Eikon#62 - Luca Faccio
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Eikon#62 - Luca Faccio
LUCA FACCIO fair play LUCA FACCIO Fair Play 1: „An der Wiege des modernen Fußballs steht der alte, wilde Volksfußball … Lucas Gehrmann Lucas Gehrmann Spielfelder waren zum Teil ganze Städte mit den Stadttoren als ,Goals‘ oder die Felder, Wiesen und Wälder zwischen zwei Dörfern.“ S. Christian Koller, „Von den englischen Eliteschulen zum globalen Fußball kommt nicht vom Club, sondern vom Platz – vom Vorplatz, von der Straße, vom gar nicht immer grünen Rasen.1 Luca Faccio, stets auf der Suche nach dem Authentischen, spürte für seine Foto-Serie „fair play“ Orte auf, an denen noch heute abseits aller Medien-Megaevents und ikonischer Stadionarchitekturen Fußball gespielt wird – abseits jedenfalls des „Geschäfts auf dem schmalen Grat zwischen eiskaltem Profitdenken und unverhohlener Fanhuldigung“.2 In der Vorstadt, am Wiener Gürtel oder am Donaukanal, dort, wo Kids und Teens innerhalb selbst ausgesteckter Felder und Tore kicken, gelten nur wenige UEFA- oder FIFA-Regeln, aber es gilt wie im Spiel auf dem grünen Rasen für die je temporäre „Mannschaft“ die besten Spieler zu gewinnen – unabhängig von ihrer nationalen, ethnischen oder religiösen Herkunft. Allein die Geschlechter sind auch hier fast ausnahmslos getrennt, ansonsten bewegen sich auf Faccios Momentaufnahmen Jung und Alt, Hell- und Dunkelhäutige, Muslime und Christen … bunt gewürfelt über Pflaster- und Schotterböden – gleichsam frei nach Hannah Arendts berühmtem Satz: „Nicht der Mensch bewohnt diesen Planeten, sondern Menschen. Die Mehrzahl ist das Gesetz der Erde.“3 „Mehrzahl“ ist beim Straßenfußball eher Vielzahl im obigen Sinn, nicht Quantität und Masse: Kein Publikum feuert die Spielenden an, vielmehr sind diese vom Spiel allein befeuert. „Fußball auf der Straße ist ein Kommunikationsmedium“, sagt Luca Faccio, „hier geht der Kampf nur um den Ball, und wenn es dabei Konflikte gibt, werden sie gemeinsam verhandelt.“ Das mag auch daran liegen, dass, wie Klaus Theweleit einmal sagte, „Fußball einfacher ist als Popmusik. Im Fußball kommt man mit allen klar“.4 Zugleich aber wird Straßenfußball – so wie überhaupt gemeinsames physisches Spielen im öffentlichen Raum – zusehends seltener, und dies nicht allein aufgrund allgegenwärtiger Einschränkung und Ausgrenzung vitaler Äußerungen der BewohnerInnen urbaner Räume. „Kinder lernen längst nicht mehr auf der Straße Fußball spielen. Monitore und Tastaturen haben den Ball abgelöst. Die Digitalisierung macht auch vor dem Fußball nicht Halt“, schreibt 8 Artist Pages Soccer does not come from the teams, but from the field—the forecourt, the street, or the green that’s not always so green.1 For his photography series fair play, Luca Faccio, always in search of the authentic, looked for sites where soccer is still played beyond all media megaevents and iconic stadium architectures, beyond the “business on the fine line between ice cold profit motivation and blatant fan worship.”2 On the outskirts of Vienna, where children and teenagers kick the ball on fields of their own making and shoot goals, only few of the UEFA or FIFA rules apply, and as in the game on the green playing field the aim is to get the best players on your temporary “team,” regardless of their national, ethnic, or religious background. Only gender divisions remain: otherwise Faccio’s snapshots show young and old, light-skinned and dark-skinned, Muslims and Christians, all mixed together over concrete or gravel, in a sense embodying Hannah Arendt’s famous sentence, “Not man but men inhabit this planet. Plurality is the law of the earth.”3 The majority in street football is rather a “plurality” in this sense, not in terms of quantity and mass. There is no crowd cheering on the players, instead they are fired on by the game itself. “Street soccer is a medium of communication,” says Luca Faccio. “The struggle here is only about the ball, and if there are any conflicts they are worked out in the group.” Perhaps this is because, as Klaus Theweleit once said, “Soccer is easier that pop music. In soccer everybody finds a way to get along.”4 At the same time, street soccer, as is the case of collective physical play in public space in general, is now increasingly rare, and not just because of the omnipresent restrictions and exclusions of vital expressions to which the residents of urban spaces are subject to. “For a long time now, children no longer learn to play soccer on the streets. Monitors and keyboards have replaced the ball. Digitalization Volkssport: Entstehung und Verbreitung des Fußballs bis zum Ersten Weltkrieg“, in: Beatrix Bouvier (Hg.), Zur Sozial- und Kulturgeschichte des Fußballs, Trier 2006, S. 14. 2: Walter Trockel, „Fußball, Spieltheorie und Schalke 04“, in: Peter Noss (Hg.), Fußball ver-rückt: Gefühl, Vernunft und Religion im Fußball, Berlin: LIT Verlag 32006, S. 69. 3: Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen, München: Piper ²2002, S. 80. 4: „Das Knie war schlauer.“ Matthias Dusini im Gespräch mit Klaus Theweleit, in: Falter 24/04, Wien, 9.6.2004. 1: “The cradle of modern soccer is old, wild popular soccer-like game….The playing fields could be entire towns with the city gates as ‘goals’ or the fields, meadows, and forests between two fields.” See Christian Koller, in: Beatrix Bouvier (ed.), Zur Sozial- und Kulturgeschichte des Fußballs, Trier: Studienzentrum Karl-Marx-Haus der Friedrich-EbertStiftung 2006, p. 14. 2: Walter Trockel, “Fußball, Spieltheorie und Schalke 04,” in: Peter Noss (Hg.), Fußball ver-rückt: Gefühl, Vernunft und Religion im Fußball (Berlin: LIT Verlag 32006), p. 69. 3: Hannah Arendt, The Life of the Mind (New York: Harcourt, 1971), p. 19. 4: “‘Das Knie war schlauer’: Matthias Dusini im Gespräch mit Klaus Theweleit,” in: Falter 24.4 (June 9, 2004). EIKON 62 Theweleit an anderer Stelle.5 Das mag in Wohlstandsgesellschaften so sein, wo die Kids die für das digitale „Tschutten“6 erforderliche Hard- und Software vom Weihnachtsmann ins Kinderzimmer geliefert bekommen. Luca Faccio, dessen eigene Kindheit von Entbehrungen stärker geprägt war als von Wunscherfüllungen, fokussiert in allen seinen Foto-Projekten zwischen dem westlichen Europa und dem Fernen Osten immer auch diejenigen Seiten der Gesellschaft, an denen Tourismuswerbung und Hochglanzmagazine tunlichst vorbeiblicken. Die Kids, die z.B. in dem Bild „Bassora Children playing Soccer“ zwischen Stacheldraht und ruinösen Häusern dem Ball nachlaufen, werden Computerspiele bestenfalls auf Werbeflächen zu sehen bekommen. Und ihr trotzdem fröhliches Ballspiel wird in keinem Reiseführer für den Besuch ihres Stadtviertels Reklame machen. Luca Faccio zeigt sie uns, und zwar ohne sentimentale Zwischentöne, so, wie sie im Vordergrund spielen und wie sie im Hintergrund leben. „Turbokapitalismus und Neoliberalismus erzeugen neue Gefälle zwischen Reich und Arm. Es ist meine Aufgabe als Fotograf und Künstler, den Vertretern der Wohlstandsgesellschaft hierfür die Augen zu öffnen.“ Dafür scheut Faccio, der bereits seit zehn Jahren dem Phänomen Fußball nachspürt, kaum ein Risiko, begibt er sich doch auch in politisch hoch brisante Regionen. 2003, erzählt er, hat ihm im Irak ein Fußballstar womöglich das Leben gerettet: Das Gewehr an seinen Kopf gesetzt, fragte ihn ein Soldat, woher er komme. „Italia“, sagte Faccio. „Ah, Paolo Maldini!“, rief der Soldat aus – und ließ den Fotografen laufen. „Wie alles, was rund ist, ist auch der Fußball ein Sinnbild für das Ungewisse, für das Glück und für die Zukunft“, sagt Peter Handke.7 Dieser poetische Blickwinkel findet sich bei Luca Faccio ebenso wie der sozial-dokumentarische. Ob seine Spieler vor existenziellen Nöten oder vor sanierten Gründerzeitfassaden um den Ball wetteifern, sie tun dies stets mit ausdrücklichem Enthusiasmus. So ist es auch oft weniger der Ball, der in Faccios Aufnahmen im Zentrum steht, sondern es ist die Mimik der Spieler, es sind ihre Bewegungen und Blicke, die sich mit voller Konzentration auf das Geschehen und auf den Ball richten. Letzterer ist im Bild oftmals gar nicht sichtbar, allein die Augen, Hände oder Füße der Akteure sagen uns, wo er sich gerade befindet. In diesen vom Fotografen festgehaltenen Augenblicken ist alles andere nebensächlich. Gegenwart und Zukunft fallen zusammen mit dem je eigenen Ich der Beteiligten, das nur ein – bis zum Treffer ungewisses – Ziel vor Augen hat: das gegnerische Tor. does not stop when it comes to soccer,” Theweleit writes elsewhere.5 This might be true in affluent societies, where Santa Claus brings the necessary hardware and software. In all his photographic projects from Western Europe to the Far East, Faccio, whose own childhood was more strongly marked by privations than the fulfillment of wishes, focuses on those parts of society that tourism advertising and glossy magazines are sure to look past. The kids in Bassora Children Playing Soccer running after the ball between barbed wire and ruins will only see computer soccer on billboard advertising. And their soccer, still played with such gusto, is mentioned nowhere in any travel guide. Without any sentimental overtones, Faccio shows just how they play in the foreground and live in the background. “Turbocapitalism and neoliberalism are generating new gaps between the rich and the poor. It is my task as a photographer and artist to open the eyes of affluent society to this.” Faccio, who has already been exploring the subject of soccer for ten years, is willing to take almost any risk, moving through quite dangerous regions. In 2003, it might well have been a soccer star that saved his life in Iraq: with his pistol directed at Faccio’s head, a soldier asked where he came from. “Italia,” Faccio replied. “Ah, Paolo Maldini,” the soldier exclaimed, and let the photographer go. “Like everything round, football too is an emblem for the uncertain, for luck and for the future,” says Peter Handke.6 This poetic aspect can be found in Faccio’s work, alongside an aspect of social documentarism. Whether his players are chasing the ball from the trials of their existence or in front of renovated nineteenth century buildings, they always do so with an express enthusiasm. Often, it is not so much the ball that is at the center of Faccio’s photographs, but the facial expression of the players, their movements and gazes focused in complete concentration on the events and on the ball. Indeed, the ball is often not even visible, only the eyes, hands, or feet of the players tell us where it is. In these moments captured by the photographer, everything else is secondary. Present and future coincide with the player’s own ego with only one aim in mind: the opposite goal. 5: Klaus Theweleit, Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell, Köln: KiepenheuerWitsch 2004. 6: Im alemannischen Sprachraum übliche Bezeichnung für „kicken“. 7: Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1972, S. 134. 5: Klaus Theweleit, Tor zur Welt: Fußball als Realitätsmodell (Cologne: KiepenheuerWitsch, 2004). 6: Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1972), p. 134 12 Artist Pages EIKON 62 EIKON 62 Kapitel 13