1 - ASMUTH, Bernhard: Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart

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1 - ASMUTH, Bernhard: Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart
DRAMENANALYSE
ASMUTH, Bernhard: Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart 62004 (=Sammlung
Metzler 188).
I. WESENTLICHE ELEMENTE DES DRAMAS
Was ist ein Drama? Auch in der Literatur einseitige oder fragwürdige Aussagen.
Fragwürdige Bestimmungen:
Hauptursache: Grenzverwischung zwischen Drama als poetologischem
Allgemeinbegriff und historisch konkretem Einzeldrama
→ im folgenden: Drama tritt immer geschichtlich auf, aber als Summe seiner
wesentlichen Merkmale zeitlos (nicht an eine bestimmte Epoche gebunden)
überhistorische Gattung: unterscheidet sich von seinen historisch gebundenen
Untergattungen grundsätzlich
jede geschichtlich geprägte Wesens- bzw. Begriffsbestimmung nicht ausreichend
normalsprachliche Begriff Drama kann nicht mit dem literturwissenschaftlichen
Begriff Drama gleichgesetzt werden
Die Komplexität des Dramas und die sechs Elemente des Aristoteles
Drama ist ein komplexer Gegenstand, stützt sich auf grundlegenden Elemente
nach Aristoteles: mythos (Handlung); ethe (Charaktere), lexis (Rede, Sprache),
diánoia (Gedanke, Absicht), opsis (Schau, Szenerie) und melopiía (Gesang, Musik)
die drei wichtigsten, formalen Elemente: Handlung, Sprache, Szenerie
- Handlung:
das Wichtigste nach Aristoteles: hier der Ereigniszusammenhang, der
den Inhalt des Dramas ausmacht
Drama ist voller Handlungen → Kette von Begebenheiten, an denen
mehrere Personen beteiligt sind
auch qualitative Unterschiede: es gibt auch Begebenheiten, die sich 1.
nicht im engeren Sinne, 2. nur mit einiger Mühe und 3. überhaupt nicht
als Handlungen bezeichnen lassen
1. auch Handlungen, die nicht mit Absicht zustande gekommen sind
2. Gedanken, Affekte (seit Lessing auch gerne als innere Handlung
bezeichnet)
3. Unwetter, Krankheit etc. Vorgänge, die keinerlei körperliche oder
geistige Tätigkeit der agierenden Personen beinhalten oder
voraussetzen; überlassen den Akteuren nur die Reaktion
Handlung kennzeichnet treffend, dass sich das Drama als
zusammenhängende Folge menschlichen Handelns darstellt.
Das Wort ‚Handlung’ erfasst den Drameninhalt in seiner eigentlichen
Substanz.
- Figurenrede:
Drama unterscheidet sich von beschreibenden Texten durch die
zusammenhängende Handlungsfolge, ebenso wie von gedanklichassoziativen Texten, aber nicht von der Erzählliteratur
Epik und Drama als dichterische Grundgattung
Abgrenzung über die Sprache: Rede als die beherrschende Art des
Handelns und Medium innerer Vorgänge → normales Drama ist
Sprechdrama
im Drama kommen nur die handelnden Personen zu Wort, in der Epik
die Figuren und der Autor
-1-
wichtigstes Element des Dramas die Figurenrede
ABER: Figurenrede und Handlung macht noch kein Drama
- Sinnliche Darbieten (Szenerie):
wahre Bestimmung des Textes erst auf der Bühne
durch die szenische Darstellung wird das Drama für das Publikum
sinnlich wahrnehmbar
- Rollenspiel:
Drama stellt Handlung dar, es bedient sich der dialogischen und
szenischen Form und es ist Spiel.
Rollenspiel, der Spieler stellt eine fremde Person dar
Drama lässt sich Sprechschauspiel bezeichnen, oder als Handlungsspiel
eigentlich ein Handlungs-sprech-schau-spiel
III. TITEL UND ARTEN DES DRAMAS
Titel
titelgebend häufig Handlungsschemata, Teilereignis, Personennamen
Charaktereigenschaften, Ortsangaben….
stellt das Stück vor, soll auch neugierig machen
Darbietungsarten
oft mit einem Untertitel versehen, bezeichnet of die Art des Dramas näher
1. Drama (Sprechschauspiel), dessen Schauspieler zu sehen sind
2. Figurentheater (Puppen) und Schattenspiel
3. Musikdrama (Oper…)
4. szenische Formen ohne Sprache (Ballett, Pantomime)
5. Hörspiel (unmittelbar, ohne Funkübertragung)
6. mediendramatische Formen des 20. Jhd. (Hörspiel, Tonfilm…)
sechs Unterscheidungen zwischen Tragödie und Komödie
Handlungsart schwerer zu unterscheiden als Darbietungsart
Tragödie und Komödie seit der Antike als gegensätzlich begriffen
Historizität, moralische Qualität, sozialer Stand und Redestil der Personen, Stoff
und Dramenausgang
dramengeschichtlich bedeutsamste Unterscheidung: Stand der Personen
Martin OPITZ: Tragödie heroisch, Komödie schlechte Dinge und Personen
nur der hohe Stand garantiert für die Fallhöhe tragischer Katastrophen
(Ständeklausel)
daneben Stilebene: Tragödie würdig, erhaben; Komödie alltägliche Sprache
Stoffkriterium: Tragödie heroisches, königliches, Kriege…
Komödie lustiges, leichtes
Dramenausgang: Tragödie traurig, Komödie glücklich (alle sterben; alle heiraten
→ SHAW)
Reibungen zwischen Standes- und Ausgangskriterium
Reibungen v. a. zwischen der Personenqualität und dem Dramenausgang
mittelalterliche und frühneuzeitliche Gesellschaft achtete auf Einhaltung der
Standesunterschiede, Drama bezog das mit ein → erlaubt nur das Unglück
hoher und das Glück einfacher Personen darzustellen
im 16. und 17. Jhd. behalft man sich mit Tragikomödien
Entkopplung erst mit der bürgerlichen Literatur des 18. Jhd.
Unglück einfacher Leute auch im Volksspiel verwirklicht
-2-
radikaler war der Versuch, das Standeskriterium ganz aufzugeben und die
Unterscheidung von Tragödie und Komödie nur nach dem Ausgangspunkt
vorzunehmen → bürgerliches Trauerspiel
allerdings auch von ständischem Ehrgeiz geprägt
Reibungen zwischen Moralitäts- und Ausgangskriterium
Kriterien hängen voneinander ab
moralische Qualität hängt vom Ausgang ab (unglücklich ist ein schlimmes Ende
nur dann, wenn es unverdient ist) Unglückliches Tragödien- und glückliches
Komödienende setzen einen sympathischen Helden voraus
Widerspruch mit der moralischen Minderwertigkeit komischer Helden
in der Komödie harmonieren Charakter und Ausgang
in der Tragödie gibt es den Widerspruch zwischen edlem Charakter und
Katastrophe
IV. DIE GLIEDERUNG DES DRAMAS
1. DIE PROBLEMATIK VON AKT UND SZENE
oft in Akte / Aufzüge unterteilt
5 Akte im klassischen griechischen Drama
3 Akte im italienischen, spanischen und portugiesischen Theater
Akteinteilung erwächst nicht aus der Handlung, sondern erscheint von außen an
diese herangetragen
Akt v. a. als dramaturgische Einteilung
Szene: eigentlich Schauplatz, Geschehen zwischen zwei Schauplatzwechseln (→
Shakespeares Szenenzählung)
oder: Geschehen zwischen zwei Personenwechseln (→ v.a. frz. Klassik): heute
stärker wirksam
2. DIE KLASSIZISTISCHE REGELUNG VON PERSONENZAHL UND AUFTRITTSFOLGE
geht zurück auf das antike Drama, nur selten mehr als 3 Personen gleichzeitig
auf der Bühne
Dramatiker der Neuzeit befolgen dies meist, durchbrechen nur in
Ausnahmefällen
Kompromiss im Barock: stumme und redende Personen
3. KONVENTIONEN DER REDELÄNGE
im antiken Drama oft sehr lange Reden, Gegenpol dazu: Zeilenrede mit
regelmäßiger Abwechslung der sprechenden Personen (besonders in Streitreden)
seit dem 18. Jhd. meidet man extrem lange / kurze Reden
Verteilung des Redevolumens innerhalb eines Stücks: Gesprächsanteile erlauben
Rückschlüsse auf die Aktivität einer Person
4. ZUR ANLAGE DER QUANTITATIVEN UNTERSUCHUNG
Ziel: schnellere und differenziertere Erfassung des Textzusammenhangs
Handlungsabschnitte, Auftritte, Äußerungen
-3-
5. GESCHLOSSENE UND OFFENE FORM
zwei unterschiedliche Arten: frz. Regeldrama mit pyramidischem Aktaufbau
III
II
IV
I
V
zum anderen: Drama nach Shakespeare
Unterscheidung in offen und geschlossen (KLOTZ, 1960)
geschlossenes Drama: Einheit und Handlung, Ort und Zeit
Regeln der Personenverteilung (3 Pers. Regel)
Verbot neuer Personen nach dem ersten Akt
Ständeklausel, Einheitlichkeit des Redestils
symmetrische oder sonst wie geometrische Komposition
offenes Drama (nach Shakespeare) kennt diese Regeln nicht
V. NEBENTEXT, EPISCHES UND DIE KOMMUNIKATION MIT DEM PUBLIKUM
1. BÜHNENANWEISUNGEN UND ANDERER NEBENTEXT
Text des Theaterbesuchers v.a. Rede der Schauspieler
Leser finden zusätzliche Informationen: Nebentext
dazu gehören: Titel, Motto, Widmung, Vorwort, Abstract, Personenverzeichnis,
Nummerierung der Handlungsteile, Bühnenanweisungen
Bühnenanweisungen erst ab 1750
hier v.a. die Gefühlszustände der Personen
im naturalistischen Drama: erreichen teilweise den Umfang breiter
Erzählpassagen
v.a. Beschreibungen des Milieus
2. DREI ARTEN DES EPISCHEN IM DRAMA
je umfangreicher die Bühnenanweisungen werden, desto mehr nähern sie sich
der Erzählliteratur.
wörtliche Rede der Personen findet in der Figurenrede ihre Entsprechung
in der Figurenrede kommt Episches in Form der verdeckten Handlung vor
dem eigentlichen Erzählen entsprechen die Bühnenanweisungen
was dem Drama fehlt sind unmittelbare Meinungsäußerungen des Autors /
Erzähler
3. BEGRIFFLICHE SCHWIERIGKEITEN IM ZUSAMMENHANG DES EPISCHEN THEATERS
episches Drama:
- steuernde und urteilende Äußerungen eines „Erzählers“
- spezifisch theatralische, außersprachliche Verfahren zur Erlangung von
Distanz
- Distanz selbst (Mittel zur Kritik, Veränderung der gesellschaftlichen
Verhältnisse)
-4-
-
offene Form, v.a. im Sinne eines räumlich und zeitlich breit gestreuten
Stationendramas
Brecht: „Mutter Courage“, „Der kaukasische Kreidekreis“
episches Theater nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck
im eigentlichen Sinne episch: ausdrückliche Äußerungen eines über dem
Geschehen oder abseits von ihm stehenden Erzählers → episches Theater sollte
man nur dann sprechen, wenn ein „Erzähler“ vorkommt
episches Drama S.56ff.
4. ARTEN DER KOMMUNIKATION IM DRAMA
Kommunikation im Drama nicht nur auf Gespräch beschränkt (vgl. Episches
Drama)
Autor mit Publikum, beschränkt auf episches Theater
Darsteller mit Publikum, v.a. im epischen Theater realisiert; Heraustreten aus
der Rolle schafft Distanz
Figuren innerhalb der Rolle mit Publikum, macht das Publikum zu Mitwissern
(beiseite sprechen)
Figuren miteinander, auch hier Kontakt mit Publikum (indirekt)
bekanntester Stellvertreter des Autors in einem Stück: Chor
allerdings fehlt der seit dem 18. Jhd. → ob Figuren die Meinung des Autors
wiedergeben, kann nicht gesagt werden
VI. DIE GESTALTUNG DER FIGURENREDE
was und wie Figuren reden durch viele Faktoren bestimmt
Ziele
umgebende Situation
Umstände der Verständigung (Kommunikation)
persönliches Verhältnis der Gesprächspartner
individuelle Denk- und Äußerungsstil jedes Redenden
augenblickliche seelische Verfassung
1. DIE STRUKTURIERUNG DURCH REDEZIELE UND GESPRÄCHSTHEMEN
größten Einfluss auf Inhalt und Form des Gesagten haben Redeziele und die
hinter ihnen stehenden Beweggründe und Interessen
normalerweise steuert ein Drama nicht direkt auf ein Ziel zu, die Personen
bringen versch. Interessen ins Spiel → Dramen wirken lebendiger,
abwechslungsreicher
auch einzelne Figuren haben meist nicht nur ein Ziel, es lassen sich den
Hauptzielen auch Zwischenziele und Methoden, die oft auch der
Verheimlichung dienen zuordnen
wichtige analytische Aufgabe: Zusammenspiel und Rangordnung der
verschiedenen Ziele nachgehen
im Gespräch treffen unterschiedliche Interessen und Perspektiven mehrerer
Personen aufeinander
Gespräch kann sich auf ein Thema beschränken, viele Auftritte behandeln
jedoch mehrere Themen hintereinander
-5-
Themenwechsel sind die wichtigsten Anzeichen für eine Binnengliederung der
Auftritte und die möglicherweise dahinter verborgenen kompositorischen
Prinzipien (Steigerung, Rahmenform, Symmetrie)
2. DIE SITUATIONSGEBUNDENHEIT
Themen und Redeziele werden durch Situationen ausgelöst, die gemeinsamen
augenblicklichen Wahrnehmungen bzw. die sinnlichen Orientierungsfelder der
Redenden
Eigenart gegenüber allen anderen Textsorten: gesprochene Sprache
hauptsächlich in der wahrnehmbaren Situation verankert → Dramensprache
meist situationsinterner Art
Situation liefert Gesprächsstoff, Situationsgebundenheit spiegelt sich auch in der
Sprache
sprachliche Deixis (Wörter, die auf etwas zeigen): ihre genaue Bedeutung
erhalten die Wörter erst mit der Situation
z. B. Demonstrativpronomina, -adverbien (dieser Dolch….)
auch temporale (jetzt, gestern, morgen) und personale (ich, du, wir…) Deiktika
Häufigkeit sprachlicher Deixis offenbart die Rücksicht auf die allgemeine
Situationsgebundenheit des Dramas, allerdings auch gerne herangezogen als
charakteristisches Kunstmittel eines Dramatikers (Shakespeare, Brecht,
Hauptmann) oder einer Epoche (Barock)
Anzahl der Zeigewörter in einem Auftritt ist ein Indiz für dessen Handlungsund Wirkungsintensivität
Situation muss nur sprachlich verdeutlicht werden, nicht voll vermittelt
Situationsgebundenheit dramatischen Sprechens äußert sich auch in der nur
bruchstückhaften Erfassung der Situation
viele elliptische, unvollständige Sätze, selten Adjektive (wahrnehmbares braucht
keine Beschreibung)
3. MÜNDLICHKEIT, SPONTANEITÄT
SPRACHE
UND
STÖRANFÄLLIGKEIT
GESPROCHENER
Situation und Kommunikation hängen eng zusammen
gesprochene Sprache situationsgebundener als schriftliche
gesprochene Sprache ist spontaner und störanfälliger
Mündlichkeit eines Textes äußert sich in den Spuren, die der Sprechvorgang
hinterlässt (Weglassung des unbetonten e; ich hab; oder Verschleifungen;
Siehste) → selten auf der Bühne (bessere Verständlichkeit)
auch Dialekt nur selten, da außerhalb des Gebietes schwierig
Spontaneität geht dem Drama schon per definitionem ab, die Orientierung an
den Ausdrucksmitteln spontanen Redens ist allerdings nicht ausgeschlossen
Spontaneität äußert sich in loser Gedankenfolge, unfertigen Sätzen,
phonetischen, lexikalischen und syntaktischen Versprechern, Selbstkorrekturen
Störanfälligkeit: Redundanzen (Wiederholungen) erlauben dem Zuschauer, sich
auch nach kurzer Abwesenheit wieder zurechtzufinden
Verständnisschwierigkeiten von Gesprächspartnern wirken auf Außenstehende
anders
seit dem 19. Jhd. ist das Misslingen von Kommunikation nicht mehr nur lustig,
sondern auch ernst zu nehmende, dauernde Gefährdung
-6-
4. DIE BEZIEHUNG DER GESPRÄCHSPARTNER
Kommunikation in erster Linie nicht Medium zum Austausch von
Informationen, sondern Ausdruck mitmenschlicher Beziehungen
Partnerbeziehung und Sprache korrespondieren nicht nur in der Fehlform,
sondern auch bei geglückter Kommunikation
Sprache von Dramenfiguren spiegelt nicht nur die allgemeine Auffassung
des Autors zu mitmenschlichen Beziehungen wieder, sondern auch die
Einstellung der jeweils redenden Person zum Gegenüber
wichtig auch: sozialer Status
v.a. bei Anrede (du; Sie) wirft Licht auf die gültigen Höflichkeitsregeln
5. DER REDESTIL DER PERSONEN
Redeziele, Wahrnehmungssituation, Verständigungsumstände, Partnerbeziehung
umreißen die konkrete Lage der redenden Personen
Sprechweise (Stil) soll der Situation angemessen sein
im Drama treffen unterschiedlich Stile aufeinander, je unterschiedlicher Figuren
reden, desto einfacher kann man sie unterscheiden
v.a. Komödiendichter stufen gerne stilistisch ab
für die Ermittlung und Beschreibung der in einem Drama wirksamen personen-,
gruppen- oder emotionsspezifischen Sprechweisen keine festen Regeln
6. PROBLEME DER DIALOGANALYSE
Personen reden abwechselnd, ein dialogspezifisches Beschreibungssystem fehlt
jedoch
vorrangig sind Redewechsel und die Rede- oder Antwortanfänge
v.a. Antwortanalysen: lässt der Antwortende seinen Partner ausreden; geht er auf
ihn ein
v.a. eine zurückblickende, auf die Reaktionen konzentrierte Betrachtung bleibt
aber zu einseitig, es interessiert auch ihre provozierende, die Antworten
fordernde Seite
hier v.a. Mittel der Publikumszugewandtheit; Appellfiguren
7. DIE DRAMENSPRACHE ZWISCHEN RHETORISCHER KUNST UND NATÜRLICHKEIT
fünf Faktoren gelten für Bühne und Alltag, Dramensprache ist jedoch eigen
Natürlichkeit der Sprache findet ihre Grenze beim Autor und der Ausrichtung
auf das Publikum
erreicht nie Mündlichkeit, Spontaneität und Störanfälligkeit
dann rhetorische Figuren, die im Drama konzentriert und systematisch
vorkommen
v.a. in den pathetischen Abschnitten der Tragödie
Diskussion des 18. Jhd. über den Zusammenhang von Rhetorik und
pathetischem Stil → Autoren versuchen natürlicher zu schreiben
Lessing hält Metaphern für ein natürliches Stilmittel; seine Dramen gehorchen
nicht mehr der Rhetorik der Einzelrede
-7-
8. DER VERS IM DRAMA
Vers markiert einen klaren Abstand von der natürlichen Sprache
bis ins 19. Jhd. waren die meisten Dramen Versdramen
jambischer Trimeter:
sechs Hebungen, nicht gereimt, Vers endet stets männlich und beginnt mit einer
Senkung
Alexandriner:
bei männlicher Endung 12, bei weiblicher 13 Silben
Zäsur nach 6 Silben; beginnt mit Senkung, ist gereimt, 6 Hebungen
Blankvers:
Reimlosigkeit, beginnt mit Senkung, aber nur 5 Hebungen, endet männlich oder
weiblich (10 oder 11 Silben)
in den meisten Versdramen bleibt man bei einem Versmaß, bei der Analyse
kommt es auf das Verhältnis der Redewechsel zu den Versgrenzen an
im modernen Drama spricht man Prosa, hängt mit dem Streben nach
Natürlichkeit zusammen
9. ZUSATZFUNKTIONEN DER FIGURENREDE AUFGRUND IHRER MONOPOLSTELLUNG
Figurenrede ist das einzige Medium, von dem im Drama ausdrückliche
Aussagen zu erwarten sind → Monopolstellung
auf der Bühne wird manches in Worte gefasst, was sonst ungesagt bleibt, v.a.
aber kommen Dinge zur Sprache, die sonst nicht so ausführlich gesprochen
werden (Gedanken und Gefühle); Theater duldet keine Geheimnisse
10. DER MONOLOG
Selbstgespräch, ohne Adressaten
bietet den Figuren Gelegenheit, ihr Innenleben zu artikulieren
kann auch die Abwesenheit eines Erzählers aufwiegen (epischer Monolog)
Übergangsmonolog zur Verbindung der Auftritte
Konfliktmonolog: eine Person zwischen zwei Positionen
VII. DIE PERSONEN
1. VERFAHREN DER PERSONENDARSTELLUNG
Figuren sind durch Figurenrede erkennbar, Vorstellung der Personen meist im
1. Akt
Vorstellung:
sprechende Namen (Komödien)
Beobachtungen über das Verhalten einer Figur (indirekte Charakteristik)
Beschreibung einer Figur durch einen anderen (direkte Charakteristik)
direkte Form v.a. in klassischen Dramen
indirekte Form eher modern, dort auch weniger Selbstcharkteristik
-8-
2. EIGENSCHAFTSARTEN UND IHR VORKOMMEN IM DRAMA
was macht eine Figur aus?
Unterscheidung nach geistigen, charakterlichen Eigenschaften
körperlichen Eigenschaften
äußere Umstände (soziale Verhältnisse)
Handlung zwingt die Personendarstellung weg von dieser Dreiteilung, gilt v.a.
für Dramen, die ihre Handlung aus geistig-seelischen Faktoren entwickeln und
deshalb v.a. Charaktere brauchen
der visuellen Form ist die Übersetzung des ganzen Charakters einer Figur in das
Erscheinungsbild geschuldet
3. DIE BEGRIFFE PERSON, FIGUR, CHARAKTER UND TYPUS
Person: Mensch als geistiges Einzelwesen
Figur: Geschöpf eines Autors, Kunstperson
Charakter: bezeichnet nicht den ganzen Menschen, sondern nur seine
geistige Escheinung
nur deren konstante Merkmale, nicht den augenblicklichen Zustand
Bedeutungsschwerpunkt hat sich verschoben: vom Moralisch-Normativen zum
Deskriptiven; vom Typischen zum Individuellen
Typus: abstrahiert, beinahe unbegrenzt wiederholbar (Commedia dell’Arte)
4. WERTMAßSTÄBE BEI ARISTOTELES UND NEUERE BEWERTUNG DER CHARAKTERE
Dramencharaktere bis heute von A. beeinflusst
4 Forderungen an die Tragödie:
Charakter einer Dramenperson soll mit deren sozialer Rolle, der geschichtlichen
Überlieferung und mit sich selbst übereinstimmen
Charaktere sollen „edel“ sein
ersten drei haben auch außerhalb der Tragödie Geltung, die letzte verbindet
moralische und ständische Bewertung
Veränderungen des alten, ständischen Ordnungssystems führen dazu, dass sich
die Helden vom bewunderten zum ständisch und moralisch durchschnittlichen
umorientieren (fehlerhafte Helden)
Analyse:
1. nichtmoralische Besitzwerte materieller, körperlicher oder geistiger Art
2. moralische Verhaltensweisen
3. Sympathie erweckende Verhaltensweisen und Eigenschaften
4. Faszination
-“Urteile über eine Person selten einhellig
5. DIE PERSONENKONSTELLATION UND IHR EINFLUSS AUF DIE EIGENSCHAFTEN
Eigenart einer Figur wird durch die Konstellation aller Figuren mitbestimmt
Personenkonstellation kann meist in einer Skizze festgehalten werden
erkennbar meist schon aus dem Personenverzeichnis
-9-
6. DIE PERSONEN ALS VERKÖRPERUNGEN VON HANDLUNGSFUNKTIONEN
Handlung bestimmt das Bild der Figuren
Personen mit ihren verschiedenen Eigenschaften lassen sich als Verkörperungen
von Funktionen begreifen, die im Rahmen des Handlungsablaufs zu besetzen
sind (Modell von Souriau)
- zielgerichtete Kraft: das in einer Person inkorporierte Streben nach
einem Ziel (Liebe, Ehrgeiz, Macht…)
- das gewünschte Gut: das Gut nach dem (1) strebt, das Gut braucht
nicht verkörpert zu sein, kann auch unpersönlich sein (Herrschaft)
- der gewünschte Erwerber: um die Person, für die (1) nach (2) strebt
- Der Gegner
- Situationsmächtige: Personen, die den Konflikt zwischen (1) und (4)
entschärfen kann
- der Helfer: meist der heimliche Komplize, nicht immer nötig
allerdings auf moderne, konfliktlose Texte nicht anwendbar
VIII. EXPOSITION UND VERDECKTE HANDLUNG
Anfang für Dramatiker schwierig, wenn er auf auktoriale Eingriffe verzichten
will
Textanfänge bieten sich für Analyse an
Exposition: schwieriger Begriff
1. SEPARATER PROLOG UND HANDLUNGSINTERNE EXPOSITION
Exposition im 18. Jhd. aus dem frz. übernommen
Theorie aus dieser Zeit: urspr. prägnant die den Theaterstücken voranstehende
oder im Prolog enthaltene Inhaltsangabe
in diesem Zusammenhang eine Darlegung
Dramatiker der Neuzeit verzichteten auf die Vorrede (handlungsexterne
Exposition) und verwendeten eine handlungsinterne Exposition
es spricht nicht mehr eine auktoriale, der Handlung enthobene, Person, sondern
eine oder mehrere Figuren
Gegenstand nun nicht mehr eine Inhaltsangabe, sondern die Voraussetzungen
der Handlung
separate Form gilt als geringwertig, da ein „epischer“ Bericht nicht ins Drama
gehöre und die Bekanntgabe der Lösung die Spannung zerstöre
heute: beinahe nur integrierte Form, im Ggs. zum Prolog, einer separaten Form
der Eröffnung
Komödie hatten eher externe Expositionen, Tragödien eher interne
2. AUFGABE UND GEGENSTÄNDE DER EXPOSITION
Aufgabe: bevorstehende Bühnenhandlung und deren Verständnis beim
Publikum vorzubereiten
vielfach ist der 1. Akt die Exposition, dieser soll das Fundament der Handlung
enthalten
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v.a. Vorgeschichte und Hauptpersonen mit ihren Interessen und ihren
Beziehungen sollen vorgestellt werden
Exposition eine Eigenart des klassischen, geschlossenen Dramas
ergibt sich aus der Einheit der Zeit
Exposition der Charaktere: v.a. Vorstellung der Figuren
3. WIDERSPRÜCHLICHE AUFFASSUNGEN ZUR EXPOSITION BEIM OFFENEN DRAMA
anfangs bescheinigten Schiller u.a. Shakespeare eine mustergültige Exposition,
heute ist die Forschung genau anderer Meinung
offenes Drama gekennzeichnet durch das Fehlen einer Exposition (allerdings
benötigt auch das offene Drama ein geringes Maß an Exposition)
4. DIE ERSTRECKUNG DER EXPOSITION
im klassischen Drama: endet mit dem ersten Akt, kann aber auch noch im 2. Akt
vorhanden sein
u.a. wegen dem Bedürfnis, gegnerische Parteien getrennt vorzustellen
im 20. Jhd. Exposition im gesamten Stück, anfangs in größerer Konzentration
Binnenexposition: gibt die Exposition für das ganze Stück frei, ohne auf seine
relative Anfangsfixierung zu verzichten
5. DER ERÖFFNUNGSDREISCHNITT VON DRAMATISCHEM AUFTAKT,
EXPOSITION UND „ERREGENDEM MOMENT“
EIGENTLICHER
Exposition nur Teil des Anfangs, der 1. Akt enthält auch den Anstoß für die
eigentliche Handlung (→ erregendes Moment)
Exposition geht dem erregenden Moment voraus
vorausgeht ein dramatischer Auftakt, eine einleitender Akkord
fällt oft zeitlich mit der Exposition zusammen
Auftakt hat nicht die Aufgaben, Vorkenntnisse zu vermitteln, sondern ist Köder,
um Aufmerksamkeit zu erregen
Auftakt sinnenhaft ausgestattet, um den Zuschauer zu ködern und deshalb
besonders erinnerungskräftig → geeignet für prognostische Signale (vorwiegend
außersprachlicher Art)
6. BERICHTETE BZW. VERDECKTE HANDLUNG
wenn Exposition die Vorgeschichte aufarbeitet, entlastet sie die
Bühnenhandlung, dazu kommen noch andere Verfahren
Geschehen des Dramas auch nach der Eröffnung nicht ganz dargestellt, es gibt
weiterhin Handlungsteile, die nur berichtet werden
es geht jedoch nicht um epische Erläuterungen, sondern um Berichte seitens der
Figuren
klassische Formen: Botenbericht und Mauerschau
Botenbericht schließt Lücken, stiftet Verbindungen (behandelt bereits
Vergangenes)
oft auch durch Brief übermittelt
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Mauerschau (Teichoskopie)
bezieht sich Vorgänge, die außerhalb der Bühne geschehen, eine Figur
unterrichtet das Publikum
im älteren Drama oft kompakte, lange Reden; im neuen Drama dialogisch
aufgelockert, geht allerdings zu Lasten der Information
die berichteten Teile sind weniger wichtig als die gespielten
Entscheidung, etwas indirekt darzulegen aber nicht nur von Wichtigkeit geprägt,
sondern auch von externen Beschränkungen
manches würde die Einheit von Raum und Zeit sprengen, anderes nur schwer
darzustellen
verdeckte Handlung:
optisch nicht präsentes Bühnengeschehen
hinterszenisch hörbare Ereignisse
folgenden Arten der Handlungsdarbietung:
- optisch-akustische Inszenierung auf der Bühne
- hinterszenisch hörbare Realisierung in Art einer Hörspielpassage
- Bericht über Gleichzeitiges (Mauerschau)
- Bericht über zwischendurch Geschehenes (Botenbericht)
- Exposition der Vorgeschichte
Aufteilung des dramatischen Stoffes in gespielte und berichtete, oder auch in
optisch präsentierte und verdeckte Handlung hat entscheidende Bedeutung für
die Struktur
IX. WISSENSUNTERSCHIEDE
Nachricht über ein Ereignis ersetzt nicht die Nachricht selbst, es fehlt die
sinnliche Unmittelbarkeit; Nachricht kann vorausgehen, hinterher hinken und
das Ereignis vielleicht verzerrt wiedergeben
Dramatiker nutzen dies, um die Wissensunterschiede zwischen Publikum und
Figuren sowie zwischen den Figuren selbst herauszustellen → Drama ist nicht
nur Handlungsfolge, sondern auch mehrspektivischer Wissensprozess
dramentypische Erscheinungen und Begriffe: handlungsübergreifend
(Vorausdeutung, dramatische Ironie) und handlungsintern (Intrige, Anagnorisis,
analytisches Drama)
1. DIE VORAUSDEUTUNG ALS MITTEL DRAMATISCHER SPANNUNG
ZUSAMMENHANG MIT MANTISCHEM GLAUBEN
UND
IHR
dramatische Spannung im Sinn von Neugier kommt nur auf, wenn sich die
weitere Entwicklung abzeichnet, dazu muss die Zukunft in Teilen vorweg
genommen werden
Vorausdeutung kann als Teil der Exposition gesehen werden
v.a. aus der Erzählforschung: Vorausdeutungen des Erzählers (subjektiv) und
Vorausdeutungen aus der Handlung (objektiv)
auktoriale Vorausdeutung im Drama jedoch kaum bekannt (Ausnahme: episches
Drama)
aber auch Dramatiker können zukunftsgewiss vorausdeuten: handlungsintern
durch Träume, Ahnungen, Prophezeiungen
handlungslogische und mantische Vorausdeutung:
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handlungslogisch ergibt sich genetisch-kausal aus der zurückliegenden
Handlung: Absichtsbekundungen, Pläne, Wünsche, Schwüre, aber auch Taten,
die ihre Fortsetzung in sich tragen (Zeugung eines Kindes, Verbrechen)
mantisch: setzt auf Prophezeiungen und zukunftsträchtige Zeichen, Garant ist
eine übersinnliche Macht
geäußert v.a. durch autorisierte Medien wie Seher oder Priester
mantische Zukunftsgewissheit hängt vom Glauben des Publikums ab
(→Problem, aber auch für Geschichte des Dramas interessant)
dramatische Werke, die mit Mantik arbeiten, stammen häufig aus Zeiten starken
religiösen und magischen Glaubens
bis ins 17. Jhd. hinein konnten sich Dichter auf den Glauben ihres Publikums
verlassen, im 18. Jhd. ging der Glaube an die Magie deutlich zurück (im Barock
noch bekannt, in der Aufklärung albern)
Problem für die Dramatiker, denn es nicht leicht Ersatz zu finden
nach Gottsched kaum noch Geister und Zauberer, dennoch mantische
Elemente, aber deutlich verändert → Träume, bzw. Traumberichte; diese
machen dann düsteren Ahnungen und angstvoll-melancholischen Stimmungen
Platz
Naturerscheinungen (Gewitter…) als Unterstützung
Propheten manchmal auch als soziale Außenseiter dargestellt, um sie erträglich
zu machen
2. ZUSAMMENFASSENDES ÜBER ARTEN DER VORAUSDEUTUNG
eine vierte Art der Vorausdeutung (nach erzählerischer, handlungslogischer und
mantischer) ist die durch standardisierte Kurzmittel symbolisierte Zukunft
meist darstellerisch bezeichnet
auf der Bühne schwerer zu vermitteln als mit der Kamera
Arten der Vorausdeutung unterscheiden sich nach Art der Geltungsgrundlage
Kenntnis des später zu Erzählenden seitens des Erzählers
logisches Weiterdenken der jeweiligen Lage
mantischer Glaube
ästhetische Konvention
3. DIE DRAMATISCHE IRONIE
am Anfang des Dramas weiß der Zuschauer weniger als die Figuren; Exposition
verringert diesen Wissensrückstand und dann gewinnt das Publikum stetig an
Wissensvorsprung
Tragödie: Zuschauer erkennt oft hinter scheinbar unverfänglichen Äußerungen
eine gezielte Anspielung auf die spätere Katastrophe → tragische Ironie
auch in der Komödie bekannt: etwas für den Sympathieträger Unangenehmes
wird vom Publikum als nur scheinbar schlimm durchschaut
allgemein: dramatische Ironie
4. INTRIGE UND VERSTELLUNG
auch innerhalb der Figuren gibt es Wissensunterschiede, wichtig sind die, die auf
Verheimlichung oder aktiver Täuschung beruhen
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Intrige: raffiniert ausgedachtes, hinterrücks durchgeführtes Manöver zum
Zwecke der Übertölpelung des Gegners (oft auch zur Trennung von Freunden)
Intrigant hat sich in der Neuzeit zu einem eigenen Rollenfach entwickelt
v.a. in Komödien intrigieren mehrere Parteien gleichzeitig
Erscheinungsformen: weit gefächert, unterschieden v.a. nach ihrer moralischen
Beurteilung und der Frage, ob der Intrigant eigenen oder fremden Interessen
dient
moralisch ambivalent: Komödie v.a. guter Zweck, nämlich Liebesglück der
Helden
Tragödie: Intrige verursacht schlimmes Ende (böser Intrigant schadet nicht nur
anderen, sondern auch sich selbst)
positive oder negative Qualität v.a. durch das Ziel bestimmt; aber auch die Mittel
haben ihre Qualität
sympathischer Intrigant: eine im Weg stehende Opposition wird ausgetrickst
schlimmer Intrigant: arbeitet auch mit Gewalt
gute Intriganten: seit Menander Sklaven oder Bedienstete
verfolgen keine eigenen Interessen und helfen meist den jungen Herrschaften
Tragödie: Affekte und Emotionen treiben die Akteure zu schlimmen Plänen
allerdings finden sich auch in Komödien Intriganten, die für ihre eigenen
Wünsche Intrigen spinnen
Intrigant: oft loyale Untergebene ihres Herrn, im Sinne des schlimmen Helfers
ein heruntergekommener Höfling
höfischer Intrigant: personifiziertes Angriffsziel gegenhöfischer Kritik
meist einem tyrannischen Herrscher beigegeben, erfindet er die Mittel um diese
Herrschaft zu festigen
5. GLIEDERUNGSBEGRIFFE IM ZUSAMMENHANG VON WISSENSUNTERSCHIEDEN
Intrige als absichtliche und damit prägnanteste Form dramatischer Verwicklung
besetzt in der neuzeitlichen Theorie den Platz, der früher der Verwicklung
zukam
Aristoteles: tragische Handlung als Knüpfung und Lösung eines Knoten
Einleitung, Verwicklung, Lösung
seit der Renaissance wurde versucht diese Dreiteilung mit der Fünfzahl der Akte
zu verbinden
in der Neuzeit überlagerten teilweise Symmetrieüberlegungen die inhaltliche
Einteilung (mittlerer dritter Akt tritt in Konkurrenz mit der Lösung)
6. ANAGNORISIS UND PERIPETIE
nach Aristoteles garantieren Peripetie (Glückswechsel) und Anagnorisis
(Entdeckung, Enthüllung) den Übergang von Verwicklung und Auflösung
7. DAS ANALYTISCHE DRAMA
Anagnorisis kann sehr plötzlich auftreten, wenn etwa zwei lange getrennte
Personen ihre Verwandtschaft erkennen oder sich lange hinziehen (häufig bei
sehr komplexen Verbindungen)
analytisches Drama eine einzige Anagnorisis: ein vor Stückbeginn liegendes
Geschehen wird aufgeklärt (König Ödipus)
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Vorgeschichte gehört zum analytischen Drama, aber man erfährt sie nicht
vorher, sondern erst im Laufe des Dramas, oft komplett erst am Schluss
im analytischen Drama erstreckt sich die Exposition auf das ganze Stück (einige
Forscher) oder es hat überhaupt keine (BANTEL)
X. ASPEKTE DES HANDLUNGSZUSAMMENHANGS
Gegenstand des Dramas sind Handlungsketten, welche Kräfte treiben Handlung
an?
Teilaspekte: darstellerische Verteilung auf gespielte und verdeckte Handlung
(VIII), Abhängigkeit des Verlaufs vom Wissen der Personen (IX)
1. DER RANGSTREIT ZWISCHEN HANDLUNG UND CHARAKTEREN
Streitfrage: Gebührt der Handlung oder den Charakteren der Vorrang?
unterschiedliche Beantwortung zu unterschiedlichen Zeiten
Aristoteles: Handlung wichtiger, oft sind Charaktere nur Funktionäre der
Handlung (in VII beschriebene handlungsfunktionale Personenanalyse)
Neuzeit: ehre gegenteilige Praxis (Shakespeares Charaktertragödien; Molières
Charakterkomödien)
allmähliche Höherbewertung des Charakters verlangt eine differenziertere
Bestimmung
Lessing unterscheidet nach Komödie und Tragödie
Komödie Charakter
Tragödie Handlung
Rangstreit blieb auch im 19. und 20. Jhd. eine Hauptfrage
2. TYPOLOGISIERUNGEN IM UMKREIS VON CHARAKTER UND HANDLUNG
Charakterdrama:
Schauspiele, in denen die Charaktere die Handlung an Wichtigkeit übertreffen,
sind nicht automatisch Charakterdramen
meist steht ein Charakter im Mittelpunkt, der alle anderen in den Schatten stellt
Charakter nicht nur Hauptsache im Stück, sondern auch Hauptursache der
Handlung
Handlungsdrama:
Handlung als Hauptsache, aber nicht Ursache
Ursache: Schicksal, Intrigen, Situationen
Dramentypen gruppieren sich um eine dominante Handlungsursache, eine
solche monokausale Betrachtung wird allerdings der dialogischen Form des
Dramas nicht gerecht
3. PARTEIEN- UND URTEILSKONFLIKT
Konflikt als Kernstück der meisten Dramenhandlungen (allerdings keine
ausgeprägte literarische Konflikttheorie)
drei Unterscheidungen: Konflikt als offene Auseinandersetzung, als rhetorische
Auseinandersetzung, die Erweiterung vom Parteien- zum Urteilskonflikt
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Parteienkonflikt: zwei oder mehr Parteien streiten sich um ein Wertobjekt (Frau,
Macht, Besitz)
Urteilskonflikt: Konkurrenz mehrerer Wertvorstellungen, zwischen denen ein
Richter entscheiden muss
Parteien- und Urteilskonflikt oft verbunden
4. DER INNERE KONFLIKT
auch als psychischer Konflikt bezeichnet
seit Goethe nachweisbar (Unterscheidung zwischen innerem und äußerem
Konflikt)
diese Unterscheidung überdeckt die von Parteien- und Urteilskonflikt
Parteienkonflikt immer ein äußerer, Urteilskonflikte können, müssen aber nicht
innere Konflikte sein
Entscheidung auf die der innere Konflikt zusteuert: im einfachsten Fall ja oder
nein, meist aber die Wahl zwischen mehreren qualitativ unterschiedlichen
Alternativen
konkurrieren können: eigene Wünsche
fremde, als unangenehm empfundene Forderungen, bei
deren
Nichterfüllung
noch
unangenehmere
Konsequenzen drohen
überindividuelle Verhaltensnormen (Pflichten, Ideale)
Konflikt kann sich innerhalb eines Bereichs entzünden, aber auch zwischen den
Bereichen
Erläuterungen meist moralisierend auf den Gegensatz von Pflicht und Neigung
besondere Komplikationen: wechselseitige Abhängigkeit zwischen konkreten
Interessen (Wünsche, Forderungen) und allgemeinen oder rollenspezifischen
Normen
Szenen mit inneren Konflikten oft Höhepunkt der Dramen, Zuschauer kann
sich mit der Figur identifizieren
Interesse wächst in dem Maße, in dem die widerstreitenden Beweggründe auch
für einen selbst wichtig werden
Problem der Darstellung: Gedanken sind nicht wahrnehmbar, müssen geäußert
werden (→ Konfliktmonolog)
5. HISTORISCHE KONFLIKTTYPEN
häufige Konfliktkonstellationen: verfeindete Brüder, Frauenraub, verletzte
Gattenehre, Inzest, herkunftsbedingter Liebeskonflikt, Mann zwischen zwei
Frauen, Vater-Sohn-Konflikt…
namentlich fixierte Sujets: Don Juan, Medea, Ödipus…
gesellschaftlichen und geistigen Probleme der Zeit färben auch auf die Wahl der
Handlungen, speziell der Konflikte ab
unterschiedliche zeitspezifische Typen
- antike Schicksalstragödie: gespanntes Verhältnis zwischen Göttern und
Menschen; Menschen tappen im Dunkeln, Götter beanspruchen einen
Wissensvorsprung
- Psychomachie (MA): Seelenkampf oder Kampf um die Seele; christliche
Tugenden und heidnische Laster treten als Allegorien gegeneinander an
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höfisches Drama (17., 18. Jhd.): Standartkonflikt zwischen Ehre und
Liebe
bürgerliches Trauerspiel: spiegelt wachsendes Selbstbewusstsein der
Bürger gegenüber dem Adel wieder
bewusstseinanalytisches Drama: teilweise mit dem antiken
Schicksalsdrama verwandt
6. DIE KAUSALITÄT
GALOTTI
DES
HANDLUNGSVERLAUFS,
SPEZIELL IN
LESSINGS EMILIA
wie hängen die Handlungsteile zusammen?
Aristoteles erhebt die Forderung nach der Einheit der Handlung als
Verknüpfung von Begebenheiten, Handlung soll wahrscheinlich wirken
17., 18. Jhd.: möglichst umfassende Motivation der Stoffe durch psychische oder
äußere Beweg-Gründe
S.151ff.
Lessing verknüpft die einzelnen Fakten sehr bedacht, eine Ursache hat mehrere
Wirkungen, aber auch eine Wirkung mehrere Ursachen
7. DIE ANTINOMIE VON FREIHEIT UND NOTWENDIGKEIT NACH KANT
Kritik der Kausalität als Denkzwang durch die Aufklärung
großer Einfluss Kants auf die Dramentheorie Schillers
Beziehung von Freiheit und Notwendigkeit verschärft sich bei Schiller zum
tragischen Konflikt
Zusammenspiel von Notwendigkeit und Freiheit, von Fremd- und
Selbstbestimmung, von Schicksal und Charakter und auch von Schicksal und
Schuld zum Hauptthema der deutschen Tragödie des 19. Jhd.
8. BEGRIFFSPAARE ZUR ABSTUFUNG DER HANDLUNG
bisher: Dramentypen aufgrund dominanter Faktoren, Konfliktaspekte,
Überlegungen zu Zusammenhang zwischen Motivation und Verknüpfung der
Handlung
einfache und verflochtene Handlung: Aristoteles schreibt den Dramen mit
Peripetie und Anagnorisis eine verflochtene Handlung zu
Handlungskern, -schema: Aristoteles stellt sich den Herstellungsprozess so vor,
dass zuerst die Grundzüge entworfen werden und dann mit Episoden aufgefüllt
werden
Haupt- und Nebenhandlung: v.a. für Dramen mit mehreren Handlungssträngen
Handlungskern bzw. –schema und komplette Handlung
Rohstoff und literarisch gestalteter Stoff
XI. DAS DRAMA ALS SINNZUSAMMENHANG
Sinn, den der Autor hinter dem Drama zusammenführt
die Elemente der Figurenrede, die den vom Autor intendierten Sinn am ehesten
verbürgen
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1. SENTENZEN UND REFLEXIONEN
Sentenz: v.a. Attribut der Tragödie
von allgemeiner, den Augenblick und den Einzelfall übergreifender Bedeutung
(Oh, ein Fürst hat keinen Freund!)
Lebensweisheiten, menschlich bedeutend (Die Katze lässt das Mausen nicht.)
nicht bloße Behauptungen des Sprechers, sondern Ausdruck herrschenden
Kollektivbewusstseins
Verhaltensregeln, teilweise mit hohen moralischen Forderungen; oft kritischer,
spöttischer Ton
seit dem 18. Jhd. moralische Weisheiten
seit der Antike als rhetorisches und poetisches Mittel; Höhepunkt in der
Barockzeit
geht auch zurück auf die Vorstellung von „erfreuen und belehren“
2. WERTUNGEN UND WERTE
Figuren und ihr Tun werden im Laufe des Dramas positiv oder negativ
bewertet, v.a. durch Adjektive und deren Substantivierungen
3. SYMBOLE, VIELSAGENDE METAPHERN UND ANDERES MEHRDEUTIGE
Sinnträger, die ihren Sinn eher verheimlichen
Symbol: Erkennungssymbole wie geschlechtsspezifische Kleidung, Uniformen...
literarische Symbole: Rose (Emilia Galotti)
Metapher
4. DER „EIGEN-SINN“ POETISCHER FORM
ikonischen Charakter hat am ehesten die Bauform der Akte und Szenen
Anfang-Schluss-Entsprechungen deuten auf ein geordnetes Weltbild…
5. HISTORISCHES KOLLEKTIVBEWUSSTSEIN UND LITERARISCHE EINFLÜSSE
Faktoren, deren Sinnanteil so unausdrücklich ist wie der der Symbole und
Formelemente, die aber nicht dem Text angehören, sondern nur in ihn
hineinragen
Dinge, die der Autor bei dem ins Auge gefassten Publikum als bekannt
voraussetzt → Gegenstandsbereich des Kollektivbewusstseins (historischsozialer Kontext)
Personen, Institutionen, Ereignisse der Zeitgeschichte; ästhetische, moralische,
ideologische Normen; Sprache
zum besseren Verständnis auch die für den Autor bestimmenden literarischen
Einflüsse, v.a. die konkreten Quellen
wenn vorhanden, auch alternative Fassungen eines Dramas
6. DER LEITENDE SINN BZW. ZWECK
meist hat ein Drama einen beherrschenden Sinn, er sorgt für die gedankliche
und künstlerische Einheit des Stücks
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Sinn ist vielleicht eine Lehre, Aussage, Gehalt oder Idee
Tendenzcharakter des Dramas: v.a. marxistische Dramatiker und Interpreten
Konkurrenz von Ideen- und Tendenzdrama darf nicht verhindern, dass es auch
nichtlehrhafte Arten eines leitenden Zwecks gibt
weder Aristoteles noch Lessing sahen in den Tragödien lehrhafte Stücke, es ging
vielmehr um die Reinigung von Jammer und Schaudern
auch Komödien kaum lehrhaft
hauptsächlich wirksame Unterhaltung
7. DIE HANDLUNG UNTER DEM GESICHTSPUNKT DER SINNERFÜLLUNG
Sinn des Dramas ist achronisch, anders als die diachronische Handlung
Handlung und Sinn dauernd in Gefahr, unverträglich zu sein
Maßstab der Sinnerfüllung ist das Verhältnis von realem und idealem, d.h.
moralisch optimalem Handlungsverlauf bzw. –ausgang
- sympathische Helden unterliegen, siegen aber am Ende:
Handlungsschema der meisten Komödien, auch Romane; Happy End
für die Zuschauer meist schon früh absehbar; Gefahr hier Vorstufe für
eine glücklichen Ausgang
Forderung nach poetischer Gerechtigkeit in der Aufklärung auch für das
ernste Drama
- moralische Ausgleich erfolgt nicht auf Erden, sondern im Himmel:
leidender Held findet Trost in der Hoffnung auf höhere Gerechtigkeit
nach dem Tod; Ertragen von Leid als moralische Bewährungsprobe
- Schwierigkeiten der Guten und ungerechte Macht werden nicht
überwunden; mit ihrer Darstellung verbindet sich die Aufforderung an
das Publikum, die bestehenden Verhältnisse zu ändern
- moralische Korrektur der Wirklichkeit kommt weder durch die
Handlung noch durch die Hoffnung auf übersinnliche Gerechtigkeit
oder Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zum Ausdruck;
erschöpft sich in Worten und einem Gefühl der Ohnmacht; Untergang
des Helden spiegelt ein sittlich-heroisches oder tragisch-pessimistisches
Weltbild
Erfüllung bzw. Nichterfüllung des finalen Handlungssinns ist die
Hauptgrundlage für den lehrhaften Sinn, für die Idee oder die Tendenz des
jeweiligen Dramas
Für das Drama bleibt festzuhalten: Erfundenes, nur scheinbar wahres Geschehen
herrscht vor, ohne ihm wesensnotwendig zu sein. Angeboren ist ihm, aufgrund
seines Rollenspielcharakters nur die Identitätsillusion bzw. -fiktion
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