Das übervolle Ich und die Schwestern im Nebel

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Das übervolle Ich und die Schwestern im Nebel
Kultur
Montag, 9. August 2010
Hildesheimer Allgemeine Zeitung
11
Schwarz-bunt: die Fans
Tops und Flops aus 14 Jahren
Wie Hildesheim vom Festival profitiert
Geboren um zu leben: Unheilig
Warum ist das Festival in Hildesheim?
Service: Alles rund ums Festival
Streitgespräch: Gothic vs. Klassik
M‘era Luna 2010: Der Festival-Bericht
M‘era Luna am
Sonnabend:
Der Hangar ist wegen
Überfüllung geschlossen,
„Unheilig“
überzeugen vor
allem mit
unbekannten Stücken,
die „Sisters of Mercy“
sind nur schemenhaft
zu erkennen, und
„Unzucht“ bereitet
vielen Besuchern
Spaß.
Bunt und begehrt: Stefan Ackermann, Sänger der Formation „Das Ich“, lockte mit seiner Band so viele Besucher in den Hangar, dass dieser geschlossen werden musste.
Das übervolle Ich und die Schwestern im Nebel
VON C L AUS K OH LM A N N (T EX T)
A N DR EAS H A RT M A N N (F OTOS)
UND
W
ie in den vergangenen beiden
Jahren hatte der Wettergott auch
diesmal ein Herz für das MondAnbetungs-Festival auf Hildesheims
„Airport“. Nach tagelangem Regen und
vorherbstlichen Temperaturen zeigte sich
der Himmel über dem Gelände am Sonnabend ausgehfein und protzte mit romantischen Schäfchenwolken im Azurblau.
Der perfekte Einstand also für den
Opener der elften Ausgabe des M‘Era
Luna. Zum ersten Mal hatten die Organisatoren im Internet einen NewcomerWettbewerb organisiert. Die Fangemeinde durfte über ihre Lieblinge abstimmen.
Der Sieg bedeutete, das Eröffnungskonzert bestreiten zu dürfen.
Diese Ehre wurde der Band „Unzucht“
zuteil. Das Quartett aus Hannover und
Hameln hatte auf der großen Bühne quasi ein Heimspiel und genoss das Gefühl
sichtlich. Auf einer Szene-Fanseite im Internet hatte ein Kritiker schon 2009 prophetische Qualitäten an den Tag gelegt,
als er nach dem Hören der Debüt-EP
schrieb, die Band würde „bald mit den
ganz Großen auf der Bühne stehen“.
Erfreulicherweise waren auch hunderte Festivalbesucher gekommen, um sich
den neuen Stern am Gothic-Himmel anzuhören. Und sie wurden nicht enttäuscht.
Mit ihrer souveränen Mischung aus Electro, Gothic und Alternativ-Rock eroberten
sie das Publikum im Sturm. Gut eingespielt lieferten die vier Musiker Der
Schulz, De Clercq, Schindler und Fuhrmann ein routiniertes Set mit viel Spielfreude ab. Ihnen war die Begeisterung
anzusehen, und das übertrug sich ohne
Umwege. Die schönen, dunklen und intelligenten Kompositionen taten ihr Übriges. Von „Unzucht“ wird man mit Sicherheit noch viel hören.
Kurz vor ihrem 20-jährigen Bandbe-
stehen ist hingegen „Faith And The Muse“
aus den USA. Das Mastermind-Duo aus
Monica Richards und William Faith ist
bekannt für Experimente und Wandelbarkeit. Das stellten die beiden, unterstützt von einigen Livemusikern, auch im
Hangar wieder unter Beweis. Sie begannen mit einem Stück von der aktuellen
CD, das nur aus einem Rhythmus besteht,
der auf großen japanischen Trommeln geschlagen wird. Gewaltig. Aber auch große
dramatische Momente und orchestrale
Arrangements haben ihren Platz im Repertoire. Zum Beispiel durfte die Geigerin ein Solo hinlegen, bei dem ihre E-Geige durch Computertechnik so aufgepeppt
wurde, dass sie klang wie ein ganzes Ensemble. Einfach schön. Darüber thronte
Monica Richards charismatische und
charakteristische Stimme, die in all ihren
Facetten schillerte. Das ist bei der fiesen
Akustik des Hangars wirklich eine Kunst.
Da geht das Kompliment auch an den Mischer. Ein wirklich toller und zum Festival passender Auftritt. Befremdlich war
nur, dass die Band anscheinend nicht
wusste, wie lange sie spielen darf. Für die
Sängerin kam das Set-Ende wohl doch
überraschend. Komisch.
Danach hatten sich die Organisatoren
allerdings einen kleinen Lapsus geleistet.
„Das Ich“ sollte im Hangar spielen und
danach, überschneidend, auf der Hauptbühne die slowenischen Experimentalmusiker „Laibach“. Da hatte wohl keiner
so recht mit dem Zulauf gerechnet. Bei
„Das Ich“ musste der Zugang zum Hangar gesperrt werden, weil mehrere tausend Fans ihre absoluten Gothic-Heroen
aus Deutschland sehen wollten. Da hieß
es für viele: draußen bleiben.
Im Gegensatz dazu war es bei „Laibach“ vor der Hauptbühne fast schon
übersichtlich. Der Auftritt war zunächst
ein träge und zäh vor sich hinfließender,
uninspirierter Klangstrom, ein bisschen
akustischer Treibsand. Irgendwie machte
Die „Sisters of Mercy“ boten eine gute Show für Nostalgiker – auch wenn Andrew Eldritch nur selten so gut sichtbar aus dem Nebel auftauchte wie in dieser Szene.
es nicht so richtig an, ließ aber auch nicht
locker, sodass man doch irgendwie angezogen wurde. Erst zum Schluss des Sets
legte das zum Performance-Gesamtkunstwerk mutierte Quintett ein paar
Schippen drauf und zeigte alte Qualitäten.
Mit Spannung erwartet wurde in der
Abenddämmerung auf der Hauptbühne
der Auftritt von Co-Headliner „Unheilig“. Und was soll man sagen? Es war gar
nicht so schlecht wie von vielen Puristen
befürchtet. Die Single aus dem aktuellen
Bei Monica Richards von „Faith and the Muse“ schillerte nicht nur die Stimme in allen erdenklichen Facetten – ein starker Auftritt.
Album, die dem „Grafen“ Rekordverkäufe, nie da gewesene Bekanntheit und Dauerrotationen in Radio- und Musikfernsehsendern bescherte, war ja kaum noch
anzuhören. Zum Glück ist das restliche
Material der aktuellen Tournee wesentlich besser als das Deutsch-Goth-PopGesülze aus den Charts. Große Gesten,
eine große Show und großer Mut zum Pathos gehören bei „Unheilig“ zum Konzept, besonders bei der Tour zur „Großen
Freiheit“. Der „Graf“ geht bei seiner
Textlyrik immer bis kurz vor die Schmerz-
Mit Skepsis empfangen, kam „Der Graf“ mit seiner Band „Unheilig“ beim Publikum überraschend gut an.
und Akzeptanzgrenze in Richtung Kitsch.
Garniert mit der richtigen Musik kommt
aber etwas dabei heraus, was tatsächich
ein wenig an Seefahrerromantik erinnert. Alte und neue Songs reihten sich in
einer perfekten Dramaturgie aneinander
und ergaben so ein harmonisches Bild. Da
hat sich einer vorher richtig Gedanken
gemacht. Und das Konzept ging auf. Sogar die Single „Geboren, um zu leben“,
ganz am Schluss des Sets gespielt, kam
live viel besser rüber als das glattproduzierte CD-Gegenstück. Zugaben waren
die logische Folge. Gut gemacht.
Die Urgesteine des Dark-Wave beschlossen den ersten, herrlichen Sonnentag des zehnten M‘Era Luna: „The Sisters
Of Mercy“. Die britische Band um Gründer und Kultfigur Andrew Eldritch feiert
in diesem Jahr ihren 30. Geburtstag. Viele im Publikum haben die großen Songs
in ihrer Jugend gehört und freuen sich
immer wieder, diese für die Musikgeschichte wichtigen Werke wieder auf der
Bühne zu hören und zu sehen. Wobei „sehen“ an dieser Stelle eine gut gemeinte
Umschreibung ist. Das Besondere an der
Show der „Sisters“ ist das Nichtvorhandensein selbiger. Ob Eldritch einfach nur
eitel ist und sein wahres Alter verheimlichen will, oder sich die Band einen Spaß
erlaubt, weiß keiner so genau. Angeblich
soll es aber immer so sein, wie jetzt beim
M‘Era Luna: völlig vernebelt. Eldritch
und seine Kollegen waren mitunter nur
als Schemen zu erkennen. Dafür waren
sie gut zu hören, auch wenn der Mix nicht
so ausgewogen war wie wünschenswert
gewesen wäre. Der Drumcomputer und
die Stimme waren tendenziell zu laut im
Vergleich, Elektronik und Gitarren zu
leise. Aber das sind wohl Open-Air-Abstriche.
Das Konzert war wie das Öffnen einer
Zeitkapsel. Ruck, zuck war man wieder
14 oder 15 und sah sich selbst zu „Temple
Of Love“ abhotten. Das hat, allen harten,
Milan Fras von „Laibach“ wusste modisch zu
überraschen.
industriellen Klänge zum Trotz, etwas
heimelig Nostalgisches. Nichts hat sich
geändert am Sound, ein paar „neue“
Songs sind im Set, aber die wirklich wichtigen sind die Kultstücke „Marian“, „Dominion“, „Temple Of Love“ und „This
Corrosion“. Den haben sie dann aber einfach mal weggelassen. Punkt Mitternacht
war das Set vorbei und die Band verschwunden. Merkwürdig. Aber die meisten nahmen die wohlige Nostalgie mit
nach Hause und freuten sich über die Reise in die eigene Jugend.
Lokalmatador „Der Schulz“ sorgte mit seiner Band „Unzucht“ für einen munteren Auftakt beim elften
M‘Era-Luna-Festival.