Kirchenlieder in der NS-Zeit - Entjudung in der Kirchenmusik
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Kirchenlieder in der NS-Zeit - Entjudung in der Kirchenmusik
Kirchenlieder im Dienst des Nazi-Regimes „Lobe den Herren, gelobt sei sein Name, der schöne. Alles, was Odem hat, lobe ihn Väter und Söhne.“ Unverständlich und befremdlich klingen diese Worte nach dem bekannten Lied von Joachim Neander „Lobe den Herren, den mächtigen König“ in unseren Ohren. Wie kann man nur ein so altes und schönes Lied derart verunglimpfen?, möchte man da fragen. Aber so war es leider in der Zeit des Nationalsozialismus – nicht nur am 9. November 1938. Alles, was nicht ins Konzept des Regimes passte, wurde verboten oder ganz einfach passend gemacht. So ging es auch der evangelischen Kirchenmusik kräftig an den Kragen: Jüdische Kirchenmusiker wurden entlassen und unzählige Lieder verboten oder „verschlimmbessert“. Eine Entwicklung, deren Anfänge zurückreichen bis in die Zeit nach dem ersten Weltkrieg, als der deutsche Protestantismus die Ideale des deutschen Nationalismus übernahm und man sich von dem als pathetisch und gefühlsselig beschriebenen Kirchenlied des 19. Jahrhunderts entfernte. Zurück zum alten unsentimentalen Volks- und Kirchenlied, lautete die Devise. Man wollte ja schließlich mit der Zeit gehen, aus Angst, den Anschluss an die breiten Massen zu verlieren. In den Militärgesangbüchern fand sich beispielsweise das Lutherlied „Ein feste Burg ist unser Gott“, das bei vielen offiziellen Anlässen gesungen wurde und bei dem Gott national in den Dienst gestellt wurde, ohne darauf zu achten, dass Briten oder Franzosen vielleicht zu demselben Gott beten: „Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib; laß fahren dahin, sie haben’s kein Gewinn, das Reich muß uns doch bleiben.“ Alles schien so gut zu passen, aber wo war da der Sinn eines ursprünglichen Bußliedes? Und kaum kam Adolf Hitler 1933 an die Macht, da machten sich evangelische Kirchenmusiker und Hymnologen auch schon in vorauseilendem Gehorsam ans Werk. So hatte der Kieler Alttestamentler Wilhelm Caspari bereits ein Jahr zuvor in den 342 Stammteil-Liedern des damaligen Deutschen Evangelischen Gesangbuchs Judaismen wie „Zion“, „Jerusalem“ oder „Abrahams Samen“ und andere „undeutsche“ Ausdrücke wie „Kyrie“, „Halleluja“ und sogar „Amen“ aufgespürt und ohne Rücksicht auf das singbare Versmaß ausgetauscht. „Über alttestamentliche Bezugnahmen im evangelischen Gesangbuch und ihre Beseitigung“ lautete schließlich der Titel einer umfangreichen Studie, die der Theologe 1933 unverzüglich veröffentlichte. Dabei wurde vor allem der jüdische Begriff „Zion“ ausgemerzt. Aus „Dein Zion streut dir Palmen“ wurde dann „Du reitest über Palmen“, „Ach, daß der Herr aus Zion käm“ wurde umgedichtet in „Ach, daß der Herr von droben käm“ und statt „Zion hört die Wächter singen“ sang man ganz einfach „Wer da hört die Wächter singen“. Auch bekannte Weihnachtslieder kamen in der NS-Zeit nicht ungeschoren davon. So hieß es in der ersten Strophe des Liedes „Es ist ein Ros entsprungen“ nicht mehr „Von Jesse kam die Art“, sondern „Vom Himmel kam die Art“ und folgerichtig in der zweiten Strophe „davon die Schrift uns sagt“, anstelle von „davon Jesaja sagt“. Und in „Stille Nacht“ fiel in der zweiten Strophe „der Engel Halleluja“ der Korrektur zum Opfer, sodass man nun umständlich zu singen hatte: „Durch der Engel heiliges Wort tönt es laut von Ort zu Ort.“ Von zentraler Bedeutung für diese NS-Ideologie war nicht nur der erste Reichstag der „Deutschen Christen“ im April 1933, sondern auch die Auflösung der bis dahin für die Gesangbucharbeit verantwortlichen Gremien und damit der Übergang der Kompetenzen an den „Reichsverband für evangelische Kirchenmusik“ unter der Autorität des damaligen Landeskirchenrates Dr. Christhard Mahrenholz. Und wie schon zuvor war es wieder einmal die Singbewegung, von der wesentliche Impulse ausgingen, nicht zuletzt mit dem Liederheft „Christliche Kampflieder der Deutschen“. Das Vorwort war Programm und schien den Weg zu bereiten für das, was mit den Kirchenliedern in dieser Zeit geschah: „Ein Zeugnis dieses Geistes, der heute in uns Nationalsozialisten wieder lebendig geworden ist, soll dieses Heft sein…“ Wohin eine derartige „Entjudung“ der Lieder führte, mag folgendes Beispiel eindrucksvoll verdeutlichen: Da im Programmheft für ein Konzert am 8. Oktober 1937 in der Berliner Gustav-Adolf-Kirche einige Judaismen übersehen wurden, war für die Ausführenden „Improvisationskunst“ gefragt. So hätte der Solo-Bariton im bekannten Lutherchoral „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ in der vierten Strophe „So tu Israel rechter Art“ und in der fünften Strophe „der Israel erlösen wird“ singen müssen, doch stattdessen gab er beherzt den arischen Nonsens von sich: „So tu ein jeder rechter Art“ und „der uns zuletzt erlösen wird“. So wurde das Liedsingen – gerade das der umgeschriebenen, verschlimmbesserten oder neu interpretierten Kirchenlieder – in der NS-Zeit, die doch stark auf Gemeinschaftserlebnisse setzte, zu einem wirkungsvollen Ideologievermittler. Ja mehr noch: Mithilfe einer indirekten Manipulation von Gedanken und Vorstellungsbildern durch derartige gesungene Texte wurden die Menschen aktiviert für ein sogenanntes „neues Deutschland“. Es gab nur wenige Kirchenmusiker, die den Mund auftaten, um sich gegen diesen hymnologischen Antisemitismus zu wenden. Einer von ihnen war der Kölner Organist und Musikdirektor Julio Goslar. Er war es schließlich, der sich im Detail mit jener „Entjudungskampagne“ Wilhelm Casparis auseinandersetzte und sogar Argumentationen gegen zahlreiche Textveränderungen veröffentlichte. Doch schon 1935 begann für Goslar und seine „nichtarischen“ Kollegen ein unvorstellbarer Leidensweg. An die 10.000 haupt- und nebenamtliche evangelische Kirchenmusiker wurden von der Reichsmusikkammer überprüft. Dem kurz zuvor in die Reichsmusikkammer zwangseingegliederten Julio Goslar wurde jetzt eine Zwangsbeurlaubung verordnet, und als er 1936 in der Lutherkirche zu Köln-Nippes wieder seinen Dienst aufnehmen wollte, trat ein Teil des Presbyteriums aus Protest zurück. Aber es sollte noch schlimmer kommen: Zahlreiche Nationalsozialisten drohten sogar, die Kirche zu stürmen, sollte sich jener Organist noch einmal vor den Kirchenchor oder gar an die Orgel wagen. Auf die zunehmende Not der ganzen Familie Goslar achtete dabei niemand, auch nicht der zuständige Berliner Oberkirchenrat. Wohin sich Kirche und Kirchenmusik schließlich in ihrem „Entjudungsrausch“ haben treiben lassen, mag einmal mehr jene Tatsache dokumentieren, dass elf evangelische Landeskirchen Deutschlands am 6. Mai 1939 auf der Wartburg in Eisenach ein „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das kirchliche Leben“ aus der Taufe hoben. Und wer weiß heute schon, dass sogar die Orgel, die „Königin der Instrumente“, zum politischen, totalen Instrument im Dienst des Regimes wurde, sodass sich auch die sogenannte „Norddeutsche Orgelbewegung“ einst zu einer „arteigenen Orgel- und Kirchenmusik“ bekannte? Sandra Blaß