprachtheorie Benjamins. Haderlap entschließt sich endlich das Erzählte in „eine geschriebene Form zu bringen, [sich] aus dem Gedächtnis neu zu entwerfen“ (282). Sie will sich „einen Körper erschreiben, der aus Luft und Anschauung, aus Düften und Gerüchen, aus Stimmen und Geräuschen, aus Vergangenem, Geträumten, aus Spuren zusammengesetzt werden könnte“ (282). Die Objektivität einer solchen ‚Übersetzung’ ist aber nur in Gott verbürgt. In diesem Zusammenhang werde ich Walter Benjamins Text Die Aufgabe des Übersetzers anschneiden. Walter Benjamin zeigt in diesem Text wie Wahrheit aus geschichtsphilosophischer Perspektive hervorgebracht werden kann, indem ein Ereignis in Geschichte übersetzt wird106. Die mehrfache Bedeutung des Titels des Benjaminschen Textes lässt die Schwierigkeit eines solchen Unterfangens erahnen. Die doppelte und gegensätzliche Bedeutung der beiden Wörter „Aufgabe“ und „Übersetzer“ muss der dabei aufkommenden Hoffnungslosigkeit widerstehen, denn es wird hier davon ausgegangen, dass Ereignisse erst durch Übersetzung Geschichte werden. Dem philosophisch denkenden Menschen kommt dann – im engeren Sinne der Aufgabe des Übersetzers von Ereignissen – die Aufgabe zu, „alles natürliche Leben aus dem umfassenderen der Geschichte zu verstehen“107. 103 Ebd. S. 62. 104 Ebd. S. 51. 105 Ebd. S. 64. 106 Shoshana Felman, Dori Laub: Testimony: crisis of witnessing in literature, psychoanalysis and history. Routledge, Chapman and Hall Inc., 1992, S. 153-164. 107 Walter Benjamin: Sprache und Geschichte, 1992, S. 52. 43 Das Leben kann also aus dem Ablauf von Ereignissen verstanden werden. Für das Leben selbst hat die Übersetzung und das daraus gewonnene Verständnis aber keinerlei Bedeutung. Dennoch besteht ein natürlicher Zusammenhang des Lebens, der gegen den Naturbegriff abgegrenzt wird: „nur wenn allem denjenigen, wovon es Geschichte gibt […], Leben zuerkannt wird, kommt dessen Begriff zu seinem Recht. Denn von der Geschichte, nicht von der Natur aus, […] ist zuletzt der Umkreis des Lebens zu bestimmen“108. Ein so bestimmbarer, übersetzbarer Lebenszusammenhang muss dem originalen Leben aber nicht notwendig ähnlich sein, die Vermittlung der Verwandtschaft zwischen den beiden aber genau. Darum stellt sich die Frage, und Benjamin spricht hier (auch allegorisch) von der Verwandtschaft zwischen den Sprachen: „Wenn in den Übersetzungen die Verwandtschaft der Sprachen sich zu bewähren hat, wie könnte sie das anders als indem jene Form und Sinn des Originals möglichst genau übermitteln?“109. In einem schwierigen Prozess muss diese Genauigkeit der Übersetzung angestrebt werden. Eine genaue Übersetzung ergibt sich nicht mit einem Male, sie hat an sich selbst und an sich selbst wachsend „immer wieder die Probe […] zu machen: wie weit ihr Verborgenes von der Offenbahrung entfernt sei, wie gegenwärtig es im Wissen um diese Entfernung werden mag“110. Wenn Benjamin in der Folge die Aufgabe des Übersetzers genau von der des Dichters unterscheidet111, dann mag es der Beantwortung unserer Frage in Analogie dazu dienlich sein den „Macher der Geschichte“ vom „Schreiber der Geschichte“ zu unterscheiden. Der Erste lebt, der Letztere gibt dem Leben die Form. Das Leben hat sich in der Übersetzung zu offenbaren, und dabei – bei aller Schwierigkeit – wahr zu sein. Das Leben lebt in der Übersetzung als Geschichte fort, sie überlebt es. Die beiden darum voneinander zu trennen ist sinnvoll, weil ihre Absichten verschieden sind, „die des Dichters ist naive, erste, anschauliche, die des Übersetzers abgeleitete, letzte, ideenhafte Intention“112. Im Hinblick auf einen geschichtsphilosophischen Umgang mit Traumata wird deutlich, dass geschichtliche Wahrheit erst durch Transformation bewusst und offenbar, also „wahre Geschichte“ wird. So kommt der Übersetzung eine vergleichbare Bedeutung zu wie der des Bezeugens: „translation, as opposed to confession, itself becomes a metaphor for the historical necessity of bearing witness“113. Auch im Bezeugen soll das Wort etwas mitteilen. Benjamin spricht an dieser Stelle vom „Sündenfall der Sprache“114. Das Wort muss etwas mitteilen, das entweder „Gut“ oder „Böse“ ist. Damit ist die 108 Ebd. S. 52. 109 Ebd. S. 54. 110 Ebd. S. 56. 111 Ebd. S. 58. 112 Ebd. S. 58. 113 113 Shoshana Felman, Dori Laub: Testimony: crisis of witnessing in literature, psychoanalysis and history. Routledge, Chapman and Hall Inc., 1992, S. 153. 114 Benjamin: Sprache und Geschichte, 1992, S. 44. 44 ‚reine Sprache’, die in Gott verbürgt ist, angetastet. Der Sündenfall ist bei Benjamin die „Geburtsstunde des menschlichen Wortes“115 und damit der Subjektivität. An dieser Stelle taucht in den Überlegungen der Begriff des „Urteils“ auf. Dieser Begriff ist der Grund, warum Adam und Eva in der Schöpfungsgeschichte aus dem Paradies gestoßen werden. Für die Sprachtheorie hat dies die folgende Bedeutung: Die Sprache wird zum Mittel, eine Vielzahl der Sprachen folgt und schließlich ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Sprachverwirrung, die im Turmbau zu Babel symbolisiert wird. Benjamin beschreibt weiter die „stumme Sprache der Natur“ 116 als jene „paradiesische Sprache“, die dem Sündenfall des Sprachgeistes vorausgeht. Denn nach dem Sündenfall soll das Wort etwas mitteilen117. Benjamin betrachtet die Sprache in Bezug auf die Genesiskapitel der Bibel, in denen er den ‘Sündenfall der Sprache’ als Zäsur gedeutet hat. Mit ‘Zäsur’ meint Benjamin, dass die adamitische Sprache118 für immer von jener Sprache getrennt wird, die als Zeichensystem funktioniert. Benjamin wollte in seiner Theorie jedoch niemals auf eine Rückkehr zum paradiesischen Sprachzustand hinaus. Im Zusammenhang mit Haderlap ist die stumme Sprache der Natur aber interessant, die auch Benjamin meint. Immer wieder werden in den Roman die ‚grünen Kapitel’ eingeschoben, in denen die Natur mit menschlichen Zügen beschrieben wird. Diese Natur bestimmt das menschliche Wohlsein, denn die Spuren des Krieges sind im ‚Wald der Geschichten’ zu finden. Haderlap beschreibt in ihrem Roman das Leben der Partisanen, die sich mit der Landschaft verbünden, um zu überleben. Der Partisan muss sich „mit der Wiese tarnen und den Laubmantel um sich schlagen“. (228). Die Landschaft, in der der Partisan lebt, sieht alles, wenn der Krieg sich in die Gräben zurückzieht und die Felder zum Kampfschauplatz werden. Am Ende des Krieges werden die Wiesen und Felder „ihre Toten hergeben, werden die Lichtungen und Waldränder ihre Leichen auswerfen“ (249). Benjamin schreibt: „Es ist eine metaphysische Wahrheit, dass alle Natur zu klagen begönne, wenn Sprache ihr verliehen würde“119. Wo ist nun der „Sündenfall des Sprachgeistes“ bei Haderlap zu erkennen? So wie Benjamin nicht zurück will zu einem paradiesischen Zustand der Sprache, durchbricht auch Haderlap das Schweigen, indem sie die Erinnerungen benennt und aufschreibt. Die erzählten Geschichten sind zwar subjektiv, sie müssen aber qualitativ anders sein. Ausgerichtet auf Wahrheit, 115 Ebd. S. 44. 116 Ebd. S. 46. 117 Ebd. S. 45. 118 Mit d em Begriff “adam itischer Sprache” w ird d ie “selige” Sprache gem eint. Die stum me Sprache d er N atur w ird unm ittelbar in d ie Sprache d er Menschen übersetzt. Dies ist eine Übersetzung d es “Stum m en in das Laut hafte”, d es “Nam enlosen in d en Nam en”. 119 Benjamin: Sprache und Geschichte, 1992, S. 46. 45 denn, um mit Paul Celan zu sprechen: „Nur wahre Hände schreiben wahre Gedichte“ 120. Die Qualität des Gedichtes oder des Textes wird auch bei Haderlap ans Menschsein im qualitativen Sinne gekoppelt. Celan vergleicht das Gedicht mit einem Händedruck. Es sind individuelle Zeichen einer Person im Umgang mit anderen. Beide sind Zeichen von Beziehung und Dialog. Haderlap entwirft nun die Lebensgeschichte des Vaters neu. Am Anfang des dritten Teiles gibt sie diese Vorschau auf die Heimkehr der Überlebenden aus dem Krieg. Im Kapitel danach wird der Vater neu entworfen. Wie in der Schöpfungsgeschichte gebraucht Haderlap das Futur: „Vater wird die Herausforderung annehmen und vor sein Elternhaus treten. Er wird mit Großvaters Hilfe die Fenstern und Türen erneuern, das Dach. Er wird die ersten Tiere in den verwaisten Stall stellen […]“ (253). Der Kreis des Schöpfen schließt sich in Haderlaps Roman und endet mit einem Ausblick auf die Zukunft. 5.3. Die Landschaft, die zum Geschichtsraum wird. Haderlaps Sprachfindung findet in der Landschaft statt, die dadurch zu einem Geschichtsraum wird. Die erinnerten Ereignisse können aber nicht in aller Klarheit memoriert werden. Erst wenn man versucht das Detail eines vergangenen Moments vor Augen zu führen, werden die Unschärfen bewusst. Aleida Assmann hat in ihrem Buch Erinnerungsräume das Erinnern definiert als einen „dialektischen Prozess von Erinnern und Vergessen“121. Das Erinnerte muss nachträglich bewusst gemacht werden. Dieser Vorgang geschieht in der Gegenwart, in dem versucht wird, das Vergangene wieder herzustellen. Bei diesem Versuch entsteht eine zeitliche Differenz zwischen dem Ereignis und der Erinnerung. Der Ort hat für die Erinnerung immer schon eine zentrale Rolle gespielt, in dem er uns hilft, die Vergangenheit zu beschreiten, ja, sie förmlich zu durchwandern. Der Ort wird hier verstanden als physischer Ort und der Begriff der „Verortung“ für die Konstruktion oder Bewahrung eines solchen Ortes verwendet. Ein Erinnerungsort verbindet dann die Vergangenheit mit der Zukunft. Die Wirkung dieses Ortes ist abhängig von der Bedeutung, die wir einem Ort geben. Haderlap hat zur Erlangung des Bachmann-Preises den Textabschnitt Im Kessel gewählt. Wie schon erklärt führt Haderlap in diesem Text ein Mädchen mit dem Vater in den Wald - und in die Abgründe der Geschichte und der Gegenwart. Wie von ungefähr treffen Vater und Tochter bei ihrer Waldwanderung auf jeder Seite weitere Personen, die ihnen lehrreiche, aber auch erschütternde Auskünfte geben. In diesem Text wird die konkrete und historische Umgebung vermessen, in einer bildhaften und dichten Sprache. Und das alles in einem Spaziergang im Gebirge, entlang der Grenze. 120 Paul Celan: Der Meridian und andere Prosa. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1983, S. 32. 121 Aleida Assmann: Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C. H. Beck. 1999. S. 29f. 46 Die Erinnerung an diesen Spaziergang mit dem Vater wird im Text Im Kessel verortet. Echos von der Erzählung Gespräch im Gebirge von Paul Celan schallen hier durch den Wald. Gerade wenn diese Erzählung von Celan beim Leser bekannt ist, dann ist ein gewöhnlicher Bergspaziergang nicht mehr möglich. Im Folgenden werde ich kurz eingehen auf das Gespräch im Gebirge um die Echos aufzuzeigen, die für den Begriff der Verortung der Sprache wichtig sind. Das Gespräch im Gebirg von Paul Celan “Erinnerung an eine versäumte Begegnung”, so nannte Celan in der Büchnerpreisrede das Gespräch im Gebirg. Weiter nannte er es auch ein “Mauscheln zwischen ihm und Adorno”, so, Marlies Janz in ihren Ausführungen.122. Auffällig ist der Begriff “mauscheln”, denn diese Tätigkeit spielt sich ab im Geheimen, bedarf aber auch eines Gegenübers. Das Gespräch im Gebirg erzählt von der Begegnung zweier Juden, die sich eines Abends auf einer Straße im Gebirge treffen. Der poetologische Text ist in seiner “Dunkelheit” zu unterteilen in drei Stücke123: Ein erster Abschnitt, der als Einleitung in die Handlung zu lesen ist, ein zweiter, der den Dialog zwischen den Zweien darstellt und in der diese Begegnung auch der Gesprächsstoff des Gesprächs124 ist, und ein dritter, der als Monolog fungiert. Der Text beinhaltet eine Kreisstruktur, d.h. Motive und Situationen des Anfangs werden wieder aufgenommen am Ende des Textes. Das gleiche Verfahren verwendet Celan im Meridian125 und hier verweist er am Ende auf den Text Gespräch im Gebirg, um wieder beim Anfang innezuhalten: ”Und vor einem Jahr, in Erinnerung an eine versäumte Begegnung im Engadin, brachte ich eine kleine Geschichte zu Papier, in der ich einen Menschen “wie Lenz” durchs Gebirg gehen ließ. Ich hatte mich, das eine wie das andere Mal, von einem “20. Jänner”, von meinem “20. Jänner”, hergeschrieben. Ich bin [...] mir selbst begegnet “126. 122 Marlies Janz: Vom Engagement absoluter Poesie. Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans. Autoren und Verlagsgesellschaft Syndikat, Frankfurt am Main, 1976, S. 229. 123 Dorothee Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie. Paul Celans poetologische Texte. Verlag P. Lang, 1986, S. 84. Kohler- Luginbühl spricht von zwei Abschnitten. Sie meint, dass der erste Teil das Treffen der beiden Juden beschreibt, und den zweiten Teil „bildet das Gespräch, das allerdings schon nach kurzem in einen Monolog übergeht“. 124 def.Dialog und Gespräch: Der Dialog ist für die Philosophie des 20. Jahrhunderts ein Gespräch, das durch wechselseitige Mitteilung jeder Art zu einem interpersonalen ‘Zwischen’, d.h. zu einem den Partnern gemeinsamen Sinnbestand führt. Dialog war in der Antike und im Mittelalter primär ein Gattungsbegriff. Gespräch ist die tatsächlich stattfindende mündliche Unterhaltung. Für eine gründliche Auslegung der Unterschiede und die dazu gehörenden Implikationen bei anderen Autoren von Dialog und Gespräch siehe Bernard Fassbind: Poetik des Dialogs, 1995, S. 15 ff.. Was den Unterschied Monolog - Dialog betrifft stellt Fassbind in seinen Ausführungen dar, dass hier verschiedene Auffassungen die Runde tun. Er geht aus von der Frage ob der Monolog nicht auch dialogisch ist. Er fasst zwei Auffassungen zusammen: 1. das Gedicht-Du erscheint als Alter-Ego, mit anderen Worten das Gedicht-Gespräch wird zum Selbstgespräch. 2. jenes Du wird als wirklich Anderer, als Gegenüber dem Aussprechen transzendenter Anderer angesprochen, S. 24. 125 Paul Celan: Der Meridian und andere Prosa. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1983, S. 23-29. 126 Paul Celan: Der Meridian und andere Prosa. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1983, S. 59. 47 In Celans Text Gespräch im Gebirg geht es schließlich um diese Selbstbegegnung, durch das Ausbleiben der Begegnung mit einem anderen, fremden Du. Es besteht die Frage, wie die Sprache zur Sprache kommt. Denn zur Identitätsfindung braucht der Mensch ein Gegenüber, ein Gespräch von Ich und Du. Die Einteilung des Textes Im Kessel von Haderlap ist ähnlich wie die des Gesprächs im Gebirg. Der Text Im Kessel hat auch drei Teile, die in einer Kreisstruktur Motive und Situationen des Anfang wieder aufnehmen am Ende. Haderlap gibt im ersten Teil eine Beschreibung der Landschaft mit den Wäldern und Hügeln, in denen die Partisanen im Krieg gelebt haben. Im zweiten Teil lässt Haderlap die Erzählerin mit dem Vater entlang der Grenze laufen. Die Erzählerin fragt, der Vater antwortet. Scheinbar haben sie ein Gespräch. Und trotzdem wünscht sich die Erzählerin, dass der Vater sie „ins Vertrauen zöge“ und ihr die „Geschichte, die er erzählt hat, noch einmal schilderte und dann fragte, was [sie] erlebt habe […]“ (81). Auch Haderlap begegnet sich selber in diesem Spaziergang, eben gerade durch das Ausbleiben einer Begegnung mit dem Anderen. In diesem Fall mit dem Vater. Haderlap hätte zur Erlangung des Bachmann-Preises keinen besseren Ausschnitt aus ihrem Roman wählen können. Gerade in diesem Ausschnitt kommt die Verortung der Sprache in der Landschaft und durch ihren Roman in der Geschichte, sehr schön zum Ausdruck 127. Haderlap führt uns in die Landschaft, in der Generationen ihrer Familie gelebt und gearbeitet haben. Assmann unterscheidet in diesem Zusammenhang verschiedene Orte: Generationsorte (durch die Verwandtschaftskette), Gedenkorte (durch die tradierte Erzählung), Heilige Orte (wegen der besonderen Bedeutung) und Traumatische Orte (Narben, die nicht verheilen wollen)128. Generationsorte sind Orte, an denen die Mitglieder einer Familie über Generationen hinweg geboren und begraben wurden129. Diese Orte haben eine starke symbolische Kraft, weil sie Werte von Kontinuität, Dauer und Alter umschließen. Gedenkorte sind Orte, an denen eine bestimmte Geschichte gewaltsam abgebrochen wird und sich in Ruinen und Relikten zeigt. Der Fortbestand wird durch eine Geschichte erzählt, die das Verlorene ersetzt. Dabei wird auf die Abwesenheit verwiesen. Heilige Orte sind Orte, die versprechen, die Anwesenheit von Göttern erfahrbar zu machen. Traumatische Orte werden gekennzeichnet durch Erzählungen, die nicht erzählbar sind. 127 In der Dichtung von Haderlap kann man von ‚Text-Landschaften’ sprechen, wobei Darstellung und Dargestelltes eins sind. Dieses Dichtungsverfahren gilt als spezifisch für moderne Texte. Man begegnet diesem Dichtungsverfahren auch bei Ingeborg Bachmann, Nelly Sachs, Paul Celan oder Johannes Brobowski. Diese spezifisch modernen Züge in der Dichtung sind vor allem bei den jüdischen Schriftstellern Restitutionen eines sehr alten Sprachdenkens, nämlich des Hebräischen. Hier bilden Wort und Ding oder Wort und Sache eine Einheit. Für diese zwei Worte gibt es im Hebräischen nur ein Wort (dabar). Der Name hat im Hebräischen Realität, weil es keine Abbildlichkeit gibt. Durch die Sprache offenbart sich die Welt, in der die Landschaft zum Geschichtsraum wird. 128 Aleida Assmann: Erinnerungsräume. 1999, S. 37ff. 129 Ebd. S. 299ff. 48 Auch gibt es noch Vergessene Orte. Darunter sind gänzlich verschwundene Orte zu verstehen: „Hitler hat überall auf der Landkarte weiße Flecken hinterlassen. Zentren jüdischen Lebens und Kultur sind zusammen mit den Menschen vernichtet und ausradiert worden“ 130. In der Landschaft von Haderlap findet man die Spuren des Todes, da sie vom Krieg durchfurcht ist. Die Landschaft, in der die Erzählerin mit ihrem Vater läuft, ist später nur idyllisch für die nichtEingeweihten. Auch Jahre später bleibt die Erinnerung an den Krieg lebend, denn Haderlaps Familie wurde in den Krieg gezogen und damit in die Geschichte. Diese Jahre sind eine Zäsur in der Familiengeschichte: „In der Vergangenheit ist meine Familie eine national handelende Familie geworden, als sie sich gezwungen sah zu reagieren. Weil sie durch ihre Zugehörigkeit gefährdet war, weil es um ihr physisches Überleben ging“ (221). 5.4. Benjamins Engel: Die Zukunft ist ohne die Vergangenheit nicht zu haben Haderlap beendet ihren Roman mit einem der zentralen Bilder von Walter Benjamin aus seinem letzten Essay Über den Begriff der Geschichte131: „Der Engel der Geschichte wird über mich geflogen sein. Seine Flügel werden einen Schatten auf das Lagerantlitz geworfen haben“ (286). In Benjamins neunter These kommt diesem Angelus Novus Geschichte vor wie „eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft“132. Dieser Trümmerhaufen ist aber so unabsehbar, dass er bereits „zum Himmel wächst“. Walter Benjamin hat 1940 achtzehn Thesen über den Begriff der Geschichte niedergeschrieben. Die neunte These bezieht sich auf den Angelus Novus133. Die „geschichtsphilosophischen Thesen“ sind Benjamins Vermächtnis. Durch die neunte These, eine Interpretation Benjamins von Klees Bild, wurde der Angelus Novus zur Ikone „kritischer Erkenntnisfähigkeit“ 134. Bild und These wurden eins: ein Engel mit aufgerissenen Augen, offenem Mund und ausgespannten Flügeln, der aussieht, als würde er sich von dem entfernen, worauf er starrt. Er entfernt sich von den „Trümmern der Geschichte“. „Er möchte wohl verweilen“135, aber er kann es nicht wegen des Sturms. Der Sturm ist 130 Ebd. S. 326. 131 Walter Benjamin: Sprache und Geschichte, Philosophische Essays. 1992, S. 174. In dieser letzten, im Frühjahr 1940 geschriebenen Arbeit Über den Begriff der Geschichte, schwebte Benjamin nichts Geringeres vor, „als die Geschichte gegen den Strich zu bürsten: an die Stelle einer Geschichtsschreibung aus der Perspektive der Sieger sollte jüdisches Eingedenken an die Unterdrückten und Unterlegenen treten“. 132 Ebd. S. 146. 133 Der Angelus Novus ist ein Bild von Klee, dass entstanden ist zwischen Januar und April 1920. Benjamin hat es im Mai 1921 in München gekauft, als er seinen Freund Gershom Scholem besuchte. Dieses Bild hat Benjamin begleitet, bis er sich, nicht lange vor seinem Selbstmord, von ihm trennte. 134 Johann Konrad Eberlein: Ein verhängnisvoller Engel. ‚Frankfurter Allgemeine Zeitung’ 20.07.1991, Nummer 166. 135 Ebd. 49 Symbol für den Fortschritt oder jemandem, der die Geschichte beeinflusst. Dieser Engel hat der Vergangenheit sein Antlitz zugewendet, schaut in die Vergangenheit, möchte die Flügel schließen und wird mit dem Sturm rückwärts in die Zukunft getrieben. Haderlap stellt in ihrem Roman diesem Engel einen Engel des Vergessens zur Seite und meint, dass „es die Vergangenheit ist, mit der man rechnen muss“ (109), denn es gibt keinen Blick auf die Zukunft ohne eine Vergangenheit. Bei ihrem Besuch an das Konzentrationslager Ravensbrück, in den Fußspuren der Großmutter, begleitet dieser Engel sie in die Gegenwart und entfernt die „Engelbildchen über ihrem Kinderbett“ endgültig. Dieser Engel hat vergessen die „Spuren der Vergangenheit aus (ihrem) Gedächtnis zu tilgen“ (286). Diese Spuren sind aber notwendig. Sie müssen erst in eine ‚richtige’ Sprache übersetzt werden. Die Erzählerin beginnt erste, nach Worten tastende Gedichte vor der Matura als sie in einem Schülerheim lebt. Diese Zeit gewährt ihr eine Pause in der Sprachfindung. Selber nennt sie es ein „Niemandsland“. Erst später hofft sie, dass sie „die richtige Sprache finden oder erfinden werde und ersinne unsinnige Phantomsätze, die [sie] in die Zukunft [vorauswirft]. Das Gedachte und Gefühlte, das Empfundene und Befürchtete soll erst später zur Sprache kommen.“ (168). So wie Haderlap in ihrem Roman die Erzählerin sagen lässt: „Man musste zuerst anfangen, im neuen Leben, das alte zu vergessen. Zuerst das Einmaleins des Vergessens, eine harte Schule?“ (216). Die Erzählerin lernte aber im „selbstvergessenen Kärnten nicht vergessen zu können“ (275). Sie beschloß, sich neu zu entwerfen, weil sie vom Vergangenen gänzlich überrollt wurde. Sie wollte sich aus dem Gedächtnis neu entwerfen: […]„mir einen Körper zu erschreiben, der aus Luft und Anschauung, aus Düften und Gerüchen, aus Stimmen und Geräuschen, aus Vergangenem, Geträumtem, aus Spuren zusammengesetzt werden könnte“ (282). Haderlap hat mit diesem Roman dem Engel eine Gestalt gegeben in der Form einer Erzählung. Das Unsagbare muss erzählt und verortet werden in der Geschichte. Erst dann kann die Geschichte in ihrer Fürchterlichkeit verblassen. In Engel des Vergessens ist die Form nicht vom Inhalt zu trennen. Es ist eben nicht nur wichtig, wie etwas erzählt wird, sondern auch was jemand zu erzählen hat. 5.5. Literatur als Utopie, utopische Literatur Haderlap geht es in ihrem Roman um die Notwendigkeit einer Vergangenheitsbewältigung durch Erinnerung und nicht durch Vergessen. Sie geht auf die Suche nach adäquater Wahrnehmung, um das Unbegreifliche, Unsagbare der jüngsten Geschichte darzustellen: „Ich will Großmutters Erzählung noch einmal durchschreiten, um von einem vertrauten Ort Abschied zu nehmen“ (283). Haderlap thematisiert in ihrem Roman den Zusammenhang zwischen Sprache und Geschichtserfahrung und der Eigenschaft der Sprache als Ort der Utopie. Obwohl diese Sprache 50 historisch begründet ist, bleibt die Sprache Orientierung, aber geläutert, weil sie „durch viele Verluste hindurchgegangen ist“136. In diesem Sinn wird Sprache zum Ort der Utopie für denjenigen, der der Wirklichkeit entfremdet wurde, durch sie verwundet und darum auf der Suche nach einer anderen Wirklichkeit ist. Die Sprache macht bei Haderlap einen Verwandlungsprozeß mit, bevor sie wieder brauchbar ist. Haderlap gebraucht Brüche in der Sprache. Sie evoluiert in ihrem Roman vom kräftig-konkret Slowenischen in eine utopische Sprache. Für dieses Schreiben ist die Erfahrung der Geschichte eine Bedingung. Haderlap ist dafür den Dialog angegangen mit der Großmutter und dem Vater. Im jüdischen Denken ist, zum Beispiel, der Dialog ein Geschehen in der Sphäre des Geistes, es geschieht in der Zeit und nicht im Raum. Im Grunde ist jede Begegnung, auch der Dialog, eine Selbstbegegnung. Wie schon erklärt braucht zur Identitätsfindung der Mensch ein Gegenüber, ein Gespräch von Ich und Du. Auch wenn es kein Gegenüber gibt, kann das Sprechen einen neuen Aufschwung nehmen. Der Monolog ist dann ein verinnerlichter Dialog. Er befindet sich in der Sprache des Innern. Dank dieses Umwegs über das Du gelingt es dem Ich, seine eigene Wahrheit ans Licht zu bringen. Für Haderlap bedeutet das eine Art Heimkehr. Dies ist der Bereich der Dichtung und Sprache, der Bereich der Begegnung, aber auch des Verstummens, der Sprachkrise und der Dunkelheit. Der Begriff der utopischen Sprache bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sie alles der Sprache sich verweigernde doch sprachlich fassen muss. Haderlap bleibt, um mit Celans Worten zu sprechen, ihrer Daten eingedenk. Sie spricht unter dem “Neigungswinkel ihres Daseins”137. Sie ist in ihrer Sprache „unterwegs“ und hat das Unsagbare sagbar gemacht. 136 Paul Celan: Gesammelte Werke. Bd. 3, Bremer Ansprache, 1992, S. 185. 137 Paul Celan: Der Meridian und andere Prosa. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1983, S. 55. 51 „SUCHT EINER DEM REGENBOGEN GANZ NAHE ZU KOMMEN, SO VERSCHWINDET DIESER“138. 6. Schlusskommentar Bei Carla Dauven von Knippenberg habe ich letztes Jahr ein Seminar mit dem Titel: Wo bin ich? Der Raum und die Ordnung der Dinge belegt. In diesem Seminar wurden verschiedene Raumtheorien mit unterschiedlichem Ansatz besprochen: Der Raum als Erzählform, die Symbolkodierung des Raums, die Leiblichkeit des Raums und der Raum als Sujet der Geschichtsschreibung. Auf der Suche nach einem Thema für die Masterarbeit waren diese Raumtheorien ein Ausgangspunkt. In diesem Zusammenhang wurde ich aufmerksam auf den Roman Engel des Vergessens von Maja Haderlap. Haderlap hatte gerade den Ingeborg Bachmann-Preis gewonnen und das war Grund genug, den Roman Engel des Vergessens zu lesen. Haderlap erzählt in ihrem Roman eine Geschichte, die bisher noch nicht erzählt werden konnte. Ursprung dieser Notwendigkeit ist ein Trauma. In Haderlaps Fall ist das der Widerstand der slowenischen Minderheit in Kärnten gegen den österreichischen Nationalsozialismus, der mit dem Anschluss an Nazi-Deutschland in 1938 die Norm war. Dabei wurden viele slowenischsprachigen Österreicher - Männer, Frauen und Kinder - in Konzentrationslager verschleppt und ermordet. Dieses Trauma wirkt in ihrer eigenen Familiengeschichte bis heute nach. Da diese Geschichte aber bislang wenig Beachtung gefunden hat nicht in der Literatur und auch nicht in der Politik – setzt Haderlap mit diesem Roman den Opfern ein Denkmal. Fragen, die Haderlap in ihrem Roman stellt und auf die sie eine Antwort gibt sind: Wie kann man von einer Vergangenheit erzählen, die so traumatisch war? Gibt es eine angemessene Darstellung des Traumas und kann man danach noch weiterleben? Können persönliche Geschichten verortet werden? Und wann kann das Vergessen beginnen? Die Erinnerungen und das Erlebte transformieren sich in Haderlaps Roman als ein Zeugnis, als ein sehr persönliches Zeugnis. Das aber, wegen der Größe des Traumas und weil es so viele andere Menschen auch erlebt haben, ein objektives Zeugnis wird. Das Vergangene bekommt eine Existenz, in dem die Erinnerungen und das Erlebte verortet werden. Diese Verortung geschieht in der Schrift. Dafür müssen die Erinnerungen aufgeschrieben werden. Sie müssen zur Sprache kommen. Indem man diesen Bereich durchwandert, kann das Erlebte einen Platz bekommen. Das nennen wir eine 138 Th. W. Adorno: Ästhetische Theorie, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 1980, S. 185. 52 Verortung des Erlebten im Gedächtnis. Mit Assmanns Worten: die Ereignisse werden durch die Schrift dem kulturellen Gedächtnis überliefert. Haderlap ist dabei schöpfend an der Arbeit. Für das Unaussprechliche entwirft sie eine Sprache und eine Form. Dieses Unaussprechliche, diese traumatischen Erlebnisse, haben sich in der Landschaft abgespielt. Sie benennt die Erinnerungen und Erlebnisse und übersetzt damit die „Sprache der Dinge“ in eine „Sprache des Menschen“. Die Landschaft wird dadurch zu einem Geschichtsraum, durch die Sprache mitgeteilt. Der Übersetzung kommt dabei eine sehr wichtige Rolle zu. In der Übersetzung offenbart sich das Wesen der Sprache. Diese Sprache muss auf eine Art und Weise ihren Niederschlag in der Schrift finden, in der sie verortet wird. Erst dann kann sie Geschichte werden. Und wenn sie Geschichte geworden ist, dann ist es diese Vergangenheit, mit der man rechnen muss. Denn eine Zukunft ist ohne diese Vergangenheit nicht zu haben. Der Engel der Geschichte erblickt diese Vergangenheit und mit weit aufgerissenen Augen schaut er auf die Trümmer, die in der Vergangenheit liegen. Er wird aber fortgetrieben, mit dem Rücken zur Zukunft gewendet. Haderlaps Engel gesellt sich zu ihm. Dieser Engel hat vergessen die „Spuren der Vergangenheit aus ihrem Gedächtnis zu tilgen“. Diese Spuren sind aber notwendig. Ohne Spuren kein Vergessen. In Haderlaps Roman geht es nun darum, Zeugnis abzulegen. Sie findet für dieses Zeugnis eine wunderschöne persönliche Form, die zugleich für sehr viele Menschen akzeptabel ist als ein Zeugnis. Haderlap schöpft mit ihrem Roman ein quasi universelles Zeugnis, in dem ihre Erzählung zu der vieler geworden ist. Gerade, weil der Text nur einen Bruchteil sagt von dem, was er meint. Auf diese Art und Weise kann er dem Unsagbaren einen Platz geben. Das Unsagbare wird zum Fassbaren, das Trauma zur geschichtlichen Erinnerung. Und die geschichtliche Erinnerung wird in den Erzählungen gebunden. Erst wenn die Geschichte verortet ist, kann sie wieder verblassen. Bei der Beschäftigung mit dem Thema des Holocaust (der Kärntner Slowenen, die gegen den österreichischen Nationalsozialismus gekämpft haben), das als einzigartiges traumatisches Ereignis angesehen werden kann, wird deutlich, warum viele, nicht nur jüdische, Denkerinnen und Denker die Shoah zum Ausgangspunkt ihres Denkens genommen haben. Die planvolle Ermordung Millionen unschuldiger Menschen kann nicht als Abirrung vom Lauf der Geschichte abgetan werden. Der Bruch, der sich damit vollzieht, geht einher mit der Kritik am westlichen Rationalitätsbegriff. Es wird eine Verwandtschaft gesehen zwischen dem Geist der Aufklärung und den Konzentrationslagern der Nazis: in beiden Fällen wird die technische und beherrschende Rationalität betont. Hat damit die Vernunft überhaupt ausgedient oder müssen neue Formen von Rationalität gefunden werden, die Pluralität zugestehen und zugleich Unterdrückung verhindern? 53 Diese Frage soll hier nicht weiter zur Diskussion stehen, es geht nun darum, das Trauma von Auschwitz selbst, philosophisch einzuordnen. Das in diesem Umkreis der Revisionismus bekämpft werden muss, braucht der Ungeheuerlichkeit wegen, was sich zugetragen hat, nicht begründet werden. Das Problem liegt bei der historischen Erkenntnis, wobei über die Bestätigung der reinen Faktizität von Ereignissen hinausgegangen wird, und Auschwitz immer mehr in technischer und immer weniger in moralischer Hinsicht betrachtet wird. Es geht darum, dass die Erinnerung an das Thema Auschwitz in einen unabschließbaren Deutungsprozess einbezogen wird, denn die Erinnerung allein kann keine heilende Wirkung haben. Eine „Kultur der Erinnerung“139 ist unabdingbar für die Überwindung der Krise. In dieser Krise weisen philosophische und künstlerische Werke, die Traumata zum Thema haben, sich immer wieder aus durch das Fragmentund Bruchstückhafte, dass so zum Bild des Traumas selbst wird. Die Vielfältigkeit der zahlreichen Werke über und nach Auschwitz zeigen neben der Notwendigkeit diese Trauma aufzuarbeiten, eine Bedingung bei der Verarbeitung eines kulturellen Themas. Nämlich die vorsichtige und vielseitige Annäherung an und die Umkreisung des Themas ‚Auschwitz’. Bei Adorno tritt dies sehr deutlich zum Vorschein. Für Adorno gibt es keine letzte „Aufhebung“, sondern fragmentarische Konstellationen, die neue Aspekte herzustellen vermögen. Sein Denken ist nomadisch. Die Harmonie ist dabei auch rhetorisch durchbrochen: Ausdruck des Leidens der Unterdrückten, Ausdruck des Unrechts und der Unfreiheit, aber auch Ausdruck der Schwierigkeit, das Ungeheuerliche darzustellen: „Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben“140. Neben der schmerzvollen Annäherung sind wenigstens zwei weitere Gedanken für die „erfolgreiche“ Verarbeitung Bedingung. In Anlehnung an Adorno, für den Vergessen an sich inhuman ist, plädiert Johann Baptist Metz für eine vom Judentum inspirierte „Kultur der Erinnerung“. Auf Metz’ anamnetischen Kulturbegriff soll zum Schluss eingegangen werden, um ihn mit dem Widerstandsdenken Fackenheims zu verbinden, dass in der dialektischen Spannung zwischen dem lähmenden Unvermögen das Geschehene zu begreifen und dem Aufruf sich dem Geschehenen zu widersetzen, steht. Unserer christlichen, europäischen Beschleunigungskultur, der kultische Anamnese anhaftet, steht die Forderung nach einer anamnetischen Kultur gegenüber. Eine Kultur der Erinnerung widersteht dem einreißenden Gedächtnisschwund unserer individualisierten Gesellschaft. Sie widersteht damit nicht nur jener allgemeinen Vergesslichkeit, die „alle Spuren verwischen will, damit nichts erinnert 139 Johann Baptist Metz: Leiden beredt werden lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. ‚Die Weltwoche’, Nr. 46, 17.11.1994, S. 19. 140 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1992, S. 355. 54 werden kann (wie es etwa die Nazis mit der Vernichtung der Gaskammern versuchten); sie widersteht nicht nur der absichtlichen Verdrängung, sondern auch jenem Vergessen, das in jeder puren Historisierung der Vergangenheit nistet“141. Aus diesem Gedanken und der Tatsache, nur aus erinnerter Geschichte lernen zu können, entwickelt sich bei Metz über die Erinnerung an das Leiden die Idee einer universellen Leidensmoral, die auch als Basis für Friedenspolitik dienen könnte. Neben der Erinnerung ist dabei entscheidend, dass über den Horizont des eigenen Lebens hinausgegangen wird. Die Sprache, die dazu nötig wäre, ist die Sprache der Gebete. „Mit den Gebeten beginnen“ fordert auch Derrida, denn die Gebetssprache ist darum befreiend und tröstend zugleich, weil sie unversöhnlich, weniger harmonisch, radikaler, aber auch spannender ist, als die Sprache der (theologischen) Theoretiker und Wissenschaftler. Aber das Vergessene, das, was erinnert werden muss, besteht trotz himmelschreiender Ungerechtigkeit nicht nur aus Ohnmacht und Demütigung. Auf das Moment des Widerstandes, das aus verständlichen Gründen oft vergessen wird, welches aber bei der Verarbeitung des Holocausttraumas einen hoffnungsvollen Aspekt zu Tage fördert, weist der kanadische-israelische Philosoph Emil Fackenheim hin. In seinem Buch To mend the world142 nimmt Fackenheim „Widerstand“ als Ausgangspunkt seines Denkens über und nach dem Holocaust. Für ihn, wie für andere jüdische Denkerinnen und Denker auch, ist die Shoah ein Ereignis ohne gleichen. Sie muss als (sinnlose) Realität akzeptiert werden. Um diese Realität zu erfassen, sind für Fackenheim die Erfahrungen und Beschreibungen der Opfer entscheidend. Denn es gab im Denken und Handeln Widerstand der Häftlinge in den Konzentrationslagern gegen die perverse Logik der Destruktion. Zeugnis ablegen über Widerstand und Erinnerung an Humor 143 sind Halte-und Orientierungspunkte dieser Philosophie der Zeugen, um das Elend vielleicht zu überleben, und nach dem Grauen weiterzuleben. Denn Auschwitz hatte keinen Sinn. Es bekommt eine Bedeutung und einen Platz im Denken, wenn Fackenheim den 613 Geboten der rabbinischen Tradition eines hinzufügt, nämlich das Verbot, Hitler posthum doch noch siegen zu lassen. Dies ist ein Gebot gegen das Gelähmtsein und für den Widerstand. Letztlich stand und steht auch hier die Frage zentral: wie wird, immer wieder neu, erinnert? Kann erinnert werden, dass es auch Widerstand gab und gibt, um die Welt so zu sehen, wie sie ist, ohne zu vergessen, dass sie dadurch anders sein kann? 141 Ebd. S. 19/21. 142 Emil Fackenheim: To mend the world. New York: Schocken, 1982, S. 213. 143 Viktor E. Frankl: Lagerhumor in Denken en dichten na Auschwitz. Deutscher Taschenbuchverlag 1977, S. 79-86. 55 Zum Schluss werde ich beschreiben, welche Sprache stand hält, um den Bereich zu beschreiben, der durch Verluste hindurchgegangen ist. Um mit Benjamins Worten zu sprechen: „Der Tod ist die Sanktion von allem, was der Erzähler berichten kann. Vom Tode hat er seine Autorität geliehen“ 144. Die utopische Sprache, oder das Schweigen, ist einer der reinsten Zustände. Das Schweigen ist eine Ausdrucksmöglichkeit an sich, in der das Unsägliche erscheint. Hier hat noch keine Trennung stattgefunden. Derrida probiert in seinem Buch Wie nicht sprechen145 eine Antwort auf die Frage zu finden, wie man denn das Sprechen überhaupt vermeiden kann. Diese Frage kommt Derrida zufolge immer zu spät, weil in dem Moment, indem die Frage gestellt wird, das Sprechen schon lange begonnen hat. Vor dem Sprechen liegt das Versprechen und dieses Versprechen ist älter als man selber. In dem Moment, indem ich meinen Mund aufmache, habe ich schon versprochen zu sprechen, auch wenn ich nur sagen möchte, dass es nötig ist, zu schweigen. In Derridas Text ist das Schweigen in das Sprechen eingebettet. Man kommt nicht um das Sprechen herum. Die Unterstellung eines Geheimnisses ist ein Aufruf, nicht zu sprechen, und dadurch schöpft das Geheimnis Negativität. Derrida ist der Meinung, dass über alles, auch wenn es sich außerhalb der Kategorien befindet, und worüber man unmöglich sprechen kann, doch gesprochen werden muss. Die Unmöglichkeit, über die Khora 146 zu sprechen, reduziert sie nicht zu einer Stille, sondern schafft eine Verpflichtung. Man muss über sie sprechen, gerade wenn man die absolute Singularität der Khora respektiert. In diesem Sinn hat Günther Grass in seinen Frankfurter Poetik Vorlesungen den Satz Adorno’s weitergeführt: [...] ”dem Schreiben nach Auschwitz kann kein Ende versprochen werden, es sei denn, das Menschengeschlecht gäbe sich auf “147. 144 Walter Benjamin: Der Erzähler, Gesammelte Schriften, hg. V. Rolf Tiedemann, BD. II 2, Frankfurt a. M.. 1977, S. 450. 145 Jacques Derrida: Wie nicht sprechen. Edition Passagen, 1989. 146 vgl: Derrida, Chora. Edition Passagen, 1990. In diesem Text beschreibt Derrida einen Versuch über die Chora, die in Platons Dialog Timaios “als Empfängerin und gleichsam Amme allen Werdens” angedeutet wird. Sie macht das Zustandekommen der sinnlichen Abbilder des Intelligiblen denkbar. Chora - die alles empfängt, aber von nichts etwas annimmt - gibt allem seinen Ort, ohne sich selbst je auf einen Ort festlegen zu lassen. 147 Günther Grass: Schreiben nach Auschwitz. Frankfurter Poetik-Vorlesung, Sammlung Luchterhand, Juni 1990, S. 43. 56 57 7. Bibliographie Primäre Literatur Benjam in, Walter. Sprache und Geschichte. Philosop hische Essays, au sgew ählt von Rolf Tied em ann. Philip p Reclam ju n. Gm bH & Co., Stu ttgart 1992. H ad erlap , Maja. Engel des V ergessens. Wallstein Verlag. 2011. Sekundäre Literatur Ad orno, Theod or W. N egative Dialektik. Frankfu rt am Main: Su hrkam p , 1992. A esthetische Theorie. Frankfu rt Su hrkam p 1980. Aleida Assmann. Geschichte im Gedächtnis, Verlag C.H. Beck, 2007. Aleida Assmann. Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C. H. Beck. 1999. S. 29f. Bachm ann, Ingeborg. Das dreissigste Jahr. Erzählu ngen, herau sgegeben von Christine Koschel, Inge von Weid enbau m , Clem ens Mü nster, R.Pip er & Co. Verlag, Mü nchen/ Zü rich 1982. N eu au sgabe 1991. W ir müssen wahre Sätze finden. Gesp räche u nd Interview s, R.Pip er & Co. Verlag, Mü nchen 1983. Werke. Erster Band. Gedichte, Hörspiele, Libretti, Übersetzungen, hg. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster (München: R. Piper & Co., 1993) 1998. Celan, Pau l. Der M eridian und andere Prosa. Su hrkam p Verlag Frankfu rt am Main 1983. Gesammelte W erke Su hrkam p Verlag Frankfu rt am Main 1983. Erster, zw eiter, d ritter Band . Derrid a, Jacqu es. Schibboleth. Fü r Pau l Celan. Ed ition Passagen 1986. W ie nicht sprechen. Ed ition Passagen 1989. Chora. Ed ition Passagen 1990. 58 Dorothee Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie. Paul Celans poetologische Texte. Verlag P. Lang, 1986. Felm an, Shoshana. Lau b, Dori. Testimony: crises of witnessing in literature, psychoanalysis and history. Rou tled ge, Chap m an and H all Inc. 1992. Frankl, Viktor E. Lagerhu m or in Denken en dichten na A uschwitz. Deu tscher Taschenbu chverlag 1977, S.79-86. Grass, Gü nther. Schreiben nach A uschwitz. Frankfu rter Poetik-Vorlesu ng, Sam m lu ng Lu chterhand , Ju ni 1990. Janz, Marlies. V om Engagement absoluter Poesie. Zu r Lyrik u nd Aesthetik Pau l Celans. Au toren u nd Verlagsgesellschaft Synd ikat, Frankfu rt am Main 1976. Menninghau s, Winfried . W alter Benjamins Theorie der Sprachmagie. Su hrkam p Verlag 1980. Scholem, Gershom. Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala, Verlag: Leiden, 1973. Artikel Eberlein, Johann Konrad. Ein verhängnisvoller Engel. ‚Frankfurter Allgemeine Zeitung’ 20.07.1991, Nummer 166. Fackenheim, Emil L. To mend the world. New York: Schocken, 1982. Gürtler,Christa. Zu Bruchstücken zerfallen. ‚Der Standard’, Ausgabe 6845, 29.Juli 2011. Jandl, Paul. Verwerfung in Kärnten. ‚Die Welt’, 16.07.11, Ausgabe 28. Metz, Johann Bap tist. Leiden beredt werden lassen, ist Bedingung aller W ahrheit. ‚Die Weltw oche’, 17.11.1994, N u m m er 46, S. 19. Repolust, Christina. Engel der Erinnerungen. ‚Salzburger Nachrichten’, 21.01.12, Ausgabe 17. Schwens-Harrant, Brigitte. Im Wald der Geschichte . ‚Die Furche’, 14.07.2011, Ausgabe 28. 59 60