Leseprobe - Verlag Ferdinand Schöningh

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Leseprobe - Verlag Ferdinand Schöningh
Esther Meier
Breschnews Boomtown
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Esther Meier
Breschnews Boomtown
Alltag und Mobilisierung
in der Stadt der LKWs
FERDINAND SCHÖNINGH
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Die Autorin: Dr. Esther Meier ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Osteuropäische Geschichte
an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Ihre Studie wurde 2012 mit dem Preis
der Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung ausgezeichnet.
Titelbild:
Auf dem Weg in die Zukunft. Naberežnye Čelny in den 1970er Jahren. Aus: Bogatko,
S.A.: Tovarišč KamAZ, Moskva 1979, S. 52-53.
Gefördert von der Gerda Henkel Stiftung und gedruckt mit Unterstützung des Deutschen Historischen Instituts in Moskau. Ausgezeichnet mit dem Preis der Gesellschaft für Stadtgeschichte und
Urbanisierungsforschung.
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Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige
schriftliche Zustimmung des Verlages nicht zulässig.
© 2016 Ferdinand Schöningh, Paderborn
(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Internet: www.schoeningh.de
Umschlaggestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-506-78193-2
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INHALT
DANKSAGUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I.
9
EINLEITUNG: GESCHICHTE ALS BAUSTELLE . . . . . . . . . .
11
1. Mobilisierung, Alltag, Raum und Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
2. Die Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
3. Der Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
4. Naberežnye Čelny – Jar Čally: Die Verwendung tatarischer
und russischer Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
II. VOM WERK OHNE NAMEN ZU KAMAZ . . . . . . . . . . . . . . . .
31
1. Die Wahl des Standorts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
2. Die Anfänge der Planung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36
3. KamAZ – das »Fenster zum Westen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
III. ODE AN KAMAZ: DAS GROSSPROJEKT IN DEN
MEDIEN UND KÜNSTEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
IV. WIE DAS »SOWJETVOLK« IN DIE »STADT DER
ZUKUNFT« KAM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
1. Arbeit, Migration und Entstalinisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
2. Arbeiter im Aufbruch (»Nationalität«, Alter, Geschlecht) . . . . . . .
59
3. Der Komsomol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
4. Die Armee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
5. Die »jungen Spezialisten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
6. Die Eliten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
7. Migrationsmotive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
7.1 Das »moderne Leben« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.2 Die Flutung der Dörfer und der »Idiotismus des Landlebens« . .
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Inhalt
V. EINE STADT ZWISCHEN VERGANGENHEIT
UND ZUKUNFT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
1. Der Mythos des leeren Raums oder eine »Jungfrau« mit
Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
2. Stadtplanung und Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 Die lineare Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2 Der Mikrorayon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3 Monotonie und Vielfalt, »internationale« und »nationale
Architektur« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
109
109
115
VI. ALLTAG UND RAUM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
131
1. »In Bratsk lebt man auch heute noch in Erdlöchern« . . . . . . . . . . .
131
2. Naberežnye Čelny – das »Paradies auf Erden für die Hausfrau« . . .
137
3. Mit dem Einkaufswagen durch den Supermarkt . . . . . . . . . . . . . . .
143
4. Bei Hamlet in der ersten Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
146
5. Das Nichtgebaute: Moscheen und Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
149
6. Die »Mutter Heimat« schockiert ihre Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . .
153
7. Warum kam Lenin nicht bis Naberežnye Čelny? . . . . . . . . . . . . . . .
157
8. Raum, Identität und Mobilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
159
VII. »WIR BAUEN KAMAZ, UND KAMAZ BAUT UNS!« . . . . .
165
1. Von russischen Chefs und tatarischen Arbeitern: »Cultural
Division of Labour« oder eine »Zweite korenizacija«? . . . . . . . . . .
167
2. Die Helden der Zeit: von Stachanov … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
172
3. … zu Vysockij . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
180
4. Die »Unbrauchbaren« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1 Das Übel aller Dinge: der Alkohol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2 »Blaumacher«, »Hooligans« und »Parasiten« . . . . . . . . . . . . . .
4.3 Polizei und »Freiwillige Volksdružinen« . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.4 Der unsportliche Lauf gegen den Alkohol . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.5 Die »Unbrauchbaren« zwischen Thematisierung und
Tabuisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
7
VIII. SCHLUSS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
205
1. Ausblick: Stadt und Werk nach 1982 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
205
2. Die Um- und Rückbenennung: Naberežnye Čelny/Jar Čally –
Brežnev . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
214
3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
216
ANMERKUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
227
ABKÜRZUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
273
ABBILDUNGSVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
275
QUELLEN UND LITERATUR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Archivquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Zeitungen und Zeitschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Literatur und publizierte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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PERSONENREGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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DANKSAGUNG
Das Manuskript für dieses Buch wurde im Jahr 2011 am Fachbereich Geschichte der Universität Hamburg als Dissertation angenommen und für den Druck
leicht überarbeitet. Mein besonderer Dank gilt Frank Golczewski, der die Idee
zu diesem Projekt hatte und mich mit Weihnachtsgeschenken wie »Die Giganten der Straße«, einem Bildband über die Lastwagen dieser Welt, bei Laune
hielt. Von der Begeisterung, mit der er sich auf seinen Reisen die Archive und
den postsowjetischen Alltag erschließt, konnte ich viel mitnehmen.
Sandra Dahlke hat das Manuskript mit der ihr eigenen analytischen Schärfe kommentiert. In den Gesprächen in unserem gemeinsamen Büro an der
Universität der Bundeswehr in Hamburg wusste sie immer sehr genau, was
der Sache dienlich ist. Nikolaus Katzer nahm den Weg aus Moskau auf sich,
um das Großprojekt zum Abschluss zu bringen, und ließ sich auch das Glas
Sekt im Warburg-Haus nicht nehmen. Moritz Florin war der Überraschungsgast auf dem Weg zur Drucklegung. Er hat den Text aus purer Freude sorgfältig gelesen und mit vielen konstruktiven Ideen bereichert. Kerstin
Jobst danke ich für die Durchsicht von Anträgen und die Lektüre einzelner
Passagen.
Marlies Bilz, die viel zu früh verstorben ist, hatte immer etwas Spannendes
über Naberežnye Čelny in ihrem Koffer, wenn sie von ihren Forschungsreisen
aus Tatarstan zurückkam. Bei Tee mit getrockneten Aprikosen hat uns Aisylou
Hempe in Hamburg zwei Jahre lang Tatarisch unterrichtet. Maura-Dell
O’Mahony danke ich für die Korrektur der englischsprachigen Texte, die aus
dieser Arbeit hervorgegangen sind. Und Anne Sunder-Plaßmann brachte mit
ihrem unkonventionellen Blick immer wieder frischen Wind in das Unterfangen. Mein Dank gilt auch Kerstin und Kai-Uwe Schirm, Ute Gentzke sowie
Gudrun und Marc Ludwig, die für meinen Sohn Max da waren, wenn ich nicht
da war.
Die Arbeit wurde von der Gerda Henkel Stiftung gefördert und von Angela Kühnen mit viel Interesse begleitet. Das Deutsche Historische Institut in
Moskau finanzierte den Druck.
Herzlich danken möchte ich vor allem den Menschen in Kazan’ und
Naberežnye Čelny, die mir ihre Geschichte erzählt und mich unterstützt haben.
Biljal Kaneev war mein Verbindungsmann zu den 1970er Jahren. Er hat mir
den Zugang zu vielen Quellen ermöglicht, unermüdlich meine Fragen geklärt
und zahlreiche Fotos für dieses Buch organisiert. Für die großzügige Bereitstellung dieses Bildmaterials danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
des Historischen Museums von Naberežnye Čelny. Auch Anatolij Dubrovskij
öffnete mir viele Türen und teilte mir sein großes lokales Wissen mit. Die Bibliothekarinnen Islamija und Gulšat gönnten mir zwischen den langen Teegesprächen kurze Arbeitspausen, wobei sich das erste für das Verständnis der
Erinnerung an die Brežnev-Ära als ebenso wichtig erwies wie das zweite.
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Danksagung
Bei Julija, Ljudmila und Mansur Solov’ev in Kazan’ gab es immer ein gemütliches Plätzchen, wo ich unterkommen konnte. Miljauša Muchamadieva, Rosa
Malikova und Julija Batakova haben mich mit den Geheimnissen der Čelninsker
Innenhöfe bekannt gemacht. Am meisten gelernt habe ich während meiner
Arbeit von Kifaja-apa, die weiß, worauf es im Leben ankommt. Vielleicht mag
sie deshalb keine Widmungen.
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Esther Meier
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I. EINLEITUNG: GESCHICHTE ALS BAUSTELLE
1. MOBILISIERUNG, ALLTAG, RAUM UND HERRSCHAFT
Im Jahr 1982, nach dem Tod Leonid Brežnevs, wurde die Stadt Naberežnye
Čelny in Brežnev umbenannt und hiermit von der politischen Führung des
Landes zum Symbol für eine ganze Epoche erklärt.1 In Brežnev indes regte sich
Protest. Die Menschen an der Kama waren nur bedingt bereit, dieses Erbe
anzutreten.2 Der Streit um die Bewertung der Brežnev-Ära (1964-1982) ist
sowohl auf lokaler wie auch auf internationaler Ebene noch längst nicht entschieden.
Eines der größten Prestigeobjekte der Amtszeit Brežnevs, der nach Stalins
längsten in der sowjetischen Geschichte, war die Stadt Naberežnye Čelny,
Tatarisch Jar Čally, mit dem Lastwagenwerk KamAZ. 1969 wurde mit dem Bau
begonnen. Auf einer Fläche von 6.500 Hektar, das entspricht rund 9.000 Fußballfeldern, entstand der Industriekomplex der Kama Automobilwerke
(KamAZ – Kamskij Avtomobil’nyj Zavod). KamAZ produzierte in seiner
Hochzeit bis zu 120.000 Lastwagen jährlich.
KamAZ-Lastwagen haben die meisten Leserinnen und Leser schon gesehen:
Sie fahren auf vielen Straßen Osteuropas, Lateinamerikas und Asiens. Sie sind
in den westlichen Medien präsent, so etwa auf Kriegsbildern aus Tschetschenien oder der Ukraine, in der Sportberichterstattung über Truck-Ralleys (Paris-Dakar), bei denen KAMAZ zu den Favoriten zählt, oder wenn Putin den
starken Mann mimt und sich als Lastwagenfahrer inszeniert. Seit der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft im Jahr 1990 schreibt sich das Unternehmen
nicht mehr KamAZ, sondern KAMAZ. KAMAZ ist auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einer der größten Industriebetriebe des Landes und
zählt zu den wichtigsten Exporteuren Russlands.
KamAZ war zum einen ein Produkt der unter Chruščev und Brežnev verfolgten Politik, die Konsolidierung der Gesellschaft nach dem Terror des Stalinismus und der Gewalt des Zweiten Weltkriegs über eine Hebung des Lebensstandards breiter Schichten der Bevölkerung zu sichern. Kernstück dieser
in der westlichen Forschung als »social contract« bezeichneten Politik war der
Massenwohnungsbau, für den Lastwagen gebraucht wurden.3 Zum anderen ist
das Großprojekt im Rüstungswettlauf des Kalten Krieges zu verorten. KamAZ/
KAMAZ produzierte und produziert auch heute noch Last- und Panzerwagen
für die Armee. 1976 lief der erste KamAZ vom Band, drei Jahre später rollten
KamAZ-Lastwagen in Afghanistan ein. Für die Sowjetunion war der Krieg in
Afghanistan eine innen- und außenpolitische Niederlage, für KamAZ hingegen
eine erfolgreiche Werbeveranstaltung. Die Lastwagen hatten sich auf den unwirtlichen Gebirgsstraßen Afghanistans bewährt.4
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1. Mobilisierung, Alltag, Raum und Herrschaft
13
In Abhängigkeit von diesem Industriegiganten entstand eine Stadt, die heute
über eine halbe Million Einwohner zählt. Naberežnye Čelny ist nach Kazan’
die größte Stadt Tatarstans. Sie befindet sich im Osten der Republik Tatarstan
(in sowjetischer Zeit Tatarische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik,
TASSR), die Teil der Russländischen Föderation ist (in sowjetischer Zeit Russländische Unionsrepublik). Nur ca. 1000 Kilometer östlich von Moskau gelegen, für sowjetische Verhältnisse geradezu zentral, war die Baustelle an der
Kama für die Arbeiter der 1970er Jahre weitaus attraktiver als die sibirischen
Großprojekte.
Das Projekt war von groß angelegten Kampagnen in den Medien begleitet
und setzte enorme Migrationsströme in Bewegung. In der Brežnev-Ära wanderten mehrere Hunderttausend Menschen aus verschiedenen Teilen der Sowjetunion nach Naberežnye Čelny zu. Die Arbeit fragt nach dem Mobilisierungspotential eines Herrschaftssystems, das zum einen mit den Großprojekten am
Industrialisierungsmodell des Stalinismus festhielt und zum anderen seit den
1950er Jahren einen starken Wandel durchlief.
»Jede Generation hat ihr Magnitka«, schrieb Aleksej Stachanov 1972 in einem öffentlichen Brief an die KamAZ-Arbeiter.5 Mit dem Bergmann Stachanov, der 1935 im Donbass eine Rekordleistung im Kohleabbau erbracht hatte,
wandte sich ein sowjetischer Held des Stalinismus an die Arbeiter der BrežnevÄra und stellte Naberežnye Čelny in die Tradition von Magnitogorsk, der
Modellstadt der 1930er Jahre. Doch die Arbeiter der 1970er Jahre waren nicht
mehr die Arbeiter der 1930er Jahre. Ihre Erfahrungen und Lebenswelten unterschieden sich fundamental. Die Arbeiter von Naberežnye Čelny wurden
zumeist nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, hatten Zugang zu Bildung,
Radio und Fernsehen und hörten die Lieder Vladimir Vysockijs. Sie waren von
der Erwartung eines kontinuierlich steigenden Lebensstandards und nicht von
Kriegen, Hunger und Terror geprägt. Wollten die Organisatoren des Großprojekts diese Arbeiter gewinnen, bedurfte es veränderter Mobilisierungsstrategien, die die Arbeit untersucht.
Die Amtszeit Brežnevs galt in der Forschung lange Zeit als Phase, in der
nicht nur das Wirtschaftswachstum, sondern auch die Identifikation der Bevölkerung mit der politischen Führung und ihren Zielen zum Erliegen kam:
»Der revolutionäre Schwung, mit dem Stalin und auch noch Chruščev wenigstens Teile der Bevölkerung für den Aufbau des Sozialismus hatten mobilisieren können, war aufgebraucht.«6 Seit einigen Jahren stellt eine neue Generation von Wissenschaftlern die Etikettierung der Brežnev-Ära als Phase
der Stagnation und des Niedergangs auf den Prüfstand. Die vorliegende Arbeit
ist Teil dieser Diskussion, wobei sehr schnell deutlich wird, dass der Begriff
der Stagnation zur Bearbeitung des gewählten Untersuchungsgegenstands
nicht zielführend ist. Hier interessiert weniger die Frage, ob es in Magnitogorsk, in das die Bauern vor dem Hunger flüchteten, besser um den Aufbau
des Sozialismus bestellt war als in Naberežnye Čelny, das den Zuwanderern
eine eigene Wohnung versprach. Vielmehr geht es um das Spannungsfeld von
alten und neuen Planungsmodellen, Werbungsmethoden und Identifikationsangeboten.
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I. Einleitung: Geschichte als Baustelle
Was Stephen Kotkin für Magnitogorsk als Massenmobilisierung beschrieben
hat, war im Wesentlichen eine Landflucht.7 Im Unterschied zu den 1930er
Jahren kam in der Brežnev-Ära ein beträchtlicher Teil der Arbeitskräfte auf
den Großbaustellen aus Städten. Der Großteil der sowjetischen Bevölkerung
lebte in den 1970er Jahren in Städten. Die Sowjetunion hatte sich in rasantem
Tempo von einem Agrar- in einen Industriestaat gewandelt. Die Zahl der städtischen Bevölkerung war durch eine hohe Dynamik an Stadtgründungen sowie
durch Zuwanderung in die bereits bestehenden Städte angestiegen. 1926 lebten
18% der Bevölkerung in Städten, 1939 33%, 1959 48%, 1970 56% und 1979
62%.8
Aber auch unter Chruščev und Brežnev war weiterhin ein starker Zustrom
der Landbevölkerung auf die Großbaustellen zu verzeichnen. Der Osten Tatarstans zählte zu jenen Regionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkt
industrialisiert und urbanisiert wurden. Im Zuge des Ausbaus der Erdölindustrie ab den 1950er Jahren entstand die Stadt Al’met’evsk mit der DružbaPipeline, die das sowjetische Öl bis nach Schwedt in die DDR transportierte.9
Es folgten die Erdöl-Stadt Leninogorsk, in den 1960er Jahren Nižnekamsk mit
einem Industriekomplex für Petrochemie und das Wärmekraftwerk in Zainsk.10
Vor allem der Bau des Stausees von Nižnekamsk und KamAZ veränderten die
Region grundlegend. Für das 1978 geflutete Staubecken wurden Zehntausende
Bauern umgesiedelt und als Arbeitskräfte für KamAZ verbucht.11 Von den
1970er bis zu Beginn der 1990er Jahre verschwanden im unteren Kama-Gebiet
300 Siedlungspunkte von der Landkarte.12 In Tatarstan lebten 1970 52% der
Bevölkerung in Städten. Tatarstan lag somit sowohl unter dem Durchschnitt
der UdSSR (56%) wie auch der RSFSR (62%). Zehn Jahre später lebten bereits
73% der Bevölkerung Tatarstans in Städten, während es im sowjetischen
Durchschnitt nur 62% und im russländischen 69% waren. Mit dem Stausee
und KamAZ wurde Tatarstan in einem Jahrzehnt zu einer der am stärksten
urbanisierten Regionen der Sowjetunion.13 Die Arbeit diskutiert die sozialen
und kulturellen Folgen dieses Umbruchs, der tatarischsprachige Bauern zu
russischsprachigen Industriearbeitern machte.
Die Arbeitskräfte aus der Region stellten jedoch in den 1970er Jahren nicht
die Mehrheit der neuen Stadtbevölkerung. Die Zuwanderer kamen aus allen
Teilen der Sowjetunion. Bei KamAZ waren 1979 60 »Nationalitäten« vertreten.14 Den mit Abstand größten Teil der Zuwanderer bildeten die Russen, gefolgt von den Kazantataren, der Titularnation der Republik.15 Zehn Jahre nach
Baubeginn lebten in Naberežnye Čelny doppelt so viele Russen wie Tataren.16
Betriebssprache bei KamAZ sowie Bildungssprache an den neu entstehenden
Hochschulen war Russisch, so dass soziale Mobilität und die Durchsetzung
des Russischen Hand in Hand gingen.
Der »revolutionäre Schwung« des Stalinismus gründete unter anderem in
den radikalen sozialen Umwälzungen, die diese Phase der sowjetischen Geschichte kennzeichneten und von denen viele profitierten. Insbesondere die
Großprojekte waren in den 1930er Jahren Orte des sozialen Aufstiegs. Die
Brežnev-Ära hingegen gilt als Zeit mit einer geringen sozialen Mobilität. Die
alten Herren im Kreml, die unter dem Gewicht ihrer Orden zusammenzubre-
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1. Mobilisierung, Alltag, Raum und Herrschaft
15
chen drohten und der jungen Generation den Zugang zur Macht verweigerten,
wurden zum Symbol einer Epoche mangelnder Aufstiegsmöglichkeiten.17 Dabei blieb die Frage nach der Integration ehemaliger Bauern, hoch qualifizierter
Ingenieure und auch von Künstlern, die in Naberežnye Čelny stark gefördert
wurden, bislang unbeachtet. Eines der wichtigsten stalinistischen Instrumente
des sozialen Wandels, der Terror, durch den die Posten der Repressierten neu
besetzt werden konnten, stand unter Brežnev nicht mehr zur Verfügung. Die
Arbeit zeigt auf, wie neue Wege gesucht bzw. alte Modelle modifiziert wurden.
Für Großprojekte in nichtrussischen Gebieten wie Naberežnye Čelny ist hierbei die Frage nach der Förderung der Titularnation von besonderer Bedeutung.
Wie Magnitogorsk so feierten die Medien auch Naberežnye Čelny als »Stadt
der Zukunft«, in der die neuesten Konzepte des sowjetischen Städtebaus ihre
Verwirklichung finden sollten. Dabei war Naberežnye Čelny nur eine unter
vielen, wenn auch eine der größten und ökonomisch wichtigsten Städte, die
unter Brežnev entstanden. Die Liste der poststalinistischen Städte, die als industrielle, militärische oder Forschungszentren gebaut wurden, ist lang. Die
Industrialisierung und Kollektivierung der 1930er Jahre hatten die kontroversen Diskussionen der 1920er Jahre über die Bedeutung von Stadt und Land
beendet und eine Verstädterung in Gang gesetzt, die, durch den Zweiten Weltkrieg zeitweilig unterbrochen, von Chruščev und Brežnev mit verschiedenen
regionalen Schwerpunkten fortgesetzt wurde.18
Die Planer in Moskau entwarfen ein großflächiges Modell der »sozialistischen Stadt« Naberežnye Čelny, der Altes weichen musste, denn das Großprojekt entstand nicht, wie sowjetische Texte glauben machen wollten, »auf
freiem Feld«. Naberežnye Čelny war keineswegs eine Neugründung der
Brežnev-Ära. Der Ort hatte bereits 1930 Stadtstatus erhalten und zählte vor
dem Bau von KamAZ knapp 40.000 Einwohner.19 Das alte Čelny wurde abgerissen, Teile der alten Stadt wurden mit dem Stausee von Nižnekamsk geflutet. Die Menschen zogen in die neu errichteten Plattenbauten oder verließen die Region.
Die Arbeit skizziert die Entscheidungen im Zentrum und die städtebaulichen Ideen, um dann die Umsetzung sowie die Aneignung des Raums durch
die darin lebenden Menschen zu diskutieren. Die Geschichte, die die enteigneten und umgesiedelten Alteingesessenen zu erzählen hatten, kollidierte mit
den Erwartungen der Zuwanderer, die die Medien als Pioniere inszenierten.
Welche räumlichen Konzepte lagen den Plänen zugrunde und wie sah der
Alltag der Menschen aus? War die gebaute Stadt geeignet, den Zugezogenen
neue Heimat zu werden? Donald Preziosi, Umberto Eco und andere haben
gezeigt, dass die Betrachter Architektur als ein System von Zeichen verstehen,
das sie ähnlich einem Text lesen und mit Bedeutung versehen.20 Wie die Zeitgenossen diese Zeichen gedeutet haben, ist, wie immer in der historischen
Rezeptionsforschung, nur schwer zu rekonstruieren, doch geben die Quellen
zumindest bruchstückhaft darüber Aufschluss. Zentral ist hierbei auch die
Frage, was zu einer Stadt gehört, damit sie von den Einwohnern angenommen
wird. In dieser Angelegenheit waren sich die lokalen und die zentralen Akteure nicht immer einig. Die Arbeit fragt, wie unterschiedliche Vorstellungen
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I. Einleitung: Geschichte als Baustelle
ausgehandelt wurden und leistet somit einen Beitrag zum Verhältnis von Zentrum und Peripherie im sowjetischen Imperium.
Der Schwerpunkt liegt allerdings auf der lokalen Perspektive. Die Arbeit
versteht sich als Alltagsgeschichte der Brežnev-Ära. Die Theoretiker des Alltags – seien es Alf Lüdtke, Lutz Niethammer, Carsten Goehrke, Pierre Bourdieu, Michel de Certeau oder Michel Foucault – unterstreichen die Relevanz
der Akteure, die die Ordnung schaffen, von der sie Teil sind. Durch ihre
Handlungen konstituieren sie die sozialen, ökonomischen, kulturellen und
politischen Strukturen, die wiederum ihre Handlungen anleiten.21 Alltagsgeschichte verwirft somit die Totalitarismustheorie, die den Menschen als Rohmaterial für Indoktrination beschreibt. Die Arbeit verortet Alltag an der
Schnittstelle von Makro- und Mikrogeschichte, im Spannungsfeld gesamtsowjetischer Konzepte, zentraler Entscheidungen, internationaler Verflechtungen
und lokaler Lebens- und Vorstellungswelten.22
Alltagshistorikern wird immer wieder vergeworfen, insbesondere in der
deutschen Zeitgeschichte zum Nationalsozialismus und zur DDR, dass sie die
Bedeutung von staatlicher Macht und Gewalt ausblendeten.23 Das Buch betrachtet Herrschaft als zentralen Teil von Alltag und diskutiert sie im Kontext
von Konsum und Arbeit. Bei der Durchführung staatlicher Programme spielten die Betriebe, die einen Erziehungsauftrag zu erfüllen hatten, eine wichtige
Rolle. Der Arbeitsplatz war Ort der Mobilisierung und der Disziplinierung.
Die sowjetische Definition von Arbeit war an einen Betrieb oder eine Einrichtung gebunden, denn nur wer in den vorgesehenen Strukturen arbeitete, konnte auch in diese Praktiken integriert werden. In einer monoindustriellen Stadt
wie Naberežnye Čelny war die Macht der Betriebe, allen voran KamAZ, besonders groß, wenn auch die Arbeiter Wege fanden, diese zu begrenzen: In den
1970er Jahren wurden in Naberežnye Čelny über 80% der Wohnungen im
Auftrag von KamAZ gebaut – und von KamAZ verteilt.24 KamAZ verfügte
über die begehrten materiellen Güter wie Wohnungen, Autos und Möbel und
regelte den Zugang zu Dienstreisen ins Ausland, Fortbildung und Karriere,
Kindergartenplätzen und Urlaubsreisen. Die Arbeit untersucht die Bedeutung
symbolischer und sozialer Zuschreibungen für die Verteilung dieser Güter. Wer
waren die Gewinner, wer die Verlierer? Die Verteilungspolitik der 1970er Jahre hatte eine soziale Differenzierung zur Folge, die den Alltag der Menschen
von Naberežnye Čelny bis heute prägt und die politische Diskussion vor Ort
bestimmt.
Zu den Gruppen, deren »Verstöße gegen die gesellschaftliche Ordnung« von
KamAZ mit dem Ausschluss aus der Konsumgesellschaft bestraft wurden,
zählten die »Hooligans« und »Blaumacher«, während die »Parasiten«, die nach
Naberežnye Čelny strömten, mit den betrieblichen Maßnahmen nicht zu erreichen waren.
In dem Bestreben, die »kleinen« Akteure nicht als passive Masse zu beschreiben, verwenden einige Alltagshistoriker einen weit gefassten Begriff von Widerstand oder Resistenz und fassen darunter auch die Missachtung von
Betriebsordnungen. Sie belegen mit diesen Begriffen eine Vielzahl von Handlungen, die die Herrschaft begrenzen, wobei die Intention der Akteure zweit-
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1. Mobilisierung, Alltag, Raum und Herrschaft
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rangig erscheint. Erstaunlicherweise plädieren insbesondere Vertreter der neueren Stalinismus-Forschung für eine solche Begrifflichkeit,25 während
Historiker, die zur deutschen Geschichte arbeiten, längst dargelegt haben, dass
bipolare Erklärungsmodelle wie Wider-stand (Wer ist wider, wer für das System?) zur Beschreibung von Alltag und seiner Komplexität wenig geeignet
sind. Der von Alf Lüdtke geprägte Begriff des Eigensinns hebt diese Bipolarität auf und berücksichtigt die Deutung der Akteure.26 Er wird von der DDRForschung stark rezipiert und hält seit einiger Zeit auch Einzug in die Arbeiten
zur sowjetischen Geschichte. Gerade für die Brežnev-Ära ist er hilfreich, hatten sich doch die Handlungsspielräume seit dem Stalinismus erheblich erweitert. Handlungen werden in dieser Arbeit nur dann als Widerstand bezeichnet,
wenn die Quellen nahelegen, dass sie von den Akteuren auch gegen die bestehende Ordnung gerichtet waren.
Der Fall der »Hooligans«, »Blaumacher« und »Parasiten« ist insofern kompliziert, als hierzu nur Herrschaftszeugnisse vorliegen. Bei diesen Kategorien
handelt es sich um reine Fremdzuschreibungen. Um dies offenzulegen, wird
in diesem Zusammenhang der aus der Soziologie entlehnte Begriff der Devianz
verwendet. »Hooligans« und »Blaumacher« waren aus Sicht der Herrschenden
»vom Kurs abgekommen« (aus dem Französischen dévier – vom Kurs abkommen, umgeleitet werden), wobei die Definition dieser Gruppen in der Sowjetunion einem starken Wandel unterlag. Die Festschreibung von Devianz
erfolgte unter anderem in den »Kameradschaftsgerichten«, die in den Betrieben
angesiedelt waren. 1975 gab es bei KamAZ 136 solcher »Gerichte«.27
Wer Alltagsgeschichte am Beispiel eines Großprojekts schreiben will, ist mit
einer Reihe von Problemen konfrontiert. Eine Schwierigkeit liegt darin begründet, dass Großprojekte im Zentrum der Macht initiiert wurden. KamAZ
und die neue Stadt waren ein Allunionsprojekt. Als solches wurden sie in
Moskau geplant und hatten oberste Priorität in allen Belangen, seien es Technologietransfer und internationale Kooperationen, die Zuteilung von Ressourcen oder die Werbung der Arbeitskräfte. Ohne die Beschlüsse des ZK der
KPdSU, ein Lastwagenwerk an der Kama zu bauen, hätten mehrere Hunderttausend Menschen, meine Person eingeschlossen, ihr Leben anders gelebt.
Viele Karrieren wären anders verlaufen, Ehen nicht geschlossen und Kinder
nicht geboren worden. Die Wirkungsmächtigkeit staatlicher Programme ist
unbestritten.
Wie also lässt sich die Geschichte eines Großprojekts schreiben, ohne die
Menschen auf die Rolle der Reagierenden zu reduzieren? Historiker, die zu
Großprojekten arbeiten, suchen nach Antworten und werfen sich gegenseitig
vor, diese Frage nicht gelöst zu haben. So schreibt Dietmar Neutatz über Stephen Kotkin, dass dessen Buch über Magnitogorsk insofern einen Schritt hinter die sozialwissenschaftliche Forschung zurückgehe, als es in der Bevölkerung, ähnlich der Totalitarismustheorie, nur reagierende Wesen sehe, die sich
den vorgegebenen Regeln anpassten, ohne selbst aktiv zu werden,28 während
sich Neutatz’ Arbeit zur Moskauer Metro genau derselben Kritik ausgesetzt
sieht.29 Aufgrund der Intitiative im Zentrum mag ein Großprojekt wenig geeignet erscheinen, als Alltagsgeschichte geschrieben zu werden. Zugleich setz-
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I. Einleitung: Geschichte als Baustelle
te diese die Produktion einer enormen Fülle an Texten und Bildern auf allen
Ebenen in Gang, von den Moskauer Büros bis zu den bäuerlichen Wohnstuben
an der Kama, so dass sich wie bei kaum einem anderen Forschungsgegenstand
die Möglichkeit bietet, diese Quellen miteinander in Beziehung zu setzen, sie
als Dialog zu lesen und dadurch einen Blick auf den Alltag der 1970er Jahre zu
werfen. Eine so geschriebene Geschichte schließt eine Hierarchisierung der
Quellen aus. Ein unveröffentlichtes Dokument aus dem Zentrum der Macht
ist für diese Arbeit weder besser noch schlechter als eines der vielen publizierten Baustellengedichte.
2. DIE QUELLEN
Die Arbeit untersucht schriftliche und mündliche Texte, die über das Großprojekt produziert wurden, sowie visuelle Quellen: Dokumente des Entscheidungsprozesses und der Moskauer Planungsbehörden, Partei- und Komsomolakten, Gedichte, Romane, Filme, Gemälde, Auszeichnungen, Denkmäler,
Baupläne, Architekturskizzen, Statistiken, Zeitschriften, Zeitungen, Briefe,
Memoiren, Interviews mit Zeitzeugen und andere Sebstzeugnisse. Auch nutzt
sie die gebaute Stadt als Quelle. Samizdat habe ich nicht gefunden. Für Samizdat fehlte, so ist anzunehmen, in einer Stadt von Zuwanderern das Vertrauen,
die Netzwerke und die Infrastruktur. Zudem war und ist Naberežnye Čelny
eine Stadt der Arbeiter und nicht der Intellektuellen, die die Hauptproduzenten von Samizdat waren.30
Ein Großteil der Quellen stammt aus zentralen, regionalen, lokalen und
privaten Archiven. In Moskau und Kazan’ sind die Dokumente der BrežnevÄra mit einigen Ausnahmen zugänglich. Unter Verschluss sind Quellen militärischen Ursprungs. In den untersuchten Akten finden sich keinerlei Hinweise darauf, dass KamAZ auch für Armee produzierte. Vereinzelt konnten
Dokumente militärischer Provenienz, so etwa Briefe von Soldaten, eingesehen
werden, da sie zusammen mit Briefen ziviler Personen abgeheftet waren.
Wie Entscheidungen gefällt und Herrschaft kommuniziert wurde, ist für die
Brežnev-Ära bislang noch kaum erforscht. Auch für den vorliegenden Fall lässt
sich der Entscheidungsprozess aufgrund der Quellenlage nicht lückenlos rekonstruieren.
Im ehemaligen Parteiarchiv in Kazan’ (CGA IPD RT) haben die Archivarinnen auf Kopien in einigen Fällen Namen geschwärzt.31 Die Brežnev-Ära
war die Rekrutierungszeit der heutigen Elite, die nun allmählich von der nachfolgenden Generation abgelöst wird. Viele der in den Dokumenten erwähnten
Personen leben noch und möchten ihre Geschichte lieber selber schreiben. Der
Quellenbestand zu KamAZ und Naberežnye Čelny, der im CGA IPD RT lagert, ist äußerst umfangreich. Allein der Bestand des städtischen Parteikomitees
(fond 7403, opis’ 1) umfasst für die hier untersuchte Zeit über 600 zum Teil
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I. Einleitung: Geschichte als Baustelle
für dieses Buch zur Verfügung gestellt hat.33 Ein Teil meines Materials stammt
aus Kaneevs Privatarchiv. Von 1980 bis 1985 war Kaneev Parteisekretär von
KamAZremstroj gewesen, einer für Bauarbeiten zuständigen Unterabteilung
von KamAZ.34 Als er diesen Posten verließ, nahm er viel Papier mit nach Hause, das sich in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung bis unter die Decke stapelt.
Diese Akten, die auch die 1970er Jahre dokumentieren, sind äußerst aufschlussreich. Von höchstem Wert für die Arbeit sind die persönlichen Dokumente, die
mir Kaneev zur Einsicht überlassen hat.
Bei KAMAZ selbst empfing mich der Pressesprecher. Es folgte ein Rundgang durch die Fabriken. Danach wurde ich an die Bibliothek verwiesen.
KAMAZ hat eine eigene Bibliothek. Hier findet sich vieles, hervorragend
Katalogisiertes und in manchen Nebenräumen auch Unpubliziertes. Das ist
genug, wie man bei KAMAZ befindet. Das Firmenarchiv ist grundsätzlich
zugänglich, der Zutritt wird jedoch durch bürokratische Auflagen unmöglich
gemacht. 2002 erhielt der Generaldirektor von KAMAZ einen Brief von der
Akademie der Wissenschaften der Republik Tatarstan mit der Aufforderung,
die Forschungssituation zu verbessern: »Aus der Erfahrung der letzten Jahre
wissen wir, dass es nicht leicht ist, mit KAMAZ in dieser Frage zusammenzuarbeiten.«35 KAMAZ zeigt sich wenig beeindruckt. Allerdings hat es Kaneev
dank seiner Hartnäckigkeit und seiner guten Beziehungen zu KAMAZ geschafft, Dokumente aus dem Firmenarchiv einzusehen.
In der tatarischen Abteilung der städtischen Bibliothek herrscht ein anderer
Wind als in der KAMAZ-Bibliothek. Ȇberall schreien sie immer noch
›KamAZ! Hurrah!‹«, sagt die Bibliothekarin und schafft Texte herbei, die eine
andere Sprache sprechen. Hier sind die kulturellen und sozialen Folgen des
Großprojekts für die tatarische Bevölkerung das zentrale Anliegen.
Der Städtebau der 1970er Jahre wirkte sich unmittelbar auf meine Arbeitsbedingungen in Naberežnye Čelny aus. Die für zwei Millionen Bücher geplante städtische Bibliothek im Zentrum der Stadt wurde nie gebaut. Die tatarische
Abteilung der städtischen Bibliothek war bei meinem ersten Besuch in einer
Drei-Zimmer-Wohnung untergebracht. Material, das älter als zwanzig Jahre
war, wurde aus Platzgründen weggeworfen. Die Abteilung ist inzwischen in
das Kulturhaus »Evrika« umgezogen, wodurch sich die räumlichen Gegebenheiten etwas verbessert haben. Die KAMAZ-Bibliothek befindet sich in einem
Gebäude, das als Wohnheim, Cafeteria und Wäscherei konzipiert worden war.
Infolge des Platzmangels sowie der zum Teil chaotischen Verhältnisse während
der Aufbauzeit ist manches, was in den 1970er Jahren über das Großprojekt
publiziert wurde, in Naberežnye Čelny selbst nicht zu finden, während es in
deutschen Bibliotheken vorhanden ist.
Für die vorliegende Arbeit von Interesse wären die Akten, die im Archiv des
Architektenverbandes von Naberežnye Čelny lagern. Der leitende Architekt
der Stadt Iskander Kuramšin verwehrte mir den Zugang mit sicherheitspolitischen Argumenten. Der 1972 verabschiedete Generalplan für Naberežnye
Čelny bleibt unter Verschluss. Die Angst vor Anschlägen ist in einer Stadt, in
der kleine Gruppen tatarischer Nationalisten mit radikalen Forderungen auftreten, nicht unbegründet. Sicherlich gibt es aber auch andere Gründe, so etwa
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2. Die Quellen
21
ökologische, für die Geheimhaltung. Eine Akte aus dem Archiv des Architektenverbandes hat man mir in Kopie übergeben. Auch ohne Zutritt zu diesem
Archiv kann sich die Arbeit für den Bereich Stadtplanung und Architektur auf
eine Fülle an Material stützen, wurde doch in den Fachzeitschriften der
Brežnev-Ära viel über die Musterstadt geschrieben und die Umsetzung der
Pläne auf den lokalen Parteisitzungen diskutiert.
Nicht alle waren erfreut über meine Besuche in Naberežnye Čelny. Bei einem Einbruch in meiner Wohnung in Naberežnye Čelny wurden Fotoapparat,
Diktaphon und Tonbandkassetten gestohlen. Sonst wurde nichts entwendet.
Einige Wochen später nahm mir ein Polizist bei einem Hausbesuch den Pass
ab, den ich mir beim FSB wiederholen durfte. Zuvor jedoch wollte sich ein
gut aussehender, äußerst freundlicher junger Mann, der sich über meine Unfreundlichkeit beklagte, mit mir unterhalten. Ich verließ den Raum nach einer
Stunde in der Überzeugung, dass das FSB-Personal gut geschult ist. Der junge Mann beherrschte eine Sprache, die keiner Verbote bedurfte. Doch ich
hatte verstanden, mit welchen Themen ich mich nicht beschäftigen sollte,
wenn ich keine Schwierigkeiten bekommen wollte. Die sensiblen Bereiche
sind die Wirtschaft – vor allem für die Transformationszeit, die ja nicht zum
Untersuchungszeitraum gehört – sowie die Nationalitätenproblematik. Die
Einladung des FSB erhöhte mein symbolisches Kapital allerdings gerade bei
jenen Personen, mit denen ich mich nicht treffen sollte. Der FSB wiederum
hatte seine Mittel, um mich an unser Gespräch zu erinnern und ließ mich bei
meiner erneuten Einreise am Flughafen mehrere Stunden außerhalb der Reihe
warten.
Die Relevanz zeithistorischer Themen für die aktuelle politische Situation
behindert einerseits die Forschungsarbeit, andererseits liegt in der zeitlichen
Nähe auch der besondere Reiz des Gegenstandes. Viele der am Großprojekt
Beteiligten leben noch und waren gerne bereit zu erzählen.
Für die Interviews wurden Erzähler gewählt, die in den 1970er Jahren in
unterschiedliche Kontexte eingebunden waren. Unter den Zeitzeugen sind
Menschen, die aus verschiedenen Regionen der Sowjetunion zugewandert
sind, sowie ein Zeitzeuge, der bereits vor dem Großprojekt auf dem Gebiet
des heutigen Naberežnye Čelny gelebt hat. Vertreten sind Zuwanderer vom
Land und aus Städten, Fachkräfte für Maschinen- oder Städtebau und Erzähler mit geringer Schulbildung, Akteure verschiedener »Nationalität« (Tataren,
Russen und Ukrainer), Männer und Frauen, Zuwanderer, die geblieben sind,
und zwei Zeitzeugen, die wieder gegangen sind, »kleine« Männer und Frauen
sowie Menschen, die im Zuge des Großprojekts zur lokalen Elite aufgestiegen
sind. Die Interviews sind anonymisiert. Tatarische Namen wurden durch tatarische Namen ersetzt und russische durch russische. Nicht anonymisiert
sind die Interviews mit den oben erwähnten »kraevedy« Dubrovskij und
Kaneev sowie mit dem Bauingenieur und Architekten Marat Bibišev und dem
Dichter Nikolaj Aleškov, die zu den wortstarken Akteuren in der öffentlichen
Diskussion um das Großprojekt zählen. Bibišev und Aleškov sind für den
Forschungsgegenstand von zentraler Bedeutung und seien hier kurz vorgestellt.
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24
I. Einleitung: Geschichte als Baustelle
Großprojekt nicht zum Schwerpunkt seiner Arbeit gemacht. Aleškov hat eine
Vielzahl von Gedichten veröffentlicht, ist heute Vorsitzender der Tatarstanischen Abteilung des russischen Schriftstellerverbandes und leitet einen Verlag
in Naberežnye Čelny.39
Die Erzählungen der Zeitzeugen bieten individuelle Handlungsmotive, Erfahrungen, Wünsche und Deutungen von Wirklichkeit, die, verknüpft mit
anderen Quellen, Aussagen über ihren Alltag erlauben. Der Mehrwert von
Interviews zeigt sich in dieser Arbeit immer wieder: Welche Gründe bewegten
die Menschen, ihr Glück in Naberežnye Čelny zu versuchen? Wie lebten die
Menschen in den zahlreichen Übergangsunterkünften, die an den Rändern der
Bauzone entstanden? Wie nahmen die ehemaligen Bauern, die aus ihren Holzhäusern in hohe Plattenbauten zogen, die neue Stadt wahr?
Oral History hat im Zuge des linguistic turn, der die Zeiten der »subjektiven« und »objektiven« Quellen für vollends passé erklärt, zwar eine starke
Aufwertung erfahren, dennoch bleibt Erinnern natürlich eine problematische
Angelegenheit. Die Ereignisse, von denen meine Zeitzeugen erzählen, liegen
30 bis 35 Jahre zurück. Die Forschung hat vielfach darauf hingewiesen, dass
Erlebtes durch neue Erfahrungen ständig uminterpretiert und den sich verändernden Selbstbildern angepasst wird. In dem Bestreben um Vollständigkeit werden Lücken durch Erzählungen anderer, Bilder und Lektüre geschlossen und als eigene Erinnerung abgespeichert. Dabei scheint unser
Gehirn Ereignisse, die für unser Leben von besonderer Bedeutung sind, zuverlässiger abzuspeichern als sich wiederholende Ereignisse – ein für Alltagshistoriker frustrierender Befund, interessieren sie sich doch gerade für das
Unspektakuläre.40
Auch die Kommunikationssituation, in der ein Interview stattfindet, ist zu
beachten. Anke Stephan hat darauf hingewiesen, dass Zeitzeugengespräche
wohl die einzigen historischen Quellen sind, die erst durch das Interesse der
Forschenden produziert werden.41 Wie der Erzählende dieses Interesse wahrnimmt, ist also von Bedeutung. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang, dass ich
alle Interviews in russischer Sprache durchgeführt habe. Bei manchen Zeitzeugen haben einige einleitende tatarische Worte die Türen geöffnet. Tatarische
Zeitzeugen, die in den 1970er Jahren aus den Dörfern zugewandert sind und
über keine Hochschulbildung verfügen, bewegen sich in Naberežnye Čelny oft
in einem tatarischsprachigen Umfeld. Ihr Russisch ist unvollständig und nicht
selten eine Mischung aus russischem Vokabular und tatarischer Grammatik
(z. B. školnik-lar). Sie erzählen in einer Sprache, die sie nicht als ihre eigene
wahrnehmen. Bei einem Interview ist auch zu berücksichtigen, mit welchen
narrativen Traditionen die Erzähler vertraut sind, was insbesondere im Fall der
tatarischsprachigen Landbevölkerung einer eigenen Studie bedürfte.
Für meine Zeitzeugen ist zudem relevant, dass die meisten in der Zeit, über
die sie erzählen, jung waren. Fast alle waren zwischen zwanzig und dreißig
Jahre alt, für viele ging es beruflich vorwärts, viele heirateten und bekamen
Kinder. Gerade diese Jahre, nach der schwierigen Pubertät und vor der noch
schwierigeren Midlife-Crisis, werden von den meisten Menschen, mit oder
ohne Brežnev, positiv erinnert.
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3. Der Forschungsstand
25
Die Zeitzeugen sind trotz dieser methodischen Schwierigkeiten Zeugen,
wenn auch immer zu fragen bleibt, für welche Zeit. Anke Stephan hat in ihrer
Pionierarbeit zu den Dissidentinnen der 1960er bis 1980er Jahre versucht,
anhand narrativer und diskursiver Muster verschiedene Erinnerungsschichten,
die in einem Interview verarbeitet werden, zu entschlüsseln.42 Manche Erzählungen über Naberežnye Čelny sind deutlich von den Deutungsmustern der
Perestrojka überformt (»Ich bin in den Jahren der tiefsten Stagnation nach
Naberežnye Čelny gegangen«). Feststellen lässt sich auch, dass ehemalige Arbeiter, die wenig schreiben und lesen, weniger fremde Texte in ihre Erzählungen einbauen als etwa Vertreter der Eliten, die nicht selten bestrebt sind, ihre
Sicht auf die Dinge als die allgemeingültige darzustellen und ihre Erinnerungen
durch Importe abzusichern. Ob die Erinnerungen der ersteren deshalb authentischer sind, bleibt allerdings dahingestellt.
Auch die gebaute Stadt, wie wir sie heute sehen, ist Zeugin verschiedener
Zeiten. Bei ihrer Nutzung als Quelle stellen sich zum Teil ähnliche Fragen wie
bei der Arbeit mit Zeitzeugen. Welche Schichten sind welcher Zeit zuzuordnen? Die Stadt wurde in ihrer Grundstruktur in der Brežnev-Ära gebaut, danach aber modifiziert. Die Reichen haben sich auf den wenigen freien Flächen
ihre Einfamilienhäuser gebaut und sind aus den Plattenbauten ausgezogen,
Kaufhäuser, Moscheen und Kirchen sind entstanden, Agitationskunst wurde
durch Produktwerbung ersetzt, der Privatverkehr hat zugenommen. Dennoch
ist die gebaute Stadt eine ergiebige Quelle. Bei einem Gang durch Naberežnye
Čelny wird sichtbar, was entgegen der Pläne von der alten Stadt und den Dörfern nicht abgerissen wurde. Das lineare Siedlungsschema, das für die neue
Stadt gewählt wurde, ist unverändert. Öffentliche Verkehrsmittel ermöglichen
so in Kombination mit Akten eine Reise in die 1970er Jahre. Die heutigen
Erfahrungen bei der Erschließung des Raums lassen sich selbstverständlich
nicht auf die Menschen der 1970er Jahre übertragen, sind jedoch durchaus
hilfreich, um Fragen zu entwickeln. Wie funktioniert eine lineare Stadt? Was
wurde in den 1970er Jahren als »nationale«, was als »internationale Architektur« definiert? Heutige Betrachter können sich diese Überrestquellen anschauen, die Deutung der architektonischen Zeichen hat sich jedoch mit dem Zusammenbruch des institutionellen und ideellen Rahmens, der Naberežnye
Čelny hervorgebracht hat, stark verändert.
3. DER FORSCHUNGSSTAND
Die westliche historische Forschung hat KamAZ und Naberežnye Čelny bislang nicht zur Kenntnis genommen. In den Gesamtdarstellungen zur sowjetischen Geschichte findet das Projekt keine Erwähnung.43
Aus anderen Disziplinen liegen einige wenige Befunde westlicher Wissenschaftler vor. 1978 reichte der Wirtschaftswissenschaftler George Donald Hol-
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I. Einleitung: Geschichte als Baustelle
liday eine Doktorarbeit zum Transfer westlicher Automobiltechnologie in die
Sowjetunion ein, die auch KamAZ berücksichtigt. Die Materialgrundlage für
die sowjetische Seite ist aufgrund der Arbeitsbedingungen der 1970er Jahre
dürftig, die Studie liefert jedoch Erkenntnisse über die westlichen Kooperationspartner.44 Simon Nicolas untersuchte 1984 das Management bei KamAZ
und kam zu dem Ergebnis, dass sich die Organisationsstruktur in einigen
Teilen am amerikanischen Modell orientiere und KamAZ hier innerhalb der
Sowjetunion eine Vorreiterrolle übernehme.45 Danach hat Naberežnye Čelny
erst wieder in der Transformation das Interesse westlicher Wissenschaftler auf
sich gezogen. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte die Nationalismusforschung ihre Hochkonjunktur. In den 1990er Jahren geriet Naberežnye
Čelny als Hochburg des tatarischen Nationalismus in die Schlagzeilen und in
den Blick amerikanischer Politologen.46 Der Philosoph Dariusz Aleksandrowicz hat sich in einem Aufsatz mit den Veränderungen des städtischen Raums
in der Transformation beschäftigt.47
In Russland selbst sieht die Lage etwas anders aus. Soziologen haben sowohl
in sowjetischer wie auch in postsowjetischer Zeit Untersuchungen in
Naberežnye Čelny durchgeführt, einige davon bei KamAZ/KAMAZ. Sie liefern demographische Angaben über die Zuwanderer sowie Befunde über die
Migrationsmotive und den Lebensstandard der Bevölkerung. Die Migrationsforschung und die Betriebssoziologie wurden unter Brežnev stark gefördert.
In einer Zeit, in der die Arbeitskräfte nicht mehr dorthin deportiert werden
konnten, wo sie gebraucht wurden, erhoffte man sich von den soziologischen
Untersuchungen Erkenntnisse, die der Lenkung der Arbeitskräfte dienten. Ein
Schwerpunkt neuerer soziologischer Arbeiten sind die interethnischen Beziehungen in Naberežnye Čelny.48
Die bereits erwähnte Gesellschaft für Regionalkunde »Nižnjaja Kama« hat
eine Serie von Sammelbänden mit Quellen und Aufsätzen zu dem Großprojekt
herausgegeben.49 Die Publikationen des ehemaligen Vorsitzenden Anatolij Dubrovskij bieten eine detaillierte Chronologie der Ereignisse und ordnen das
Großprojekt in die wirtschaftlichen Zusammenhänge der Region ein.50 Die
»kraevedy« (Regionalkundler) haben Zugriff auf ein großes lokales Wissen.51
Selbstverständlich ist zu berücksichtigen, dass sie als Zeitzeugen Teil ihres eigenen Forschungsgegenstandes sind und sich bei der Interpretation ihrer Texte die Grenzen zwischen wissenschaftlicher Literatur und Quellen verwischen.
Die »kraevedy« sind zu den KAMAZ-nahen Autoren zu zählen. Sie betonen
jedoch zugleich die Bedeutung von Geschichte, die für sie nicht erst mit
KamAZ beginnt, und vertreten ökologische Interessen, was zu Konflikten mit
dem Industriegiganten führt. Sie schreiben die Geschichte von KamAZ als
Erfolgsgeschichte und machen zugleich die Welt, die durch das Großprojekt
zerstört wurde, zu ihrem Thema.
Besondere Anerkennung verdient die Arbeit der Kunsthistorikerin Rausa
Sultanova über die Kunst der 1960er bis 1990er Jahre in den Industriestädten
Tatarstans. Sultanova beschreibt Industrialisierung als produktiv für die Kunst.
Sie zeigt die Entstehung innovativer Kunstszenen in den neuen Städten auf und
versteht das künstlerische Werk als Ausdruck der radikalen Veränderungen,
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3. Der Forschungsstand
27
die die Industrialisierung mit sich brachte. Damit setzt Sultanova einen Kontrapunkt zu dem in Kazan’, dem Ort der intellektuellen und künstlerischen
Elite Tatarstans, vorherrschenden Bild über die »kulturlose« Arbeiterstadt
Naberežnye Čelny (gorod bez kul’tury), die als unfähig erachtet wird, »geistiges Leben« hervorzubringen.52
Die vorliegende Arbeit schließt an die jüngeren internationalen Debatten um
den Ort der Brežnev-Ära in der sowjetischen Geschichte an, die seit den unlängst erschienen Studien von Lewis Siegelbaum zu Tol’jatti und von Johannes
Grützmacher zur Bajkal-Amur-Magistralen auch am Beispiel der Großprojekte geführt wird.53 Tol’jatti war neben Naberežnye Čelny diejenige sowjetische
Stadt, die in den 1970er Jahren den stärksten Bevölkerungszuwachs zu verzeichnen hatte.54 Hier wurde ab 1971 der Žiguli, für den Export Lada, produziert. Mit dem Žiguli gingen Personenwagen in der Sowjetunion in Massenproduktion, die Grundlagen für eine Motorisierung breiter Schichten der
Bevölkerung wurden geschaffen. Tol’jatti mit dem Autowerk VAZ (Vol’žskij
Avtomobil’nyj Zavod – Wolga Automobilwerke) war das letzte große Projekt
der Automobilindustrie vor KamAZ und diente den Planern in vielerlei Hinsicht als Vorbild. Beide Städte wurden unter der Leitung des Architekten Boris
Rubanenko in Moskau in Verbindung mit einem Stauseebau entworfen. Die
Fläche des ehemaligen Stavropol’ an der Wolga, 1964 nach dem italienischen
Kommunisten Palmiro Togliatti benannt, wurde mit dem Bau des Stausees von
Kujbyšev geflutet. Beide Projekte mobilisierten mit dem Versprechen eines
»modernen Lebens«, mit Konsum und Karriere, Hunderttausende und markierten neue Dimensionen auf dem Feld internationaler Wirtschafskooperationen. Siegelbaum hat Naberežnye Čelny und Tol’jatti zu Recht als »Cousins«
bezeichnet, wobei die beiden Projekte etwa aufgrund der Lage Naberežnye
Čelnys in Tatarstan auch zentrale Unterschiede aufweisen.55
Seit die Forschung die osteuropäischen Länder nicht mehr nur unter dem
Vorzeichen der Mangelwirtschaft, sondern auch der Konsumgesellschaften
untersucht und sie in eine gesamteuropäische Geschichte integriert, hat sie das
osteuropäische Auto entdeckt. Im Zuge dieses Trends gerieten auch der »sowjetische Fiat« und Tol’jatti unter verschiedenen Fragestellungen wie Produktion, Technologietransfer, Mobilitätskonzepte, Verteilung, Herrschaftslegitimierung, Alltag etc. in den Fokus einiger weiterer Autoren.56 Naberežnye
Čelny mit seinen Lastwagen blieb von dieser Entwicklung unberührt.
Mit der Bajkal-Amur-Magistralen (BAM) wurde 1974 ein Eisenbahnprojekt
wieder aufgegriffen, an dem in den 1930er Jahren bereits GULag-Häftlinge
gebaut hatten. Die BAM ist dank der Arbeiten von Johannes Grützmacher und
Christopher Ward das bislang am besten erforschte Großprojekt der BrežnevÄra.57 Sie beinhaltete auch ein städtebauliches Konzept, das jedoch im Unterschied zu Naberežnye Čelny weitgehend scheiterte, was den Verlauf der beiden
Projekte maßgeblich bestimmte.
Gerade die Forschung zu den sowjetischen Großprojekten kann überzeugend belegen, dass die Periodisierung der sowjetischen Geschichte entlang der
Amtszeiten der General- bzw. Ersten Parteisekretäre bisweilen wenig Sinn
macht. Interessant sind insbesondere jene Werke, wie etwa die Technik- und
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I. Einleitung: Geschichte als Baustelle
Umweltgeschichte von Klaus Gestwa zu den wasserbaulichen Großprojekten
oder die Geschichte Vorkutas von Alan Barenberg, die diese zeitlichen Grenzen durchbrechen.58 Strukturelle und auch kulturelle Kontinuitäten verweisen
Naberežnye Čelny auf die Industrialisierung der 1930er Jahre und erfordern
eine Auseinandersetzung mit der Stalinismus-Forschung,59 während etwa die
räumliche und visuelle Umsetzung der städtebaulichen Großprojekte einem
komplexen, epochenübergreifenden Wandel unterzogen war, zu deren Erforschung Monica Rüthers Grundlegendes beigetragen hat.60
Über die Bewertung der Amtszeit Brežnevs wird gestritten, seit dieser
Chruščev entmachtete. Erste Forschungsüberblicke zeigen einige dieser Kontroversen auf.61 An dieser Stelle sei lediglich kurz auf zentrale Begriffe und
Richtungen verwiesen, die unten ausführlicher diskutiert werden.
Brežnev war bestrebt, seine Zeit mit dem Leitmotiv der »wissenschaftlichtechnischen Revolution«, zu der KamAZ einen Beitrag leisten sollte, als Epoche des Wandels in die sowjetische Geschichte einzuschreiben. Gorbačev wiederum belegte die Amtszeit Brežnevs mit dem Begriff der »Stagnation«, um
sich den Weg für seine Reformen zu ebnen.62 Zeitgenössische westliche Beobachter hingegen unterstrichen in den 1970er Jahren mit der Konvergenztheorie,
die von einer zunehmenden Angleichung zwischen Ost und West ausging, die
Bedeutung des Wandels in der Sowjetunion.63 Zeitgleich bescheinigten sowjetische Intellektuelle dieser Zeit eine absolute Sinnleere. Nach den »letzten
Zuckungen« unter Chruščev, so Boris Šragin 1977, sei mit Brežnev »die Geschichte zum Stillstand gekommen«.64 Im Sam- und im Tamizdat sowie in der
Emigration fassten zeitgenössische sowjetische Autoren ihre Überlegungen in
die Begriffe »Stagnation« (zastoj, stagnacija), »Zeitlosigkeit« (bezvremen’e,
veraltet auch mit »schwere Zeiten« zu übersetzen), »Stationarität« (stacionarnost’) und »Trägheit« (inercija),65 die Gorbačev und der westlichen Forschung
seit der Perestrojka als Vorlage dienten. Im Rückblick wiederum erscheint so
manchem ehemaligen Sowjetbürger die Brežnev-Ära, die soziale Sicherheit
und materiellen Wohlstand bot, als »goldenes Zeitalter«.66
Diese unterschiedlichen Zuschreibungen werden seit Beginn des neuen
Jahrtausends hinterfragt. Hatten sich zuvor vor allem Politologen, Literaturwissenschaftler und Soziologen mit der Brežnev-Ära beschäftigt, ist seit einigen Jahren auch eine sehr dynamische historische Forschung zu verzeichnen. Hierbei ist von Belang, dass die Entdeckung der Brežnev-Ära in die Zeit
der methodischen turns fällt (linguistic, spatial, visual etc.). Auch wird sie
stark von jungen Wissenschaftlern untersucht, die sich dieses Instrumentarium besonders gerne aneignen. Generationen- und Methodenwechsel sowie
auch der Zugang zu den Quellen haben zur Folge, dass die aktuelle Forschung
zur Brežnev-Ära einen stark kulturgeschichtlichen Schwerpunkt hat. Konsum, Freizeit, Diversifizierung der Lebensstile, visuelle Kultur und andere
Bereiche des Alltags stehen im Zentrum des Interesses.67 Dabei hat sich die
Forschung zur DDR, in die seit den 1990er Jahren viel Geld fließt, als wichtiger Impulsgeber erwiesen. Eine gelungene Verknüpfung von Planungs- und
Alltagsgeschichte hat Philipp Springer am Beispiel der Industriestadt Schwedt
geschrieben.68
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4. Die Verwendung tatarischer und russischer Namen
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Zu den Trends der neueren Sowjetunionforschung zählt auch die Neuvermessung des Imperiums durch den Blick auf die Regionen69 und einzelne Städte. Ungeachtet der rasanten Urbanisierung in der Sowjetunion steht die Erforschung der Städte, insbesondere der neuen Städte, noch am Anfang.70
Die meisten Forschungsprojekte zur Brežnev-Ära sind noch nicht abgeschlossen oder zeitgleich mit dieser Arbeit entstanden.71 Eine Untersuchung
zu einem Großprojekt der Brežnev-Ära muss für Teilbereiche Grundlagenforschung betreiben, für die eine Arbeit zu einem Großprojekt des Stalinismus
auf fundierte Studien zurückgreifen kann. Manches kann so nicht in der erforderlichen Tiefe untersucht werden, soll aber als Anregung für weiterführende
Forschung dienen.72
4. NABEREŽNYE ČELNY – JAR ČALLY:
DIE VERWENDUNG TATARISCHER UND RUSSISCHER NAMEN
Die Stadt an der Kama, die als Standort für das Lastwagenwerk gewählt wurde,
trägt den poetischen Namen Naberežnye Čelny oder Jar Čally. Der russische
Name bedeutet »am Ufer liegende Kähne« (čeln – Kahn, naberežnye – am Ufer
liegend), der tatarische Name »an einem Abhang gelegenes Ufer« (Jar – Ufer,
čally – Abhang). Welcher Name älter ist, der tatarische oder der russische, ob
es sich bei dem russischen »čeln« um eine Übertragung des türkischen »čally«
handelt, ist Teil der Kontroverse um die Siedlungsgeschichte des Ortes. Dieser
Streit, der unten diskutiert wird, dreht sich um die Frage, wer zuerst da war,
die Tataren oder die Russen.
Aus Gründen der Lesbarkeit wird darauf verzichtet, jeweils den russischen
und den tatarischen Namen der Stadt zu nennen. Die Arbeit übernimmt bei
der Schreibweise von Orts- und Personennamen die Sprache der Quellen, die
für die Brežnev-Ära überwiegend russisch ist. Der Gebrauch des Tatarischen
beschränkte sich in der offiziellen Korrespondenz zumeist auf Stempel und
Briefköpfe und erschöpfte sich in Floskeln wie »Barlyk illärneng proletarijlary,
berläšegez!« – »Proletarier aller Länder vereinigt Euch!«. In Zeitungen und
literarischen Werken fand das Tatarische eine etwas breitere Verwendung.
Auch bei ukrainischen, weißrussischen und anderen Ortsnamen wird die russische Schreibweise gewählt (Dnepropetrovsk und nicht Dnipropetrovs’k).
Die Arbeit übernimmt jedoch nicht die Grammatik der Quellen. Naberežnye
Čelny ist ein Plural, wird in dieser Arbeit aber als Singular behandelt.
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