Gedichte - Hrvatsko Društvo Pisaca
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Gedichte - Hrvatsko Društvo Pisaca
TIONS Inhalt 1 Zeitschrift der Kroatischen Schriftstellervereinigung 3-4/2007 Etwas über die subversive Macht der Fantasie und fantasievolle junge Schriftsteller .................................................................................................................................. 3 Herausgeber Kroatische Schriftstellervereinigung DOSSIER: VESNA PARUN RELA RELATIONS Literarisches Magazin Redaktion ¹ Chefredakteurº Roman Simi} Bodro`i} ¹ Redakteurinº Jadranka Pintari} Redaktionsadresse Kroatische Schriftstellervereinigung Basari~ekova 24 Tel.: (+385 1) 48 76 463 Fax: (+385 1) 48 70 186 www.hdpisaca.org [email protected] Preis 15 3 Umschlag „Crtaona“, Ivona \ogi} \uri} Prepress Kre{o Tur~inovi} Gedruckt in Kroatien bei „Profil“, Zagreb ISSN 1334-6768 Die Zeitschrift wird vom Ministerium für Kultur der Republik Kroatien und vom städtischen Fond der Stadt Zagreb finanziell unterstützt. Tea Ben~i} Rimay Chronologie: Vesna Parun .............................................................................................................................................................. 5 Karmen Mila~i} Der Vogel und die Zeit in der Gedichtkunst von Vesna Parun ....................................................... 15 Jadranka Pintari} Welche Farbe hat die Unruhe ..................................................................................................................................................... 25 Vesna Parun Eine Nacht für Bosheit ¹Auszüge aus dem Romanº .......................................................................................... 29 Vesna Parun Gedichte .................................................................................................................................................................................................................. 59 Unsere Kindheit ist an allem Schuld ¹59º; Das Haus auf der Straße ¹60º; Die Zeugen ¹60º; Epitaph ¹61º; Der Bruder ¹62º; Gong ¹64º; Lied an die Republik ¹64º; Die Schwester ¹65º; Dreizehn Kummer ¹66º; ¹Fragmente º ¹67º; Baum ¹70º; Altertümliches Lied ¹70º; Schule für Landstreicher ¹71º; Drei Inseln ¹72º; Gedicht für einen alten Piratensegler ¹73º; Das Gesicht im Schatten ¹74º; Flügel der Leere ¹74º; Gedicht in Form eines Gebets ¹75º; Komm, Geliebter ¹75º; Das Kind und die Wiese ¹76º; Ein echtes Gedicht ¹78º; Schlaflied ¹78º; Wenn du in der Nähe wärest ¹77º; Eifersucht ¹80º; Langeweile oder wer weiß, was für ein Tag ¹81º; Musik der Nacht ¹81º; Fenster ¹82º; Die Mutter des Menschen ¹82º; Der Körper und der Frühling ¹83º; Angst ¹83º; Ich war ein Junge ¹84º; Die Mädchen im Mausoleum ¹84º; Das Fenster durch das ich den Mond heimlich beobachte ¹85º; Die Ballade von den betrogenen Blumen ¹86º; Regen ¹89º; Lauter als die Jahrhunderte ¹89º; Wenn das Meer sich fortbewegt ¹90º; Vor dem Meer, wie vor dem Tod, habe ich keine Geheimnisse ¹90º; Pilgerfahrt in den Schlaf ¹91º; Du deren Hände unschuldiger sind ¹92º; Aufgehaltene Schritte ¹94º; Nur eins verstehe ich nicht mehr ¹94º; Der Olivenhain ¹95º; Der Baum ¹96º; Der schlafende Jüngling ¹96º; Unbegreifliche Passanten ¹97º; Die dem Meer zurückgegebene Koralle ¹98º; Wenn ein Vogel aufhört zu lieben ¹99º Nikola Mili}evi} Vesna Parun ...................................................................................................................................................................................................... 101 Tea Ben~i} Rimay Wenn der Mensch aufhört, einen anderen Menschen zu lieben ...................................................... 110 2 Inhalt RELA TIONS ZEITGENÖSSISCHE POESIE UND PROSA Veljko Barbieri Ergreifende Erinnerungen an die dalmatinischen Tafeln ....................................................................................................................................................................... 115 Alida Bremer Der Sommernachtstraum .................................................................................................................................................................................................................................................................. 121 Da{a Drndi} Leicaformat ¹Auszugº ........................................................................................................................................................................................................................................................................... 124 Drago Glamuzina Die Metzger ....................................................................................................................................................................................................................................................................................................... 127 Als hätte sie sie nie geliebt ¹127º; Kraust sich Bra~ ¹128º; Es ist früher Morgen und wir sind uns einig ¹128º; Der Schnee, der eben zu rieseln beginnt ¹129º; Ich hoffe, dass ich dich nie mehr ¹129º; Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden ¹130º; Jeden tag schlägt mir jemand den kopf ab ¹131º; Der alte herr, der sie gevögelt hat ¹131º; Ein nachmittag mit meinem sohn ¹132º; Wie der reiber in der straßenbahn ¹134º; Ausgestreckt ¹134º; Er sagte, sei nicht böse, sie sagte, ich bin nicht böse ¹135º; Zitternde Hirsche ¹135º; Die Höhle der Schwimmer ¹136º; Sie kost mich auf serbisch ¹137º; Ich küsse sie, sie küsst ihn, er küsst mich ¹138º; Josips mama ¹138º; Alles ist genau so wie es sein muss ¹139º; Ich sollte in die küche gehen, ein messer nehmen und diese buchstaben zerschneiden ¹140º; Die Metzger ¹140º \ur|a Kne`evi} Über meine Mama, die Russen, Feuerwehrmänner und andere ¹Auszug aus dem Romanº ....................................................................................................................................................................... 142 Marinko Ko{~ec Diese Handvoll Sand ............................................................................................................................................................................................................................................................................. 147 Boris Peri} Der Vampir ¹Romanauszugº ........................................................................................................................................................................................................................................................ 159 Ante Tomi} Nichts darf uns überraschen ¹Auszugº ............................................................................................................................................................................................................................. 169 Milana Vukovi} Runji} Die Geschichte der M. ¹Auszugº ............................................................................................................................................................................................................................................. 173 DIE WAHL EINES KRITIKERS Jadranka Pintari} Die Wahl eines Kritikers .................................................................................................................................................................................................................................................................... 177 Jadranka Pintari} Ein generationenübergreifendes Trauma der liebe • ¹ ROMAN SIMI]: In was wir uns verliebenº ................................................................. 179 Unsterbliche Augenblicke der Wahrheit und Schönheit • ¹ZVONKO TODOROVSKI: Mandra~ oder die wunderliche Erzählung über Petar Hektorovi}, einen altkroatischen Feudalherren, zusammengestellt aus sieben ungleichen Büchernº ................. 181 Fallen der Vergangenheit, die Charon nicht in sein Boot lässt • ¹ IGOR [TIKS: Der Elias-Stuhl º ................................................................ 184 Das Geheimrezept für Glück • ¹ IVICA PRTENJA^A: Gut ist es, schön ist esº .............................................................................................................................. 187 Ein geistvoller Liebesroman von weicher männlicher Hand • ¹ KRE[IMIR PINTARI]: Liebe ist allesº ....................................................... 191 Die Zwei gegen alle ¹Stereotypenº • ¹ MIMA SIMI] / IVANA ARMANINI: Die Abenteuer der Gloria Scottº ................................................ 193 Ein Stück Heiterkeit in der Melancholie des Südens • ¹ OLJA SAVI^EVI] IVAN^EVI]: Den Hund zum Lachen bringenº ...... 194 Etwas über die subversive Macht der Fantasie und fantasievolle junge Schriftsteller Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber vor ein paar Jahren, zur Zeit eines der besonders blutigen Kriege im Nahen Osten oder im Golf (die historische Genauigkeit ist unwichtig) kreiste eine Geschichte als urbane Legende umher. Ich habe sie wenigstens so im Gedächtnis behalten. Eine Mutter blieb mit ihrem kleinen Kind während eines Bombenangriffs lange in einem dunklen Keller eingeschlossen. Als es nach einiger Zeit nichts zu essen gab, und das Kind bitterlich weinte, zeichnete die Mutter einen Apfel auf ein Blatt Papier und das Kind beruhigte sich. Das ist ein wunderbar furchteinflößendes Beispiel für die subversive und tröstende Macht der Fantasie. Und der Beweis für das Verwandeln von Leere in Leben. Vielleicht auch in ein Absurdum des Lebens, wie auch immer, aber trotzdem ist es dem Nichts entgegengesetzt (das seiner Definition nach immer ohne Fantasie ist). Und das ist der Stoff aus dem Poesie entsteht. In der Hierarchie der Kunst ist die Poesie die Erste, Ursprüngliche und Authentische – ebenso wie gerade die Fantasie auf der Leiter der Eigenschaften, die die menschliche Spezies von allen Lebewesen unseres Planeten unterscheiden, das distiktive Merkmal ist, weswegen wir uns ei- nen übergeordneten Status zugesprochen haben. Nur Menschen können sich etwas einbilden, was nicht da ist, was sein kann, was nicht war. Sowohl Fantasie als auch Poesie lehren uns, dass das spezifische Gewicht eines Wortes von seinem Kontext abhängt, dass man zusammenfassend denken soll, dass man auslassen soll, was sich von selbst versteht, dass es aufregend ist, sich auf den gefährlichen Stromschnellen der erhabenen Ideen zu bewegen, dass sich das Risiko doch nicht immer auszahlt, dass man manchmal alleine auf einem blattlosen Ast singen muss. Ich will daran glauben, dass die Literatur – diese schwerkalibrige semantische Kunst – mit ihren Ausdrucksmitteln – den Worten – (noch) das Bewusstsein und seine Bewegungsrichtung ändern, die Fantasie wecken kann. Ja, ja – ich weiß, wie alt das schon ist, aber es ist immer aufs Neue wundersam zu sehen, wie die Seele sich ans Wort schmiegt, wie die Fantasie ein Wesen modelliert und sich in den Verstand prägt. Es ist immer gleich wundersam, ebenso wie die Geburt jedes neuen Lebens. Deshalb hat die heutige Welt des tyrannischen wortwörtlichen digitalen, vulgär realistischen und totalitären Bildes all das zu Kitsch erklärt – um nicht nur den Zauber des einzelnen Erlebnisses jedes universellen Phänomens sondern auch die wahre umwälzerische Macht der Fantasie unmöglich zu machen. Wegen des utilitären Zwecks und der allgemeinen erzwungenen Gewinnmacherei aus geistigen Gütern kann es nämlich grundsätzlich jene nicht mehr geben, die frei und ungebärdig träumen, die so sind, wie es Brodski so wundervoll über Dichter sagte, gleich „einem Vogel, der zwitschert, gleichgültig auf welchem Ast er sitzt, in der Hoffnung, dass es Zuhörer gibt, seien es auch nur Blätter.“ Im Mittelpunkt dieser Ausgabe unserer Zeitschrift steht deshalb so eine Dichterin – Vesna Parun, eine der größten dichterischen Stimmen der modernen kroatischen Literatur. In der Fortsetzung bringen wir Ihnen Auszüge aus der rezenten Produktion dreier schon affirmierter Autoren und am Ende finden Sie eine Reihe von Buchkritiken über jüngere Schriftsteller, die, außer einem verkörperten Zeitgeist, auch viel eigenständige Fantasie beweisen. In dieser Ausgabe stellen wir Ihnen den Fotografen Jakob Goldstein vor, der beim Festival der Kurzgeschichte europäische Schriftsteller ablichtet. Redaktion Aus dem Kroatischen von Marijana Mili~evi} 4 Chronologie Vesna Parun RELA TIONS RELA TIONS Dossier: Vesna Parun 5 Chronologie: Vesna Parun Tea Ben~i} Rimay 1922 Vesna Parun wird am 10. April auf der Insel Zlarin nahe bei [ibenik geboren, wo ihr Vater als Gemeindebeamter beschäftigt ist, oft aber versetzt wird oder auch arbeitslos ist, weshalb es die Familie mit ihren vier Kindern nicht leicht hat. Aus diesem Grund verbringt Vesna Parun einen Großteil ihrer Kindheit und Jugend bei ihrer Tante und ihrem Onkel in Split, in Biograd na Moru und in [ibenik. Ihr Vater Ante stammt von der Insel Prvi}, ihre Mutter von der Insel [olta. Vesna Parun in [ibenik im Alter von zwei Jahren 1932 Sehr früh schon beginnt sie zu schreiben. Ihr erstes Gedicht Pramalje (Der Lenz), geschrieben auf der Insel Vis, wo sie die Grundschule besucht, veröffentlicht sie im Alter von zehn Jahren (1932) in dem Blättchen Der Schutzengel. 1938 Das Gedicht Zov (Der Ruf) veröffentlicht sie 1938 in der Zeitschrift Sjeme (Der Samen), die von einem Jungengymnasium herausgegeben wird, und deren Redakteure Jure Vesna Parun als Elfjährige Ka{telan und @ivko Jeli} sind. In diesem Gedicht erkennt man schon den Leitgedanken von Vesna Paruns Poesie: einen Lobgesang auf das Leben, auf Arbeit und Mut. 1940 Das Gymnasium besucht sie in [ibenik und Split, wo sie ihr Abitur besteht. Sie ist eine ausgezeichnete Schülerin und schon mit 13 Jahren gibt sie Nachhilfestunden und verdient sich so ihren Lebensunterhalt. Im Herbst 1940 wird sie in die Philosophische Fakultät in Zagreb aufgenommen und studiert Romanistik. Dann bricht der Krieg aus, sie flieht nach Split und kehrt 1942 nach Zagreb zu ihrer Familie zurück, wo ihr Vater damals in Sesvete, einem Vorort Zagrebs, in der Gemeinde beschäftigt ist. Ihr Bruder geht zu den Partisanen und fällt bald darauf. Zu jener Zeit ist Vesna Parun oft krank. 1947 Sie veröffentlicht den Gedichtband Zore i vihori (Morgenrot und Wirbelsturm), der einen bedeutenden Wendepunkt in der kroatischen Poesie darstellt. Es handelt sich hier um träumerische Gedichte voller Bilder, Symbole, Ahnungen. Einerseits begeistert sie das Leben, andererseits lässt die Ruhelosigkeit des Krieges und der Nachkriegszeit sie eine neue 6 RELA Chronologie TIONS Vater Ante im Jahr 1913 Antica Mateljan, die Mutter von V. Parun vor ihrer Heirat V. Paruns Bruder Miro als Sechsjähriger Zeit der Begrenzungen und der Unfreiheit erafhnen. So stellt ihre erste Gedichtsammlung Zore i vihori den Beginn der modernen Poesie dar. Noch wichtiger zu erwähnen aber ist, dass sich nach einer sozialistischrealistischen Literatur endlich eine andere, persönlichere Art des Dichtens zu entwickeln beginnt. Vesna Parun zeigt schon mit diesem ersten Gedichtband eine Welt besonderer Empfindsamkeit, voller Güte und Verzeihen, Liebe und Opfer. Das Wort „Morgenrot“ wird später in Vesna Paruns Poesie sogar die düstersten Augenblicke und die schlimmsten Stürme, die in ihr Leben hereinbrechen, erhellen. In ihren ersten Gedichten finden wir natürliche und unschuldige Ehrlichkeit, Gedichte vom Körper und Frühling, von der Jungfräulichkeit und dem üppigen September (Titel der Gedichte), die in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts völlig verrückt geklungen haben müssen in der noch konservativen kroatischen Poesie und Kritik. Eins der bedeutendsten Gedichte der Sammlung ist das anthologische Gedicht Mati ~ovjekova (Die Mutter des Menschen). Man erlebt es zuerst als eigene Erfahrung des Daseins, das in einem bestimmten Augenblick so unerträglich wird, dass man dem entsagt, der uns erschuf. Die Gestalt der Frau als Mutter wird bildhaft in animalische (Bär, Schlange) oder sogar unbewegliche, zum Gegenstand gewordene Surrogate (Stein) verwandelt. Das Schockante des letzten Verses der ersten Strophe: Es wäre besser, dass mich ein wildes Tier mit dem Euter gesäugt, als eine Frau wird in der zweiten Strophe vollkommen gemildert, da die ganze Strophe auf Vogelflügeln in die Höhe fliegen und uns mit dem archetypischen Bild des Baums, der duftenden und blühenden Linde (der Baum der Kindheit!) beruhigen wird. Der freimütige Ausruf des ersten Verses am Anfang des Gedichts scheint aus dem Mund eines zürnenden Mädchens am Bach zu stammen – wie ein geflügeltes Wort oder sogar ein Fluch: Besser, du hättest den schwarzen Winter geboren, o Mutter. Dies ist ein Zivilisationsgedicht, das in seiner hilflosen Schönheit Boden und Höhe, Weltlichkeit und Heiligkeit des menschlichen Wesens entzweibricht. Dieses Gedicht lernten viele Menschen auswendig, denn es befindet sich im Lesebuch der Schulen. Es besitzt – entwickelt innerhalb einer pyramidalen Konstruktion – die Kanons eines befestigten und stabilen Bodens, einer Höhle; durch die Steigerung der Auswahl von Lexe- Petar Kati}, der Onkel von V. Parun, der sie aufgezogen hat und zu dem sie zeitlebens ein besonderes Verhältnis hatte RELA TIONS Faksimile des Gedichts Die Mutter des Menschen men, die eigentlich antithetische Pole des Gedichts sind, steigt es in die Höhe bis zum Vogel – von der Schlange im Nest bis zum Lamm, dem sanften Jungen, von Wind und Kälte zum wärmenden Flügel, zu Zärtlichkeit und Tränen. So erschafft die Dichterin ein wunderbares, wirkliches Gedicht, aus dem schon seit langer Zeit die Botschaft des letzten Verses widerhallt: Es ist bitter ein Mensch zu sein, wenn Messer und Mensch sich verbrüdern. Nach Kriegsende setzt Vesna Parun ihr Studium an der Philosophischen Fakultät fort, studiert aber jetzt reine Philosophie. 1947 hilft sie beim Bau der Eisenbahnstrecke [amac – Sarajevo, erkrankt an Typhus, und erlebt gleichzeitig die Krise einer unglücklichen Liebe, die 1938 begonnen hatte. Aus all diesen Gründen hatte sie ihr Studium unterbrochen. 1948 Nachdem die Kritik ihre erste Gedichtsammlung verrissen hat, veröffentlicht die Dichterin ein Buch, das 120 Gedichte mit je vier Strophen enthält, und zeigte damit, dass sie auch ganz anders schreiben kann, ruhig, monoton, mit gleichmäßigen Reimen. Sie nennt es einfach Pjesme (Gedichte), aber schon sehr bald kehrt sie zu ihrer authentischen Schreibweise zurück. Dossier: Vesna Parun 1955 Es erscheint der Sammelband Crna maslina (Der schwarze Olivenbaum), von dem viele behaupten, es sei der vollständigste und beste Gedichtband der damaligen kroatischen Poesie. Crna maslina ist ein Buch der Liebeslieder, ein wenig von der Bibel inspiriert, in dem sich die mystische Liebe nach vielen Richtungen hin erstreckt (die Liebe der Frau, der Mutter, zwischenmenschliche Kommunikation usw.). Hier treffen wir auf Gegensätze, wie Wachen und Träumen, Stille und Leidenschaftlichkeit, Möglichkeit und Unmöglichkeit, Imagination und Kreation. In Vesna Paruns Poesie finden wir Unschuld und kindliche Begeisterung, ganz besonders aber flammende Sinnlichkeit, unbändige Wildheit in Sprache und Thematik, was eigentlich die besten Eigenschaften ihrer Gedichte sind. Später wird die Dichterin ehrlich verwundert sein über das Böse und den Chaos in der Welt, den die Menschen verursachen, denn sie glaubte, allein die Liebe setze die Welt in Bewegung. In der Gedichtsammlung Crna maslina befindet sich das anthologische Gedicht Ti koja ima{ nevinije ruke (Du deren Hände unschuldiger sind). Völlig ergeben, sich der Gewalt der Emo- 7 tionen überlassend, bietet sie der Welt den Ursprung der Unverfälschtheit und erwartet mit kindlicher Naivität, dass ihr eine solche Liebe auf die gleiche Weise zurückgegeben wird. So erwacht ihre spätere Poesie aus einem kindlichen Traum. Bald schon wird sie von dem erahnten Wirbelsturm erfasst, nicht nur vom Krieg und der Nachkriegszeit, sondern auch vom Krieg in der menschlichen Seele (Das Übel der Liebe; Der Schmerz, ein Mensch zu sein), die unfähig ist, die Ursprünglichkeit fremder und eigener Empfindsamkeit anzunehmen und die Schönheit und Kraft einer reinen Seele, die sich im Schmutz der Welt befindet, zu erkennen. 1957 – 1959 Wie Vesna Parun in Zore i Vihori schon eine lebhafte Herde von Worten zur Quelle im hellen Tal treibt, so zeigt sie in Crna maslina und zwei Jahre später in den Gedichtbänden Vidrama vjerna (Den Fischottern treu) und Ropstvo (Sklaverei) (1957) und besonders in den Gedichtsammlungen Pusti da otpo~inem (Lass mich ausruhen) (1958), Ti i nikad (Du und nie) und Koralj vra}en 8 RELA Chronologie TIONS 1968 – 1976 Fabel, Märchen und Mythos sind unerschöpflicher Ausgangspunkt fast jeder Form der Literatur Vesna Paruns. Ihre Wut wird immer in Gesang umgeformt, ihre Satire ist verbal unterschiedlich. Sie veröffentlicht rund zehn Kinderbücher: Gedichte, gereimte Geschichten und Romane: Ma~ak D`ingiskan i Miki Trasi (Kater Dschingis-Khan und Miki Trasi), 1968; Ma~ak na mjesecu (Der Kater auf dem Mond), 1969; Miki trasi i baka Pim Bako (Miki Trasi und Oma Pim Bako), 1968; Miki slavni kapetan (Miki der brühmte Kapitän), 1970. 1972 veröffentlicht sie ein Buch mit 100 Sonetten. Ihre spezifische Art des Sonett-Schreibens betrachten zuerst viele nicht als Qualität, aber später – wie es schon so oft bei der Kritik von Vesna Paruns Büchern geschah – wird in ihren Sonetten die ganze Virtuosität ihres Könnens und die unglaubliche Fähigkeit, die gedrängte Metaphorik in 14 Verse in RenaissanceForm zu bringen, entdeckt. Es folgen die Gedichtsammlungen Karneval u Kukljici (Karneval in Kukljica), 1974 und Apokalipti~ne basne (ApoVesna Parun im Jahr 1965 moru (Die dem Meer zurückgegebene Koralle) (1959) ein wundersames Wachsen von Sinnlichem, Imaginativem, Traumhaftem, Mythologischem. Ihre dichterischen Ausgangspunkte befinden sich nahe biblischer Quellen, ihre Themen sind eigentlich Ideen der Liebe aber auch des Leidens am Schicksal. Die Tiefe der Empfindsamkeit, die schon für Dora Pfanova charakteristisch war, wird bei Vesna Parun noch verstärkt durch Sensualität, Wollust, Erotik. Unmerklich und leise erscheinen die Liebe und der Mond in der kroatischen Poesie, und wie eine mythologische und märchenhafte Metapher sagt: archaische Lilien werden Wirklichkeit werden. 1960 – 1967 Von 1962 bis 1967 hält Vesna Parun sich in Bulgarien auf, wo sie heiratet, sich scheiden lässt und eine neue Reihe von Missgeschicken erlebt. Seitdem wohnt sie meist in Zagreb und arbeitet als freischaffende Schriftstellerin. Ununterbrochen veröffentlicht sie neue Gedichtbände: Konjanik (Der Reiter), 1961; Jao jutro (O weh, du Morgen), 1963; Bila sam dje~ak (Ich war ein Junge), 1963; Vjetar Trakije (Der Wind von Thrakien), 1964; Pjesme (Gedichte), 1964; Gong (Der Gong), 1966; Otvorena vrata (Eine offene Tür), 1968; Ukleti da`d (Der verwunschene Regen), 1969; Tragom Magde Isanos (Auf den Spuren der Magda Isanos), 1971. RELA TIONS Dossier: Vesna Parun tausend Fuß tief unter der Erde! Verständlich und klar zu sein auch bei der schwierigsten Aussage, ist ebenfalls ein Zeichen der Kraft dieser Poesie, wie auch ihrer sehr anspruchsvollen Prosagedichte. 1987 Sie veröffentlicht den Prosaband Pod mu{kim ki{obranom (Unter dem Männerschirm). Hier versucht sie zu erklären, dass die Prosa, zum Unterschied von Poesie, ein Ort ist, an dem sie das Meditative ihres Wesens ausdrücken kann. Außerdem befinden sich in diesem Band polemische Feuilletons, in denen sie auf kalyptische Fabeln); danach Poznanstvo s danima malog Maksima (Die Tage des kleinen Maxim), 1974; Igre pred oluju (Spiele vor dem Sturm), 1979 usw. Vesna Parun sagt: „Ich möchte mein eigenes Forschungsvorgehen darlegen, damit ein anderer, der all das nicht auf diese Weise erlebte, an meiner Erfahrung – die potentiell auch die seine ist – seine eigenen Assoziationen und sein eigenes Wissen, das wiederum potentiell auch das meine ist, anknüpfen kann. Sich als Nachkommen der gleichen uralten Fantasien dieser Welt zu fühlen, bedeutet, sich an den Traum unserer gemeinsamen, weit zurückliegenden Vergangenheit zu erinnern und geistig unbekümmert eins zu werden mit ihr – wenigstens für jenen verzauberten zeitlosen Augenblick, solange im Märchen die notwendige Verwandlung der Schlangenzunge in eine menschliche, der archetypischen in eine kommunikative dauert.“ Gerade die eben angedeutete Kommunikation, die eine wichtige Charakteristik der Poesie Vesna Paruns darstellt, ist etwas Paradoxes, wenn wir an die fast ununterbrochene Metaphorik ihrer Gedichte denken, an ihr Personifizieren, die Synedochen, den Abstieg in mythische und archetypische Schichten des Bildhaften, 9 1989 Der Reichtum und die Gliederung der Sprache, ihre metaphorischen Syntagmen, die übernatürlichen und kindlichen Landschaften, führen die Dichterin spontan und unmittelbar zum Prosagedicht, das man von der märchenhaften Kurzgeschichte unterscheiden muss (z. B. Molitva za Ard`uninu strijelu – Ein Gebet für den Pfeil des Ardschunin oder Le{ina marabu ptice – Der Kadaver des Vogels Marabu), das aber bei Vesna Parun besonders hervorzuheben ist wie spezifische Kristalle eines langjährigen Spiels mit der Poesie, das aufhört ein Spiel zu sein und zum heiligen Ort der Beichte wird. Wir finden bei ihr nur sehr wenig Prosagedichte, die sie alle sehr spät herausgibt (wenn man bedenkt, dass schon seit 1947 ihre Gedichte veröffentlicht werden). Den Zyklus Krv svjedoka i cvijet (Das Blut des Zeugen und die Blume) schreibt sie 1989 als Fortsetzung des vorigen Buches. 1990 Es erscheint der hervorragende Prosagedichtband Indigo-grad (Die Indigo-Stadt), über den nur sehr wenig geschrieben wurde. In diesen Prosagedichten wird der Ausdruck knapp, satyrische und sehr zynische Weise ihre Beziehung zur Gesellschaft, in der sie lebt, darstellt. 1988 Es erscheint das Buch Krv svjedoka (Das Blut des Zeugen), ein echtes buntes Herbarium autobiografischer Notizen, Reisebeschreibungen, Essays, Künstlerportraits. Stilistisch treten hier hauptsächlich das Poetische, ihre mediterrane abenteuerliche Fantasie und das starke Bedürfnis, ihre Persönlichkeit möglichst genau darzustellen, in Erscheinung. RELA Chronologie während die Dichte des Deskriptiven es erlaubt, Wörter, nicht aber Gedanken zu wiederholen. Der Gedanke in ihren Gedichten erweitert und breitet sich geradezu aus, begleitet von einer immer größeren Farbenvielfalt – angefangen von hellgelb, orange und feuerrot, über indigoblau, mondscheinblau, bis schwarz (das schwarze Meer). Interessant auch für eine weitere Analyse ist es zu erfahren, wie die Dichterin selbst über ihr lyrisches Vorgehen in ausführlichen und polemischen Essays spricht. Da der Weg vom Gedicht zum Prosagedicht lang ist, muss auch theoretisch dieser Weg stufenweise erklärt werden. Vesna Parun wird sich während des Schreibens von Poesie über ihre eigene Vorgehensweise bewusst, begibt sich zur Quelle ihrer irgendwo entstandenen Landschaften und Bilder. Ihre Luzidität und oft schneidende Scharfsinnigkeit, die sie in der Poesie wie auch im Leben ausbreitet, bewahren die innere angehäufte Kraft, aus der ihr Gedicht wie aus einer unversiegbaren Quelle erwächst. Dieser Erforscher des Gedichts wacht jetzt ununterbrochen über ihrer Poesie. Wie oft sagte ich mitten in der Nacht: Adieu, ihr Feuer! Ich gehe für immer einer wunderbaren Einsamkeit entgegen..., sagt die Dichterin in einem Sonett. Wenn es scheint, dass sie sich in ihren ersten Gedichten manchmal am Rand des Sentimentalen, Romantischen, allzu Empfindsamen oder allzu Hingebungsvollen bewegt (obwohl sie nie ins Pathetische abgleitet), in den neueren Gedichten, besonders in der Sammlung Indigo-grad (ihre reifste, wichtigste und poetisch stärkste Sammlung) zeigt sie die Ursprünge ihrer Empfindsamkeit, den Kontext von Ursache und Wirkung, lässt das Gedicht als Ganzes, sowie seine Struktur harmonischer werden. Wenn für Vesna Krmpoti} die Poesie der vom Vogel gelöste Flug ist, so ist für Vesna Parun die Poesie der Vogel selbst, der nicht TIONS Photo: Zlata Vuceli} 10 Im Zirkus „Orfei“ in Zagreb 1973 oberflächlich wie der Mensch ist, der weiß, dass das Schlagen des Herzens unter der Erde noch stärker ertönt, und statt der beruhigenden Klänge eines Schlaflieds müsste der ganze Wald das Dröhnen des unterirdischen Raums, das der Schmerz hervorrief, hören. 1991 Sie veröffentlicht ein Buch mit Sonettenkränzen, einer Reihe unaufhaltbarer, beweglicher, klarer Verse, gebettet in den Rhythmus und die Harmonie reimender Vierzeiler und Terzetts – Sonet o ~isto}i (Sonett über die Reinheit); Sonet o naran~i (Sonett über eine Apfelsine); Sonet o proljetnoj ptici (Sonett über einen Frühlingsvogel). In den neunziger Jahren engt die Dichterin selbstbewusst die breiten Spektren ihres dichterischen Vokabulars ein und „entblättert“ – wie Tin Ujevi} – das Gedicht bis auf die nackte Haut, kürzt die Länge der Verse. Durch ihr ganzes dichterisches Opus, ohne Rücksicht auf den Wandel der Form ihrer Gedichte, zieht sich beharrlich eine Diagonale, eine jetzt schon reife ontologische Kategorie ihrer Poesie, in deren Aufbau Liebe, Träume, Frei- RELA TIONS heit die Basis bilden. Vesna Parun hört nie auf zu lieben und in der Liebe zu unterweisen, zu träumen und im Träumen zu unterweisen, dem weißen Faden der Freiheit zu folgen. Sie bleibt ihrer Begeisterung für die Liebe treu, der feurigen Leidenschaft und deren Echo, dem Widerschein – wie Dora Pfanova sagt. Auch Vesna Parun nimmt in ihren dichterischen Schoß dieses Wort auf, denn auch sie hat wie Dora Pfanova ihre bitteren Wünsche in einem altertümlichen Kästchen der Wind aufbewahrt, das sie einsam an eine Wegkreuzung stellte – damit jedes Menschen Geheimnis daraus widerscheinen soll. 1993 – 2000 Sie veröffentlicht die Gedichtsammlungen Trono`ac koji hoda (Der wandelnde Schemel), 1993; Za~arana ~arobnica (Die verzauberte Zauberin), 1993; Izbor iz djela (Aus ihren Werken), 1995; Ptica vremena (Der Zeitvogel), 1996; Smijeh od smrti ja~i (Das den Tod besiegende Lachen), 1997; Pelin basne (Wermut der Fabel), 1998; Spu`vica i spu`va (Schwämmchen und Schwamm), 1999; Poli- Dossier: Vesna Parun ti~ko Valentinovo (Ein politischer Valentinstag), 2000; Grijeh smrti (Die Sünde des Todes), 2000. 1995 übersetzt Vesna Parun Gedichte von Heine, Rilke und Goethe. Das Meer ist eine unerschöpfliches Thema in der Dichterin Poesie. Eher könnte man sagen, das Meer ist ihr dichterischer Spiegel – es spiegelt ihre Seele bei jedem Wetter wider, in guten und in schlechten Zeiten, weshalb sie sagt, wenn du den Weg in meine Seele suchst, führe mich zum stürmischen Meer, oder sie gibt sogar die Wiege dem Meer zurück oder sie selbst ist das Meer von Wut umhüllt. Vor dem Meer, wie auch vor dem Tod, hat sie keine Geheimnisse. Das gleiche Meer entwickelt sich zum Symbol, wenn die Metapher sich selbst überragt, das Zeichen umfasst, das in seiner Größe die kontrapunktischen Motive von Liebe und Tod, Erde und Mond, Heiterkeit und Wut annehmen kann. So entdecken wir noch eine erstaunliche Verfahrensweise in der Poesie Vesna Paruns – sie verschiebt, schmelzt Symbole, denn das gleiche Meer kann auch in seiner Identifikation mit der Seele verschwinden, hinter die andere Seite des Spiegels gelangen (einzig und allein die Poesie ist stärker als das Meer!). Verschwinden heißt nicht sterben, im Gegenteil: In eine milde 11 Schatzkammer treten und seine Blüte hineintragen. Das Meer verschwindet vielleicht, aber es stirbt nicht, sagt die Dichterin. So verschwindet wahrscheinlich auch die Seele, ohne etwas von dem zauberhaften Tod zu wissen, den sie nur mit dem Saum des Flügels flüchtig berührte! Die Seele verschwindet und nimmt das, was in ihr aus Gottes Hand erblühte, in eine unendlich milde Schatzkammer mit. Was ereignet sich eigentlich in jener unendlich milden Schatzkammer, in die das Meer und die Seele ihre Geheimnisse bringen? Es ereignet sich das Gedicht, denn gerade Vesna Parun zeigt und beweist, dass die Poesie ein Akt der Seele, weniger der Emotionen und des Intellekts ist. Vor langer Zeit gab die Dichterin einem ihrer Gedichte aus der Sammlung Prolazim `ivotom (Ich gehe durchs Leben) den Titel Prava pjesma (Ein wirkliches Gedicht). Hier sagt sie, dass alles dort beginnt, wo es erkannt wird, und die Poesie Vesna Paruns muss von neuem entdeckt, auf die rechte Weise wiedererkannt werden. So werden wir auch ihre schwer zu interpretierende Metaphy- 12 RELA Chronologie Im kalten Zimmer, V. Parun in der Marijan-Badel-Straße in Dubrava (heute die Straße Vile Velebita) im Winter 1986 sik deuten, das Wunder des Daseins und des Wiedergeborenwerdens. Wo? Dort wo die großen Flüsse die Nacht erleuchten Und die Wasserfälle den Namen Der noch ungeborenen Welt aussprechen 2000 – 2007 Vesna Parun verlässt für immer ihr mehr als bescheidenes Heim an der Peripherie Zagrebs, in der MarijanBadel-Straße 15 (heute Straße Vila Velebita), in dem sie über ein halbes Jahrhundert lebte. Aus gesundheitlichen Gründen hält sie sich schon seit Jahren in verschiedenen Kurorten Kroatiens auf, enttäuscht darüber, dass ihr keine seit langem versprochene Wohnung zugeteilt wird. Heute lebt sie im Kurort Stubi~ke Toplice. Dorte lernt sie Ende der 70-ger Jahre ihre wichtigste Lehrerin kennen, die Bettlerin Magdica, der sie eine ganze Reihe von Texten widmet. In jenem Kurort feiert sie seit einigen Jahren ihren Geburtstag und schreibt weiter Bücher. Das wichtigste und beste davon ist Bubnjevi umjesto srca (Trommeln statt Herzen), 2003, in dem sie zum Thema ihrer früheren Bücher Zore i vihori und Crna maslina zurückkehrt. Hier verfasst sie auch die bedeutenden Gedichte ^ovjek (Der Mensch) und Prozor s kojeg sam uhodila Mjesec (Das Fenster durch das ich den Mond heimlich beobachte). Ihre Einsamkeit und „Abtrünnigkeit“ von der heutigen Kultur hat sie selbst gewählt; sie will sich vor niemandem erniedrigen. Die ungewisse und unsichere Zukunft der großen 85-jährigen Dichterin sollte uns beschämen. TIONS „Als ich nach Zagreb kam, wurde ich verhaftet; jetzt wurde ich aus der Stadt geworfen. Nach 60 Jahren verlasse ich Zagreb wie ein Fremder“, sagt Vesna Parun auf einer Pressekonferenz am 17. Oktober 2001 im Kroatischen Kulturklub. Nicht nur ihr gesellschaftlicher und schriftstellerischer Status veranlasst unsere größte lebende Dichterin zur Einberufung eines „Abschiedstreffens“, wie sie die Pressekonferenz nennt, sondern besonders die Polemik mit Vlatko Pavleti} in der Zeitung Jutarnji list. „Es handelt sich nicht um Panik, um Übertreibung oder Leidenschaft. Mit 80 Jahren kann ich immer noch klar denken. Demokrat zu sein bedeutet hier Skandalmacher“, sagt Vesna Parun, als sie den Konflikt um ihren Austritt aus dem Verband kroatischer Schriftsteller beschreibt. „Schriftstellerisches Talent wird hier ausgerottet und nicht geduldet, während Macht und Gewalt über allen Werten stehen. Aber in keinem einzigen Regime kam die Initiative zur Verfolgung von der Staatsgewalt sondern von den Herren Präsidenten der Verbände und den Parteisekretären.“ Sie kündigt ihren baldigen Aufbruch mit 20 Säcken ihres Hab und Guts nach Rijeka an und ein neues satyrisches Buch, wie auch weitere öffentliche Auftritte. Vielleicht können wir die Antwort auf das Unrecht, das ihr zugefügt wurde, in Vesna Paruns Behauptung finden, dass man „in der Schule viel lernen kann, in der Grundschule und auch später in der Mittelschule, Grammatik und Naturkunde; weniger Geschichte und über die Sterne am Himmel; aber über den Menschen und das Leben – fast nichts.“ Ihren eigenen Worten nach verbrachte sie von Kindheit an ein sehr schweres Leben, erlitt mehr Leid als Freude. Vesna Parun widmete sich ganz ihrer schriftstellerischen Arbeit und ist die erste Frau in der kroatischen Literatur, die ausschließlich vom Schreiben und fürs Schreiben lebt. RELA TIONS Dossier: Vesna Parun 13 Bibliografie Poesie Zore i vihori, 1947 Pjesme, 1948 Crna maslina, 1955 Vidrama vjerna, 1957 Ropstvo, 1957 Pusti da otpo~inem, 1958 Ti i nikad, 1959 Koralj vra}en moru, 1959 Konjanik, 1961 Jao jutro, 1963 Bila sam dje~ak, 1963 Vjetar Trakije, 1964 Pjesme, 1964 Kindergedichte Patka Zlatka, 1957 Tuga i radost {ume, 1958 Zec mudrijan, 1958 Kornja~in oklop, 1958 Ma~ak D`ingiskan i Miki Trasi, 1968 Miki Trasi i baka Pim Bako, 1968 Gong, 1966 Otvorena vrata, 1968 Ukleti da`d, 1969 Tragom Magde Isanos, 1971 Sto soneta, 1972 I prolazim `ivotom, 1972 Stid me je umrijeti, 1974 Olovni golub, 1975 Apokalipti~ne basne, 1976 Ljubav bijela kost, 1978 @ita snova, 1978 Izabrane pjesme, 1979 Mapa Magdica, 1979 [um krila, {um vode, 1981 Salto mortale, 1981 Izabrana djela, 1982 Grad na Durmitoru, 1988 Kasfolpirova zemlja, 1989 Indigo-grad, 1990 Sonetni vijenci, 1991 Trono`ac koji hoda, 1993 Za~arana ~arobnica, 1993 Izbor iz djela, 1995 Ptica vremena, 1996 Smijeh od smrti ja~i, 1997 Pelin basne, 1998 Spu`vica i spu`va, 1999 Politi~ko Valentinovo, 2000 Grijeh smrti, 2000 Bubnjevi umjesto srca, 2003 Ma~ak na mjesecu, 1969 Miki slavni kapetan, 1970 Karneval u Kukljici, 1974 Poznanstvo s danima malog Maksima, 1974 Igre pred oluju, 1979 Dvanaest slikovnica o psima, 1983 Ho}u ljuti}, ne}u mak, 1983 Roda u {koli, 1988 Pokraj Kupe kad se vrapci skupe, 1989 Moj prijatelj {i{mi{, 1990 Uspavanka za poljubac, 1995 Kroz prozor i zime, 1995 P~ela, duga i mlin, 1997 Tri morske pustolovke, 2000 Morska ko~ijica, 2001 Prosa Bühnenstücke (aufgeführt) Pod mu{kim ki{obranom, 1987 Krv svjedoka, 1988 Hrvatska kraljica, 1999 No} za pakost – moj `ivot u 40 vre}a, 2001 Marija i mornar Apsirt Magare}i otok, oliti homo homini asinus [kola za skitnice Preise und Anerkennungen Poetum oliveatus bei den Tagen Croatia rediviva, ^a, Kaj, [to – ba{tinski dani, 1995 Tin-Ujevi}-Preis, 2003, für die Sonettensammlung Suze putuju Vladimir-Nazor-Preis, 1959 Jahrespreis; 1982 Preis für ihr Lebenswerk ¹Unter Benutzung von Texten von Nikola Mili}evi} und Karmen Mila~i} º Aus dem Kroatischen übersetzt von Hedi Blech-Viduli} 14 Karmen Mila~i}: Der Vogel und die Zeit ... Vesna Parun RELA TIONS RELA TIONS Dossier: Vesna Parun 15 Der Vogel und die Zeit in der Gedichtkunst von Vesna Parun Karmen Mila~i} D ie namhafte Sammlung Morgenrot und Wirbelsturm (Zore i vihori), mit der Vesna Parun vor fast einem halben Jahrhundert (1947) in die kroatische Literatur eintrat, war viel mehr als die Erscheinung einer neuen, ursprünglichen Poesie, sie war ein historisches Ereignis von bahnbrechender Bedeutung. Diese Lyrik trug das Merkmal ihrer eigenen inneren dichterischen Stimme, sie war der Wegweiser einer neuen Sensibilität und das Symbol einer Zeit der kroatischen Lyrik, die die Poesie für eine geheiligte Tätigkeit hält, sich der Übermacht der Pragmatik gegenüber der Dichtkunst widersetzt, ebenso wie dem gewaltsamen Ideologisieren der Nachkriegsdichtkunst. In dieser persönlichen Poetik, gleich zu Beginn, spiegelten einige grundlegende Leitgedanken, die sich durch die eigene poetische Diktion einer ausgeprägten dichterischen Individualität hervortaten. Vesna Parun ist von jener Art von Dichtern, die immer lautlos und unbemerkt bleiben, aber unwiderruflich die unumgänglichen Brücken des Verständnisses und des Vertrauens errichten. Sie weist darauf hin, dass überall Fallen für die menschliche Existenz und für die menschli- chen Schöpfungen auftauchen. Aber sie wird gleichzeitig zeigen, dass die Bemühungen des Menschen nicht umsonst waren und dass es einen tiefen Sinn darin gibt, dieses sonderbare und reiche, bunte und einmalige Leben zu lieben. Geboren wurde sie 1922 auf der Insel Zlarin. Die Kindheit verbrachte sie in einer Beamtenfamilie, die oft von einem ins andere kleine mitteldalmatische Ort zog und ein ziemlich schweres Leben hatte. Das Gymnasium besuchte sie in [ibenik und Split, wo sie im Jahr 1938 das Gedicht mit dem charakteristischen Titel Der Ruf (Zov) veröffentlichte, in der Zeitschrift „Sjeme“, der Zeitung des klassichen Knabengymnasiums, dessen Schüler Jure Ka{telan und @ivko Jeli~i} waren. Dieses erste veröffentlichte Gedicht trägt schon den Atem eines der grundlegenden Leitgedanken: Eine Hymne an das Leben, die Arbeit, die Courage und ein NEIN allem, was menschliches Drama ist. Das Studium der Philosophie an der Philosophischen Fakultät in Zagreb unterbrach sie wegen Krankheit. Später widmete sie sich dem literarischen Schaffen und wurde die erste Frau in der kroatischen Literatur, die ausschließlich von der Literatur und für die Literatur lebt. Die Poesie von Vesna Parun ist ein glückliches Zusammentreffen von Tradition und modernem Ausdruck. Darin gibt es Echos von altertümlichen Geschichten und Legenden, Volksliedern und Sprichwörtern, griechischer und slawischer Mythologie sowie biblischer Lyrik des Alten Testaments. Aber ebenso auch einen Widerhall von modernen Dichtern, die die Augenblicke des Aufschwungs in der starken und fruchtbaren kroatischen Lyrik kennzeichneten: Vidri}, Poli} Kamov, Sudeta, Kozar~anin, Ujevi}, Tadijanovi}. Sie setzt diese Tradition fort und entwickelt sie weiter und über diese Merkmale ihrer Lyrik sagte Antun [oljan, dass „in ihrer Poesie das bewahrt und forgesetzt wird, was in der Poesie „ewig“ und „wichtig“ ist, was alle Dichtkunst gemeinsam hat, von Sappho selbst bis heute.“ In dieser Poesie gebührt ein besonderer Platz der Kindheit, diesem „unerforschten Ozean des Menschen“, wie sie selbst sagte, denn hier sind die tiefsten Grundmauern der Sinne und die Grundmauern jener Erscheinung, die wir individuelles Bewusstsein nennen. Sie fragte sich in einem Moment, wie man in einer Welt leben 16 Karmen Mila~i}: Der Vogel und die Zeit ... soll, „die das große Geheimnis der Kindheit nicht verstanden hat“. Morgenrot und Wirbelsturm schrieb eine Frau unserer Zeit, entzückt vom Leben und dem Morgengrauen ihrer Poesie, aber in Wirklichkeit schrieb sie ein ehemaliger Junge, dessen harmlose und liebliche Welt der Pastorale gegen die komplexe Wirklichkeit unserer Zeit und die Wirren des Krieges prallte. Das erste Gedicht dieser Sammlung, Ich war ein Junge (vollständig in der Vergangenheitsform geschrieben), ist ein Traum von einer Welt, die es nicht mehr gibt und die Ahnung einer Zeit, wenn so manches unerreichbar, unerlaubt, begrenzt sein wird. Dieses kleine unpretenziöse Gedicht, nicht von Reflexionen über das Leben und zwischenmenschliche Beziehungen angeschlagen, deutet auf zwei wichtige Konstanten dieser Poetik hin: Die Poesie als Traum und die Kindheit als nie verstummte Zeit. Ein paar Jahrzehnte später sagte sie in einem Sonett: „Wohin soll ich so gehen, mit den Armen eines Kindes, / durch dieses Böse und diese Dunkelheit?“ Gedichte, in denen sie poetisch in ihre Kindheit zurückkehrt, sind voll von spontanen Bildern, die unmittelbar verschmelzen, und die auch den Erlebnissen aus jenen Tagen einen schwungvollen Rhytmus, eine Leichtigkeit und Begeisterung verleihen (Der Traum, Das Kind und die Wiese, Die Eisenbahn aus den Hügeln der Kindheit). Ihre Gedichte sind oft Träumen ähnlich. Im Traum geschieht alles in Bildern, Ahnungen, Symbolen, spricht unbewusst. Auch das Wort „Traum“ taucht sehr oft in ihrer Verzückung über die Natur und das Wunder der Liebe. In einem Sonett lauten zwei Verse: „Der Hain und die Vögel und die gierigen Träume versteckten sich in dem Stern, der mich führt“; und im Kindergedicht Wenn ich ein Schiff wäre: „denn ich verwandle alles, was ich sehe in einen Traum“. An einer Stel- le schrieb sie: „Eines Dichters Feder ist ein weißes Pferd und das Papier ein unendliches Wunderland“. Pavao Pavli~i} äußerte im Buch Der Handkuss (Rukoljub) die Meinung, dass jede Literatur ein Traum ist und dass die Wahl des Taums als Zeil der Literatur edel, richtig und schön ist. Weiter sagt er, dass die Literatur im Leben der Gesellschaft die gleiche Rolle spielt wie der Traum im Leben eines Einzelnen. Und eine große Anzahl von Vesna Paruns Gedichten führen einen Menschen wirklich in eine andere Welt, wo er gerührt, erfreut, erregt und von diesem Traum bereichtert zum Nachdenken gebracht wird. Der Abschied von der Kindheit überschneidet sich mit dem Krieg, dem ersten Atem des menschlichen Dramas, die in diese Lyrik hineinplatzte und er wurde eher als der Zerstörer von Schönheit empfunden als der Ursprung von Grausamkeit und Leid. Der Krieg rief Angst und Bangen hervor sowie die Erkenntnis, dass es schmerzlich ist zu leben „wenn Jungen sterben und die Alten beim Blicken auf das Meer ihre Traurigkeit wärmen“. Der böse Geist des Krieges zerschmettert den Traum des Menschen und die Disharmonie der Welt ist überall gegenwärtig. Das ganze Gedicht Die Ballade von den betrogenen Blumen ist ein Traum. Der Panzer, der durch die Stadt fährt ist eine schwere riesige Schildkröte, die die Weiden leerfraß und die Fischteiche austrank. Und in dem Gedicht Das Gesicht im Schatten erzittert die Ahnung, dass auch die Liebe Schmerz sein wird. In diesem Gedicht sind alle Elemente, die im Buch Der schwarze Olivenbaum (Crna maslina) von Gedicht zu Gedicht immer mehr auflodern werden. Das unerreichte und tief humane Gedicht Die Mutter des Menschen wurde nicht aus dem Blickwinkel eines Kindes geschrieben; es ist Schmerzensschrei und Trotz, weil sich der Mensch gegen Träume und RELA TIONS Schönheit verbündet und die Inspiration ist visionär. Das Gedicht Der Reiter ist eins der herausragenden Früchte des Traums von menschlicher Sehnsucht nach Ferne und der unedlichen Reise ohne Ziel. Durch Imagination und poetische Invention verwandelt, evoziert es eine Welt der persönlichen Träumerei, wundersamer Wortverbindungen und plastischer Bilder mit archetypischen Reflexen. In der Erkenntnis des verlorenen Paradieses der Kindheit gibt es zwei Elemente, die diesem Paradies ähneln und die die Mühsale der Existenz rechtfertigen: Das sind die Natur und die Liebe. „Die Natur war meine erste Liebe nach dem Verlassen des Tunnels der Kindheit. Erst später überschattete sie ein menschliches Wesen und verdunkelte ihren Glanz“, sagte sie im Buch Die verzauberte Zauberin (Za~arana ~arobnica, 1993). Der scharfsinnige Geist dieser Dichterin entdeckt in der Natur die Fülle des Lebens, horcht ihrem Puls und möchte sich, durch die Intensität des Erlebnisses, der Natur mehr nähern. Den Pinien und dem Mond öffne ich die Tür. Ans Fenster gelehnt ahne ich ein fernes Echo. (Regen) Und im Gedicht September: Das Land bäumt sich neben uns, rauscht mit grünem Wasser strahlt mit durchscheinender Luft, duftet mit Fluten der Fichten. Die Gedichte, in denen sie ihr inneres Gefühl von Verbundenheit mit der Natur ausdrückt, haben den Beiklang eines Märchens. Sie hinterlassen den Eindruck, dass die Dichterin einfach das Ohr an die Erde gelegt hat und ihren geheimnisvollen Tönen lauscht, berauscht von der Sonne, den Gräsern, dem Wald, dem Meer, dem heiteren Himmel und RELA TIONS den Vögeln; berauscht vom Spiel, das nur ein Kind so ungetrübt genießen kann (Regen, Norden, Der Strand, Wunderbares Panorama, September). Die Natur ist eine „große Tierfabel“, sagt die Dichterin und ist mehr als die Landschaft, in der man die Anwesenheit des Anderen am unmittelbarsten spüren kann. Vesna Parun fühlt und versteht die Natur als ein übergeordnetes System, hinter dem das liegt, was nicht zu dieser Welt gehört. Die Natur und die Liebe stehen in einem korrelativen Verhältnis. Die Natur kann uns mitreißen und in uns eine der Liebe ähnliche Begeisterung hervorrufen und die Liebe hilft uns, die Schönheiten der Natur zu entdecken. Die Gedichte von Vesna Parun entspringen oftmals diesem korrelativen Kreis, aber in ihnen gibt es keine Konventionalität, sondern es ist immer die Authentizität der dichterischen Inspiration anwesend. Nikola Mili}evi}, verlässlicher Kritiker der Parun, sagt: „Die Natur trug mit ihrem Leben auch sie und die Dichterin schien sich als ein Teil der fruchtbaren Erde zu fühlen“. Das Erlebnis der Natur ist eine der Konstanten dieser Poesie, die im langen Schaffensverlauf ihre glänzende Bildhaftigkeit nicht verloren hat. Die Sammlungen Den Fischottern treu (Vidrama vjerna), Die dem Meer zurückgegebene Koralle (Koralj vra}en moru) und Der Wind von Thrakien (Vjetar Trakije) sind eine reine Hymne an das Meer. Aus zahlreichen Gedichten bricht dieses allmächtige, allumfassende Meer hervor und oft mit ihm die typische dalmatinische Landschaft. Aber das ist nicht nur ein Dekor des Gedichts sondern das Ambiente und der Schauplatz der Ereignisse und das Meer ein kräftiger Antrieb für die Sinne, Gefühle und Gedanken. „Wenn du den Weg zu meiner Seele suchst, / führe mich ans stürmische Meer.“, sagte sie im Gedicht Vor dem Meer, wie vor dem Tod, habe ich keine Geheimnisse. Und Dossier: Vesna Parun 17 Vesna Parun: Selbstporträt, Genesung, Tempera 1970 im Gedicht eines langen Tages Die Seele des Meeres drückt sie die Ansicht aus, dass es dem Mensch ähnlich ist. Es gibt zwei Meere, das im Duft des Oleanders und das vom Sturm schwer gewordene, ebenso wie es zwei Erkenntnisse des Menschen gibt, die rosige und die schwarze. Ihre von der Natur inspirierten Gedichte sind eine gewisse Art der Liebeslyrik. Sich nicht mit dem Bösen abfinden ist ebenfalls ein Leitgedanke, der dieses Werk vollständig durchzieht und er ist besonders in dem frühen Gedicht Der Schwur aus dem weniger erfolgreichen Buch Gedichte (Pjesme, 1948) ausgedrückt. Dieses Gedicht hält die Autorin für eines der wichtigsten in ihrem gesamten Poesieund Lebensopus. In diesen Versen gibt es auch ein Gespräch mit der 18 Karmen Mila~i}: Der Vogel und die Zeit ... Kritik, die nicht ihr intimes dichterisches Wort verstanden hat aber auch ein Gesprächt mit sich selbst. Es ist zu erwähnen, dass ihr Erstlingswerk Morgenrot und Wirbelsturm widersprüchliche Kritiken hervorrief, zu einem großen Teil äußerst negative. Die offizielle Kritik hat dieses schwungvolle Buch fast zerfleischt; man stürzte sich vorrangig auf die Bearbeitung, beschuldigte die Autorin des formalistischen Artismus der dekadenten Lyrik, der Buchinspiration, der Anlehnung an Tin Ujevi}. Aber auch später hatte sie wenig meine ganze spätere Lyrik trägt diesen Stempel des Samaritaners, der Mutter: Beschützen, mit einem Atemhauch zum Leben erwecken, in der Wiege des Verses ein unschuldiges junges Leben wiegen, das der Sinnlosigkeit der Geschichte überlassen ist – wo auch immer, wessen auch immer.“ In der Dichtkunst von Vesna Parun ist die Liebe das Maß des Lebens und das allgegenwärtige Leid. Auch dann, wenn erotische Impulse betont werden, bewahrt sie eine eigene Heiligkeit in sich (Der Körper und der Frühling). Die Liebe ist das zentrale The- Vesna Parun in Stubi~ke Toplice 1976 Glück mit der Politik und mit den Politikern, insbesondere seit sie anfing, satyrische Verse zu schreiben. Im Nachwort des Buches Sonettkränze (Sonetni vijenci, 1991) sagte die Dichterin, dass sich schon, als sie sechzehn Jahre alt war, der junge, tödlich verwundete Soldat aus Rimbauds Sonett Der Schläfer im Tal in ihre Seele gebrannt hat und dass die gesamte Materie des Buches Morgenrot und Wirbelsturm auf diesem Leitmotiv aufgebaut wurde: Der Knabe, der junge Mann, der im Sterben liegende Soldat, von Panzern zertrampelte Gänseblümchen, Gewalt, Krieg. „Und ma dieser Dichtkunst, ein Thema, das sich im Buch Der schwarze Olivenbaum (1955) zu seiner vollen Blüte entfaltete. Diese Sammlung hat sicherlich eine mehrfache Bedeutung; sie ist der unumgängliche Eckstein in Vesna Paruns Poesie, der Pfeiler des gesamten dichterischen Baus, eine Festlichkeit in der Kunst der Worte und die Richtlinie ihrer Zukunft, die bis heute andauert. Ganz aus Traum und Wirklichkeit gewebt, erbaut aus dem gleichen Motiv ist es ein fokusiertes und abgerundetes Buch. Die Sensibilität aus der ersten Sammlung wur- RELA TIONS de durch die Gefühlsamkeit und die Sehnsucht nach Liebe, die ständig entgleitet, ersetzt. „Die Lyrik des Schwarzen Olivenbaums wuchs und trieb Äste, genau wie ein Baum.“, sagte Stanislav [imi} im Nachwort des Buches. Und einige Jahrzehnte später schrieb Ivo Frange{: „Eines der wertvollsten Bücher der kroatischen Poesie überhaupt.“ Dieses Buch ist ein Canzoniere der Liebe, der einzige in der neueren kroatischen Poesie, ausgedrückt durch eine unmittelbare Sprache der Sinne, formal eher klassisch bearbeitet, in dem der Rhytmus des Volksliedes und der Atem des Alten und Neuen Testaments spürbar sind. Der schwarze Olivenbaum ist ein Prolog in eine reiche und vielseitige dichterische Beichte einer Frau, die von der Mystik der Liebe besessen ist, was die Grundlage ihrer gesamten Dichtkunst ist. Die Liebe wird, nicht nur im Buch, vor allem als Maß, Mensch zu bleiben, verstanden. Der Bann der Liebe und der Schönheit ist eine der wichtigen Konstanten, eine der Leitideen nicht nur dieses Buches, sondern auch der gesamten Dichtkunst von Vesna Parun. Die Vielseitigkeit innerhalb des gleichen Motivs entspringt aus der Tatsache, dass die Dichterin eine Reihe von Themen berührte: Die Liebe als Quelle der Humanität und fröhlichen Entspannens, das Problem der Beziehung zwischen Mann und Frau, die Verbundenheit des Menschen mit der Natur, die Zerrissenheit zwischen Leidenschaft und Schmerz, Mutterschaft, die Unerbittlichkeit des Leidens und die Begrenztheit des menschlichen Wortes, dieses Leiden auszudrücken, die Suche nach den Ursprüngen seiner Unruhe sowie die Vergänglichkeit von allem und ewiges Herumwandern. Ein Teil der Gedichte aus dieser Sammlung ist ein Ausdruck der neoromantischen Sehnsucht und des Erwartens der Liebe (Jungfräulich- RELA TIONS keit, Erste Liebe, Der schlafende Jüngling, Oliven, Granatapfel und Wolken), aber darin ist auch schon die Vorahnung des künftigen Leidens („Weine nicht: Das ist Liebe. Geh durch das Unwegsame“). Andere, zahlreichere sind das Spiegelbild der tragischen Beruhigung nach der Liebe, der leise gewordenen Leidenschaften und des Leids, das sich ausruht (Die offene Tür, Höhle mit Quelle und Blume, Der Balkon, Ein Klagelied für das Herz, Der Olivenhain, Wenn du in der Nähe wärest, Du deren Hände unschuldiger sind). Der Großteil der Gedichte entspringt bestimmten Erlebnissen und realen Lebensbildern und andere den Träumereien und dunklen Abschnitten des Geistes. Ihr inneres Auge trägt immer sein authentisches Empfinden und das eigene Verfahren im Entdecken gemeinsamer archetypischer Elemente der Vergangenheit vor. Die Dichtkunst erblühte in diesem Buch in zahlreiche Bilder, die umhüllt sind von unwirklichem Licht und Musik, Bilder, die man nur im Traum sieht. Im Gedicht Der schlafende Jüngling lehnt sie sich an die Ehrfahrung des Symbolismus und besingt mit antiker Einfachheit die Schönheit der männlichen Gestalt im wundersamen Ambiente einer Küstenlandschaft. Der junge Mann ist nicht nur ein Symbol der Schönheit und der Liebe sondern auch der Erde und des Lebens. Der schlafende Jüngling wird plastisch dargestellt in einer inhaltlichen Verbundenheit einzelner Bilder, in einer außergewöhnlich feinen akustischen Ausdruckskraft. Der geballte Sinn der vielseitigen Bilder, durch Imagination vereinte, filmisch abrupte Übergänge von einem Bild zum anderen, die nach ihrem Sinn und Inhalt vollkommen unterschiedlich sind, bilden den grundlegenden Sinn und Rhytmus. In diesem Gedicht sind der Sinn des Lebens und der Traum des schöpferischen Aktes beinhaltet. Dossier: Vesna Parun Das scheinbar ruhige Gedicht Wenn du in der Nähe wärest ist ganz eine erregte Liebessehnsucht, ein feiner und gemessener Liebesruf. Trotz des Verlustes der Liebe („Meine Vögel / flogen von deinen Ästen“) gibt es keine Anschuldigungen oder Verwünschungen, sondern nur leises Leid und Abgefundenheit mit der Vergänglichkeit. Die Liebe und die Natur sind unwiderruflich in Bildern verknüpft, die sich eins aus dem anderen in Versen schlängeln. Die unbegreifliche Trennung ist der wahre Kern ihrer Liebeslyrik, was sich wieder an den Reichtum an Eindrücken aus der Kindheit lehnt. Zlarin war vornehmlich eine Insel der Frauen. Die Männer gingen auf der Suche nach Brot meistens in die weite Welt, kehrten nicht wieder oder kamen als alte Männer oder Leichen zurück. Bei der Erforschung ihres Ursprungs entdeckte die Dichterin die archtypischen Botschaften, die in die Tiefen des insularischen Gedächtnisses gespeichert sind. Es ist schwierig, in unserer Lyrik Verse zu finden, wie jene in den Gedichten Die offene Tür, Höhle mit Quelle und Blume, Betäuben wir den Kutscher, der unsere Tage fährt. Als ob ein Bildhauer anwesend ist, als ob die Feder mit einem Meißel ausgewechselt wurde, es gibt kein Wort, das mit gekünstelter Gefühlsamkeit durchzogen ist, keine Spur von sorgfältigem Beschönigen. Alles ist aus einem Fels und jedes Wort aus Stein, jedes steht selbständig fest oder ist mit dem benachbarten Wort verbunden. Das gefeierte und weit bekannte Gedicht aus dieser Sammlung Du deren Hände unschuldiger sind enthüllt das Edle und Gute im Wesen von Vesna Parun. Dieses Gedicht ist der Aufschrei einer verlorenen Liebe, ein warmes kindliches Gebet und ein Abschiedsbrief, das nur eine Frau schreiben konnte, in der die Ethik die Emotionen überwiegt. Es ist eine Seltenheit, dass in einem Gedicht so 19 viele unbestreitbare Werte vorkommen: Klarheit der Gedanken, Erkenntnistiefe, ästhetische Reinheit, Schönheit und Einfachheit des Ausdrucks, Allegorie, poetische Symbolik und kühne Bilder. In dieser Apologie der Liebe verfasste Vesna Parun die besten Verse unserer Poesie. Stimmungen, Ambiente, Sehnsucht, Einsamkeit, Klagelieder für eine verlorene Jugend, die im Schwarzen Olivenbaum anwesend sind, durchziehen alle späteren Bücher, die sich untereinander ziemlich ähneln und einige von ihnen sind konzentrische Kreise, die um den Schwarzen Oliven- baum in traurigerer und dunklerer Stimmung gezogen wurden (Sklaverei, Du und niemals, Lass mich ruhen). Den psalmodisch und balladesque verlaufenden Rhytmus ihres Verses und erotische Impulse lösten in späteren Büchern gemäßigte Resignation und Müdigkeit ab und in den letzten Sammlungen ist eine Ironie gemischt mit der Leidenschaft der ewigen Opposition zu erkennen. Außer dass Vesna Parun tief emotional ist, ist sie auch eine intelektuelle Natur, was ihre zahlreichen Essays und das meditative Buch Das Blut des Zeugen (Krv svjedoka) bestätigen. Sie besitzt tiefe Kenntnisse der Bibel, der griechischen und römi- 20 Karmen Mila~i}: Der Vogel und die Zeit ... schen Mythologie, eine reiche und bittere Lebenserfahrung – das alles trug bei zu ihren Überlegungen über den Menschen und sein Schicksal, über das Leben und den Tod, über die Liebe, über das Vergehen der Jahreszeiten und ihre Rückkehr. Beim Aufbau ihrer dichterischen Welt brachte Vesna Parun gleichzeitig neue Werte ein und drang in die Welt der allgemeinmenschlichen und ethischen Besessenheiten ein. Natur, Schönheit, Liebe, das sind Motive, durch die sie auch ihre Ansichten über das Leben beichtet, ihre Verwunderungen, Vorwürfe, Begeisterungen und Enttäuschungen. Das menschliche und dichterische Ideal dieser Dichterin ist die Harmonie von Mensch und Leben. Aber die Erkenntnis von der Zerstreutheit der Harmonie zwischen der Welt und dem Leben taucht schon sehr früh auf und die Anwesenheit der Disharmonie durchzieht ihre Dichtkunst schon nach ihrem Erstlingswerk. Es existiert der Gedanke, dass allem, was der Mensch geschaffen hat, Zerstreuung und Zersetzung droht. Mit etwa dreißig Jahren sagte sie im Schwarzen Olivenbaum: „Die süße Last ist kurzlebig. Reife ist der Bote der Leere“ (Der Obstgarten). Mit dem Bewusstsein, dass „es keine Tage gibt, die nicht eilen würden, Schönheit, die nicht fließt“ meldet sich auch der Gedanke vom unausweichlichen Tod, unter dessen Schatten unser ganzes Leben verläuft. Aber für Vesna Parun ist auch der Tod einer der integralen Teile des Lebens. Leben und Tod sind „Zwei goldene Tränen der Sonnen, zwei Brunnen“, sagte sie im Gedicht Gleichgewicht. Wir treffen auch auf Kontemplationen über das Nichts und der Rückkehr des Menschen daraus, über die Erkenntnis, dass das Leben kein Traum ist, es aber einer sein könnte, wenn der Mensch nicht die darin enthaltenen Werte zerstören würde. Den Sinn der Veränglichkeit des Einzelnen begreifend wendet sich die Dichterin der Natur zu, in der sich die Antwort auf die Fragen eines Menschen, der in die Jahre sinkt, finden ließe. Aber auch in der Natur sind der Geburt und dem Verschwinden des Menschen komplementäre Veränderungen offensichtlich, was eine weitere Bestätigung des Friedens mit den Gesetzlichkeiten der Natur und des Lebens ist. Deshalb ist die Existenz eines solchen Friedens in den Gedichten möglich, in denen sich der Abschied von allem, was einem lieb war, von allem, was man so prächtig und so intensiv lebte, möglich. Ein Mensch, der stürmisch lebte, kann Verse der Ruhe schreiben und noch mehr die Frische der eigenen Versifikation bewahren: Alles ist so, wie die Bäume denken und so, wie das Wasser sprudeln soll und wie ein Stein neben ihr weint. (Als es keinen Mond gab) All diese Überlegungen, Verwunderungen und Fragen klangen am meisten im Buch Verwunschener Regen (Ukleti da`d, 1969) wider, einem der Höhepunkte ihrer Poesie, einem Gedichtband von kohärenter Einheit. Das Buch ist voll von Erkenntnissen über die Tragik des menschlichen Lebens, aber auch von einer rührenden Ruhe und Natürlichkeit der Geschehnisse. Auch in dieser Atmosphäre ist die Liebe wieder ein Lichtstrahl: „Ich wache auf und flüstere: Sei der Liebe Lied“ (Ein Körnchen der Rührung) Im Gedicht (Der Tod und das Echo der Farben) erschien ihr das Heiligtum der Schönheit auf einer unerreichbaren Höhe und in dem zauberhaften Gedicht Ein Baum aus der Ewigkeit flimmert die Erkenntnis, dass es kein Zurrückkommen gibt, doch die Ewigkeit auch auf Erden existiert. Der Ausdruck wurde durch das Übergehen von Vers in Vers, von Bild in Bild verwirklicht. In diesen Bilderschwärmen sind die sprachlichen Elemente mit semantischer Vi- RELA TIONS bration getränkt, viel reicheren und bedeutenderen als die Vibration der Qualifikation. Das Wort ist sowohl Musik als auch Farbe und Duft und die Bilder sind eine synesthesische Konzentration. In ihren Prosagedichten beobachtet sie die Welt um sich herum und ihre inneren Abgründe ruhiger. Mithilfe einfacher sprachlicher Mittel evoziert sie ihre in der Inspiration betrachteten Träumereien und entdeckt unerforschte Bereiche der Emotionalität. In dieser Art der lyrischen Prosa gibt es Einheiten, die thematisch und lexisch fast gleichwertig sind mit den Gedichten in Versform (Wenn ein Vogel aufhört zu lieben – Die offene Tür). Das Wort Vogel nimmt in dieser Poesie den ersten Platz ein, gemessen an der Häufigkeit, thematisch ist es ein Wort, dass Leichtigkeit und Beständigkeit darstellt, eine Rückkehr im Kreis, jedoch nie auf dem gleichen Weg. Der Vogel ist eine Metapher und ein Symbol und es gibt fast kein Gedicht, in dem nicht das Wort Vogel oder der Name eines Vogels vorkommt. Der Vogel ist ein Symbol für alles, was sich Leben, Freiheit, Freude, Weite, Schönheit, Harmonie nennt. Der Vogel ist Freudentaumel aber auch Trauer, das Symbol der Vertikale, des Eindringens in die Höhe, der Reisen, von etwas Reinem und Kühnem, aber auch des Abschieds, der Vergänglichkeit und der Zeit. „Es gibt keine ewigen Berührungen“, sagte sie in einem der Zehn Sonette über das Schicksal der Vögel. „Vögel sind die Ewigkeit / die umzieht, ohne Laut, aus einem Wesen in ein anderes.“ Sie sind die einzige Brücke, die mit süßem Spott die Teile der Schicksale verbindet. Vögel sind Wegbegleiter und Freunde eines Matrosen auf dem Meer. Sie sind die Boten des Morgens und des Frühlings. „Das Leben ist ein unsichtbarer Vogel“, sagt sie in einem Gedicht und das Herz ist Dossier: Vesna Parun Photo: Zlata Vuceli} RELA TIONS Vesna Parun auf dem Blumenmarkt Cvjetni trg in Zagreb 1973 der „angstvolle Vogel der Liebe“. Die erste Liebe ist „der Vogelgesang im Morgengrauen“ und an einer anderen Stelle sagt sie, dass sie ein „versonnener Vogel“ ist und dass „alles, was wir über uns wissen in ihren Körper passt / das gehorsame Silber“. Wenn sie Freude ausdrückt, sagt Vesna: „In meinem Herzen ist ein Vogel“, wenn sie einen Eid leistet „Wenn mein Herz nicht die Vögel überholt“ und wenn sie die Einsamkeit genießt „Es ist schön, allein zu sein, wenn um dich herum Vögel sind“. Der Mensch und der Vogel können sich im Leben leicht verlaufen „wenn der Mensch dem Vogel nicht traut / und der Vogel dem Menschen nicht“. Der Vogel ist das Symbol der Umarmung, die „in sich das Ungreifbare und das Beendete vereint.“ In ihrem ersten veröffentlichten Gedicht Der Ruf taucht ein weißer Vogel auf, das Symbol für die Schönheit des Lebens und den Ruf des Mutes, sich dem Bösen zu widersetzen. Viel später ist im Gedicht Seid mutig Seefahrer wieder „der weiße Vogel, den sie verbannten! / die nördlichen Winde“ ein Symbol für die verlorene Schönheit des Lebens. Über das Gedicht Ich war ein Junge, eins ihrer frühesten, sagt sie: 21 „Dieses Gedicht ist ein Dokument über mich, ein Mädchen, das kein Junge sein wollte, der mit der Schleuder Vögel tötet, sondern ein Junge, der mit der Schleuder Schreie wirft.“ Und ein Gedicht aus den neunziger Jahren trägt den Titel: Ich war ein Junge mit der Schleuder, ich war ein Vogel. Wenn wir diese zwei Zitate miteinander vergleichen, sehen wir, dass auch das Letztere ein Dokument über die Erfahrung des gegangenen Weges ist, in dem sich für die Dichterin die Zweifaltigkeit des Wesens mit all seiner Tragik herauskristalliersiert hat. Neue Inhalte wurden von einer neuen Form begleitet, so dass wir in den letzten Jahren Zeuge ihrer Besessenheit von Sonetten sind. Wie die alten europäischen Meister besingt auch sie in dieser heiligen Form die Liebe und die Natur oder ihre Gedankengänge (die Sammlungen: Hundert Sonette – Sto soneta, Die bleierne Taube – Olovni golub, Die verzauberte Zauberin – Za~arana ~arobnica). Aber in ihren Sonetten ertönt auch der häretische Klang des Spottes und des dauernden Unfriedens mit der Welt (die Sammlungen: Salto mortale, Kasfalpirovs Land – Kasfalpirova zemlja). Vesna Parun verfasste über fünfhundert Sonette und sechs Sonettkränze, was kaum zu glauben ist. Sicher ist, und das wurde schon in der Kritik ausgedrückt, dass man in einer großen Anzahl dieser unsterblichen Dichtungsformen auch viel Unpoetisches finden kann, aber es ist ebenso wahr, dass diese Dichterin auch in dieser noblen Form Momente feiner Inspiration auszudrücken vermochte und eine Reihe von Sonetten schuf, die wahre „Perltränen der Poesie“ sind. Im ersten Abschnitt ihres Lebens und ihrer Gesänge waren alle Sehnsüchte dieser Dichterin an die Welt der Schönheit gerichtet, aber das Verhältnis zwischen ihr und der Welt um sie herum sang immer mehr in Disharmonie und verwandelte ihre 22 Karmen Mila~i}: Der Vogel und die Zeit ... Loblieder an die Schönheit des Lebens in Klagelieder und scharfzüngig-satyrische Strophen. Schon Mitte der sechziger Jahre begann sie, Tierfabeln in Versform zu schreiben, die voll stichelnder Allusionen mit humoristischem, historischen und politischen Inhalt sind. Im Buch Apokalyptische Fabeln (Apokalipti~ne basne, 1976) hält sie daran an, moderne Tierfabeln zu schreiben und somit ihre Wut über das Antliz des Alltags auszudrücken. Beispielsweise in der Fabel Die Agave auf dem Müllplatz ist ein Dichter ein Naturliebhaber, der das Antlitz des Menschen in der Natur besingt. Ähnlich ist es mit dem Buch Der wandelnde Schemel (Trono`ac koji hoda, 1993), wo zwischen dem einleitenden Gedicht, das das Abbild eines vernünftigen Menschen ist und dem abschließenden, das das Gegenteil davon ist, sich Tierfabeln, satyrische Strophen, weise und erfahrene Epigramme, die mit feiner Ironie, Sarkasmus und unendlicher Trauer geschrieben wurden, aneinanderreihen. Obwohl für die Autorin von Morgenrot und Wirbelsturm, des Schwarzen Olivenbaums und einer Vielzahl anderer Bücher mit „großer“ Poesie Gedichte für die jüngsten Leser eine Art von Flucht darstellen, „ein Genesen von Müdigkeit, Abwegen und fruchtlosen Suchen“, wie sie selbst sagte, ist dieser Exodus bedeutend und diese Rückkehr in die Kindheit dauert schon vier Jahrzehnte. Dieser Durst nach Gleichgewicht und Kindheit entstand selbstverständlich in ihrem Geburtsort Zlarin, im Spätsommer 1955, als sie nach fünfundzwanzig Jahren ihre Insel besuchte und, wie sie selbst sagt, „an einem Strand voller Algen liegend schmiedete ich – ich weiß selbst nicht, warum gerade dann – mein erstes Gedicht für Kinder Der großzügige Maulwurf“. Und wieder im Spätsommer, in Kukljica auf der Insel Ugljan, zwölf Jahre später (1967) begann der Roman in Versform über die abenteuerlustigen Kater Dschingis-Khan und Miki Trasi, der bis heute unvollendet ist. Sommer, Meer, Geburtsort riefen die schönsten Momente der Kinderwelt von Vesna Parun ins Leben, die übervoll sind mit „Körnchen von Meersand und Kiefernzapfen“. Die Motive der Kindergedichte sind zahlreich und mannigfaltig, so dass es leichter ist zu bestimmen, was es nicht gibt in dieser „Burg aus Spinnweben“, als das, was da ist. In Bezug auf Stil und Form überwiegt in den ersten Büchern eine narrative Struktur traditionalistischen Typs und in der Komposition bedient sie sich gereimten Strophenformen aus vier oder mehr Versen oder schreibt ganze kleine Gedichte von fast zweihundert Versen (Der Schildkrötenpanzer). Während die Kritik in den ersten Sammlungen eine narrative Struktur älteren Typs unserer Lyrik, sowie einen harten metrischen Panzer verübelte, beurteilte man die Bücher über Dschingis-Khan und Miki Trasi als eine Bereicherung und Erfrischung der kroatischen Kinderliteratur. Obwohl die Thematik der Kindergedichte äußerst reich ist, bleiben Tiere Vesnas besonderes Lieblingsthema und Hund und Katze sind geradezu archetypische Figuren der kindlichen Welt und des kindlichen Verständnisses. In den neueren Büchern platzten in diese Flora und Fauna die Errungenschaften und Probleme der modernen Welt, die urbane Mitte, Liebe, Einsamkeit und insbesondere das Meer hinein. Ein häufiges Motiv ist das Lernen, der Wunsch nach Erkenntnis, nach dem Kennenlernen des Lebens, nach dem Eindringen in seine Geheimnisse, die Geheimnisse der Natur, ihrer Gesetze und des Verhältnisses der Pflanzen- und Tierwelt. Eine ganze Sammlung, ein Manuskript, (Die kleine Meereskutsche – Morska ko~ijica) ist Vesnas Lieblingsthema gewidmet – RELA TIONS dem Meer, diesem wahren Symbol des Lebens. Der einzige Ausblick, den sie sich in der Kindheit merkte, war das Meer und das einzige Geheimnis ER und SIE, lauten die Verse einer Miniatur. Diese Erinnerungen, Bilder, Gerüche, die in der Kindheit eingesogen wurden, sind der Hauch einer schöneren Welt. Die Fantasie ruht nicht, ebensowenig wie das Meer und verändert sich in hunderte von Formen. Vesna Parun veröffentlichte siebzehn Kinderbücher und sie besitzt noch vier Manuskripte für Sammlungen und Fortsetzungen der Romane über Dschingis-Khan und Miki Trasi. Sie schrieb traditionelle Lyrik und moderne lexische Spiele, ganze kleine Gedichte, gereimte Tierfabeln, poetische Miniaturen, Romane und Radio-Hörspiele in Versform. Ebenso wie sie in ihrer übrigen Poesie ein wenig verschwenderisch ihre Ausdrucksmöglichkeiten, ihre reichen Inventionen zeigt, entsteht auch in der Poesie der Kindheit solch ein Verhältnis zum Wort, so dass man nicht von einer wertlichen, stilistischen und anderen Einheitlichkeit reden kann. Aber was die Konstante dieser Poesie in einer großen Anzahl von Gedichten ist, ist die Spritzigkeit und üppige Fantasie, konnotativer Reichtum, Schönheit und Wärme des Ausdrucks, ein scherzhafter und leicht satyrischer Ton sowie eine Fülle von Klängen und Farben im lexischen Ausdruck. „Der Prosasatz zog mich immer geheimnisvoller als der Vers an, der ein Spiel innerhalb der Sprache ist, in sich selbst vollständig, sich selbst der Sinn“ schrieb Vesna Parun im Buch Das Blut des Zeugen (1988). Sie begann schon sehr früh, Prosaaufsätze zu verfassen, schon in der vierten Klasse der Volksschule. Ihr erstes veröffentlichtes Prosawerk war ein Landschaftsbild vom Meer mit dem Titel Der Leuchtturm (Svjetionik) in der Zagreber Tageszeitung Vjesnik RELA TIONS im Jahr 1946. Auch Prosa schreibt sie ohne Unterbrechung. Sie veröffentlichte zwei Prosawerke: Unter dem Männerschirm (Pod mu{kim ki{obranom, 1987), ein polemisches Buch mit Feuilletons, Tierfabeln, Satyrik, Interviews und das schon erwähnte meditative Buch Das Blut des Zeugen, das von Leid, Liebe und Poesie handelt, sagt, dass das Opfern seit jeher existiert, aber auch, dass es auch jene gibt, die Zeugen des Geopferten sind. Zeitgenosse zu sein, heißt auch, Zeitzeuge zu sein, ein Zeuge des Schicksals. Die esseyistischen Arbeiten von Vesna Parun sind in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften verstreut, Sammelschriften von Symposien und Kongressen, Rundfunk und Fernsehen. Auch in den Prosawerken sind Motive des Leidens und der Hölle auf dieser Erde, der Liebe als Heiligtum und der Poesie als unversiegbare Frische der Welt anwesend und kehren wieder. Diese Prosa reflektiert das Bild eines Lebens voller Unruhe, Suchen, Kämpfe mit der Welt in ihr und außerhalb von ihr. Aus solchen Prosaschriften stellte sie auch ihre Autobiographie zusammen. Oberflächlich betrachtet sind diese Schriften zerrissen, sie sind in verschiedene Gattungen geteilt und haben unterschiedliche Ursprünge der Inspiration. Auch wenn sie an ein bestimmtes Thema, Erlebnis, eine bestimmte Persönlichkeit, ein Buch oder Kunstwerk gebunden sind, erschöpfen sie sich nicht in der Analyse, Darstellung, sondern beinhalten auch kleine Traktate über eine Frage und bieten gemeinsam mit ihrer Poesie das Bild der Einheit der schöpferischen Anstrengungen und menschlicher Bemühungen. Ihre Essays sind mit Poesie durchtränkt und nicht nur Ideenschauen, sondern auch ein Fest des sprachlichen Reichtums und stilistischer Bravouren, übervoll mit ihrer mediterran abenteuerlustigen Fantasie. Der Form nach ist ihre Prosa ein „buntes Herbarium“, wie sie selbst Dossier: Vesna Parun sagte, das auch wie Unordnung scheinen kann, das aber tief mit der Faktographie des Lebens verbunden ist. Das sind Überlegungen und sorgsam aufgebaute Texte jenes kontemplativen Geistes, der über nichts schweigt, in seinem unnachgiebigen Verlangen nach Harmonie. In den Prosatexten von Vesna Parun werden Themen zu Prätexten für ihre eigenen gedanklichen und stilistischen Höhenflüge. Sie sucht nach ihrem interpretatorischen Effekt und deshalb ist ihr Text in einer erhobeneren Stimme geschrieben, mit vielen Wortinversionen, Stilumschwüngen, immer mit poetischer Konnotation, Üppigkeit und Schönheit der Sprache. Die Dramawerke haben, im Verhältnis zur Fülle ihrer Gedichtbücher, einen ziemlich bescheidenen Um- 23 fang (sechs Theaterstücke) und sind keine Dramen in der klassischen Bedeutung dieser literarischen Gattung. Sie sind auch keine rein poetischen Dramen, denn die Autorin bleibt nicht nur bei Symbolen oder säubert sie in höchstem Maße. Die Charaktere sind von sekundärer Bedeutung und sie unterwirft die Figuren und die Fabel selbst der Grundidee. Auch in ihren Dramawerken kehrt Vesna Parun zu ihren frühesten Erlebnissen und den Problemen ihrer Zeit zurück, berreichert mit Reife und neuen Erfahrungen. Darin finden wir die Sinnlichkeit der mediterranen Landschaft, die eine zauberhafte Inszenierung erlaubt und das Spezifische der Inselmentalität, doch vor allem das allmächtige Meer als Symbol der ununterbrochenen Erneue- Vesna Parun 24 Karmen Mila~i}: Der Vogel und die Zeit ... rung des Lebens. „Parun ist einer, der mit dem Meer geboren wurde“ sagt eine Figur in der romantischen Komödie Die Insel der Esel (Magare}i otok). In diesen Texten finden wir auch einen bestimmten Themenkomplex, die auch in ihrer Lyrik erscheinen, was eine dauerhaftere Beschäftigung mit dem inspirativen Thema zeigt, ungeachtet dessen, dass es sich um Variationen desselben Motivs handelt. Die Dramawerke von Vesna Parun beinhalten eine Welt großer poetischer Imagination, eine Frische der Gedanken und einen Reichtum des Ausdrucks. Diesen Werken fehlt sicherlich das Gewicht des Dramas, psychologisch-realistisch ausgefeilte Zustände, Systematik, Knappheit und Abgerundetheit, aber diese ständige Frische des Dichters ist vorhanden, die erlaubt, sich in Bilderschwärmen und dem souveränen Beherrschen der Sprache zu erneuern. Nicht nur in Situationen, sondern auch im Dialog, auch wenn er in der Faktur der Prosa ist, gibt es ein Suchen des lyrischen Rhytmus, das Wort ist eine Illustration der lyrischen Atmosphäre. Ihren Dramawerken, wie auch in der Lyrik, drückt Vesna Parun den Stempel ihrer eigenen Lebenserfahrung und Überlegungen, ihrer Kritik und ihrer Bitterheiten, ihrer Erkenntnisse über die Zerstreutheit der Lebensharmonie und diese Werke sind nur im Kontext ihres gesamten literarischen Opus und ihres ausgesprochen schweren Lebensweges erklärbar. Aber gerade das poetische Gewand dieser Texte macht sie luftig und erleuchtet, egal wie düster, schmerzlich und für den Menschen fatal die Geschehnisse auch sein mögen. Ihr Wert offenbart sich in der Rebbelion und dem Widerstand gegen den Druck, die Gewalt sowie im Kampf für Wahrheit, Gerechigkeit und Humanität. Vesna Parun begann 1955 dramatische Texte zu schreiben und tut das noch heute. Vier Dramawerke wurden inszeniert und die meisten Auf- führungen und Erfolge in mehreren kroatischen Städte verbuchte dies szenische Ballade Marija und der Matrose (Marija i mornar). Sie wurde auch auf Radio-Zagreb (1962) aufgeführt, ins Deutsche übersetzt (Übersetzer Milo Dor) und auf Radio-Wien (1962) und Radio-Bremen (1963) gesendet. Das Motiv ist das unvollendete Schicksal eines Mannes und einer Frau, Liebe, Abschied, Träume und das Meer. Eine Figur sagt: „Wenn die Liebe in uns stirbt, dann sind wir weder alt noch jung, dann sind wir nackt und nicht vor der Zeit zu verteidigen.“ Und eine andere: „Alles, was auf der Welt geschehen kann, geschieht zwischen zwei Menschen. Und das Übrige ist – die Wildnis des Ozeans.“ Es scheint eine tiefgreifende, elementare Verbundenheit zu bestehen zwischen allem, was Vesna Parun durch Verse, Prosa und Dramadialoge ausgedrückt hat. Beim Lesen dieser Fülle von literarischen Texten gewinnen wir die Ansicht, dass sie mit dem gesamten Werk die Seiten eines einzigen Gedichtbandes ausfüllt, ohne Rücksicht auf die Errungenschaften des Ausdrucks und die Unterschiedlichkeit der formalen Ausdrucksmittel. Die Liebe einer Frau als menschliches Schicksal ist das zentrale Thema dieses prächtigen Buches. Vom ersten veröffentlichten Gedicht an besingt sie und befruchtet das Verhältnis und den Kampf zwischen Mensch und der ihm gegebenen Zeit. Und dieses Verhältnis verlangt ein ständiges Gespräch mit dem Leben. Vesna Parun ist eins der größten dichterischen Namen dieses Jahrhunderts und ein Klassiker der kroatischen Literatur. Sie ist eine außergewöhnliche Erscheinung nicht nur mit der Fülle der literarischen Gattungen, in denen sie sich versuchte, sondern auch mit sehr weit verzweigten Formen in Lyrik und Prosa. Nach Tin Ujevi} ist der Wortschatz von Vesna Parun der umfangreichste in RELA TIONS unserer neueren Lyrik. Sie ist einer der meistübersetzten Dichter der kroatischen Lyrik, so dass diese ihr Ansehen in vielen Ländern Europas und außerhalb verbreitet hat. Elf ihrer Gedichtbände wurden übersetzt. Sie ist selbst Übersetzerin aus dem Slowenischen, Bulgarischen, Französischen und Deutschen. Im Jahr 1955 erklomm sie wahre Höhen des übersetzerischen Schaffens als sie in gebundenem Vers Goethe (Der Erlkönig), Heine (Die Loreley) und Rilke (Herbsttag) ins Kroatische übertrug. Zwei Elemente, die das dichterische Werk von Vesna Parun luzide und schwungvoll machen: Der Geist der Jugend und der beharrliche Glaube an den einzigen Zweck der Kunst – dem Leben und dem Menschen zu dienen. Im Leben dieser Schriftstellerin ist jetzt Herbst, fast Spätherbst, aber es ist weder ein Absterben des zerbrechlichen lyrischen Gewebes zu spüren, noch ein Verlust des Atems, stattdessen ist die Schönheit, die der Mensch für den Menschen geschaffen hat, und die beharrliche Wachheit vor den Augen des Alltags noch immer anwesend. Wahre Dichter haben eine sonderbare Macht der Erneuerung der Poesie auf eine eigentümliche Weise... Vesna Parun sagt: „Es ist gut, wenn es dir gegeben wurde, ein Alter zu erleben, in dem du mit dem unsichtbaren Auge klarer reifst, als du gestern mit dem sichtbaren überschauen konntest.“ Durch ihr Leben und ihr Werk, bereichert von der Unnachgiebigkeit der Ungemache, von Erfahrungen und Schlägen bewies sie überlegen, dass es trotzdem möglich ist, in der Wirklichkeit, die kein Gedicht und kein Märchen ist, zu solchen geistigen Höhen aufzusteigen, von denen aus man ideale Errungenschaften nur erahnen kann. ¹Juni-September 1995º Aus dem Kroatischen von Marijana Mili~evi} RELA TIONS Dossier: Vesna Parun 25 Foto: Jana Jelinek Welche Farbe hat die Unruhe VESNA PARUN: Eine Nacht für Bosheit, Mein Leben in 40 Säcken ¹„No} za pakost, Moj `ivot u 40 vre}a“º, Matica hrvatska, Zagreb, 2001 Jadranka Pintari} An jenem Abend, als ich mich davor drückte, mich an den Computer zu setzten und ein paar Worte über das Proasbuch von Vesna Parun zu sagen, „zappte“ ich durch die Kanäle und auf BBC World stieß ich auf die Sendung „The Nobel centuri“. Vier literarische Nobelpreisträger (S. Heany, G. Grass, Sir V. S. Naipaul, N. Gordimer) saßen in einer riesigen prachtvollen Bibliothek, auf einem leicht gehobenen Podium und diskutierten über den Sinn der Literatur. Der Ire, der Dichter Seamus Heaney berief sich auf seine Kollegen C. Milos und J. Brodski, die dichterischen Stimmen, denen es gelang, in einem schicksalstächtigen Augenblick zu sprechen, und dabei zu behaupten, dass die Poesie zwar ein Volk nicht im Sinne eines Messias rettet, es aber in einem menschlichen, historisch-existierenden, sinngemäßen, onthologischen tut. Darauf erwiderte der Prosaist Günter Grass, dass die Literatur auch die Sprache einer Nation rettet – und das ist das Substrat der Existenz. Als er, zum Beispiel, anfing zu schreiben, war die deutsche Sprache beschädigt (damaged), sie war verseucht und vernichtet durch die Zeit des Nazismus und man musste auf den Gebrauch vieler Wörter achten, so dass „ich meine Muttersprache aufs Neue entdecken musste, den Wörtern das Recht auf Gebrauch zurückgeben“. Er entdeckte sie für sich wie auch für seine Leser. Nadine Gordimer behauptete, dass man schreiben muss, auch wegen der Verantwortung gegenüber denen, die vor uns schrieben und denen wir einen Teil von uns verdanken; das, was wir von anderen Schriftstellern bekommen haben, müssen wir weitergeben, wenn wir dieses Talent besitzen. Ich dachte, dass Vesna Parun ganz fabelhaft in dieses Bild passte: Sie ist die dichterische Stimme, der es gelang, immer im rechten Augenblick zu sprechen, mit dem richtigen Wort, der Sprache, die ein Supstrat (auch) ihrer persönlichen Existenz ist und mit Respekt gegenüber jenen, die ihr vorangingen. Als ich 1980 in den Stadtteil Dubrava in Zagreb zog, sah ich sie manchmal in der Straßenbahn oder an der Endhaltestelle oder im Vorbeigehen an der Bushaltestelle ins Viertel Studentski grad. Ich war Studentin, mit vielen auswendig gelernten Versen im Kopf und mit Bewunderung gegenüber der dichterischen Kunst und Vesna war ein fast unwirkliches Wesen, eine Dichterin aus der Schullektüre und Lesebücher, eine Person, die in den Medien auftauchte, so dass ich sie heimlich, mit Ehrfurcht, mit bewundernden und abschätzenden Blicken beobachtete – um eine Aura, ein geheimes Zeichen zu entdecken, mit dem sich diese Andersartigkeit, Außerordentlichkeit, Kennzeichnung des Wesens, das Zeichen von Pythia offenbart. Auch ihre Erscheinung war ja beeindruckend und einzigartig: Sie trug immer exotische und bunte Tücher und Schals, auf 26 Jadranka Pintari}: Welche Farbe hat die Unruhe dem Kopf Mützen oder sie hatte zersauste rötliche Locken, ungewöhnliche Kleidung, eine große Tasche. Ich erinnere mich, wie ich mich zu Anfang wunderte, dass eine so wichtige Person mit der Straßenbahn fährt und dann noch in einen immer überfüllten Bus muss, der sie in eine unförmige Siedlung mit grauen Betonbauten und einem obskuren Namen bringt. In all diesen Jahren fuhr sie mit der Straßenbahn (und nach eigenem Geständnis, stritt mit den Schaffnern und Kontrolleuren). Und ich erinnere mich, dass sie immer alleine war: Die Frau, die einige der schönsten Liebesverse in der gesamten kroatischen Dichtkunst geschrieben hat – schritt alleine durch die Welt. Oft schien sie abwesend, sie war in ihrer eigenen Welt und nicht in der Straßenbahn Nummer 11 oder 12, die in ein Stadtviertel fuhr, das damals keinen guten Ruf hatte und weiß Gott auch heute noch kein Eliteviertel ist. Sie hasste ihre Badel-Straße (heute die Straße Vile Velebita) in der mir Stoßarbeiterschweiß erbauten Siedlung – implizit denkend, dass ihr (mit vollem Recht) etwas Besseres zusteht – und blieb all diese Jahrzehnte in der baufälligen, ungepflegten Wohnung „hängen“. Und ich erinnere mich, wie sie von den Kritikern verlangte, dass sie sie weder als „Die Parun“ ansprachen noch so über sie schrieben – sie hielt das für beleidigend – was mir gefallen hat, denn ich dachte mir selbst, dass es unverschämt sei, so irgendjemanden anzusprechen, gescheweige denn eine geschätzte Dichterin. Obwohl ich sie so aus der Ferne bewunderte, habe ich sie nie angesprochen – später überlegte ich: Das ist eigenlich völlig in Ordnung und im Einklang mit der Kultur und den Gepflogenheiten, in denen ich großgezogen wurde – eine bekannte Person an einem öffentlichen Ort anzusprechen ist die amerikanische Art, d. h. das Nichtrespektieren des Rechts auf Privat- sphäre und die Heiligkeit der Persönlichkeit ist eine gewisse Aggressivität, außerdem bin ich auch heute noch scheu. Trotzdem, die Poétesse Vesna war die Verkörperung meiner romantischen Vorstellung von Dichtern: Abgehoben, „ausgeklinkt“ aus der Welt, eigen, „verflucht“. Sie nannten sie auch „Aschenputtel aus der Studentenstadt“ und da sie in jenen Jahren das sechzigste Lebesjahr erreichte, gab es eine Menge festlicher Texte und Gespräche – trotz ihrer Meinung, dass man „Geburtstage zum Tag des Schweigens erklären sollte“. Sie sprach so, wie in meiner Vorstellung Dichter sprachen: „Mein Haus ist voll vom Jauchzen der Zwerge, die von Wand zu Wand tanzen und sich über die lebendig gewordenen Worte wundern.“ oder „Aus dem Mausloch meiner Nirwanas strecke ich meine Nase hinaus in die Öffentlichkeit, um an der Luft zu schnuppern und die Ilica entlang zu schlendern...“ oder „Solange du lebst, ist die Literatur Unordnung. Wenn du stirbst, bringen dich die Magister gewaltsam in Reih und Glied“ oder „Die Poesie ist nichts anderes als schwarze Magie, die – im Gegensatz zu allen anderen schwarzen Magien, die seit ewigen Zeiten die Welt überschwemmten – das Wort in einem chemisch reinen Zustand vollbringt und zwar ausschließlich an sich selbst. Durch das Verzaubern der Seele mit Poesie entzaubert sie der Dichter von der Kaballah der Realität.“ Ich weiß nicht, ob sie auch an diesen frühen Abenden aus dem Kino (Kosmaj, in dem sie ihre Beine ausstreckt) zurückkam, wohin sie ging, weil „im Dunkeln neben dir unbekannte Menschen sitzen und du fühlst dich schön, sicher, gesund“ – wie sie in einem Interview sagte. Ich ahnte nur, dass es mühsam und anstrengend sein musste, so ausdauernd (ursprünglich) du selbst zu sein oder mit ihren Worten „es wird immer schwieriger, sich selbst treu zu blei- RELA TIONS ben und in dir diesen Organismus des menschlichen Lebens zu tragen, denn das menschliche Leben ist immer ein kleines Wesen, jung, neugeboren an jedem Tag unseres Lebens. Unser Leben ist unser Kind, das wir tragen. Es altert nicht, es fossiliert sich nicht, es ist klein, weich und hilflos.“ Und wie schwer es wirklich ist, sich selbst treu zu bleiben und jeden Tag dieses Kind zu tragen, dass jeden Morgen geboren wird, wurde erst zwanzig Jahre danach klarer, als ich Eine Nacht für Bosheit las. Einst hatte sie gesagt: „Die Gedichte sind vielleicht ein Spiegelbild meiner Seele, aber nicht auch ein Abbild meines Lebens.“ und dieses Buch ist vielleicht teilweise ein Spiegelbild ihres Lebens (und was das Abbild ist, so bin ich nicht sicher, ob das irgendjemand sagen kann), denn heute sagt sie: Gedichtsbände sind ein Panoptikum falscher Spiegel, eine Schatzkammer an Informationen, verschlossen unter einer Chiffre, die nur eine kleine Handvoll von Auserwählten kennt und den übrigen sicherlich zur Verwunderung und Häme dient.“ Sie war wahrlich eine schöne Frau, markant, und keine süßliche Schönheit – davon zeugt eine Vielzahl an Fotografien im Buch (so wie von ihrem malerischen Talent ihre Arbeiten und „Werke“ an den Wänden und Türen der Wohnung zeugen, zahlreiche Bilder, die entstanden sind, als sie „sich von der Tyrannei der Worte ausruhte“). Auch in diesem Sinne war sie in gewisser Weise unglücklich – so sehr sie auch glücklich und mit allen seltenen Inspirationen beschert war. Eine Nacht für Bosheit ist eigentlich eine belletrisierte Autobiographie, sagen wir mal die künstlerische Beichte einer Künstlerin. Andererseits ist sie in der Faktographie ihres Lebens dokumentaristisch treu und irgendwie unausweichlich notwendig Fiction in den Auslegungen und zahlreichen Beschreibungen der Beziehungen zu RELA TIONS anderen und vor allem beim Erklären ihrer inneren Zustände – die sich stellenweise unbemerkt von Poesie in Prosa transformieren, insbesondere wenn die Rede von Träumen ist oder Versuchen, die eigene Lage in einer konkreten, gegebenen Umgebung und Existenz, dem Schicksal und Vollblütigkeit des Lebens zu ergründen. Es ist sogar, sagen wir mal, möglich, Ereignisse und Menschen, über die sie schreibt, zu verfolgen, obwohl sie (nach Bedarf) ihre Namen änderte und niemanden mit Absicht und Hintergedanken beleidigte oder verleumdete, aber es gibt genug erkennbare Eigenschaften und Situationen für eine zweifelsfreie Feststellung der Identität. In diesem Sinne kann dieses Buch einem (es wäre besser – zukünftigen) Suchenden nach Klatsch, Anegdoten und affärenträchtigen Situationen im kroatischen Kulturraum der 1970-er und 1980-er Jahre eine reiche Quelle sowohl der Spuren als auch der Informationen sein. Doch mir scheint das kein guter Schlüssel für das heutige wohlwollende Lesen dieses Buches, sondern man sollte es als eine literarische Beichte über die inneren Kreuzgänge eines hypersensiblen und talentieren Wesens lesen. Weil sie am 31. Oktober 1972, am Tag, als ihre Mutter gestorben ist, zum ersten Mal das uralte chinesische weise Buch Yi Jing um Rat fragte, blieb sie dort, wo sie war und wartete. Sie hat damals wohl noch nicht gewusst, dass das Leben auf niemanden wartet (und das jene, die warten, in der Regel traurig und enttäuscht werden – trotzdem, aus diesem Leid können sie auch etwas schaffen, während die, die nicht warten können, in ihrer Hast keine Zeit haben, sich umzusehen). Obwohl sie wusste, dass man sich fürchten muss vor den „Echos, die sich den unschuldigen Lagern der Liebe nähern.“ Und die Geschichte, die äußere und innere, formte die Biographie – uner- Dossier: Vesna Parun 27 Vesna Parun forscht. Sie sagt, sie hätte nie ein Tagebuch geführt, aber es schrieb sich, unsichtbar auf dem Papier, irgendwo in ihr drin. „Es schrieb sich selbst, in gespenstigem Schweigen, ohne mich auch nach meiner Zustimmung zu fragen. Es schrieb sich ohne Worte, ohne Sätze, ohne grammatikalische Formen, rechtschreiberische Haken. Ich wusste, dass es passierte.“ In dieser Zeit hörte sie auf die nie und durch nichts unterdrückte Stimme, die sagte „schreib, was du lebst“ und noch lauter „schreib, als ob du nicht leben würdest. Schreib Poesie!“ Und sie schrieb: Dutzende von Büchern. „Dieser Kopf, mit dem ich dies jetzt schreibe und die Hand, die es schreibt, erlauben mir keine Minute der Zukunft. Der Lebenslauf ist ein ge- schriebenes Wunder: Das, was gestorben ist, zum Leben zu erwecken, das, was verschwunden ist, zurückzubringen, sich selbst zu täuschen, dass du zweimal gelebt hast.“ Hier ist dieses eingebundene zweite Leben. Obwohl darin mehr die Rede von Trotz, Stolz und Leid ist, hob sich das Wort Bosheit durch eine Besonderheit hervor: Durch das Umstellen von Buchstaben ließ sich daraus hundert und ein Wort schaffen. Eines Nachts in diesem verhassten Viertel und der noch verhassteren Wohnung, mit dem, über den sie sagt, er sei ihr karmischer Bruder: „Ich wälzte die Bosheit im Mund herum, knabberte an ihr, halbierte sie, machte aus ihr kleine einsilbige Bilder, ein ganzes Mosaik. Ich zählte sie laut auf...“ 28 Jadranka Pintari}: Welche Farbe hat die Unruhe Doch als wichtigstes Wort ergab sich trotzdem das Wort Chaos. „Das Chaos meines Zimmers und das Chaos des Kosmos: Mein Leben in vierzig Säcken! Ist das nicht ein und dasselbe Gesetz der Enthropie?“ Dieses Leben in vierzig Säcken, den wortwörtlichen – großen schwarzen Müllsäcken, in die sie alles für ihren Umzug (wohin? zu ihrem karmischen Bruder? ein Auszug aus ihr selbst?) – und den metaphorischen – in die niemals der „Text des Lebens“ und der „Text der Kunst“ passen wird, für die, von der sie sagten, dass sie als Überflüssige geboren wurde, vor achtzig Lenzen, auf der Insel der verlassenen Frauen, Zlarin. Und vor diesem Chaos „Ich erkannte, dass alles KAMPF war, auch die Liebe – nun, letzten Endes auch die Poesie selbst. Ein Kampf gegen das Leben, das kein Leben ist. Gegen das, was ihm kaum ähnelte.“ Wahrlich ein Kampf des Lebens und der Kunst um das Recht auf ein Leben der Andersartigkeit und die Kunst der Selbständigkeit. Sie, den Fischottern treu unter der schwarzen Olive, die heute das Buch schreibt „Ich deren Hände unschuldiger sind“ hatte keine glückliche Hand in der Welt im Zeichen des Männerschirms. Und sie stellte sich unter diesen „Männerschirm“ und andererseits hat er sie nie empfangen. So sprach Sie auch (aus Bosheit?) von dem grausamen Mann, dem sie sich ganz hingab und er sie im Stich ließ als Liebhaber und als Mensch. Eine Jugendliebe, die zum Schicksal wurde. Der zweite Antipode ist die reife Liebe, die unvollendet blieb (hm, in unserem alltäglichen Sinn). Es reihen sich Gestalten, die sie auf diese oder jene Art benutzten und missbrauchten. Jedoch ist immer nur ihr inneres Erlebnis der Geschehnisse ausschlaggebend und inhaltlich wichtig. Das ist die wirkliche Erforschung des Reliefs von Seele und Geist: Der Gipfel und Täler, der Sonnen- und Schattenseite, dunkler, verborgener Winkel und furchteinflößender Labyrinthe, unerklärlicher Wendungen Die hundertjährige Magdica Isanos, ständige Inspiration von Vesna Parun RELA TIONS und Kiesel unter der Zunge. Jede Autobiographie ist teilweise auch eine Mythologisierung des eigenen Lebens (was keinesfalls unbedingt ein negativer Aspekt ist), das „Bestäuben“ mit dem goldenen Staub des Vergessens von längst vergangenen Ereignissen, die „Vernebelung“ der Erlebnisse durch Erinnerung und das „philosophische“ Zuschreiben von Bedeutung den Erfahrungen – Vesna ist auch darin ehrlich, sie versucht ihren Leser nicht davon zu überzeugen, dass diese Seiten ein „objektives“ Bild der Vergangenheit sind, sondern wirklich nur eine Darstellung (der Darstellung) von ihr selbst, die sich selber aus einer zeitlichen Entfernung beobachtet, von der Kindheit bis zum reiferen Alter. Die Poetik der Träume verwandelt sich in die Poetik des Alltags und dieser gar in das Poetisieren von allem, was es berührt – in Gedanken, Worten, Taten. Sie schafft die Grenzen des Genres und der Sprache ab, die Behälter der Bedeutung von Worten füllt sie mit neuem Sinn, rettet unmessianisch die Poesie („die andere Stimme“ des Octavio Pazo) von der Banalität und führt sie zu den ursprünglichen, den Göttern zum Greifen nahe, Höhen. Vermittelt manch längst verlorenes Wissen. Sie kann nicht aus ihrer eigenen Haut: Sie bleibt Dichterin bis zum letzten Buchstaben. Und obwohl sie sie als unsere beste Poetin bezeichneten, sagten sie, dass sie ein Enfant terrible sei, dass sie Skandale heraufbeschwört, dass sie huch! unzurechnungsfähig sei! Und obwohl sich die Leserschaft vor ihr verneigte und obwohl ihr Verliebte und Liebeskranke Ehren erwiesen und obwohl sie für die Medien interessant war und den Establishments unlieb... bittet sie noch heute: „Die Liebe ist eine Landkarte der Seele. Meine Landkarte. Gott, entreiße sie mir nicht!“ Aus dem Kroatischen von Marijana Mili~evi} RELA TIONS Dossier: Vesna Parun 29 Eine Nacht für Bosheit ¹ Auszüge aus dem Romanº Vesna Parun Kuss des Lebens Juli 1947 Augen. Mund. Hände. Alles ist da. Und das weiße grobe Laken auf dem Bett. Rundherum noch mehr Betten mit Laken. Fenster ohne Gardinen. Todesstille. Wo bin ich? Ich strenge diesen übrig gebliebenen Teil von mir an, damit er sich erinnert. Die Neugier, mein Leben zu enträtseln, brachte mich schon immer dazu, aufzuwachen, genau wie jetzt: Noch weiß ich nicht, wo ich bin oder wohin ich gehen würde. Aber ich weiß, wer ich bin. Und wo ich war und wohin ich ging. Warum ich mich so stumpf körperlos fühle, obwohl mein Herz noch klopft. Und mein Herz klopft noch. Hämmert eigentlich, schlägt gegen meinen Brustkorb. Mein eigenes, aus den Schienen der Zeit gesprungenes Herz wird mich umbringen... Es wird dunkel. Lange betrachte ich meine gelblichen abgetöteten Handflächen. Die Schwielen darauf möchten ihre Geschichte beginnen, aber der müde Kopf lässt sie nicht. Ich tauche von Neuem in einen trüben Schlaf ohne Träume, ohne Visionen vom morgigen Tag, ohne Gegenwart... Hat mich die schrille Trompete des Zapfenstreichs geweckt oder meldete sich hinter dem Kap von Zlarin mit seiner heiseren mürrischen Stimme ein verschlafenes Dampfschiff? Ich stütze mich erwartungsvoll auf dem Kissen ab, begreife aber, dass ich ein vom Sturm zerissenes Fischernetz bin, das die Korkteile nach oben treiben, während Bleiringe es auf den magischen Grund ziehen. Jemand legt mir sanft die Hand auf die Stirn. Man schiebt mir ein Thermometer unter die Achsel. Im Thermometer ist Quecksilber. Das Leben ist ein Messen von Achselwärme. Die Abmessung von Wärmeimpulsen, die uns kurzzeitig geschenkt wurden. Ich bin also am Leben. Man schenkt uns das, was uns gewaltsam entrissen wurde. Wenn du kein Dieb von ziellos verstreuten Lebensgeschenken bist, dann bist du vielleicht ein Dichter. Oder ein Toter... Lasst sie nur schlafen! – höre ich, wie sie sagen. Irgendwo tief auf dem Grund meines Gehirns, im grünenden Wald der Algen, singt so berauschend eine abendliche Nachtigall... Und mich gibt es nicht. Meine innere Werkstatt der Worte ist so öde. Wollte ich nicht die letzte Srophe eines hundert Seemeilen von mir entferneten Gedichts beenden? Aber wann war das? Die Zeit der Uhren steht still. Alles entwich aus mir und aus der Uhr auf dem Turm, zerstreute sich in Schaum. Der alte Lebensrhytmus ist zerstört, einen neuen gilt es mühevoll zu erschaffen. Der Rhytmus von Weltraumgeschehnissen hilft uns dabei nicht. Ich sterbe vor Durst, denn ich schöpfe kein Wasser aus dem Boden wie eine Pflanze. Vor Hunger, denn ich fange keine Käfer in das spinnwebige Netz meines Atems. Was ist eigentlich mit mir passiert? Ich war ganz. Ich war der Obelisk vor dem Palast der Vereinten Winde der Poesie. Sie trugen mich auf den Schultern von Staatsmännern in eine andere Ameisenwelt hinüber. Dies hier ist die Geometrie der trägen brüchigen Flächen der Wirklichkeit, das Bewegen von Schatten über den Spuren von menschlichen Schicksalen. Sie soll nur schlafen! – höre ich sie flüstern. Und ich, verwundert, schlafe wirklich... Wie viele Nachmittage und Abende sind so vergangen, Tage und Nächte? Etliche, nach den schon ziemlich erweichten Schwielen und nach einer tödlichen Langeweile, die lautlos von überallher hervorquillt, zu urtei- 30 Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit len. Wie in der zeitlosen Einöde der Kindheit, wenn du mutterseelenallein mit deinem kranken Engel geblieben bist. Einem traurigen, weil er wegen der Masern nicht mit dir spielen durfte. Diese über meinem Kopf schweigend Geneigten sind zweifellost keine kranken Engel, aber es werden wohl irgendwelche guten aufmerksamen Menschen sein. Ein Mann, mittleren Alters und ein weinig angegraut, im weißen Mantel. Hinter ihm noch einer. Sie gehen weiter. Eine groß gewachsene blonde Frau in Weiß hält eine angeschlagene Tasse mit Tee an meinen Mund. Ein paar Schlucke und... ich schwebe. Im fiebrigen Halbschlaf sehe ich: Der Himmel, glühend und blendend wie der Hochofen einer Eisenhütte, aus ihm sprühen Sterne und Meteoren, prasseln auf mich nieder. Ich stöhne vor Schmerzen. Schwarze Wanzen krabbeln über die vor langer Zeit gestrichene Zimmerdecke... Nein, das ist nicht dieses hier. Hier ist alles irgendwie auseinandergeschoben und sauber, riecht nach Carbol und bitteren Lindenblütentee. Und es schmerzt nicht mehr so. Und das andere war woanders, in einer Kammer des türkischen Hans, auf Ba{~ar{ija1... Die goldlockige Krankenschwester setzte sich an meine Bettkante. – Ich bin Vida. Wie fühlst du dich jetzt? – Hajro, mein Sohn... Er schaute auf den Boden, wankend wie ein Betrunkener und die Schuhe hüpften lebhaft an den Senkeln. Vida ging zum Fenster und schloss es. Dann, während sie versuchte mit einem Kamm mein Haar zu entwirren, sah ich auf ihrem Gesicht Tränen. – Auf der benachbarten Station sterben sie einer nach dem anderen und man bringt ständig neue. Auf Bahren, wie auch dich... Das Klagen verlor sich wie verklungenes Möwengeschrei in der Ferne. – Dieser Hajro starb an Meningitis – fuhr Vida fort. – Er war lange in Koma. Er kam auch aus einer Arbeitsbrigade, einer döflichen. Bei Vranduk. Und du? – Ich?... – Ich fing an nachzudenken. – Hat man mich nicht von Ba{~ar{ija hergebracht? – Du hattest ein Entlassungsschreiben aus der Brigade „Ivan Goran Kova~i}“. Wo ist das? – Im Zenica-Kessel. Wir nannten es: Teufelskessel mit Engels’ Deckel. Oder habe ich mir das ausgedacht... – Und ihr Studenten, ihr habt von morgens bis abends gegraben? Sie erinnerte mich an die Wasserträger meiner Insel, an die Frauen an den schweren Rudern, die Olivenpflückerinnen... – Na ja, wir haben einen Damm für Schienen gebaut, stampften Erde... Im Spind ist mein Rucksack. Darin ist alles, was ich habe. Auf Zetteln sind Verse. Wenn es passieren sollte, Vida... Auf einmal ertönte von draußen eine Männerstimme, durchdringend und wellig näherte sie sich. Es war ein Klagegeschrei. Bald erspähten wir durch das offene erdgeschossige Fenster die gebeugte Gestalt eines älteren Mannes mit einem Paar großer Männerschuhe über dem rechten Arm und einem Bündel im linken. – Ach, sei doch still, du hast es geschafft! Weißt du, dass du schon im Leichenschauhaus warst, sie haben dich direkt aus dem Ambulanzwagen abgeladen. Du hast es Doktor [arac zu verdanken, dass du noch lebst. Er ist für alle hier Vater und Mutter, vollbringt Wunder, so viel er kann, rettet. Er gibt euch, sagt 1 Historisches Viertel in Sarajevo RELA TIONS man bei uns, den Kuss des Lebens... Da, sie bringen wieder welche an!... Vom Gang her hörte man Aufruhr und Lärm. Sie flatterte aus dem Zimmer. Magie des Morgens, SpaziergängerWolken... klebte an meinem trockenen Gaumen der Vers, einer von den Zetteln. Ich schließe die Augen. Unter meinen Lidern schießen Blitze. Die bergige Nacht senkt sich, die Ungeliebte dämmerte... Auch wenn ich den Ansturm der verwelkten Verse abschütteln sollte, wie soll man das Kaleidoskop von Bildern zerschlagen, das kaputte Karussell anhalten? Was ist da mit meiner Generation auf diesem Karussell geschehen? Ich bin eine von denen, die der Krieg verschont hat. Ich musste diese verdammte Eisenbahnstrecke kosten und wenn auch sie mich verschont – hüte dich vor dem dritten Glück! Ich erinnere mich an die Untersuchung in der Studenten-Poliklinik in Zagreb; Oberkörper freimachen, Impfung. Geh nicht! – flüsterte mir ein uneffizienter Bazillus in der Nadel zu. Aber dieses Stimmchen überwog nicht die Gründe, die mich zwangen, es nicht zu beachten. In Bosanski Brod, auf der Wiese, auf die sie uns aus Viehwaggons abluden, um zu übernachten, trank ich – aus Händen – von einem Brunnen. Eine samtige dunkle Stimme in der Nähe, scheint mir, warnte mich: Trink nicht!... Ob das meine rothaarige Kollegin Lela Kunti} war – die Talentierte aus ^ehovs Onkel Vanja in der Aufführung der Schauspielgruppe, die zukünftige Historikerin? Vielleicht. (Gott hab sie selig, jetzt am ersten Todestag!) Etwas weiter weg führte Vanja Sutli} wie üblich seine philosophisch-rhetorische witzige Show auf. Mit seinem Kneifer und dünnem Schnurrbart, mit dem RELA TIONS er nach einer Beute zu suchen schien, um sich wie ein scharfsinniger Delfin auf sie zu stürzen – auf die Sinnlosigkeit und das Absurde, auf das NichtSein. (Auch er ist schon, pseudo-ironischerweise, in die Gärten himmlischer Peripathetik übergesiedelt und hat die Schlacht verloren)... Es war, denke ich, am ersten Juli. Am morgigen Tag waren wir im Herzen Bosniens, am Ziel. In der Tasse ist kein Tropfen Tee mehr. Alle Patientinnen im Zimmer schlafen. Niemand kommt. Aber ich kann wenigstens nach Herzenslust so liegen, bewegungslos, ich muss mich nicht abmühen, um den zu schweren Spaten zu packen, um jemanden zu überzeugen, dass ich mich nicht vor der Arbeit drücke. Da ich die ganze Zeit liege und faulenze, werde ich sicher eine Mahnung bekommen, eine Kakerlake oder einen Ohrwurm... Vor meinen Augen taucht eine ganze Bühne auf, Baracken, umliegende Berge, Pflaumengärten. In nie dargewesener Hitze und Schwüle habe ich meinen langen höllischen Tag mit Leichtigkeit und verwunderlichem Elan absolviert. Sie nannten mich Silvana, nach dem Film Bitterer Reis, der damals – aus Mangel an Reis und Schönheit – auch bei uns sehr beliebt war. Ich war sogar Stoßarbeiterin – bis mich dumpfe tückische Bauchkrämpfe, danach auch heimtückische Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, wachsende Schwäche, wilder Durst überraschten. Nirgendwo eine Ambulanz oder Medikamente. Und wir aßen ständig Bohnen, Kartoffeln und Nudeln, manchmal mit Wurst, und kletterten über stinkende Planken zu Feldklossetts. Aus der ungarischen Baracke brachten sie mir eines Abends zwei Aspirin. Ich bin am morgigen Tag vom Damm zum seichten Flussarm der Bosna Dossier: Vesna Parun gekrochen, in den Schatten einer Weide und fing an, mit der Stirn gegen den frischen Kieselgrund zu schlagen, um das Fieber und den schrecklichen Schmerz im Kopf zu vertreiben. Der Aufseher der Arbeiten am Damm – ein ehemaliges BKJJMitglied2 – trug mich in seinen Notizblock ein. Das war, durch irgendeinen Zufall, derselbe, der mich hundert Mal aus der Mensa der Notaufnahme CUM verscheucht und mir galant mit der Polizei gedroht hatte. Ich hatte dort kein Recht auf Essen ohne Bons und mir wurden die Bons verweigert von studentischen Aktivisten – den Parteifunktionären von morgen. Heimlich schnappte ich mir Brot vom langen Tisch und entwischte ihnen durch die andere Tür, über den Hof bis zum Ausgang gegenüber dem Gebäude des Nationaltheaters und dem Kaffeehaus KAVKAZ... Weide, grüne Weide... sang ihr prämortales trauriges Lied die unschuldige Geliebte des Othello. Wenn ich doch nur so unter der Weide bleiben könnte, mit dem Kopf im Wasser, auf die Nacht und den Fischotter warten, damit er mich in sein verwunschenes Schloss aus Traum und Poesie führen würde. In ein Schloss, von dem ich damals noch glaubte, dass es, wenn schon nicht wirklich, dann weinigstens durch Illusion möglich, sei. Bin ich wahrlich allen Fischottern unserer betrogenen und entheimateten Jugend heimatlos treu geblieben? Die Herberge auf Ba{~ar{ija, aus der sie mich im Notwagen ins Krankenhaus für ansteckende Krankheiten auf Ko{evsko brdo3 brachten, war weder das Schloss des Fischotters noch Poesie. Wie gelangte ich hinein? – fragte ich mich. Szenen, wie aus einer vor langer Zeit gesehenen Serie, wechselten sich in Unordnung ab und verschwanden. Dennoch erinnere ich 2 BKJJ – Bund der kommunistischen Jugend Jugoslawiens 3 Stadtteil von Sarajevo 31 mich klar an den Augenblick, als mein Kollege Ivan Focht und ich, endlich den Entlassungsbrief wegen „Arbeitsunfähigkeit“ in der Tasche, eines Morgens bei schwülem Wetter zu Fuß auf Eselspfaden nach Zenica losgingen. Wir schleppten uns dahin, so mager und schmutzig wie wir waren, stolperten über Gebüsch. In der Vorstadt einer verqualmten Gemeinde traten wir auf eine ganze Brigade riesiger Wassermelonen, die untätig auf dem Boden verstreut herumlagen. Wir stürzten dort mitten unter sie, zahlten je einen halben Dinar und machten uns gierig jeder über die seine her. Murillo – wenn er dort gewesen wäre – hätte ohne Zweifel dieses auffällig colorierte Exterieur mit Stillleben und tödlich vergilbtem Paar im Vordergrund genossen. Vida kam mit einem Teller und einem Löffel aus Blech zurück. Ich verdrehte meinen Hals nach ihr. Das war nicht für mich bestimmt, sondern für die Patientin auf meiner linken Seite, eine Gymnasiastin aus Knin. Sie wurde aus La{va hergebracht, hieß Radmila. Mit ihrem gebräunten bronzenen Gesicht und ihren lockigen Haaren sah sie wie eine Creolin aus. Sie setzte sich schnell auf und schnüffelte wie ein Mäuschen am Teller, den ihr die Krankenschwester hinhielt. – Milchreis! – lachte Rada mit strahlend weißen Zahnreihen den ebenso strahlenden Reis im Teller an und schleckte den Löffel ab. – Wie ist er? – fragte ich fast andächtig. – Göttlich! – jauchzte sie, während ich meinen bitteren Lindenblütentee trank. – Warum bringen Sie ihr keinen? – Sie darf noch nicht essen, wegen der Rezidiven! – antwortete Vida. Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit RELA TIONS Foto: Jakob Goldstein 32 Senko Karuza beim Festival Europäischer Kurzgeschichten RELA TIONS Das ist, wenn der Typhus abgeheilt ist und ihm dann der grillenhafte Organismus noch eine Chance gibt! August Ich spule in meinen Gedanken geduldig mein Band dort weiter ab, wo ich aufgehört hatbe, bei der pittoresken Sequenz mit den Wassermelonen. Mittag, Bahnhof in Zenica. Nach Osten – engspurige Schienen nach Sarajevo. Nach Westen – breitspurige majestetische, nach Zagreb. Ivan Focht, geboren in Sarajevo, wusste wohin; er hatte dort zwar nur eine Großmutter – die übrige Verwandschaft hatte er im verrauchten Krieg verloren. Ich hatte in Zagreb nirgendwohin und zu nirgendwem zurückzukehren. Wir kletterten gemeinsam, am frühen Nachmittag, in seinen komischen Mini-Zug, der kohlrabenschwarz aus Kakanj und überfüllt wie ein Bienenstock knarrte, pfiff und bellte, dann wütend auf die Schienen Wasser ließ und gen Orient humpelte. Mit Mühe fanden wir einen Zoll breit Platz in diesem Bienenstock, auf dem Gang. Dreimal, sagten sie mir, fiel ich in Ohnmacht auf den Boden – das heißt, auf die Menschen um mich herum, die Arbeiterklasse. Die verschwitzten unausgeschlafenen Bergleute begossen mich mit Wasser aus ihren Feldflaschen und rieben meine Stirn mit Sliwowitz ein, verhinderten, dass mich Neuankömmlinge auf jeder der unzählig dicht aneinandergereihten Stationen entlang der Strecke zertrampelten... Der alte Bahnhof in Sarajevo war wieder einmal für meine Seele ein dunkler Kreuzweg voller Ungewissheit. Es schien, als ob ich eine Münze werfen würde, dann schau’n wir, was dabei herauskommt: Kopf – Zahl? 4 Zore i vihori 5 Zoologischer Garten in Zagreb 6 Vorort von Zagreb Dossier: Vesna Parun Ich weiß nicht, in welche Richtung von dort aus mein Reisebegleiter ging, nachdem er mir die Adresse vom Häuschen seiner Großmutter, irgendwo am Stadtrand, gegeben hatte. Ich erklärte ihm, dass ich zuerst die „Kaserne Jajce“ suchen müsste – er dachte wohl, ich würde im Fieberwahn konfuses Zeug daherreden, – und dass ich danach, fest versprochen – kommen würde, damit wir uns vor meiner Rückkehr nach Zagreb verabschieden. Nach Hause? Welches Zuhause denn! Ins möblierte Zimmer im EISHAUS, das wahrscheinlich schon belegt war. Hegels Ästhetik, die wir in unserer Freizeit mit Professor Filipovi} (möge auch ihn Gott selig haben!) in jenen Wochen an der Eisenbahnstrecke behandelt hatten, muss er mir noch nicht zurückgeben. Er war ein fleißigerer Schüler als ich, auch gewandter im apstrakten Denken und man wusste schon damals, dass er eines Tages – mit Pilzzucht als Nebendisziplin – auch dem Lehrstuhl vorstehen würde. Und ob ich ein Dichter oder nicht sein würde, dass könnte man noch nicht erahnen. Die erste Sammlung Das Morgenrot und Wirbelsturm4 – kam zwar unlängst heraus, doch wer hätte etwas über ihre Resonnanz in der Öffentlichkeit erfahren können in jener blinden Juli-Mausefalle, in die weder Zeitungen noch Zeitschriften gelangten. Und wer bei Verstand würde – trotz des Hegel’schen nüchternen Verständnisses – sterbend an den Charme der marxistischen Kritik in der Morgendämmerung der jungen sozialistischen Gesellschaft denken. Und dennoch, der Gott des glücklichen Augenblicks zwinkerte lustig, während er in dieser Richtung eine „didaktische“ Live-Begegnung einrichtete... Wieder einmal unterbrachen mich Schritte um mein Bett herum, aber 33 das war – so scheint es – am morgigen Tag. Späht da nicht durchs Fenster ein verängstigter Soldat ins Zimmer? Pardon, wenn er nach mir fragt... Und wieder das Thermometer, Abhören des Pulses, Unschlüssigkeit. Der graumelierte Herr hatte einen warmen besorgten Blick und der schwarzäugige langhaarige Assistenzarzt hinter ihm – er hieß Fahrudin – schaute eher Vida an als mich. Sie brachten mich irgendwohin zur Untersuchung. Herzmuskelentzündung – schrieben sie auf die Tafel und hängten sie auf. Hätte ich sie heranziehen können, hätte ich eine Strophe auf sie gekritzelt, die mich viel Mühe kostete, sie mir zu merken und ohne die ich keineswegs kann. Das spukte, wie ein ungebetener Eindringling, durch meinen Kopf noch in der Baracke, auf der Matratze und einige andere klaubte ich vom seichten Ufer der Bosna auf, damals als ich mit der Stirn und dem Nacken gegen sein kaltes Kieselmosaik schlug. Später benahm sich mein Kopf noch einmal genau so unzusammenhängend in jener schon erwähnten Herberge auf Ba{~ar{ija, während er sich hartnäckig und rhytmisch – mit kurzen Zuckungen wie ein verrosteter Uhrpendel – auf dem Kissen hin und her wälzte. Der Eisbär in Maksimir5 schüttelte seinen Kopf im Stehen und Tänzer tun es, um die fatale Grenze zwischen Extase und Erleuchtung zu unterstreichen. Und die Krankheit scheint wie eine künstlerische Kreation der Natur ihre bizzare Koreographie zu haben am Grenzgebiet des Lebens und des Nicht-Atmens. Aber wie gelangte ich in jenes ärmliche Kämmerlein statt in den bequemen Schnellzug nach Podsused6 oder in – welche war es noch mal – Straße mit dem Eishaus. Ich komme später 34 Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit darauf, tröste ich mich. Man sagt, dass man im Typhus alles vergesse. Aber wie soll man aus dem Gedächnis jenes Klettern auf einen Berg streichen, auf dem sich, sagten sie mir, die sehr beliebte Kaserne Jajce befand: Der Hauptschuldige an meinem Sommernachtstraum von [amac-Sarajevo... Ich überstand, Gott sei dank, auch diesen wiederholten Typhus-Ansturm. Der Bauchtanz der Bazillen hat sich beruhigt, der Kopf sich zur Genüge ausgeruht. Als man mir einen Teller Milchreis – Sutlija – brachte, aß Rada schon Kartoffelbrei. Die Patientin auf ihrer linken Seite, die ich bis dahin weder gehört noch gesehen hatte, fragte sie, wie die Kartoffeln seien. – Göttlich – antwortete sie auch ihr fröhlich wie damals mir. Und dann tauchte auf dem geöffneten Fenster eine bekopftuchte Bäuerin auf. Die Frau stellte einen irdenen Krug, bedeckt mit einem bunten Tuch, aufs Fenster, stellte sich auf die Zehenspitzen und winkte mit der Hand zu einem Bett hinüber. Sie rief eine von uns herbei, sehr leise, aber auf diese Stimme hin fuhr die Patientin vom vierten Bett hoch und spazierte zum Fenster. Sie wird als erste rauskommen, sagte Vida. Ihre Großmutter bringt ihr jede Woche einen Krug saurer Schafsmilch, von Romanija7. Danach tauchten noch einige Köpfe an den anderen Fenstern auf. Bald bekamen alle Patientinnen von dort kleine Töpfe, Körbe... Vida verteilte sie. Ich verdeckte meinen Kopf mit dem Laken und versuchte durch Nachdenken – wie ich es schon gewohnt war – die unschöne Wirklichkeit zu vertreiben. Wenn es nicht diese ge7 Gebirge in Bosnien 8 Gebirge oberhalb von Zagreb 9 Hauptstraße in Zagreb RELA TIONS spenstische Kaserne Jajce gegeben hätte, wäre ich, wenn ich auf dem Gleis in Zenica den Zug in entgegengesetzer Richtung gewählt hätte, überhaupt lebend in der Stadt unter der Medvednica8 angekommen? der Stadt – gemeinsam mit einem Schwarm Jugendlicher, mit denen ich den Balkan umpflügen würde – auch dieses Schlüsselmotiv hinzuzufügen: Jajce! Kommen. Sehen. Und weiter nichts. Vida setzte sich eines Nachts, während ihres Bereitschaftsdienstes, mit einem Wollknäul im Schoß und Stricknadeln auf mein Bett. Es schien mir ein passender Moment, um nach allen Kasernen in Sarajevo zu fragen, wie viele es sind und wo sie sich befinden. Vida legte bald ihr Strickzeug beiseite und fühlte meine Stirn. Aber ich habe nicht im Fieberwahn geredet und um sie zu überzeugen, beschloss ich, ihr etwas von meinem intimen Geheimnis anzudeuten. Meine Lovestory faszinierte sie. Diese Vida aus Zavidovi}i, energisch und weise, konnte meine Taten nicht verstehen und sie noch weniger gutheißen. Die Tage verstrichen. Sie hatte den gelben Pullover schon zur Hälfte fertig gestrickt und ich vermochte sie nicht von der Normalität meiner klassichen Ansichten über die Liebe, die die Sonne und die übrigen Sterne bewegt, die aber niemandes Herz zum Lieben zwingen kann, zu überzeugen. Ich wunderte mich, warum sie den Kopf über meine Behaupung schüttelte, dass man auch ans Ende der Welt gehen kann, geschweige denn nach Bosnien, wenn von dort ein Brief ankommt – ein lauwarmer und eigentlich überheblicher – von jemandem, der dich eigentlich schon vor langer Zeit galant abgeschoben hatte. In meinem Fall wurde der Brief aus der Kaserne Jajce in Sarajevo abgeschickt. Da, das ist das. Hic Rhodus, hic salta!... Also, wie ich nun mal bin, zögerte ich keinen Augenblick, meinem heißen Wunsch nach Ausbruch aus dem schäbigen Käfig – Trotz allem? – wunderte sich Vida bestürzt. Und ich lehnte ihre gesunde Logik ab, starrköpfig und schamlos wie der Agitator einer untergegangenen Partei im Parlament. Vielleicht hatte er das Recht mich zu hassen, meine mütterliche Leibwächterschaft und Sorge zu verschmähen. Seine Altersgenossen kehrten aus dem Krieg zurück mit Rangabzeichen und Orden oder sie kamen gar nicht zurück. Man fiel. Und ich half also einem Wankelmütigen ein Feigling zu sein, sich in sich und seinen Winkel in der unteren Ilica9 zu verkriechen, ohne irgendwo hinzugehen – weder rechts noch links. Ja, ich habe ihm geholfen, ein Feigling zu werden, denn das verlangte seine Feigheit von mir – lautete Vidas einfacher und ohne Fakultät aufgezogener Sophismus. Wenn er mich geliebt hätte, hätte er nicht in der Ecke gehockt und erlaubt, dass ich wegen seiner erhabenen neutralen Position den Krieg auf der brodelnden Straße verbringe, damit ich sein maulwurfartiges Verstecken bezahle, indem ich Milch vom Dorf in die Stadt trage, wie das dümmste dalmatische Maultier. Und, jetzt klappere ich wegen diesem Tunichtgut auch noch Kasernen ab! Ihre Worte störten trotzdem die Nadel meines Kompasses nicht, aber es schien, als ob es sich in einem kleinen Teil meines Kopfes gnoseologisch aufklären würde. – Er ist nicht mehr in der Kaserne Jajce – erklärte ich. Es gelang mir, mit letzter Kraft hinaufzukriechen, RELA TIONS an jenem Tag, nachdem ich aus dem Zug ausgestiegen war, darüber weißt du schon Bescheid... Sie hätten mich fast zum Verhör geschleppt. Sie glaubten mir anfangs nicht. Der Wächter sah ihm ähnlich, ich wollte ihn ansprechen... Der Vorgesetzte hatte Mitleid und sagte mir, dass der Betreffende „in die Kaserne Marschall Tito versetzt wurde“... – Aber das ist doch ganz am anderen Ende von Sarajevo! – sagte Vida schroff und strickte den Ärmel. – Schreib ihm einen Brief, los, wenn du denkst, dass du davon schneller wieder gesund wirst!... Sonderbar: Ich erinnere mich nicht, dass ich während der ganzen Zeit im Krankenhaus etwas geträumt hätte. Wenn doch, hätte ich wahrscheinlich erfahren, dass der gewisse jemand von dieser neuen Militärpost gerade auf einen zehntägigen Urlaub verduftet ist. Und dass ich, sollte ich den Brief schreiben... – Lass mich dir noch einen Milchreis bringen – sagte Vida, strickte den gelben Pullover fertig und steckte die Nadeln in den Rest des Knäuls. – Vor Hunger bildet man sich schon mal was ein... Ja, man bildet sich was ein, so einiges. Wie, als ich unter dem mit Wanzen geschmückten Baldachin lag... Durch das kleine Fenster sah man den Berghang mit dicht aneinandergereihten kleinen Häusern, einem Weg, Minaretten und der Krone einer wilden Walnuss. Ein Mann mit Fes schaute manchmal vorbei, um zu fragen, ob ich krank wäre. Auf dem Nachtkästlein ein Glas abgestandenes Wasser, eine Schüssel mit violettblauen bosnischen Pflaumen. Noch einmal – Nature morte. Fliegen. Auf den Wänden und der Decke, auf mir. Schwüle und eisiger 10 Dossier: Vesna Parun Schweiß. Vincent ohne Ohr. Geschmolzenes Blei des Halbschlafes. Habe ich mir das eingebildet, dass die Spitzen der Minarette mir die Schläfen durchbohren, die ganze kristallene Sternennacht lang erleuchtet, lauthals singend. Schlanke Mäste von Segelschiffen über die goldenen Meere der Hoffnung losgefahren. Ein Schwarm von Schwänen, mich schwungvoll in ein fernes Land im Osten tragend... In eine Stadt, die älteste auf der Welt, aus der nach vielen Jahren jemand auftauchen wird, der mir ein treuer Freund sein wird. Wenn ich die Vision ins Unendliche weiterführe, werde ich die Zeit hören, wie sie uns umspült... damit auf ein Zeichen des Schicksals hin auch diese letzte Begegnung wie ein Trugbild verschwinde, auf der Schwelle noch eines tragischen Aufpralls auf diesem mit Leid besudelten Boden... Ja, es war Ramadan. Die Muezzins sangen dem Allmächtigen ein Loblied. Der Mann mit dem Fes raffte sich auf – ob wohl deswegen – und brachte einen Arzt mit. Die Treppe hinab fiel ich wiederholt in Ohnmacht und man rief mich zu sich, trug mich auf Händen zum Wagen. Rotes Kreuz. Die Sirene des Notfallwagens. Wie schrecklich bekannt das heute klingt, während ich dies schreibe... in der unheilvollen Wiederholung der Topographie, mit vergrößerten Dimensionen des Verbrechens. Wie das um sich greifende Fieber nachließ, quellten immer klarer – obschon unzusammenhängend – Szenen von unlängst erlebten Begegnungen, menschliche, verzerrte und unschöne, Gesichter, zusammenhangslose Gespräche hervor. Wer waren jene, die sich eines Tages vom Rand des Dammes in den Graben hinunterbeugten und in die Spaten starrten. An drei von ihnen werde ich Monatszeitschrift für Literatur, Kunst und Gesellschaft 35 mich mein Leben lang erinnern. Wir hoben unsere Augen, den Schweiß abwischend und die Beobachter stellten sich uns herzlich vor. Es war die offizielle Begehung der Arbeitsbrigaden, selbstverständlich auf internationalem Niveau. Bekannte Intelektuelle und Künstler. Aragon, französischer Dichter der Wiederstandsbewegung, Radoj Raljin, ein junger bulgarischer Poet – später durch ein Spiel des Lebens mein Freund und Beschützer. Ein Satyriker, Freigeist aus der finsteren Epoche von Todor Zhivkov. Und der dritte – aufrecht und erhaben, schier einer Statue der Justitia gleich, Dogmabert – schepperte über mir mit der vergoldeten Waage der Macht und meinte trocken, von oben herab, ohne zu blinzeln: – Weißt du, ich habe über deine Verse eine Kritik geschrieben, sie erschien (oder „wird erscheinen“, ich erinnere mich nicht mehr) in der „Republik“10. Ich zweifle nicht, dass ich die Vorzüge und Mäkel deiner Sammlung richtig und man könnte nicht sagen zu streng beurteilt habe. Diese Zeit erlaubt keine Fehler. Die Revolution dauert an, der Wiederaufbau des Landes verlangt ein hohes Klassenbewusstsein auch von uns Künstlern... Ich hätte eigentlich höflich von unten herauf salutieren sollen: – Zu Befehl, Genosse Künstler Marin Frani~evi}! Melde gehorsamst, ich werde daran denken!... Aber das Schwindelgefühl erlaubte mir nicht länger in die majestätische Aureole über dem Kopf des trefflichen Regimegehorsamen zu blicken, der diese Nacht ruhig im Hotel schlafen und die Bilanz seiner widerlich trivialen Inspirationen in sein mit rotem Faden versäumten AgitpropHeft verbuchen wird... 36 Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit RELA TIONS ren verließen wir Ko{evo. Zu diesem bitteren Symposion kamen wir in Herden, von ihm kehren wir als Individuen zurück. Nach Radmilas Fortgehen war es einsam und leer. Sogar das eiserne Krankenhausbett – identifiziert mit dem, der darin lag – sträubt sich jedesmal mit melancholischer Gleichgültigkeit gegen seine neue unvorhersehbare Identität... Wenn das Schlaflager die MACHT und das Kissen ihr Oberhaupt wäre, würde man auf allen Kopfenden im Land von den schönsten Lieben und den seligsten Landschaften träumen... September Es war Sonntag Nachmittag, die Zeit, wenn Besucher kommen. Die genesenen Mädchen saßen schon an den Kopfenden ihrer Betten. Bescheiden drehte ich mich zur Wand hin, wie üblich, und tat so, als ob ich schliefe. Verwandte kamen, warteten an den Fenstern, damit die Krankenschwester die mitgebrachten Sachen übernehme. Ins Zimmer voll mit Gewirr von Frauenstimmen flogen Schreie der Geisteskranken aus dem Gebäude gegenüber, auf einer kleinen Anhöhe. Mich überkam eine unbeschreibliche kopfleere Verzweiflung und Apathie. Ist es nicht sowieso egal wo ich bin und was mit mir geschieht. Vida hat richtig geurteilt, alles ging seit langem schief und jetzt kannst du dich nur noch in die eigenen fallen gelassenen Fäden verwickeln. Ihr vernünftiges Stricken voller Selbstachtung, ebenso wie jener Knäulrest, in das man entschlossen die Nadeln hineinzustecken hat, hätten mir – wenn mir so eine prosaische Analogie viel früher aufgefallen wäre – wahrlich eine wertvolle Lehre sein können. Vida schüttelte mich vorsichtig. Aus diesem unliebsamen Träumen rissen mich Schritte, die sich meinem Bett näherten. Ein pfeilschneller, einem animalischen Reflex ähnlicher Gedanke, dass vielleicht eine Nachricht von ihm kommt – vertrieb in sekundenschnelle den gesamten gerade zusammengestrickten Korb an Erkenntnissen von vorhin, die so, sich selbst widersprechend, nur meiner Kleinmütigkeit Nahrung boten. Die Vorraussetzungen, auf denen ich meine Initimität aufbaute, waren also völlig reaktionär und es blieb mir nichts anderes übrig, als dass ich für immer die These von dem Glück anzweifelte, das sich auf irgendeinem Gehorsam gegenüber irgendjemandem – sogar gegenüber dem in das Pokerspiel nicht eingeweihte eigene Herz – gründete. Nein, es gab keine Nachricht von irgendwoher. Oder vielleicht doch? Ich gestehe, es war mir schon immer lieber, wenn mir im Unglück Unbekannte zur Hand gehen, als die Nahestehenden, die von mir den Stab aus dem Märchen erwarteten. So lange ich noch leben mag, dieses bogomilische durchfurchte Gesicht vom Fenster des friedhofähnlichen deprimirenden Krankenhauses in Ko{evo und die gereichte Hand werden für mich eines der Leuchtfeuer bleiben, mit der Flamme, die auch nicht in den folgenden Nebeln des Fin de siècle erlöschen soll... oder in den Fluten des Hasses, sollten sie kommen... Das Handtuch und die Decke habe ich verloren und mein Rucksack war leicht wie eine Feder. Fröhlich ging ich den Berg hinab, drehte mich mit leiser Trauer zurück. Meine Beine waren wie neu, mein Kopf noch neuer, meine Seele heidnisch jung. Die Energie der Freiheit, mit der ich mich aus der Luft auflud, hatte nichts gemein mit ihrer irdischen Matrize, der ich mit bürgerlicher Unausweichlichkeit entgegenstrebte. Alles in allem, dort oben leerte sich in jenem Sommer der alte Balg, der Spieler überlebte und nun sollte man nur noch die Flüche vertreiben... In meinem Fall war das Komma an der rechten Stelle. Und wohin die Politik ihre Kommas setzen würde, dafür können antike Orakel ganz und gar nichts... Es gibt keine Ideologie, die rettungsbringender ist als die gewöhnlichste gereichte Hand. Und es gibt keine zur Rettung gereichte Hand, in die das hundertarmige Gespenst des Staates nicht einen gezuckten Dolch hineinstoßen wird. Eine nach der ande- Wie zauberhaft war im Monat September jener elegant graue Himmel von Sarajevo, noch völlig grüne Baumreihen, Straßenbahnen, Menschen! Es war meine zweite, mystische Heimat, die Umarmung einer schmerzlosen Wirklichkeit mit der reinsten – Hey, du, Schlafmütze! Eine alte Frau vom Fenster möchte, dass du gesund wirst und schickt dir etwas. Verwirrt, wie immer, wenn sich Traum und Wirklichkeit vermischen, öffnete ich die Augen. Vida stellte mir auf den Spind ein Holzfässchen hin. – Gib das, Kindchen, der in der Ecke, die niemand besuchen kommt und ihr auch nichts bringt! – Genau das sagte die am Fenster zu mir – schüttelte mich Vida. – Wink ihr zu, das ist für dich. Nimm! Für mich? Die alte Frau nickte mir zu. Ich schickte ihr einen Handkuss. Vida nahm den Deckel vom Holzfässchen. Sauermilch – meine größte Schwäche – darüber hinaus noch vom Schaf, vom Berg! Diese Alte dachte also an mich, dort in einem Pferch als sie die Schafe molk, ohne zu wissen, wer ich bin oder woher ich komme, sie hat nicht nach meinem Namen gefragt oder meiner Religion – sie tat ihr nur Leid, die in der Ecke... Die goldlockige Vida – die beste Krankenschwester, die ich je hatte – schenkte mir zum Abschied jenes kleine Knäul. Symbolisch. Damit ich, es im Auge behaltend, vielleicht im Herzen das Gewebe fertig bringe, in das es die Schicksalsgöttinnen verwirrten. RELA TIONS Illusion... Im Schaufenster der Buchhandlung auf Marijindvor entdeckte ich mein Gedichtband Morgenrot und Wirbelsturm. Auf dem Boden meines Rucksackes hatte ich nur noch genug für eine Straßenbahnkarte bis zur „Marschallin“ und zurück. Ich wartete draußen hinter dem Zaun des großen Kasernenhofes. Der Wachmann schickte jemanden hinein, um nachzufragen. Der Wehrdienstleistende, so und so, kommt vom Urlaub, hieß es, nächste Woche zurück. Ich weiß nicht, in welcher Straße im Stadtzentrum der Schriftstellerverband von Bosnien und Herzegowina seinen Sitz hatte. Gastfreundlich öffneten sie mir die Tür – durch mein Äußeres und meine Kleidung unscheinbar wie ich war – erboten mir alle Ehren als Dichterin, aber sie waren – mit Recht – tief getroffen von der Tatsache, dass ich den ganzen Sommer in ihrer Stadt verbracht hatte, ohne auch nur einen Laut von mir zu geben. Bleib bei uns Vesna, wir lieben dich. Wer von ihnen hat das zu mir gesagt? Isak Samokovlija. Skender Kulenovi}. Der alte Romantiker und Charmeur Hamza Humo? Fast bin ich auch geblieben. Aber das Knäul der Parze ruhte nicht, die gestrickten Fäden zogen nach hinten... Auf Ba{~ar{ija kaufte ich mir Riemenschuhe und einen „Dreiviertel“-Langhaarmantel von UNRA11, den ich später noch jahrelang trug. Dank der Zuvorkommenheit meiner Gastgeber verbesserten sich meine Finanzen dermaßen, dass ich mir einen siebentägigen Aufenthalt im Hotel „Evropa“ leisten konnte. Ich schlenderte durch die Vororte von Sarajevo, besuchte Ilid`a12 und die Bosna-Quelle. Der Hunger, der elementare niedere, war nicht zu stillen. Nie zuvor hatte ich geahnt, dass es so viele verschiedene Geschmacksrich- Dossier: Vesna Parun tungen von Nahrung gibt, Drüsenausscheidungen mit Alarmglocken. Einmal geriet ich auch unter die Bauleute von [vrakino selo, zu einem sozialistischen Volksfest. Den Kollegen Ivan Focht fand ich in einem kleinen Haus mit stillem Garten, im Vorort. Seine Großmutter hat einen Spinatstrudel gebacken. Wir tranken Kaffee und sprachen über Ko{evo, wo wir beide all diese Zeit lagen, ohne auch nur voneinander zu wissen. Wehrdienstleistender so und so kehrte vom Urlaub zurück in die Kaserne. Ich wartete noch einmal hinter dem Zaun. Wir trafen uns. Es wäre besser gewesen, wir hätten es gar nicht getan. Ich setzte mich in den Zug nach Zagreb, mit einer Wunde im Herzen und einer Teilamnesie im Schädel und schrie mir begleitet vom Geklapper der Räder ins Ohr, fast in Panik: Und was jetzt?... Aber kaum, dass wir es ins Flachland geschafft und mit dem Steuer in die orangegelben und grünen Wellen des Slawonischen Meeres geschnitten hatten, spürte ich wie niemals zuvor einen herrschaftlichen Zauber des Reisens, den ursprünglichen Genuss der Beschleunigung des Weltraumrhytmus, den Schwindel der Schönheit. Mais, Sonnenblumen, Eichenwälder... Nie schien mir dieses breite Blickfeld so märchenhaft, unwirklich. Der Galopp der Räder verwandelte sich in Musik, die Lokomotive übersprang Brücken, schlug Bäche mit der Peitsche greller Funken. Ich wünschte mir, dass die Abend-dämmerung diese Fahrt verlangsame, dass wir in dieser durch nichts getrübten durchsichtigen Oase der Gegenwart stehen blieben. Dass sich die Last des Gestrigen und Morgigen hinter den Wellen rosafarbener Wolken verstecke. Dass sie dem Auge und dem Geiste unsichtbar sei. 37 Meine Zukunft. Was ist das überhaupt? Studium? Heimat? Heirat? Alles ist ausgerenkt. Sowohl Kant als auch Marx nach meinem TyphusStress – zum alten Eisen! Es entsteht eine lang andauernde und schicksalsträchtige Allergie aufs Lesen, eine Logophobie. Was hat denn nur jener Gendarm des ästhetischen Reservats über mich gekrizelt? Durch nichts ließ mich die Sanftheit dieses extatischen Septembernachmittags erahnen, dass mir wegen des „staatlichen Anathemas“ auch ehemalige gute Bekannte aus dem Weg gehen, Journalisten mir den Gruß verweigern würden – sogar auch jene, die im Schmeicheln gewetteifert hatten, und Schriftsteller und Pharisäer zittern würden, damit auch ihnen etwas Ähnliches nicht passiert, falls ihnen ein Adjektiv oder Verb aus der proskribierten kapitalistischen Lexik entschlüpft ist. Aber das Opfer wurde gebracht: Der Drache Tauglichkeit hat die ihm in den Rachen geworfene Jungfrau verschluckt. Und er käut glücklich wieder... Doch um in den rasenden pannonischen Zug zurückzukommen, in dem das Fest der Rückkehr unter die bekannte Himmelskuppel mit Abendstern, der sich schon vor Sonnenuntergang aus dem Mantel geröteter Schwaden gestohlen hatte und mich lockte ihm ein ungeschriebenes Gedicht zuzuflüstern, dröhnte. Tief am Himmel der Abendstern strahlt, die Glut der Vergänglichkeit erleuchtet unseren Weg... Ja, hier ist trotz allem auch die Poesie... Diese erste und letzte Liebe meines Lebens – wird auch sie nicht nach dem Muster der allseits gegenwärtigen Chymären der Schlupfwinkel des Verrats sein? Während sich der Zauber der Fahrt auflöste und die magischen Räder sich in ein streng funktionales Ge- 11 Hilfs- und Wiedereinsetzungsorganisation der Vereinten Nationen (UNRA – United Nations Relief and Rehabilitation Administration) 12 Stadt in der Nähe von Sarajevo 38 Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit flecht aus eisernen Muskeln, Feuer und Dampf verwandelten, fand sich mein Gedanke – auf der Suche nach einem Ort, um sich niederzulassen – abermals im Schutz jenes verlassenen bescheidenen Interieurs auf Ko{evsko brdo wieder. Die Gestalt der alten Frau aus dem Fensterrahmen dominierte die ganze Bühne, die – obwohl eine Mauer – auch ein Kreuz- weg war. Falls es den Tod gibt – überlegte ich – ist dann die Liebe nicht Mitleid gegenüber dem Leben? Wozu die Anstrengung, mithilfe der Fantasie den Teufel zu erschaffen, wenn er einfach – die Tyrannei des leeren Ichs ist! Ich tue mir nicht Leid. Mir tun alle in einer Falle gefangenen Kindheiten Leid, auf die der immer dichtere und dunklere Schat- Unter dem Männerschirm J. J. Rousseaus Meinung nach hat derjenige, der als erster ein Stück Land mit Stracheldraht umzäunt und gesagt hat „das ist meins“ – auf diesem Planeten das Privateigentum begründet. Meiner Meinung nach ist derjenige, der als erster daran dachte – während der Regen wie aus Kübeln gießt und Donner sich gedämpft über den Himmel wälzen – über seinem Kopf einen großen, durch Speichen gespannten und mit einem Elfenbeingriff verzierten Männerschirm zu öffnen, der Begründer dieser unseren gesegneten und verfluchten, träumerischen, technokratischen, häuslichen, morbiden und noch immer sklavenhalterischen Zivilisation. Einer männlichen, protektionistischen, kriegerischen, geschäftsmännischen. Mit ihrem Verstand immer arroganteren. Mit ihrem Unverstand immer gesättigteren. Und glücklicherweise schon so ziemlich dem Tod nahe. Dieser schwarze, breite und tiefe, unter der Himmelskuppel aufgespannte wahrlich majestätische Männerschirm quälte mich schon seit frühester Kindheit mit einer stummen unerklärlichen Herausforderung und stellte vor meine Seele eine Frage und ein schwarzes alarmantes Rätsel. Im Flur, im Dunklen, stolperten wir unweigerlich über ihn und kreischten dabei vor Angst und er klettete mit den Spitzen seiner Speichen wie Dornen an uns herauf, rollte nass und wahnwitzig hinter uns her, unsichtbar, und machte dabei frühzeitig aus uns Neuropathen, Schlafwandler, Gottlose und zukünftige Anarchisten. Welch ein Unterschied – bemerkte ich schon damals ängstlich und ohne davon einer Menschenseele etwas zu sagen – zwischen dieser selbstbewussten, zynischen und agressiven männlichen Niederschlagsabwehrvorrichtung und der Anderen, unvergleichlich zahmeren, durch Umfang und Volumen unterlegeneren, aber dafür schickeren und raschelnderen, die zum selben Zwecke und mit der gleichen zivilisatorisch determienierten Glut des Selbstschutzes das weibliche Geschlecht über seinem Kopf an Regentagen hält! Schon im schieren Verlust des einen oder anderen Gegenstandes, was für eine existenziell unversöhnliche Kluft! Die Mutter kommt nach Hause ohne Regen- RELA TIONS ten des autoritären Nichtexistierenden fällt. Aus einem Treffen mit dem Bösen kommst du, würde ich sagen, stärkeren Verstandes heraus. Aus einem Treffen mit dem Guten – wächst du an Verstand und an Herz. Namenlos lechze ich nach eurer Wärme, meine liebsten namenlosen Freunde!... ¹1993º schirm gleich einem geschlagenen Soldaten aus dem Schützengraben, beschämt und jämmerlich, beschreibt bis ins kleinste Detail den Verlauf der Schlacht, ersucht umsonst das Verständnis von „Höheren“, faltet die Hände, rechtfertigt sich, weint. Der Vater dagegen kehrt mit leeren Händen und finster, mürrisch und bei weitem selbstbewusster als mit dem Regenschirm in der Hand zurück – und trau dich nur, ihn zu fragen, wo er ihn gelassen oder verloren hatte, da wirst du ein Donnerweter erleben, gefährlicher noch als das himmlische! Darüber sprechen darf man selbstverständlich nicht, aber die Todesstille erzählt beredt, dass es sich um einen moralisch nicht zu erstattenden Verlust handelt, das Verschwinden eines langjährigen treuen Begleiters und Beschützers, die Dämmerung deines zweiten „Ichs“ sozusagen. Und wirklich, wenn der Mann einen Regenschirm verliert, ist es, als ob er von der Beerdigung einer wichtigen Person zurückkehrt, als ob er den besten Freund begraben hat. Und der Regenschirm hockt vielleicht in einem Wartezimmer oder hängt dumpf an einer Garderobe; oder kehrt aber am Geländer eines kleinen lokalen Dampfschiffes in den Hafen von [ibenik zurück, hüstelt wie ein älterer Herr kaiserlich-königlich und Dossier: Vesna Parun 39 Foto: Jakob Goldstein RELA TIONS Damir Milo{ beim Festival Europäischer Kurzgeschichten 40 Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit murrt: Bös’ wird es. Da kommt noch was auf uns zu, meine Herren! Der Krieg kommt auf uns zu... Der Regenschirm eines Inselbewohners: Sein insularer Minderwertigkeitskomplex, ein spezielles Kapitel in der Geschichte der Mentalität und der Ethik unserer mediterran-dinarischen post-illyrischen Gegenden. Ein Requisit ohne das Autorität, Recht und Ordnung undenkbar sind. Ein Pater familias ohne Regenschirm – das ist wie ein Haus ohne Dach. Die Inseln Bra~, Hvar, Prvi}, [olta, Vis... Privatbesitz, Familie, Schule, Staat, Kirche, Büro. Männerschirm. Ein Demijohn13 als „Bestechung“ für jemanden bei der Behörde oder in der Banschaft. „[jor Felicijo“ mit seiner täglichen faden Satirik – in Jadranska po{ta14 oder Novo doba15, ich erinnere mich nicht mehr – er und sein mit ihm verwachsener komischer Männerschirm, der Vorgänger von Chamberlains, aber auch von allen anderen danach, die, wie um Mitternacht gezündete Signalraketen, ihre unheilvollen Schwingen über die Wolken spannen würden. Diese finsteren Krinolinen der Geschichte, aufgehängt auf Sonnenprotuberanzen, diese Regenschirm-Fledermäuse, die uns den Frühling bald verhängen würden. „Die Ballade der betrogenen Blumen“, hmm, vielleicht. Harmlose Niederschlagsabwehrvorrichtungen, die sich in welche zur Flugzeugabwehr verwandeln würden, dieser Anstrum von Eisenhelmen, Panzerwesten und Bayonetten, dieses Gewitter des männlichen marschierenden Drangnach-Osten-Trittes, der aus einem warmen Aprilregen einen bleiernen Guss machen würde, aus unserer Jugend ein blutiges Ringelspiel und aus einem durchlöcherten Alltag die Hölle... 13 Korbflasche 14 Tageszeitung 15 Tageszeitung Ich wurde am 10. April 1922 geboren, in einem einsamen Haus auf dem Kap der Insel Zlarin, beim bewegten Flackern einer Petroleumlampe. Vater, ungeneigt über scharfe Steine, im Dunklen, sogar bis ins Dorf zu kraxeln, um die Hebamme Voka zu holen, befahl Mutter sich zu gedulden – um Gottes Willen – wenigstens bis zum Morgengrauen. Mutter, geduldig und ergeben wie sie war, hätte ihm sicherlich auch diese unmögliche eheliche Forderung erfüllt. Aber ich war rücksichtslos. Und dies war mein erstes stummes Gefecht mit jenem, der mir schon im Mutterleib den Namen ÜBERFLÜSSIGE zugedacht hatte. So lautet das erste kürzeste Kapitel meiner „Express-Autobiographie“, die ich – für mich selber völlig unerwartet – vor ein paar Wochen geschrieben habe, in einigen Nächten und Tagen, quasi ohne Pause. Sie wird, hoffe ich, bald nach diesem Männerschirm veröffentlicht – als Pendant und, man könnte denken, gemäß der Intonation der einführenden Abschnittes, als ein charmanterer und delikaterer „Damen“-Regenschirm. Das sind jedoch nur zwei Seiten der Medaille, zwei Sichtweisen der Wahl der Momente und der Wahrheiten ein und derselben vergangenen Wirklichkeit. Der „Damen“-Regenschirm aus der Hand des Schöpfers blieb nämlich in meinem Leben und in meinem Schicksal – wie übrigens auch im Geschick des Lebens unzähliger Frauen auf dieser Welt – aus. Sobald ich den harten irdischen Boden betrat, war auch schon vor irgendwoher auch dieses Emblem der männlichen diesseitigen biologischen und anthropologischen Übermacht neben mir. Weder der Säbel noch das Gewehr und RELA TIONS man konnte gleich wissen, dass ich kein Krieger bin und dass – obwohl unter dem Mars geboren – ich nicht als erste Streit suchen würde. Ich werde statt eines Knüppels einen Männerschirm bei mir tragen und ihn spannen, sooft schwarze Wolken am Horizont heraufziehen. Und weil ich eine Frau bin, wird man mich wegen dieses Requisites – dessen bin ich mir bewusst – nicht nur für exzentrisch und überspannt halten, sondern mein dornenhafter weiblicher, ja geradezu hoffnungslos weiblicher historischer Weg wird wie ein Haufen Unordnung und Widersprüchlichkeit scheinen. Als lebende Bestätigung der berühmten These, dass der Mensch als Person, würde ich hinzufügen – nicht das ist, was er über sich, um weiter zu paraphrasieren, durch Poesie aussagt. Für mich ist jedoch gerade mein schwindelerregender und kopfüberstrürzender Weg bedeutender als irgend etwas auf der Welt und, um ihn zu beleuchten und so wie er war und wie er ist darzustellen, würde ich alles opfern, was ich jemals mit der Sprache des Verses, der flatternden Symbolik der Metapher ausgedrückt habe. Diese Behauptung beinhaltet offensichtlich ein Absurdum – denn wer würde sich überhaupt um das intime Geschick einers Dichters kümmern, wie es auch sein mag, bis zu den nackten Tatsachen, wenn es sich nicht schon durch die Poesie wie ein Clown auf dem Jahrmarkt zum Schleuderpreis vergeben hätte. Du hast auf der Straße die bunten Zelte der Worte aufgeschlagen, mit glitzernden Glasstückchen die Wände beklebt, den Drachen der Poesie überschwänglich steigen lassen – und jetzt bist du selber Schuld, dass man auf diesem Jahrmarkt von deinem ganzen Lebensweg nicht einmal so viel sieht, wie du ihn mit Schritten gegangen RELA TIONS wärest, oh Dichter, wenn du zufälligerweise kein Mensch gewesen wärest sondern eine Ameise! Aber darin besteht auch der Kern des Missverständnisses. In der NichtÜbereinstimmung des Modells und des Bildes. In der Kälte der ästhetischen Wahrheit, die, da im umgekehrten Verhältnis zum Emotionalen, als einziger glaubhafter Zeuge, das einzige authentische Dokument bleibt. Alles andere scheint, im Vergleich mit deiner Poetik, eine Lappalie zu sein. Sie verhindern sogar, dass du über deinen Lebensweg irgendeinen anderen Ausdruck außer dem lyrischen gibst, überzeugen dich ständig, dass du deine Kunst verneinen möchtest, die Leser der Seligkeit der Illusionen berauben, ihnen die Sorglosigkeit des Zaubers vorenthalten. Und hier also beginnt der Teufelskreis der menschlichen Tragik, jener, der schon zweifellos schon Viele, mit dem glühenden Eisen der Poesie gebrandmarkten, gegenüberstanden. Literaturhistoriker verlangen statt eines düsteren Dramas ein sprühendes Voudeville, damit ihre Antologien nicht einmal in Fußnoten eine grobe Tatsache aufweisen und du bietest ihnen Selbsverneinung und Zweifel an deinem eigenen künstlerischen Raison d’être. Je weniger dich der Zauber des Scheinbaren blendet, desto gleißender überkommt dich die Leidenschaft, deine erledigte menschliche Aufgabe zu beichten, dein Roboter-Engagement – und weiter nichts. Du hast verstanden, dass die Poesie nur eine der Substanzen – die sublimste zwar – deines irdischen Seins war, aber keineswegs auch das gesamte Leben und dass es ein wilder ungezähmter Vogel ist, der nur heimlich durch den unfrohen Käfig der Poesie flatterte und wieder daraus herausflog, in die Freiheit, in die 16 Ti koja ima{ nevinije ruke 17 Vjetar Trakije Dossier: Vesna Parun wunderschöne Wildnis der Wirklichkeit, ins Vakuum, in dem es kein Lauschen den Assonanzen und keine Wollust von Metrik und Rhytmus gibt. In die Wildnis außerhalb des Reiches der Worte. Ins Unausgesprochene der trockenen Dramen des Lebens, in denen du unzählige Male emotional, moralisch und physisch halbtot und manchmal tot warst. Das ließ sich nicht aus der Poesie erfahren. Der Vers ist grausam, ihn geht es nichts an, ob du tot oder lebendig bist, er braucht jemandes Hand, um ihn niederzuschreiben, jemandes schöpferisches Wesen, um ihn – mit dem Hammer der Sprache – aus dem Nichts zu erschaffen. Verse sind ein Monster, das die Energie deines lebendigen Leids benutzt, um seinen perfekt präzisen komplexen Mechanismus am künstlichen Leben zu erhalten, mit dessen Hilfe es triumphal und schamlos den Todesschrei des Menschen nachmacht. Ja. Gedichtssammlungen sind ein Panoptikum falscher Spiegel, eine Schatzkammer an Informationen, verschlossen unter einer Chiffre, die nur eine kleine Handvoll von Auserwählten kennt und den übrigen sicherlich zur Verwunderung und Häme dient. Wie denn auch anders! Sie sperrt sich in ihr Zimmer ein und schreibt Blödsinn – flüsterten zunächst um mich herum meine „Nächsten“, danach sagten sie es immer lauter und lauter, schrien es lauthals heraus. Die größte Ungerechtigkeit, die der Kunst zugefügt worden ist, ist, dass sie gar keine Macht über die Natur besitzt und somit es nicht einrichten kann, dass ihre Priester einfach als Weisenkinder geboren werden, als lebendige Bündel der Radiation, der Traum schöpferischen Feuers ohne Namen, ohne Heim, ohne Heimat – dieses unerreichte unverstandene Ge- 41 webe der Vorfahren – ohne Narben der Vergangenheit, Staub der Zukunft. Steril und zart wie Käfer im Seidenkokon des Existierens. Doch, Recht hatten meine Nahestehenden. Schreiben im Zimmer unter einem Regenschirm ist offensichtlich kein Zeichen von Genialität. Sie haben in „Republika“, die mir der Postbote gebracht hat, Du deren Hände unschuldiger sind 16 gelesen und spotteten: Wie sie verschönert, schau, wie sie eine Pose einnimmt! Und wo sind in diesem Gedicht die Krankenhausbahre, das Heulen der Sirene mitten in der Nacht, das zersauste Haar, der Kopf, getreten mit den Schuhen jener, für dessen ruhigen Schlaf sie in diesem Lügengedicht so innbrünstig betet! Wo ist der Gummischlauch für den Magen, Bescheinigungen von der Sozialversicherung, Haufen von Büchern in fremden Holzschuppen, Herumstreunen von hier bis nirgendwo, die Nachtmähr, der Spleen... Oder die gesamte Sammlung Der Wind von Thrakien17, gibt es darin auch nur eine Spur von dem, was mit mir passierte auf diesen unkenden und trotzem mir lieben windgepeitschten Einöden der Mythologie, Legende und Musik? Nein, ohne Zweifel. Wo sind Betrug, Verrat, Unterstellungen von politisch verdächtigen Intelektuellen, fantastische Denunziazionen, Fallen, wo der Justizpalast mit Verhandlungen gegen die Dantes Unterwelten Kinderkram sind! Wo sind die falschen Eide und die falschen gerichtlichen Aussagen von „Freunden“, wo die Armeen von Söldnern und Erpressten, die um deinen dichterischen Umhang würfeln! Dichter, die falsch auf die Poesie schwören, Patrioten auf die Heimat, Ideologen auf die Idee, 42 Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit Mütter auf die Mutterschaft, Religionen auf Gott! Oder aber die Gedichte, die zu den sonnigen Wiesen der Kindheit gerichtet sind, welch eine Mystifikation! Dieses finstere, tyrannische, inquisitorisch wütende Ausleben, dieses hilflose und jämmerliche und hungrige kindliche Faseln ähnlich jenem flehenden Schlagen mit einer schwachen Faust gegen die Toilletenwand bei Dostojewski – durch welches Nagelöhr der Metaphern hat es sich gezwängt, in welch raschelndes Zellophan der Assotiationen gewickelt! Was für Blumen? Was für Korallen? Was für ein Zlarin? Diese Ansichtskarte hat nichts zu tun mit dem Wermut im beschlagenen Glas des kindlichen Unschlafes... Ich weiß, dass all dies keine Argumente sind für jene gut meinenden, die störrisch bei ihrem Standpunkt bleiben: Man soll nicht leben, man soll Gedichte schreiben! Man soll nicht über das Durchlebte nachdenken, man soll Literatur lesen, sich distanzieren, den Vers kultivieren! Für jene, die ihre Haustür mit immer demselben patriarchal gesegneten massiven Schlüssel öffnen und schließen, und die das das Glück hatten, dass ihnen ein Männerschirm zufällt, geräumig und robust genug, damit sie darunter – so wie es nur recht und billig ist – all ihre lieben Schützlinge um sich scharren können, sowohl jene, die freiwillig unterworfen sind, als auch jene gewaltsam unterworfenen. Ich weiß nicht, wem sie zuzuschreiben ist, welchen geheimen und abergläubischen Abneigungen, unsere traditionelle Flucht vor der Selbstbeichte, die Scheu vom Erzählen in der ersten Person. Von der öffentlichen Handlung, mit dem sich der Autor mutig von seinem Werk verabschiedet und mit der magnetischen Spiralfeder identifiziert, mit der offenen Kurve des Schicksals, mit dem Hexagramm seiner letzten, er- schöpfenden Verwandlung des Lebens. Im Sinne des Yi-jing, genau so wie vor fünftausend Jahren: Mit der Summe all seiner gelebten Aufstiege und Abstürze, Abfahrten und Rückmärsche, Dillemas, Suchen und (Nicht) Auflesen. Im Sinne von Heraklit: Da alles ohne Unterlass fließt, so fließt von dir auch deine Poesie, was bleibt dir übrig, als dass du am Flussufer sitzend mit Händen diesen ehemaligen Fluss greifst und ihn beobachtest. Diesen Fluss, diese ehemalige Poesie, diesen Sand. Dein morgiges neues ICH, wiedergeboren und dir noch unbekannt. Diese Grenze zwischen hier und dort, jetzt und Morgen, du und jemand anderes. Und dass du so verschwindest, in Gedanken versunken, mit Füßen im Wasser und Lippen an der Flöte, frag nicht, wie alt und wie viele Male verliebt, oder wie viele Male vergessen oder wie viele Male an der Weglosigkeit stehend. In Verbannung. Aber warum, wozu – frage ich mich – dieser zivilisatorische Widerstand gegenüber allem was urweise und somit auf die urbanen Protokolle der modernen literarischen Diplomatie unvorbereitet ist. Ist auch die intellektuelle Verstocktheit ebenfalls ein gewisser Primitivismus und übertönt die Welle der Alienierung, die die Zeit überschwemmt hat, jede einzelne Stimme der Unversöhnung, schmilzt jedes Flöckchen der Hoffnung? Warum darf ich im dichterischen Fieberwahn rufen Ich war ein Junge, aber ich darf mich nicht auf diesen expressionistischen Vers im Gerichtssaal berufen und wenn ihn dort einer erwähnt, muss ich aufpassen, dass sie mir – wie es schon einmal passiert ist – im Namen des Gesetztes nicht weniger als drei gerichtliche Sachverständige, Psychiater selbstverständlich bringen – um, wie man so sagt, offiziell die bürgeliche Dialyse meines Geistes und seine soziale Brauchbarkeit festzustellen. Und auf wessen Seite sind letztendlich Literatur- RELA TIONS kritiker und -theoretiker: Auf unserer semantisch ungeschützten oder auf der der Exekutoren, Scharlatane, Zöllner und Piraten des Geistes? Wegen des Gebrauchs eines Kommas werden diese Praktikanten der modernen Exegese eine Hetzjagd auf dich veranstalten, wegen eines kleinen Buchstabens am Anfang des Verses dich zum Feind der gesellschaftlichen Ordnung erklären. Nicht im wörtlichen Sinne, versteht sich. Aber die Gesellschaft nimmt Worte und ihren geschichtlichen Sinn wörtlich. Sie kann sie auch interpretieren, wie sie will; dieses ungeschriebene diskretionäre Recht der Herrschenden ist ebenso alt wie auch die Herrschaft selbst. Ich habe nie mein Diarium geschrieben. Ich ließ Stunden und Tage fortschreiten, als ob ich sie nicht aus einem Winkel beobachten würde. Und ich habe sie beobachtet. Ich ließ Monate verfliegen und das Jahr sich an den Türpfosten des Jahres hängen, als ob nichts geschehen würde. Und es ist geschehen. Berge stürzten ein und Flüsse wechselten ihre Becken. Jahrzehnte vergingen. Und mir fiel es schwer, Papier zu nehmen, das Datum hinzuschreiben und zwei drei dokumentarische Prosasätze hinzukritzeln. Zum Beispiel: Heute habe ich das Infektionskrankenhaus auf Ko{evo verlassen nach einem fünfzigtägigen Aufenthalt, ohne Hab und Gut, mit einem Eisenbahnerrucksack auf den Schultern und ich weiß nicht, wohin oder was ich tun soll. Und es ist goldener September. Oder: Heute Nacht ist Mi}a aus Belgrad angereist, er hat ein Stipendium für Paris bekommen. Soll ich mit ihm gehen oder soll ich nicht? Ich fühle, dass von dieser Entscheidung zu einem guten Teil das, was im Verborgenen liegt, abhängt, im Moment noch Unwirkliches, in der Gegenwart hinter dem Brocken anwesend. Jenseits von Traum und Vers... RELA TIONS Statt Zustände und Personen zu notieren, habe ich tollwütig meine Seele erleichtert, indem ich Gespenster ins Heft zeichnete. „Nächtliches Gespräch mit versteckten Farben der Erde“, ein Gedicht, über das unser – Mi}as und mein – gemeinsamer Freund Branko Miljkovi} eine Studie schreiben wollte. Oder: Et inclinentur umbrae. Oder: O weh, du Morgen! Statt nach Paris zu fahren, blieb ich im Zimmer und dachte nach. Statt zur Hochzeit des Freundes zu gehen, als er aus Paris nach Belgrad zurückkehrte, ging ich irgendwohin aufs Geratewohl. Und kam nach Bulgarien. In die Wiege des Orpheus eigentlich; eigentlich, aber, als ich zu mir kam – das ist nicht Thrakien und Orpheus ist nicht hier und auch nicht die Bogomilen... Ich habe, sagte ich, nie ein Tagebuch geführt. Aber es schrieb sich, unsichtbar auf dem Papier, jahrelang irgendwo in mir drin. Es schrieb sich selbst, in gespenstigem Schweigen, ohne mich auch nach meiner Zustimmung zu fragen. Es schrieb sich ohne Worte, ohne Sätze, ohne grammatikalische Formen, rechtschreiberische Haken. Ich wusste, dass es passierte. Ich wusste, dass er sich schreibt, dieses Tagebuch und dass ich es eines Tages verblüfft lesen können werde. Oder hören vielleicht? Und während ich es sehen und hören werde, beim Lesen, wird mein Kopf wie ein Kürbis wachsen und die darin gespannten Membranen werden sich dehnen und manche Kapillaren werden es aufgeben, sich dem übermäßigen Kreisen des Blutes zu wiedersetzen, das die übrigen Regionen meines durch die Vergangenheit eingeschläferten Körpers verlassen und sich völlig in den Dienst des Kopfes und seinem Kampf mit der Vision des vorangeschrittenen Lebens, im express-autobiographischen Schärfen der aufregenden inneren Optik gegeben hat. Dossier: Vesna Parun Ich erinnere mich an Orte und Jahreszeiten und die Farben der Tage und des Himmels wenn ich, im Gehen, tief aus mir drin den Befehl hörte: An das, was gerade passiert ist, MUSST du dich erinnern, solange du auf dieser Welt bist, du DARFST NICHT eine einzige Kleinigkeit vergessen, du bist dazu verurteilt, mit diesem (Nach)Tragen zu leben und zu dauern. Und du wirst vergeben, aber du wirst dich trotzdem erinnern. Und du wirst es wegwischen, aber es wird nicht weggewischt sein. Einer von diesen für mich für immer durch Nichtvergessen gekennzeichneten Orte in Zagreb ist die Kreuzung der Straßen Vla{ka und Dra{kovi}eva. Das Jahr 1943. Die Jahreszeit: Herbst. Die Tageszeit: Kurz vor Abenddämmerung. Einer von jenen Marathonläufen zwischen Sesvete und ^rnomerec mit einer Tasche Milch auf dem Rücken. Mussolini ist gefallen, die Deutschen haben Italien besetzt. Studenten aus Dalmatien, jene mit einem „italienischen“ Pass, sind durch dieses Ereignis nicht mehr von der Pflicht ausgeschlossen, sich in die Heimwehr zu melden. Sie sind nicht mehr grüner Kader. Sie haben keine Immunität. Sie haben nichts. Das Schneckenhäuschen der Neutralität ist zerschmettert und die Nacktschnecke hat, von dieser Nachricht unvorbereitet erwischt, mitten auf dem Weg völlig außer sich seine Fühler ausgestreckt. Sie tappt. Verteidigt sich. Ruft um Hilfe. Und was wird geschehen? Wird sie ein Panzer überfahren und mich mit ihr? Wird sie „unter Waffen“ gehen? Oder allem den Rücken zuwenden und zum „Deserteur“ werden? Falsche Dokumente sind nötig, Bescheinigungen mit Stempeln, Falsifikate. Das muss heute entschieden werden. Heute Abend. Und von dieser Entscheidung wird – sagte mir etwas – das ganze weitere Schicksal eines Mannes und einer Frau abhängen. 43 Eines Mädchens eigentlich. Aber warum wurde mir die stumme Mahnung der Erinnerung gerade auf dieser Kreuzung zugeflüstert? War es deshalb, weil damit gleichzeitig auch die Antwort gesagt war, dass ich mich, wenn der Krieg zu Ende ist, an dieser selben Kreuzung eines Tages alleine und verstoßen wiederfinden würde? Oder deshalb, weil mir gerade dort noch viele ausschlaggebende Dinge in meinem späteren Leben passieren würden. Sonderbare Bekanntschaften, Boten aus der Ferne. Wirklichkeit mit dem Geschmack eines Märchens. Der Umriss des Unmöglichen... Diese (Nicht)Notiz von 1943 blieb in meinem Kopf verschanzt. Aber das Gedicht, geschrieben in jener Nacht, überlebte auf dem Papier alles, was seit damals für mich zu Asche geworden ist: Sowohl den Vogel der Jugend als auch Gefühle, kristallklar wie ein Gebirgssee. Es war „Erinnerung an die violette Farbe“. Ein dekadentes Gedicht, das nach der stürmischen Befreiung des Landes nicht in Morgenrot und Wirbelsturm aufgenommen werden konnte. Auch heute ist es, für mich selbst, geheimnisvoll und unverständlich. Ich erinnere mich, während ich es aufschrieb, war ich wie von durchsichtigvioletten Schleiern der Irise, dem Blau der Junidämmerungen, der Frische der Seele umhüllt. Verzweiflung, die sich noch nicht selbst bewusst geworden war. Eine der drängendsten beiläufigen Lebensmühen stellte gerade diese nie und durch nichts unterdrückte Stimme in mir dar: „Schreib das, was du lebst“, ebenso wie ihre gewaltsame Übertönung mit einer anderen, übermächtigeren: Schreib so, als ob du nicht leben würdest. Schreib Poesie! Das war auch das einzige, was mir übrig blieb, das einzige, was ich nach eigener Wahl tun konnte. Meine einzige menschliche Freiheit. Mein ein- Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit RELA TIONS Foto: Jakob Goldstein 44 David Albahari beim Festival Europäischer Kurzgeschichten RELA TIONS ziger Ausweg zu einer Lichtung aus dem Gestrüpp des Urwaldes. Aber es gab, würde ich sagen, kein einziges Jahresende oder den Beginn eines neuen, ohne dass ich mir gestand, in leiser Panik, dass mein ungeschriebenes und leeres Buch des Lebens wächst, Seiten häufen sich und ich bin ohnmächtig, den Pfeil der Zeit nach hinten zu drehen und zu sagen: Dieses Buch ist schon geschrieben, hier ist es! An wie viele solche falschen Augenblicke der schriftstellerischen Triebkraft erinnere ich mich und ich fühle mich wegen ihnen unwohl. Wie viel hektisches Sich-anden-Tisch-Setzen, auf dem Stuhl Herumlaichen, Öffnen und Schließen von Heften, Starren in die Lampe. Wie viel abruptes Abflauen von Lust, Aufgeben und Zurückkommen. Verlassen des Tisches, unbewegliches Liegen Stunde um Stunde mit einer tödlich unliebsamen Rückfahrt, in meiner Imagination, mit Zetteln unter dem Kissen, Notizen, Stichpunkten, die ich mir nie später angesehen habe – denn das würde eine zweifache Reprise der Rückkehr in die Vergangenheit bedeuten – mit Skizzen, Überlegungen, Rätseln. Am meisten quälte mich der Titel, dann die Komposition, Dramaturgie, Kapitel. Vor etwa dreißig Jahren war der Titel gedacht: Dem Leben ähnlich. Vor etwa zwanzig: Politik und Liebe. Vor etwa zehn: Das Spielkasino der Poesie oder: Das Spielkasino des Körpers, das kein Körper sondern ein Traum ist. Und wie fängt man an, wenn die Schlacht des Bestehens noch dauert? Werden Friedenszeiten auftreten, Verankerungen in etwas, Fokusierungen in den Ausgangspunkt? All diese Titel, Skizzen und Linien, all diese vereitelte Bauausrüstung steht noch immer irgendwo in irgendwelchen absichtlich verlegten Mappen und das Leben schreitet auf sei18 Crna maslina Dossier: Vesna Parun nen wackeligen Holzbeinen weiter voran, ohne sich darum zu kümmern: Es scheint mir, dass die ersten Beichtversuche gleich nach dem Einzug in diese Wohnung in der BadelStraße 15 erfolgten – mein erster, und einziger bis jetzt, staatlicher Wohnraum, mir von der Gemeinde zugesprochen auf meinen vollen Vorund Nachnamen und wo ich auch jetzt noch auf dem alten Eisenbett liege und diese so sehr verspäteten Zeilen schreibe. Als ich damals vor 33 Jahren dachte, dass endlich der rechte Moment gekommen sei, war es ein unerträglich schwüler Sommertag und das Südfenster ohne Vorhänge, ohne Abschirmung, Jalousinen und das Licht des Sommers hagelte herunter, durchbohrte die Augenlider, drückte den Körper und die matte Seele wie ein Alptraum. Aus der Ecke im Flur holte ich den uralten verblichenen Regenschirm meines Vaters. Ich setzte mich aufs Bett und spannte ihn über dem tödlich weißen Blatt Papier. Die Zimmertür musste ich öffnen, damit wenigstens vom Norden her, aus den langen Gängen, von denen aus man die Hänge von Sljeme sehen kann, ein wenig Luft eindringt. Die Mitbewohner – denen ich in dieser Zweizimmerwohnung meine Gastfreundschaft angeboten hatte, deren fünf an der Zahl, und die ununterbrochen im Flur herumlungerten – verstanden die beschriebene Szene als eine Zirkusnummer und störten mit ihrem wahnsinnig machenden Gegrinse mein Projekt. Des Nachts lugte ich wie eine Eule aus meiner Höhle, aß, was mir die Mutter in einer kleinen Schüssel vor der Tür gelassen hatte und schrieb weiter. Nicht Dem Leben ähnlich, keine Autobiographie. Das war, o weh, unmachbar. Ich schrieb damals Der schwarze Olivenbaum18, unter dem großen schwarzen zahnlo- 45 sen Männerschirm. Nicht in einem Olivenhain. Nicht am Meer. Auf dem Ölberg meiner Visionen, hinter der Medvednica der untergehenden Illusion. Im Schweiße der blendenden Julimorgengrauen. Im Abgrund der schäumenden Sonne. Jetzt weiß ich, worin mein Irrtum in all jenen Jahren, wo der Stolperstein lag, der Schlüssel zur Unmöglichkeit der Verwirklichung; das Hindernis, das nicht erlaubte, dass das, was einer Chronik meines Lebens ähneln sollte, weiter gelangt als zum schieren Titel und zur Idee. Der Grund ist eigentlich sehr einfach. Ich dachte: Wenn das Drama des Lebens vorbei ist und ich von dem sinnlosen Kampf ausgeruht bin, werde ich in dieser Windstille das Papier küssen und ihm die Seele der durchlebten Tage einhauchen. Aber die Windstillen waren eine Täuschung. Es war das erschöpfende Feuer immer neuer und neuer Verse und das furchteinflößende Tote der äußerlichen Dekors, dann die unmöglichen Wohnungsumstände, aus denen man kopfüber nach draußen fliehen musste, irgendwohin, in das unbekannte Tohuwabohu des Morgigen, in den Prolog einer neuen karmischen Farse, in die Arme des Leids und der Täuschung, die an jeder Kreuzung begierig wartete gleich einem schönen Faun, der in sein Horn bläst. Dann wieder die Windstille. Und wieder einmal ein kleiner witziger Tod. Und so bis ins Unendliche. Und die Lenze reihten sich aneinander und die Jahrzehnte und Berge von unbeschriebenen Papieren bekamen in meinem panischen Geist eine düstere Form und die unbezwingbaren Dimensionen des Himalaya. 46 Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit Bis auch das Jahr 1985 herannahte, die Mitte des Monats April. Der Kongress der jugoslawischen Schriftsteller in Novi Sad. Und hier endet meine langjährige Reiseapstinenz und meine Verankerung in vier Wände. Längst nicht mehr jung und von allem persönlichen müde begab ich mich in eine unbekannte Aufgabe, in ein Enigma. Ich nahm die Herausforderung der Zeit an. Ich betrat den Ring. Und ich verstand, dass es nach diesem Schritt keine Windstille mehr gibt und keine Verankerung und keinen Traum. Ich erkannte, dass alles KAMPF war, auch die Liebe – nun, letzten Endes auch die Poesie selbst. Ein Kampf gegen das Leben, das kein Leben ist. Gegen das, was ihm kaum ähnelte. Ich sah den Eingang ins Labyrinth, aber nicht auch den Ausgang. Ich begriff, dass man den Kampf nur im Eifer dieses Gefechtes beschreiben kann, bei ohrenbetäubenden Klängen der Kampftrompete und unartikulierten Schreien der Sterbenden. Sobald der Tod von der Bühne verschwindet, weißt du nicht mehr, was der Tod ist. Sobald die Quellen der Wut versiegen, erinnerst du dich nicht mehr an ihren Sinn. Und mir wurde klar, dass das Überleben der Wahrhaftigkeit des Lebens im Widerstand und Drama liegt, und dass Frieden ein verlogenes Wort in einem leeren Herzen ist, dass sich selbst schmeichelt, über der Wut zu stehen. Und über der Wut, das heißt auch über der Gerechtigkeit. In mir regte sich auch wieder jene Stimme des schonungslosen und bösen Befehlshabers und sagte zu mir: Der Augenblick ist JETZT. Tritt in die Flamme. Kultur ist Kampf. Alle Geschichte ist Kampf. Auch der Frieden ist Kampf. 19 Und Barmherzigkeit, was ist die dann? Ist denn nicht Barmherzigkeit das elementarste Muster des Kampfes und offenbart sie sich nicht bei seltenen Seelen in einer Schönheit, die kräftiger als der Eros und suptiler als die Poesie ist? Es ist die Stunde gekommen, dem Ungeheuer in die Augen zu sehen. Kein Warten mehr darauf, dass das Klappern des Mühlsteins vergeht, dass die Echos des Schmerzes, der sich wie ein Messer in den Körper des Gedichts rammte, verklingen. Dein Pfad ist über dem Abgrund. Der Mond nimmt zu und wenn er voll ist, und du diese Amphore vor dir nicht mit deinem Leben ausfüllst, dann wisse, dass es dieses Leben, dass dir so sehr zu schaffen machte, auch nicht gegeben hat. Eine Spur ist das einzige Zeugnis, dass du existiert hast. Vergiss lieber deinen Namen. Lass die Verse liegen. Verschmäh die Poesie. Genug des Gebetes für Schönheit. Die Schönheit ist befreit. Konnte ich es, durfte ich es tun? Sie war mir trotz allem eine Begleiterin in diesem bitteren Traum, der manchmal einem Leben ähnelt. In Todesgefahren Rettung. Bei Schiffbrüchen ein Floß. Und so also bedeutete meine Rede in Novi Sad den leisen und öffentlichen Tod jener ehemaligen ich und die Geburt – ohne dass ich es wollte oder ahnte – meines schicksalsträchtigen und bis dahin schamhaft im Hintergrund stehenden Doppelgängers: Der Reiter ins LEERE, ein Liebhaber des unendlichen, ewigen, verjüngenden Abenteuers des Geistes. Eines von der Poesie der FREIHEIT trunkenen Geistes. Um der Poesie ihren Doppelgänger zu zeigen, musste ich auf ihre Sprache und auf ihre Oasen mit Schatten und süßem Wasser verzichten, ihre RELA TIONS Karavanen ins Gebüsch und in heißen Sand treiben, wo es nicht leicht ist, ein ungeschickter Reisender zu sein, der sich nur auf die Sterne am Himmel und auf seinen aus Versen geflickten Kompass verlässt. Und so entstand das Buch Unter dem Männerschirm, was gleichzeitig Rückblick und Suche nach den Wurzeln meiner selbst von heute ist, in dem, was die Krone des Baumes von gestern erblühen ließ. Gibt es eine Kontinuität, fragte ich mich, zwischen der Poesie des Sprechens und der Poesie des Schweigens, zwischen der Wahrheit der Liebe und der Wahrheit der Verachtung, zwischen dem öffentlichen und intimen Ich, zwischen dem, in dem wir Brüder sind und dem, in dem unser Märtyrium gesprossen ist. Was weiß ein Dichter schon von seiner Zeit, als das, was er sieht, hört und ahnt und was er verkrampft in seinem Herzen trägt? Den Titel Unter dem Männerschirm fand ich ebenfalls auf einer Mappe von vor etwa fünfzehn Jahren, mit Ausschnitten von Zeitungsartikeln, Umfragen und Interviews. Unter diesem unförmigen Männerschirm habe ich so manches, was wirklich „Männersachen“ sind oder es, hauptsächlich, weingstens im Laufe der Jahrhunderte waren, durch mein Leben getragen. Für die Debatte, die Rede, den öffentlichen Ausfall, die Kritik läuft sich der weibliche schöpferische Dämon erst warm und noch immer gilt jener Aufruf aus den Zeiten von Ljudevit Gaj an die „Illyrerinnen“, sich aufzuraffen und ihren selbstsüchtigen Blick von der Idylle des häuslichen Herdes abzuwenden, dorthin, wonach, voller Hoffnung, ihre mit Wiedergeburt19 bekränzten Männer streben. Für eine Illyrerin, die einen solchen Herd nicht ihr eigen nennen kann – So genannte illyrische Wiedergeburtstbewegung (kroatisch nationale Bewegung der 30er und 40er Jahre des 19. Jahrhunderts) RELA TIONS wie ich, zum Beispiel – ist das Aufwachen einfacher und die Verkleidung aus einer privaten Sklavin in eine öffentliche „Hetäre“ fast, so würde man sagen, schmerzlos. Das zweite Buch andererseits, das diesem folgt, wird vielleicht mutiger als dieses zeigen, wie dieser Ausverkauf eines selbst auf den Lizitationen der Poesie und Pseudopolitik wahrlich irrsinnig schmerzlos war und wie die Luzidität des dichterischen Wortes nicht anders denkbar ist, als ein glitzerndes, von sich zu den Menschen gewandtes, Funken von Schmerz. Wie fühlt sich in ihren schon vorangeschritten reifen Jahren eine Frau, die als Frau wirklich auf dieser Welt, Vaters Prophezeiung nach, ÜBERFLÜSSIG gewesen wäre – wenn es nicht diesen männlichen, man könnte sagen, altmodischen Regenschirm der Lyrik gegeben hätte, mit dem sie ihre Identität verteidigt hat vom Ansturm der zweibeinigen Säugetiere, die erst durch Usurpierung zu Menschen werden, ebenso wie von den aufgeblasenen aggressiven Feiglingen, die, als sie von weit her das in der Luft gespannte magische Zelt – wie ein Baldachin bei einer Sonntagsprozession – erblicken, dorthin stürmen, um ihrem sozial und biologisch bedrohten Ich vorübergehende Deckung und Schutz zu verschaffen? Ein Nest bis ihnen Flügel wachsen. Ein Asyl bis die Akustik der Kriegsmenagerien verstummt. Den bescheidensten neutralen Punkt der Betrachtung der Welt, bis sie eine eigene durch Ideologie untermauerte, doch durch Praxis noch nicht widerlegte Weltanschauung aufbauen. Bis sie das Recht auf ihren eigenen breiten und tiefen schwarzen ehrwürdigen wertvollen Männerschirm erhalten, unter den sie bequem sich 20 21 22 23 Dossier: Vesna Parun und ihre Weltanschauung und ihre weitere und engere Familie und mit der Zeit – sollte das Gück hold sein – auch ihre Institutionchen unterbringen können. Seit der Mann aufhörte – wenigstens auf dieser unseren Hemisphäre – seine Muskeln zu gebrauchen, auf dem Scheiterhaufen zu brennen und vom Regen nass zu werden, verfing sich, leider leider, die Zivilisation in ein Spinnennetz aus Traktoren, Pyrotechnik und Regenschirmen, innerhalb dieser bestehenden Gleichung des Raumes und der Zeit, unentwirrbar und unwiderruflich. ¹1986º ¹...º Ich war damals – zur Zeit des Einzugs – zweiunddreißig Jahre alt, ich war ledig, ohne Kinder, wog 65-70 Kilogramm und hatte nur zwei Gedichtsammlungen hinter mir: Morgenrot und Wirbelsturm und Gedichte 20 . Aber in der Tagespresse und in Zeitschriften waren oft neue Verse, die die Öffentlichkeit – im damaligen Mangel an „Regenbogenpresse“, im Grau der gesellschaftlichen Ereignisse – mit verwunderlicher Aufmerksamkeit verfolgte. Doch auf diese Weise gewonnene Popularität war gleich, von Beginn an sozusagen, ein Dorn im Auge jener, die sie auf langen, der Ideensäuberung gewidmeten Sitzungen hockend, erlangten – und das bedeutete für diese Ikonodulen sichere Punkte in der Karriere, den Aufstieg zum kulturellen und akademischen Olymp, die Priorität bei der Verteilung der besten Arbeistplätze, der besten Wohnräume, der schmeichelndsten Kritikerlobeshymnen. Von solchen bekam mein Pjesme Spirituosenhersteller Stadtteil von Zagreb, übersetzt: Studentenstadt Kroatischer Schriftsteller des Barock; Verfasser u. a. vom Versdrama „Dubravka“ 47 erstes Buch als politisch untauglich einen Arschtritt und das zweite – als sich dieselben dem Befehl von Oben folgend bald in „Westler“ maskierten – wurde von ihnen als reuig gebrandmarkt, was mit der Wahrheit über seine Entstehung im Versuch meiner intimen Flucht aus den Fesseln der eigenen Vergangenheit überhaupt nichts zu tun hat. So machten sie aus mir, die ich völlig unschuldig daran war, schon gleich am Anfang ein Enfant terrible und diese Fama verfolgt mich noch bis heute. In jüngeren Jahren ist es normal, keine Autobiographie zu schreiben – denn du hast sie ja eigentlich noch gar nicht – sondern du schreibst hartnäckig und mit tauben Ohren gegenüber den immer inbrünstigeren Mahnungen des Schicksals Verse und Verse... Du schließt dich in eine märchenhafte und einsame Festung aus diesen Versen ein, geschützt vor Schlangenbissen und Wolfsfängen, kurz: Der Gewinner. Doch deine Festung wird eines Tages stärkeren Kräften nachgeben, wird zu Schutt und Asche verfallen und du wirst, verlassen und nackt, besiegt, vor selbsternannten Richtern stehen – und die Herrschaft wird ihre Hände waschen und sagen: Da habt ihr eure Freiheit, ihr habt sie und basta, uns lasst – bitte schön – in Ruhe! Und so also blieb seit meinem Einzug meine einzige „Festung“ diese mit Fatamorganas verzauberte Wohnung in der Badel21-Straße – heute in der Straße Vile Velebita Nummer 15, in Studentski grad22 in Dubrava, der mit den Studenten und noch weniger mit Gunduli}23 etwas gemein hat; aber die Bewohner der Oberstadt, die nicht eingeweiht sind, seufzen manchmal: – Ach, dieses Studenten- 48 Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit paradies, dieses Zagreber Quartier latin, das inspiriert Sie doch sicher! Und wenn noch statt Miro{evac24 der Friedhof Père-Lachaise oder der Montmartre dort wären!... Als jedoch – nach 17 Jahren des Gestrandetseins auf dem harten Badel-Meinhofer25 Fels – alle, außer mir, Besatzungsmitglieder des familiären Piratenschiffs mit dem auf dem Bug (oder Heck?) gekritzelten Namen FANTOM PARUN dieses Loch verlassen haben und in die Stadt gezogen sind, waren sonderbarerweise das einzige, dass sie nicht mitnahmen, die Landkarten. So dass ich jetzt drei hatte: Zwei alte, ihre, und eine neuere, meine, die ich in vergangenen Jahren von einer meiner häufigen Rückreisen aus Sophia mitbrachte; dorthin ging ich ebenfalls in eine Art Halbexil, ohne irgendjemandes Segen, oder Unterstützung, als freier Künstler und freie Bürgerin... um zu schreiben, übersetzen und wenn ich will – um sogar zu heiraten, weil ich genug davon hatte, die ewige Studentin und alte Jungfer aus der Badel-Straße fünfzehn zu sein. Jetzt bin ich auf diesem aus symbolischen Fabrikflaschen geschaffenen Felsen ganz allein geblieben, als ich der Macht der Politik wegen nach dem Einzug der sowjetischen Truppen in Prag im August 1967 auch mit meiner „zweiten Heimat“ und meinem Mann Ljuben @ekov brach. Diese nicht sehr große Landkarte des Staates Bulgarien klebte ich an die Wand über den unbrauchbaren Gasherd, setzte mich dann hin und schaute sie lange, resigniert an... Ich sagte so, ohne Worte, Lebwohl auch zur mir ans Herz gewachsenen Donau im Norden des Landes, von Silistra bis nach Vidin entlang der rumänischen Grenze... aber auch zum mir noch lieberen Varna und Sozopol im Osten, zu dem Haufen ungeordneter Erinnerungen und unvollendeter Strophen der goldsandigen Schwarzmeerküste... Es wäre falsch, aus dem heutigen, ein wenig leichtfertigen und unabsichtlich lasziven Ton meiner Geschichte zu schließen, dass ich auf den Flügeln der Poesie dorthinflog oder diese – für jene Zeit politisch gefährliche Heldentat – als sorglose Abenteurerin unternahm. Dazu zwang mich die Ausweglosigkeit der Umstände, in die ich mich selbst brachte, als ich – bis zum Hals in meinen geschriebenen und ungeschriebenen Papieren steckend – das Ruder meines Wohnschiffes jenen überließ, die darauf nur gegen die Reling gelehnte verantwortungslose Passagiere waren. Nicht jede Familie ist auch wirklich eine Gemeinschaft, noch sind Erinnerungen an die Vergangenheit ein Pfand für die Gegenwart, oder kann die Ordnung der Dinge, wie sie in der Kindheit war, ein Muster für das Leben sein, nachdem von jenen Fußstapfen und jenen Sonnenstrahlen auf einer lange vergangenen Schwelle jede Spur verloren ging. Und es ist auch natürlich so. Ich musste vor diesen verwischten Fußstapfen weglaufen, den tödlichen Anstürmen der Erinnerungen, der fatalen Disharmonie der Charaktere, den zerstörerischen Instinkten der Umwelt, der Arroganz der Schamlosen, denen Der Staat dankbar die Macht über dich gewährt hat. Weglaufen vor dem unerträglichen Gemeinschaftseigentum des insularischen Weltschmerzes – wovon jene aus den Elitevierteln von Agram keine Ahnung haben, ebensowenig wie jene, die ihre Nächsten elegant aus dem Blickfeld geräumt haben, indem sie sie in irgendwelche armseligen Heime und Einzelzellen gesperrt 24 Friedhof in Zagreb 25 Anspielung auf die RAF-Mitglieder Andreas Baader und Ulrike Meinhof RELA TIONS haben... Geriatrie. Bidru`ica. Loborgrad. Und so weiter. Weglaufen vor denen, die man noch lieben könnte, auch wenn sie es nicht verdienen; aber sie brauchen dein Lieben nicht und noch weniger deine sanfte Barmherzigkeit. Gib ihnen das, was sie von dir verlangen, erlaube ihnen, es dir gewaltsam zu entreißen und hasse oder liebe sie dann nach Herzenslust... Die Tante war lange vor deren Auszug gestorben, sie konnte nicht länger ihren eigenen passiven Widerstand der immer offensichtlicheren Sinnlosigkeit der Existenz aufrechterhalten. Die Mutter, Leidende und Opfer der Übriggebliebenen, kämpfte mit aller Kraft, um in deren Nähe zu überleben, damit sie ihnen helfen konnte, in dem Glauben, dass das Gute am Ende doch siegt. Aber das Gute hat nicht gesiegt. Wahrscheinlich hat sie nicht genug gebetet; sie dachte, es wäre genug zu glauben. Ernüchtert haben sie die Schläge, blauen Flecke, Misshandlungen und Gerichtsverhandlungen, in denen ich Zeugin auf ihrer minderheitlichen und von der Polizei ungeschützten Seite war. Ungefähr zehn Jahre lang lebte ich in dieser, auf einmal leeren, verwüsteten und drohenden Wohnung, alleine, bemalte ihre düsteren Wände, Zimmerdecken, Türen und Fensterrahmen mit lebhaften Maurerfarben – kiloweise Farbe – und ihre unvergänglichen Flecke übersäen heute noch Stühle und Hocker, Mappenständer aus Stroh, auch alte Mäntel und Kleidungsstücke an den Garderobenhaken, von den verfärbten Schuhen, Pantoffeln auf dem Boden und Regenschirmen in der Ecke gar nicht zu sprechen. Von jenem ehemaligen Pop-Rock-Bing-Bang-System in der RELA TIONS Wohnung sind Narben, Löcher und Risse geblieben; und von meinen fresco Meisterwerken werden zukünftige Bewohner von der Küchendecke Sterne herunterholen, von den Wänden Bäche mit Enten, von der Wasserleitung den Schwanz eines prachtvollen Pfaus, von der grünen Badezimmertür einen kupferbraunen Krug und von der Wand über meinem Kopf – über dem Kissen, auf dem ich schreibe, schlafe und das dritte Programm im Radio höre – werden sie die verzweigte Krone eines blauen Baumes aus dem Weltall so lange sie leben entwirren müssen. Umsonst. Denn dieser imaginäre Baum ist ins Leben selbst eingewachsen und seine Wurzeln in seine knorrige und widerspenstige irdische Wahrheit. Er atmete, bemühte sich, trotzte der Zeit und dem Bösen, trotze dem Schmerz, dem Unglück und dem Schicksal. Er trug Früchte, unsichtbare, verstreute sie auf den unsichtbaren Pfaden der Nacht... den Pfaden, die die Füße ihrer Pilger verletzen, aber nicht ihre durch Schweiß und Wegstaub veredelten Worte. Das Wort wird vielleicht der einzige Gewinner sein. Ich nicht. Das alte chinesische weise Buch YiJing war mein einziger wahrer, tiefer Freund und Schicksalsgefährte zu jener bösen Zeit – der finstersten und traurigsten, der ich mich entsinnen kann und sie erschien in ihrem ganzen Grauen der Unehrenhaftigkeit und des Betrugs nach dem Tod meiner Mutter am einundreißigsten Oktober 1972 in dieser Stadt Zagreb, in Kroatien – ein Jahr nachdem Frau Milka Planinc auf die Bildschirme losgelassen wurde, mit einer unzähligen Suite ihrer Arschkriecher und Speichellecker, mit Schwärmen von Sekräterinnen-Schmetterlingen und Zügen von Maulwürflein und einer Meute dressierter Doggen... Ich werde mich mein Leben lang an das Gebell und die Bisse des Abschaums erinnern, an das fuchsähn- Dossier: Vesna Parun liche Herumschleichen der Schüffler, die aufgescheuchten Gesichter der Denunzianten. Begleitet von einer Revue von Söldnern jeden Alters und Geschlechts, von den Analphabeten bist zu den gottgefälligen künstlerischen Seelchen... mit ihren Pariser Ausstellungen, staatlichen Wohnungen, Landhäusern, Autos, Booten... Ohne dieses rettende, mir freundschaftlich gesonnene Buch, das allmählich die Rolle meines Wächters, Führers und Lehrers übernahm – denn darin wird jedes Ding und jede einzigartige Lebenssituation mit ihrem fehlerfreien und wahren Wort benannt – gäbe es auch mich nicht und auch nicht das, was ich jetzt schreibe, während es mich, dieses Buch, aus der anderen Zimmerecke beobachtet und ermutigt. Darin wird der Verrat an einem Freund Verbrechen genannt. Lügen und Meineid Gotteslästerung. Hass ist ein ehrenvolles Ventil, wenn du ein Opfer von Liebesmissbrauch bist: Er gibt dir Kraft, die Falle aufzudecken und selbst zur Wahrheit vorzudringen. Erst dann ist dir erlaubt, dir Frieden zu gönnen, dich zu entfernen, zu vergessen. Vergebung kommt in alledem erst an letzter Stelle, und sie ist dem Himmel überlassen – erst nach dem Gericht der Gerechtigkeit. Der Gerechtigkeit, die die Stimme des Himmels auf Erden ist... So verstand ich die Botschaft dieser erhabenen Weisheit und mich nach ihr richtend verfolge ich von Beginn jeder Handlung das Hollogramm meiner Seele bis zu ihrem Ende. Den Strom des Lebens von der Quelle an, über die ich mich wundere, weil sie ein Traum ist, bis zum Delta, an dessen strenger Wirklichkeit ich teilnehme. Erst ein paar Tage nach dem Tode meiner Mutter, als mir das Buch YiJing zum ersten Mal in die Hände kam, fragte ich diesen weisen Geist in ihm – Jung zufolge, unser gemein- 49 sames Überbewusstsein – was ich alleine auf der Welt tun solle, wohin mich wenden, warum noch leben. Ich bekam die Antwort: „Bleib, wo du bist und warte. Lass die Mauern deines Hauses mit Efeu bewachsen, Spatzengeplapper soll dein Gespräch sein, das Schlüsselloch an der Tür verstopfe mit Wachs, antworte nicht vom Fenster aus, an die Schwelle geh nur zur Mittagszeit, wenn die Sonne im Zenith steht, lass die Zehen taub werden, opfere manches von dem, was du für deine Bedürfnisse hast, überquere den großen Fluss noch nicht, fälle die verlockende Entscheidung nicht, bevor dafür Zeit ist, denn sie wird falsch sein und dich in den Abgrund führen...“ Wer, von seinen Nächsten getreten und vom Schicksal gebeutelt – sollte nicht auf diesen, wie dem Palast des Todes selbst entrissenen, mütterlichen Rat hören? Ich hörte auf ihn. Und das veränderte mein Leben. Das Warten war, seit ich denken kann, mein zweites Ich, mein zeitweise versteinerter Doppelgänger; es teilte scharf mein Wesen in zwei gleichsam unmessbare Hälften: In die, in der das Nichts herrscht und in die, die Etwas lenkt. Das Warten, von dem hier die Rede ist, ist nicht schiere Illusion: Es war der Schlüssel zur Zukunft. Das geduldige Sammeln all meiner in den Wind geworfenen Schritte in einen einzigen wirklichen Punkt: In die Treue gegenüber dem noch ungeschehenen, aber sicher morgigen Weg. In diesem Warten lag die Befreiung, der Raum, die Unbeweglichkeit, die sich von innen betrachtete, wie das stille Fließen eines Flusses; warten kannst du mit den Jahreszeiten oder ohne sie, mit den Vögeln in der Luft oder ihrem schwingenden Schatten, wach oder im Traum, mit dem Stift in der Hand oder der Gebetsschnur, 50 Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit bei Kerzenschein oder in der Flut der Finsternisse. Solange bis das Warten sich nicht selbst anfängt zu löschen, damit wir auf diesem geleerten Platz den Umriss jener Wirklichkeit entdecken, deren Gegenstand des Wartens auch das Ziel war. Er nähert sich, aber streck noch nicht deine Arme aus, ruf ihn nicht herbei, beschleunige nichts... Mit zwölf vor Kälte und Hitze ungeschützten Fenstern in der Wohnung – sechs nach Süden und sechs nach Norden hin – musste man nicht wartend in die Ferne starren; denn alles war schon hier, unter den Wolken, die mit dem Ändern ihrer Formen aus zukünftigen Regentropfen ihre Materialität schufen. Ihren Weg durch die Gegenwart, in die wir restlos eingetaucht sind. ¹...º Pläne, Pläne... ich will euch nicht! Und hier ist noch ein neues zeitliches Durcheinander für mich. „Mladost“26 treibt das Ordnen meiner Bücher für die Gesammelten Werke voran. Die Redakteure, Karmen Mila~i} und Vlatko Pavleti}, arbeiten fleißig daran und ich muss mit meinen Säcken auf Hockern, vor Haufen von Mappen sitzen... Ich verkehre, ohne rechte Lust, mit meiner bisherigen Arbeit, mit den Früchten der vergangenen Lenze, mit den Unterlassungen und unfertigen Ideen... Mit dem Schwarzen Olivenbaum, dem Verwunschenen Regen27, der Sklaverei 28... Mit Essays, die ausgebessert werden müssen... Oh, wenn man statt in die gesammelten Werke alles auf einen Scheiterhaufen packen könnte!... Ob ich 26 27 28 29 wohl das im Unterbewusstsein hatte, als ich die verbrannte Jungfrau von Orleans schrieb?... Helada sagte einmal zu mir: – Alle wissen schon über deine Säcke Bescheid, für was sind die denn so berühmt? Was ist drin, sag’ schon? – Alles, was man mitnehmen musste, als ich beschloss, nach Sarajevo zu ziehen. Wegen Adnan. Und zwar nach Ko{evsko brdo. – Und du es aufgegeben hast. Und sind es immer noch vierzig? – Ich weiß es nicht, ich ziehe aus ihnen das heraus, was ich brauche: Frauen- und Männerschuhe, Mäntel, Jacken, Sportkleidung, Manuskripte, Bücher. Auf dem Boden von einem ist ein alter Lexikon von „Minerva“29, ich bräuchte es... aber ich weiß nicht, in welchem es ist! – Und wird deine Autobiographie wirklich Mein Leben in vierzig Säcken heißen? – Das hoffe ich. Dein FranzosenFreund ist von diesem Titel begeistert; er sagt, er würde in Paris, schon des Titels wegen, sofort einen Verleger dafür finden! – Und in welchem dieser Säcke ist, ha-ha, dein Ex, der aus Bra~? Zu welcher Hunderasse gehörte der? – Er war ein trivialer aufgedunsener Swidrigailow, dazu noch ein Narziss!... ¹...º Es war genau am 10. April, an meinem Geburtstag. Ich weiß nicht, was in dem Glas war, das ich austrank, nachdem ich mit ihnen angestoßen hatte – sicherlich war es nicht nur Kirschsaft; denn die Entspanntheit und übermütige Sorglosigkeit, die mich übermannte, löste scherzhaft meine Zunge – in der vorherigen Kroatisches Verlagshaus Ukleti da`d Ropstvo Großes Verlagshaus in Jugoslawien bis zum Zweiten Weltkrieg RELA TIONS Phase mit Stricken der Verse gebunden – und drei Frauen... nein, vier, es war auch eine ihrer Bekannten anwesend, eine Ärztin... nachdem die Torte angeschnitten worden war, wandten sie ihre Augen an mich und warteten auf den Beginn einer Geschichte. Was für eine? Na ja, die Geschichte meines Lebens, wessen sonst, sagten sie. In den wichtigsten Zügen – vom Moment der Geburt an auf der Insel der verlassenen Frauen... auf diesem kleinen, Gott sei dank, durch Evas Sünde unbefleckten Lesbos... bis zu diesem Moment hier in Trnje, im Garten, wo immer eine vor Sehnsucht versengte gelbe hohe Rose auf totem Wachposten steht... auf dieser postmodernen urbanen kleinen Insel Zven~i}, wohin die gynophile lauthals singende Sappho eher passte als ich, die Wasserträgerin von Prvi} und Zlarin, verweint und verärgert, nicht aufgezogen und nicht verzogen, schwarzölig. Mutterseelenallein auf diesem kroatischen, für eine Frau, eine Inselbewohnerin, historischen ewigen Ölberg. Wer bin ich? Eine Dichter-Frau, aber kein MannWeib. Eine ungebärende Frau, aber keine unmütterliche Frau. Eine Geliebte, aber keine Ehebrecherin. Die, für die ihr „Freund“ immer der einzige Mann auf der Welt war. Unersetzbar, solange er hier ist, auch wenn er nur ein reines narzissoides männliches Symbol war, anziehend bis zum Geht-Nicht-Mehr und nichts mehr als das. Ich, die Widerstand-Frau und die Vorwurf-Frau; die Seebärin-Frau und Quallen-Frau; die Korallen-Frau und Schwamm-Frau; die NapfschneckenFrau, festgeklebt an den Felsen und die Felsen-Frau, an die der Napfschnecken-Mann festgeklebt ist... Dossier: Vesna Parun 51 Foto: Jakob Goldstein RELA TIONS Jurica Pavi~i} beim Festival Europäischer Kurzgeschichten 52 RELA Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit Oh, diese geschlechtslosen und psycholabilen jungfräulichen Häteren und Animierdamen, Beischläfer und Beischläferinnen, diese erbärmlichen Gänseriche, diese hundertärschigen Ärsche und diese zu fest zugenähten Gummi-Hymen, dieses Lesbos ohne Sappho und diese Nicht-Sappho, geboren an einem falschen Ort und zur falschen Zeit... und die auf diesem Galapagos, Gulag und Archipelag von Kornati und Goli otok alles sein kann, nur kein Stasikrat, kein Spitzel und keine Hure – im Gegensatz zu vielen „unsterblichen“ Männlein im tausendjährigen Schatten dieser sklavisch leibeigenen Politkultur, wo ein unter der Rose verborgener Dorn Ruhm erlangt, während eine Serenade unter dem parteilichen Fenster klingt und der Kuss der Hoffnung dem Glaubenden geboten wird, statt der Wahrheit und der nackten Gerechtigkeit... Auf dem Meeresgrund lebt ein männliches furchteinflösendes Monster. Adams Archetyp. Schleimig, pickelig, unbeweglich, leidenschaftslos, für Liebe unempfindlich, auf sein geiziges Ego verschworener Lüstling, von Urzeiten an solcherart, von der Evolution unberührt, auf ewig tönern retardiert und unendlich mit dem Grund vermählt... Ein hässlicher, schwarzbrauner, zur Verunstaltung der übrigen Flora und Fauna aus der Fantasie des Schöpfers faul herausgerissener, von der Genialität des Geschlechts trunkener – dieser lächerlichste und liederlichste groschenromanige Anhänger, der letzte Bioschmuck dieses aushauchenden Planeten, schaut ihn euch an: Das ist er! Mögen mir Wegerich und Ehrenpreis verzeihen, rechthaberische und rücksichtslose, alle geduldsamen Rechtschaffenden und unduldsamen Richter – aber dieses erhabene „rrr“ mahnte mich, dass sein Name nicht der Name der Rose ist... und dass uns letztendlich davon übel geworden ist, dass dieser geniale Drückeberger der Natur zu Wasser und zu Lande, im Feuer und in der Luft diese finstere, keinen Pfifferling werte strebliche Welt glücklich gemacht hat. Ich entdeckte gemäß dem kosmischen Gesetz meiner Muttersprache seine falsche historische Rolle auf diesem Boden, sein pseudoethisches postkantisches Postulat: Das Leiden! Jammert nicht mehr – ihr Heulsusen von der demographischen ersten Linie, ihr Leidtrabanten – wegen den ungeborenen oder verstoßenen Kindlein, dem halbtoten Gott Europas! Oh, dieser selige grüne Kader der Nation, diese Lee der Vaterschaft, dieses selbstbewusste Surrogat der Moderne! Seegurke! Mann! Kerl! Dieser abgeschnittene Großpimmel einer stummen vergewalterischen Welt. Nein, ich sagte das an jenem zehnten April nicht ins Mikrofon. Seine Ohren hörten zufälligerweise etwas ganz anderes... dieser Monolog blieb in mir verborgen, auf dem Grund meiner maritimen geduldigen Seele. Unaufgeschrieben. Unvermenschlicht. Ungehört. Und woher hätte ich ja selbst gewusst, was ich ihnen damals alles erzählt habe, in einer Stimmung, an der wohl eine hineingeschmuggelte Pille aus der Tasche der angeblichen Ärztin war – wenn ich nicht diese dämliche Kassette besitzen würde, auf der aber auch alles, vom Gelächter bist zum Windablassen, festgehalten wurde... aber die ich nicht am selben Tag bekam, weil es mir gar nicht in den Sinn gekommen ist, dass ich ein Anrecht auf wenigstens eine Kopie habe. Wie ich mir sie dennoch beschafft habe, davon wird – sollte es mir nicht entfallen – später die Rede sein... Also: Haus Zven~a, 10. April 1988. Das war mein possenreißerischer selbstironischer Monolog – wie aus einem ehemaligen Agramer Varieté. TIONS Improvisation, aber diesmal aus antididaktischen Motiven, wie Schüler während der großen Pause auf dem Schulhof. Als ob mir jemand Mächtiges die Rolle des, professionell längst ausgestorbenen, Hofnarren aufgedrängt hatte. Ich ließ in dieses höflich mir gereichte Mikrofon über alles und jeden Dampf ab. Ohne obszöne Worte. Ohne jemanden zu beleidigen. Es ist ja sogar beleidigend zu niesen, ohne zu sagen: Verzeih, Staat, dass ich nieste! Aber mein Monolog war hier und da unterbrochen von Heladas Fragen. Betäubt vom Rauch ihrer Zigaretten antwortete ich ohne Hintergedanken, ehrlich, mir selbst treu. Die Fragen schienen mir harmlos, also verdienten sie auch solche Antworten. Der Sinn unserer Kultur des Alltags liegt ja darin, dass man alles Unnatürliche für natürlich erklärt und das Natürliche unter dieser Sonne und ihren Finsternissen – für politisch untauglich! Die Natur der zwischenmenschlichen Beziehungen schaffen und verändern wir selbst. ¹...º Von Remineszenzen gebeutelt, müde von der Lautheit all dieser nächtlichen wachen Stationen und den Echos ihrer historischen Klagelaute beschloss ich meine innere Aufmerksamkeit woandershin zu richten, zu anderen zahmeren Dunkelheiten; die Landschaft der Geburt vielleicht, zu dem auch der Rauch dieser [ibeniker Schnellbahn zurückschlängelt. Einer nicht vorhandenen, aus dem Korall zur Zartheit und Freude der Güte hervorgeholten Insel entgegen, wo der Refrain des uralten Schlafliedes das Gras zum schwingen und die Hummel auf der Wiese zum summen bringt... Lass uns – sagte ich mir und verschloss Kraft meiner Fantasie die RELA TIONS Ohrtrommeln – in jene ehemals herrschaftliche Villa auf dem Kap Bu}ine gehen, wo mir das streunerische Geschick der Heimatlosen das Nest aushölte. Doch die Trauer und Einöde, die an ihren mir schon immer fremden Toren wachten, scheuchte mich auch von dort unfreundlich mit dem Geschrei einer dörflichen Heilfrau weg, die die Flüche meiner ersten irdischen Krankheit vertrieb: Ich war ein Säugling mit hohem Fieber, dem die russische „Heilerin“ und ihr Mann Boris den Paratyphus diagnostizierten. Unter meinen geschlossenen Lidern begann sich ein Film abzuspulen über jenes kleine gläserne Gerät mit dem lebhaften glitzernden Körnchen, das uns, meinen Bruder und mich, durch die schmerzhaften Stationen der Kindheit mit seinem leisen drohenden Hüpfen begleitete. Es war eine unbändige Freude für uns, wenn es unter der Achsel herabglitt und sich jenes Quecksilberkörnchen in zahllose kleinere zerstreute, um äußerst durchdacht jede Spalte des Brettbodens auszufüllen... Und was danach folgte – weiß man! Das war die erste, unnachgiebige Schule des Lebens. Die Schule des Quecksilbers. Und so lösten blitzartig neue lexische Zeichen die Namen der kleinen Städte und Dörfer ab und stürmten erbarmungslos in Schwärmen und Herden in meinen Kopf. Von dem ersten Inventar aus Bu}ine waren da Windeln, Lätzchen, Schnuller, Töpfchen, Kinderwagen – oh, welch Glück in diesem sogar zum Ethnos der Minderheiten Nichtangehören der Neugeborenen!... Dann, mit dem Umzug ins „Haus Adum“ erweiterte sich der Horizont um Vaters Ledergürtel, Mutters Fingerhut, Omas Gebetsbuch, dann der Löffel, Wecker, das Bilderbuch, der rote Knopf am T-Shirt und die Mausefalle. Die dritte Stufe der Ausbildung, jene im „Haus Bacigin“, vor Dossier: Vesna Parun der Einschulung in die erste Klasse Volkschule, bestand hauptsächlich aus Gegenständen ohne rechten Zweck; aber gerade deshalb wurde uns ihnen gegenüber – in diesem ersten Schritt unserer gerade geschlüpften bürgerlichen Gesellschaft, der häuslichen, in den Abyssus der Geschichte – umso größere Ehrfurcht eingetrichtert. Eine Schultasche aus Stoff. Ein Buch mit Andersens Märchen. Domino, Spielkarten und die „Gans“. (Die ich noch aufbewahre!) Eine Puppe aus Kautschuk. Nadel und Stickfaden. Eine Schachtel mit Buntstiften. Kataloge. Anstecknadeln. So wenige Sachen sind um dich herum, wenn du auf die Welt kommst und wenige menschliche Wesen und wenige Sorten von Speisen und Getränken und wenige Bedürfnisse. Wir verfolgen nicht, wie hoch diese Zahl steigt, auch wenn sie beginnt abzunehmen und das ist unser großer Fehler. Die Sünde der reifen Zeit. Haben wir darüber nachgedacht, wie uns die Sprache zunächst mit Substantiven überschüttet, dann mit Adjektiven, dann verstreut sie um uns herum Pronomina und am Ende Verben – damit wir durch dieses großartige Spiel entdecken, was um uns herum wohin gehört und wer wem in diesem semanitschen Gedränge auf den Fuß getreten ist. Bei den Substantiven aber ist es sonderbar, dass man mit den schlimmsten, mit dem Vorzeichen des Horrors, anfängt – mit vergrößerten und verunstalteten Worten lieber als mit Verkleinerungen. Der Übergang vom Nicht-Sprechen zum Sprechen bleibt niemandem im Gedächtnis. Angst, Dunkelheit, Krankheit, Kälte, Rute; Wasser im Ohr, Splitter im Auge, Dorn im Fuß, Nadel im Hintern. Jammergeschrei. Das letzte mag sich übertrieben anhören – aber man hätte zu jener Zeit nach Prvi} kommen sollen und die 53 Schreie der Frauen hören, von denen jeden Tag wenigstens eine sich auf ein Bett mit verstreuten Nadeln setzte. Mein Vater, Br. Roko, hatte neben einem Dutzend klösterlicher männlicher Phobien auch diese spezifische weibliche Nadelphobie und unsere gesamte angeschlagene Kindheit war zusätzlich noch damit belastet. Und unschöne und drohende Substantive flogen um uns umher, heulten, klapperten, krähten. Sie waren lebendig. Das Wort und seine Bedeutung deckten sich hundertprozentig, der Gegenstand und seine Bezeichnung, der Mensch und sein Name. Wir waren ihre Beute. Das Wort Schönheit? Glück? Frieden? Das Wort Liebe? Eltern? Sorglosigkeit? Spaß? Gesundheit?... Ja, manche von ihnen kamen immer als unheilvolles Paar: Neben Gott musste auch der Teufel sein, neben dem Engel der Krampus, deben dem Frieden Krieg, neben der Gesundheit Krankheit, neben der Liebe Hass, neben der Schönheit Hässlichkeit, neben dem Spaß das Leid, neben dem Glück sogar sieben Jahre des Unglücks! Der zerbrochene Spiegel. Das auf dem Tisch verstreute Salz. Das umgedrehte Brot. Das Zucken des linken Auges. Das Summen im linken Ohr. Der Ring um den Mond. Der Wind im Schornstein. Die Eule. Wörter wie Heimat, Vaterland, Familie wurden nur für große Feiertage aufgehoben, wenn du festlich gekleidet und in Lackschuhen auf dem Kai von Zlarin spazieren gehst. Aber dafür die langen Kolonnen von Wörtern, die durch unsere Kindheit marschierten – wie sehr hören wir noch heute das furchteinflößende Stampfen ihrer Schritte! Kakerlake, Wurm, Made, Pferdefliege, Mücke, Maus, Wespe, Raupe, Speckkäfer, Floh, Laus, Wanze, Spinnen, Taranteln, Ungeziefer, Ohrwurm, Krähe, Fledermaus, Motte, 54 Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit Werwolf... Und dann noch ekliger: Schorf, Geschwür, Windpocken, Striemen, eingewachsener Nagel, eitrige Entzündung, Brechreiz, Durchfall, Frostbeulen, Schwielen, Blinddarm, Gangräne, Seitenstechen... Ischias, Drüsen, Trachoma, Echinokokus, Tuberkolose... Und mehr, mehr, mehr! Wundrose, Scharlach, Keuchhusten, Bazillus, Bandwurm, Masern, Nasenbluten, angeschlagener Kopf, Mumps, Verstopfung... Aufgedunsen, geschwollen, hohes Fieber, Wattebausch, Jod, Rizinusöl, bitterer Tee, Schimmel, Umschläge, Kamille... Schuppenflechte, Asthma, Krätze, Caissonkrankheit, Darmverschlingung, Pest. Mondsüchtiger! Und was soll man über jene sagen, die uns wie Schellen im Frühling entsetzen: Fastenzeit, Sünde, Buße, Straße, Tod am Kreuz... Und Küsse, und Streicheln, und Umarmung? Sobald du zu erwachsen für die mütterlichen Zärtlichkeiten wirst – gibt es nichts mehr! Nur einige formal erledigte Berührungen, gesellschaftlich unumgänglich, simuliert, symbolisch. Bis etwa zum Stress der ersten Liebe. Und dann musste man sie stehlen, zittern um diese gestohlenen Küsse und Umarmungen und Worte, sich fürchten, Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen erdulden, lügen, sich verstecken... Sie haben uns nicht mehr mit der Rute geschlagen sondern mit der Moralpredigt. Nach Sonnenuntergang durften wir Mädchen uns nicht mehr die Haare kämmen. Nach Sonnenuntergang band mir ein junger Mann die Haare auf, aus Lust. Jetzt, in diesen Jahren, weiß ich nicht, was ich mit all diesem Haar machen soll – und es denkt noch immer, dass es sich auf einem jungen Kopf befindet un wächst... wächst... Ohne sich darum zu kümmern, dass es grau ist. Dass es Dornen und Unkraut ist. Dieser Kopf, mit dem ich dies jetzt schreibe und die Hand, die es schreibt, erlauben mir keine Minute der Zukunft. Der Lebenslauf ist ein geschriebenes Wunder: Das, was gestorben ist, zum Leben zu erwecken, das, was verschwunden ist, zurückzubringen, sich selbst täuschen, dass du zweimal gelebt hast. Die Wirklichkeit ist gefräßig: Sie ernährt sich von unserer Gegenwart, trinkt die Tränen unserer ungeträumten Träume... Das Ohr der Gegenwart hört die Zukunft als sein Echo. Die Vergangenheit erklingt bissig wie das Läuten der Schellen... Stark zieht mich diese Begegnung von mir mit meinen vergangenen Gegenwarten ant. Sie sind nicht meine Vergangeheit. Sie sind mein Geist. Und der Geist hat keine Gegenwart. Er ist allzeitig. Durch ihn sind wir, sagt man, ein Teil der Ewigkeit. Aber was sollst du mit einem Geist, wenn sie dir das Herz herausgerissen haben, um es zu durchsuchen, zu wiegen, zu graben und es dir wieder einzupflanzen – doch an den falschen Platz... Biha}!... brüllte fast eine griesgrämige, verschlafene männliche Stimme. Ich fuhr hoch. Worüber habe ich nachgedacht?... fragte ich mich, ein wenig in Angst, dass ich – als ich mich aus dem Schutz der Gegenwart verbannte – nicht ohne Verspätung in sie zurückkehren kann. Und es wäre eine Sünde jene Gegenwart, die mich in ein paar Stunden an der Türschwelle erwarten wird, nicht aus voller Seele zu begrüßen, sich über sie zu freuen, sie zu genießen, weil sie mein ist. Und mein ist sie, weil sie wahr ist. So, wie einst für uns Märchen wahr waren. Der Mensch braucht die Wahrheit. Die Wahrheit braucht unsere Augen und Ohren. Die Lüge wurde zur sublimen Kunst des Menschen, denn sie kann ihm ohne Mühe Ruhm und Nutzen brin- RELA TIONS gen, und weder die Familien, noch der Staat oder die Religion hindern sie daran. Die Mutter gewöhnte mir und meinem Bruder die Lüge ab, indem sie uns sanft, ohne irgendwelche körperliche Androhung, sagte: – Kommt näher, ich werde sehen, was euch auf der Stirn steht. Dort hat ein Engel, der die Lüge hasst, die Wahrheit über euch geschrieben! Mein Bruder, der genau so wie ich vor der Rute Angst hatte, dem aber – einem emotionalen Skeptiker, geboren im Sternbild des Krebses – der Engel weniger glaubhaft schien als mir, flüsterte: – Dem Engel werde ich auf die Stirn schreiben, dass er lügt und er wird von der Mama was mit der Rute kriegen! Jetzt, zwischen Biha} und Dvor na Uni, begünstigte der verlangsamte Rhytmus des Zuges gerade die Spekulationen im Gebiet der Ethik, die um eine Stufe die Ästhetik überragt; Kant zufolge, um den sich im Jahr 1945 der verstorbene Professor Bazala so sehr an seinem Lehrpult bemühte. Und das ist wie Gift auf unserer Wunde. Eine Heilsalbe der Tradition auf die Wunde, die uns zugefügt wurde von tausenden @danovs, Chruschtschows, Todor Pavlovs, Zogovi}s, Don~evi}s, Frani~evi}s... Ein weiser französischer Schriftsteller – ich denke, La Rochefoucauld – ermahnte uns, dass es besser sei, von einem Freund betrogen zu werden als an einem Freund zu zweifeln... Aber, würde ich diese Weisen fragen, wie unterscheidet man einen Freund von keinem oder einen, der dir einer sein möchte, aber es nicht kann oder einen, der sich im Laufe der Freundschaft heimlich – aus diesen oder jenen, höheren oder niederen Gründen – auf die Seite deiner Feinde stellt? Die Politik bereitete, seit es sie gibt, der Ethik solche Probleme, warf ihr Knüppel zwischen die Beine, streu- RELA TIONS te Sand in die Augen. Aber niemals so rücksichtslos brutal, so diplomatisch leger, so von allen Mächten der Erde und des Himmels geholfen wie gestern, vorgestern und heute, also demzufolge auch morgen – falls ich Recht habe, wenn ich behaupte, dass die Zukunft das Echo der Gegenwart ist und nur die arithmetisch aus ihr gezogene „zweite Wurzel“. Ich muss also morgen in Zagreb die verschiedensten Kontakte mit Personen fortsetzen – oder beenden – wobei ich mit meinem schwachen menschlichen Verstand sogar nach Monaten oder Jahren von Bekanntschaft oder Mitarbeit nicht enträtseln kann, ob sie heute meine Freunde oder Feinde sind; und der Allmächtige beobachtet nur vom Himmel aus diese unseren Dubiosen und Zweifel – ohne dass er auch nur einen Finger krümmen würde, um unsere moralischen Krisen, die zu nichts Gescheitem nutze sind, zu lösen. Als Christin müsste ich zur Beichte gehen – was ich nicht tun werde – und zum Beichtvater sagen: – Ich sündigte, Hochwürden, gegenüber jenen, die sich mir als Freunde darstellen, denn mich zerfrisst der gerechtfertigte Zweifel, dass sie das nicht sind. Wie soll ich diese Sünde des Zweifelns gut machen, helfen Sie mir! Und er würde sagen: – Bete, liebes Kind, zwölf „Ave Marias“ und zwei „Salve Reginas“ und schlafe dann ruhig. Es ist dir vergeben! Oder ich werde mich so an ihn wenden: – Hinter mir, in [ibenik, ließ ich ein menschliches Wesen, dass sich freiwillig als Opfer in die Hände jener, die ich eben erwähnte, begab... um mir zu helfen und mich vor ihnen zu retten. Und ich zweifle jetzt an diesem armen Wesen, denn – da ich es erst kennen lernte – ich kenne seine letzte Absicht nicht und Beweise im Dossier: Vesna Parun Sinne jenes Corpus delicti habe ich weder, noch werde ich sie je haben. Befreien Sie mich von diesen Qualen, ich bitte Sie! Der Beichtvater wird hüsteln, sich auf seiner Bank etwas meinem äußeren Ohr nähern und flüstern: – Jesus hat nicht gezweifelt, Er hat vergeben. Den ganzen Oktober lang wirst du den Rosenkranz beten und dann kommst du wieder und bekommst die Absolution. Amen! Ach, wie viel schöner wäre es im Oktober – mit wahren Freunden unter dem Berg von Sljeme Kastanien zu sammeln, Gottes Diener, als sich mit falschen – was auch den Heiligen nicht genehm wäre – vor dem Publikum zu verneigen und Brot und Salz der Kultur mit ihnen zu teilen... Der erste ist allem Anschein nach ein Jesuit, der zweite, würde ich sagen, ein Franziskaner. Ich danke euch, dem einen wie dem anderen! Ein junger Priester nahm mir im Jahr 1973, nach dem Tod meiner Mutter, kurz vor Ostern, die Beichte ab – mit einer „Stola“ um den Hals – in meinem Zimmer im Erdgeschoss, auf der Couch, auf der wir beide mit gesenkten Köpfen saßen. Er nahm alles auf – um uns herum war ein einziges Gewirr an Kabeln und Apparaten – für meinen zukünftigen Lebenslauf. Und nicht für den lieben Gott. Für Auftraggeber. Je leidenschaftlicher sich dieser dalmatisch-bosnische Zug dem Zagreber Hauptbahnhof nähert, desto mehr kommt mein menschliches und „berufliches“ Gewissen in Fahrt und verlangt von mir ein endglültiges Urteil und eine Entscheidung. Wie konnte ich – werfe ich mir hitzig vor – wegen einer gerade kennen gelernten Abenteurerin mit einem so schrecklichen Verdacht meine loyalen und fleißigen Mitarbeiter besudeln, auch nur für einen Moment glauben, dass 55 sie Schurken, Verleumder und Vergewaltiger seien. Ich schäme mich deswegen und bin wütend auf mich. Soll ich sofort nach meiner Ankunft vor sie niederknien und sie um Vergebung bitten? Denn der Sinn der Beichte wäre, vor dem, den du beleidigt hast zu beichten und nicht vor einem Mittelsmann. Einem Makler. Einem Profi. Wer kann so auf die Schnelle erkennen, was in der Geschichte der Journalistin die Wahrheit ist und was nicht? Warum hat sie mir das Ganze, erst nachdem die beiden abgefahren sind, enthüllt? Vielleicht könnte ich sie von ihnen hören. Vielleicht könnten sie mir auch über sie so manches erzählen – dürfen aber nicht! Und was, wenn alle gleichermaßen lügen? Wenn ihnen im Leben die Lüge die rechte Hand ist und das Manipulieren von Menschen die linke? Ich gestehe, wenn es dieses liebe, kranke Mädchen nicht gegeben hätte, hätte vieles anders ausfallen können. Haben sie mich nicht bei allen bisherigen „freundschaftlichen“ Irrgängen gerade mit Kindern oder alten Menschen erfolgreich in ihre Arena gelockt? Alles nach dem Spruch: Lasset die Kinderlein kommen!... Hat nicht vielleicht, unter dem Einfluss von Drogen, die sie ihr ins Getränk geschüttet haben, Rada alles übertrieben, halluziniert? Doch warte, warum würden sie ihr den Drogen geben, wenn sie gut und unschuldig sind und sie eine Betrügerin und perverse Lügnerin? Sie hätte sie alleine nehmen können und mutig zu ihnen auf ein kleines nächtliches Vergnügen gehen! Wieso ist mir das nicht früher eingefallen? Mir war danach, aus dem Zug zu springen und zurückzulaufen, um das alles dieser Journalistin ins Gesicht zu schleudern und den anderen ein Telegramm zu schicken: Ich komme in eure warmen Arme, meine Freunde! Auf Wiedersehen!... Gott ist Liebe!... 56 Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit ¹...º Jemand wird sagen, mit Recht: Warum sich so sehr mit menschlichen Makeln beschäftigen? Sollen sie doch so sein, wie sie sind. Jeder möge sich um seine Sachen kümmern und die anderen in Ruhe lassen! Es wäre wirklich wunderbar nach allem festzustellen: Das sind Kleinigkeiten, sie sind alle gut und alle sollen akzeptiert werden!... Oder: Sie sind alle schlecht und das ist normal. Man soll allen vergeben, mit ihnen in Frieden und Liebe leben und zusammenarbeiten!... Ja, von wegen. Gutnachbarschaft auf zehn Milliarden einsamen Inseln! Jene, die anderen Rezepte zum Leben ausstellen, sollte man auf schimmliges Brot und verseuchtes Wasser setzen. Wie soll ich mit jemandem Umgang haben, der mir anonyme Briefe schickt? Zusammenarbeiten mit jemandem, der einem Journalisten aus einer anderen Republik alarmante Informationen über mich gibt und mich verleumdet, nachdem er auf der Gitarre mein Lied gespielt, sogar mein Honorar erhöht hat, und für mich wer weiß was für eine Überraschung in „Zven~a“ vorbereitet hat – wo er mich auf den Dachboden setzen wollte wie eine Versuchsmaus in die Mausefalle? Die Institutionen – die uns Rezepte bringen – lösen das auf die für sie bequemste Weise: Bist du ein Ungehorsamer, schickt dich die Kirche in die Hölle, der Staat ins Gefängnis, die Schule schmeißt dich raus, die Familie sagt sich von dir los. Auch die Menschen sind – deren Beispiel folgend – verdorben und haben die Regel übernommen: Nicht das Problem lösen, sondern die Quelle des Problems loswerden! Ich würde das heute nicht schreiben, wenn ich so vorgegangen wäre. Das Leben besteht für mich aus einem ununterbrochenen Lösen von Pro- blemen. Dieses werde ich vielleich nicht erfolgreich lösen können, aber ich erreichte wenigstens, dass sich damit auch die Leser beschäftigen. Eines Tages werde ich einen anonymen Brief bekommen: Wir lieben dich unsäglich... aber hör auf, über uns zu schreiben!... Hier, Zagreb ist schon ganz nahe und ich habe mir drei Dinge auf einen Zettel aufgeschrieben, die ich beim Treffen mit Helada klären muss. Erstens: Dass sie mir sagt, was mit der Beschaffung eines Playbacks aus Ljubljana los war, für das noch nicht existierende Theater Pimbako. Zweitens: Dass sie mir die Kopie des Dokuments über das Einreichen unserer Forderung an das Kulturkomitee gibt. Und drittens: Dass sie mir das Band – die Kassette? – meines gewissen Monologs vom Geburtstag, ihr provokatives Gespräch mit mir, in Anwesenheit einer Person, die ich nicht kenne, entweder zurückgibt oder es überspielen lässt. (In jenem Staat konntest du nicht einen Bekannten besuchen, ohne dass du auf einen Unbekannten triffst, der diskret auf einem Stuhl hockt, in der Ecke neben dem Fikus, und der nur beobachtet, schweigt und im Gedächtnis speichert.) Erst dann werde ich ruhigen Gewissens entscheiden, was am besten ist. Wenn das Maß voll ist und man nicht weiter kann – muss man von vorne anfangen zu messen, aber mit einem anderen Maß. Arme Himena! Jetzt werde ich auch sie auf dem Gewissen haben, zusammen mit Helada und Rada, denn ich steckte auch sie – die bisher Unberührbare – in die Besserungsanstalt. Zum Glück weiß man nicht, wer sie ist, wenn sie eine Lehrerin ist, könnte ihr das schaden. Ein winziger Hauch von Naivität – neben allen unternommenen Sicherheitsmaßnahmen – blieb trotzdem in RELA TIONS einem Winkel meines Herzens und wünschte sich das Unmögliche: Dass morgen, wenn ich aufwache, alles, sogar dieser Gang im Juni zum [ubi}evac – hinter mir sei, gerade mal wie ein Sommernachtstraum und Puck lacht hinter dem Baum unter dem Fenster, dreht mir eine lange Nase und streckt die Zunge raus. Hier kommt Borongaj... oder ist das schon die Ölfabrik, Überführung, Unterführung... Über diese Stadt sollte man sich von den Wolken herabsenken, auf Leitern aus Seifenblasen und den Tigern von Maksimir in die Arme fallen... Schön ist es überall, aber zu Hause am schönsten – sagen viele, die es auch zu Hause nicht schön haben. Hätte ich es zu Hause schön gehabt, als ich ein eigenes Heim haben wollte, würde mir heute das Weggehen und Zurückkommen vielleicht ganz anders erscheinen. Wenn ich, der in den schönsten Jahren niemand auch nur eine Blume geschenkt hat, jetzt bei der Rückkehr eine aufgeräumte Wohnung wiederfinde und auf dem Tisch in der Kristallvase einen Strauß Irise, Lilien und schneeweißer Rosen, wenn mich jemand umarmt und ich in seinen Augen das Glück sehe, das aus tausend und einem Märchen vom Ufer des Tigris entspringt... Meine orientalische Extase unterbrach das Zwitschern eines Vögleins, das in die Speisekammer eingeschlossen war. Adnan sprang hin und brachte einen Käfig mit einem Wellensittich ins Zimmer. Er lachte von Herzen: – Ich weiß, dass du keine Vögel im Haus magst, ebensowenig wie Blumen auf dem Tisch, wo ein Haufen von Papier liegen muss, aber um dich aufzumuntern: Diesmal ist es ein Käfig und nicht Krle`a und dem Wellensittich habe ich schon beigebracht zu sagen... Hör mal! Und er lehnte sein Gesicht an den Käfig und ich hörte einen tiefen, so- RELA TIONS noren Bas: Ves-na... Ich weiß nicht, wann und wie er das eingeübt hat, doch der Sittich pickte ihn in die Nase und sagte statt mir zu ihm: – Trottel, bei wem willst du mich lassen, wenn du weggehst? Sie liebt ihren schwarzen Kater und wird mich ihm geben, damit er mich frisst! – Ich habe keinen schwarzen Kater – entgegnete ich dem Vogel – er ist ausgedacht und du bist ausgedacht. Alle die man liebt sind ausgedacht, um sich auch weiter die, die sich lieben, ausdenken zu können. Gleich wird dich Adnan zurück in den Laden bringen! – Und dir einen Raben im Käfig bringen, wenn du dich so anstellst! – entgegnete Adnan. – Hast du mir ein T-Shirt mit der Aufschrift [ibenik mitgebracht? Der Drang zu schreiben – du kennst weder seinen Ursprung noch seine Mündung – ist manchmal stärker als der Drang nach Selbsterhaltung. Adnan hat, während ich weg war, drei Gedichte auf kroatisch geschrieben und sich in sein Zimmer verzogen, um sie ins Arabische zu übersetzen. Als ihn sein Bruder Issa aus Damaskus besuchte – Issa ist Jesus und auf Griechisch hieß so die Insel Vis – zeigte ihm Adnan mein Gedicht „Du deren Hände unschuldiger sind“, das in der arabischen Übersetzung im „Bridge“ veröffentlicht wurde. Noch nie hat mich ein Kritiker so bitterlich enttäuscht. Adnan, der alle Anathemen meines Lebens kennt, war es vollkommen klar, er fand keinen Makel. Issa jedoch konnte schon nach den ersten paar Versen seine Bestürzung nicht verhehlen und beim Weiterlesen rötete sich sein bleiches Gesicht. Er starrte mich mit Unverständnis an. – Wenn dass ein Mann über eine Frau schreiben würde, die er von Halunken und Räubern beschützt 30 Unabhängiger Staat Kroatien Dossier: Vesna Parun hat – sagte er wütend auf Englisch – wäre es in Ordnung. Aber wie und womit kann ein junges Mädchen, während der Krieg tobt, einen Mann beschützen... einen Soldaten wahrscheinlich... und all das sagen, über ungeborene Kinder, über andere Frauen, die ihn mehr lieben werden... Issa hatte Recht, ich weiß, aber das ist eine andere Welt und meine Jugend tauchte zu einem schlechten Zeitpunkt und an einem schlechten Ort dieser Welt auf... Als wir ihm alles erklärten, standen in seinen hellen Augen Tränen. Obwohl bei ihnen ein Mann einer Frau, mit der er nicht verwandt ist, nicht die Hand reicht, drückte er meine fest. Er und seine Frau Hana verliebten sich schon beim Medizinstudium und haben sieben Kinder. Was würde wohl Hana über die traurigen Bärchen aus meinem Gedicht sagen?... ¹...º Die Tür von Adnans Zimmer war halb geöffnet. Ich spähte hinein. Er schlief. Gesund und fest und das erfüllte mich mit auf dieser Welt für mich einzig verständlichem Glück. Ich näherte mich dem Tisch mit der Landkarte. Im Flur machte ich die Glühbirne an, um sie ein wenig zu beleuchten, von der Seite, und das Meer darauf schien sich zu regen, zu raunen. Ich blickte auch auf Adnan. Er knirschte anfangs in der Nacht mit den Zähnen, als ob eine Welle mit Muschelschalen auf einem Felsen kratzen würde. Jetzt nicht mehr. Er mumelt manchmal etwas auf Arabisch, manchmal auf Kroatisch. Dann kann man ihn auch etwas über die Menschen fragen, über Ereignisse und er wird antworten... Jetzt hatte ich keine Fragen an ihn. Wir waren hier, zusammen, Vergan- 57 genheit und Zukunft waren eins. Ich strich mit der Hand über die Landkarte, vom Meer nach Zagreb – bei der Rückkehr von der Reise tue ich das mit jener Frömmigkeit, mit der man einem lieben Verstorbenen die Augenlider schließt. Wird er je wieder an dieses Meer gehen, dachte ich, werde ich je von einer Reise zu jemandem zurückkehren; dieser zerbrechlicher Reichtum, wird er zerfallen, die Sinne taub werden, die Augenbrauen, die der Mondsichel gleichen, nur noch ein abgeschnittener Fingernagel der Sonne sein? Mein Blick fiel auf den neuen Ofen, den er schon in die Ecke neben dem Fernseher gestellt hatte. Und eine Tonvase vom Tisch darauf setzte und den Tisch mit Papieren bedeckte. Ich weiß nicht, was in ihnen steht, Vorlesungen aus dem vergangenen Halbjahr? Und hat er vor, wieder Segelschiffe zu zeichnen? Was es auch sein mag, seine Freiheit, zu sein, was er ist, stärkt mich, dass er wählen kann, erkennen, warten. Dass er lieben kann. In früher Jugend – als ich noch den ersten Liebesschauder erwartete – war das Ende des Monats Juni die erblühte Heimlichkeit der Extase. Das verwandelte sich schnell in eine Zeit der schwarzen Lebensfrüchte. In der fatalen – sowohl für die Welt als auch für mich – Nacht zwischen dem 21-sten und 22-sten Juni 1941, im dritten Stock des Hauses in der Straße Ilica Nummer 100, in Zagreb, in der Praxis von Doktor R. H., eines Juden, beim Rauch der Scheiterhaufen der NDH30-Inquisition verabschiedete ich mich für immer mit der Mutterschaft. P. B. aus Bol, dessen Sklavin ich von meinem sechzehnten bis zu meinem dreiunddreißigsten Lebensjahr war, war der Vater. Das Gedicht „Du deren Hände 58 Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit unschuldiger sind“? Die tragischste Wahrheit meines Lebens, mit einem Titel, der eine unverzeihliche Selbstanschuldigung ist. Ein altchristliches somnambules Opfer. strich, vereinigten sich in einen Akkord des Friedens. Die Liebe ist eine Landkarte der Seele. Meine Landkarte. Gott, entreiße sie mir nicht! Zagreb – Stubi~ke Toplice Juli 1999 – Januar 2001 Aus dem Kroatischen von Marijana Mili~evi} Foto: Jakob Goldstein Ich war eine Ähre unter der Sonne, die reift, damit sie in der Mittagshitze die Vögel leer picken und die Feldmaus abnagen kann. Der Herbst schmückte mich mit ausgetrockneten Blättern und der Winter richtete meine zertrampelte Seele mit der Peitsche auf. Der frühmärzliche Besuch bei der Landkarte auf dem Tisch des Zimmers, in dem mein Erlöser schlief – als mir der erste Schauer des Frühjahrs die Füße streichelte – und dieses Ritual von vorhin, als ich mit der Hand dem Meer über die Augen RELA TIONS Denis Johnson beim Festival Europäischer Kurzgeschichten RELA TIONS Dossier: Vesna Parun Gedichte Vesna Parun Unsere Kindheit ist an allem Schuld Einsam sind wir aufgewachsen, einsam wie Pflanzen. Nun sind wir Forscher, auf Entdeckungsreise In der verwilderten Landschaft Phantasie, nicht geübt im Gehorsam gegen das Böse. Aufgeschossen sind wir entlang der Chausseen, mit uns gemeinsam wuchs die Angst vor wilden Hufen, die uns niedertrampeln, vor Grenzsteinen, die unsere Jugend spalten. Keiner von uns hat zwei heile Hände, zwei Augen, unversehrt. Und ein Herz, darin nicht die Klage hauste. Die Welt kam herein mit grellen Tönen, schlug Wunden in unsere Stirn mit dem Geklirr ihrer tödlichen Wahrheit, mit dem Lärm verspäteter Sterne. Wir werden alt. Und Märchen gehen uns wie Herden, die zum fernen Feuer drängen. Auch unsere Lieder sind wie wir: Voll dunklen Sinns und traurig. ¹R. S. Baur º 59 60 Vesna Parun: Gedichte Das Haus auf der Straße Ich lag im Staub an der Straße. Ich sah nicht sein Gesicht. Er sah nicht das meine. Die Sterne stiegen herab, die Luft war blau. Ich sah nicht seine Hände. Er sah nicht die meinen. Der Osten wurde grün, eine Zitrone. Ein Vogel schrie, ich öffnete die Augen. Da sah ich, wen ich geliebt mein ganzes Leben lang. Da sah er, wem die armen Händen er gestreichelt. Und der Mann nahm sein Bündel und weinend Machte er sich auf den Weg in sein Haus. Sein Haus ist der Staub auf den Straßen, das ist auch mein Haus. ¹H. Pataki º Die Zeugen Diese Welt begriff noch nicht. das große Geheimnis Kindheit. Warum ruft ihr Kinder vor dieses Gericht, wo der Mensch den Menschen richtet, der Heimatlose den Heimatlosen; wozu ruft ich Zeugen auf? Es soll keine Blume mehr Blumen gebären es soll kein Märchen mehr Märchen gebären. RELA TIONS RELA TIONS Dossier: Vesna Parun Nicht Blume noch Märchen verstanden wir und achten nicht die schuldlosen Bäume. Wozu zeugen wir Zeugen? ¹H. Pataki º Epitaph I Weder die schweren Mühlsteine der Hoffnung noch das Rauschen des Meeres Die geballte Unruhe des Lebens, die sanften Augen der Liebe Schmerzbereit Sie ließen uns nicht Sondern uns verzehrt Die Vergänglichkeit, der leere Fluss Der aus unserem Herz Namenlos hervorströmt II Könnte uns doch das hohe Gras sagen Ob der Schuss, recht hatte Der uns aus dem Sattel warf; könnte uns Das hohe Gras doch sagen Wer uns niederwarf Und warum wir nun lachend daliegen III Wir haben dich geliebt, du hohes Gras, Sag ihnen das Hohes rauschendes Gras wir haben dich geliebt ¹R. S. Baur º 61 62 Vesna Parun: Gedichte Der Bruder Nacht ist in meinem Leib, Nacht ist in den Wolken Trauer in meiner Kehle, leiser denn Mondschein. Wind tröstet mich traumbefangen, reicht zerstreut mir die Hand, Meiner Trauer jedoch gibt es kein Vergessen. Durch Stein blicken meine Augen, sie folgen den Stimmen von Knaben, von Knaben, die irgendwo ihre Herzen verströmen. Ein verlorener Quell, wer wird ein Lied ihm reichen, Wer haucht dem Falter, dem toten, neues Leben ein? Klar bist du vorhergewandelt, liebtest die Milch und das Leben. Jetzt bist du nicht mehr. Keiner weiß wo. Blut ist namenlos. Keiner weiß wo. Rot nur leuchtet das Blut, blind, ach, und ohne Namen, Blut der Hirschkuh im Wald – eins mit dem Blut meines Bruders. Eins ist jetzt alles und nah, denn die Erde ist Mutter. Freude gibt sie und Leid – ein Leid nur und nur eine Freund. Sie kennt keinen Hass: gab uns Leben gleich einem schönen Wunder. Warmes Blut, das liebt, sanftes Blut, das klagt. Wie sollte ich den Bruder vergessen, die Hirschkuh, o schwarze Erde, Du meine schwarze Erde, du meine zerrissenes Land? ¹ I. Jun-Broda º RELA TIONS Dossier: Vesna Parun 63 Foto: Jakob Goldstein RELA TIONS Anne Enright beim Festival Europäischer Kurzgeschichten 64 Vesna Parun: Gedichte Gong Augenblicke meines Lebens – Kugeln des Rosenkranzes In der löcherigen Dämmerung sich kreuzender Schatten – Kann ich jemals den Durst stillen Nach dem Licht, das ihr verlasst Eine Vogelscheuche, eine Zeitenscheuche Hebt und senkt nur die Brauen Wenn wir alle Uhren verschlucken Werden wir dann unsterblich werden Juweliere, könnt ihr Ein lebendiges menschliches Herz anfertigen Das um Hilfe schreit ¹R. S. Baur º Lied an die Republik Rost zerfrisst die Jahrhunderte. Doch die Völker wachsen und gehen. es fließen die Jahre dahin – Galeeren voll Sklavenherden und Richtstätten, aufgerichtet mitten im Korn. mehr Blut als Regen und Wassernot, mehr Tote als Mondfinsternisse. Baumstämme wachsen, vermehren sich... Es zittert der Mensch vor dem Blitz, Balken behauend Für die Hallen der Herrscher. Bis zum Gürtel im Teer, bis zum Hals in Nesseln, breitschultrig das Volk in rauchgeschwärzten Opanken, Schäfer, dem Wolf verbrüdert, seinen Namen hat er vom Schneesturm, vom blutgefärbten, und von Schellengeläute und von der Erde, der zu fronen so schwer. RELA TIONS RELA TIONS Dossier: Vesna Parun Doch wie viele sind da, ihr zu fronen! Aj, du Lika! Hungere nur, Volk ohne Zahl. Des Königs Papiere wachsen Stell auf der Börse. Für dich jedoch Hacke und Spaten, und wurmt’s dich, weit ist, Bruder, die Welt! So geh doch in Gottes Namen, die Pampas warten: Amerika! Wo ist die Börse hin, Spiel und Turnier der Ritter? Träumt euch, ihr Herren? Alles ist heute die Republik: Korn und Viehzucht, Alphabet und Stahlproduktion. Und morgen schon siehst du: Traktorenstation, Dampfmühle, Grundriss des Kraftwerks anstelle des Traumbuchs. Entrolle die schwere Landkarte, den Traum von der Tiefe, der Erde gelbes Netz! Miss ab: acht Finger breit dehnt sich Europas Südosten! Reiß ab die Dynastie, lösch die ganze Rubrik, ein neues Gerüst, ragt auf, nenn’s, wie du willst – wir haben die Republik! Die Schwester Nacht ist in meine Leib, Nacht ist in den Wolken, Trauer in meiner Kehle, leiser denn Mondenschein. Wind tröstet mich traumbefangen, reicht zerstreut mit der Hand, meiner Trauer jedoch liegt nicht daran zu vergessen. Durch Stein blicken meine Augen, sie folgen den Stimmen von Knaben, von Knaben, die irgendwo ihre Herzen verströmen. Ein verlorener Quell, wer wird sein Lied betrauern, wer haucht dem Falter, dem toten, neues Leben ein? 65 66 Vesna Parun: Gedichte Klar bist du vorübergewandelt, liebtest die Milch und die Erde, jetzt bist du nicht mehr, keiner weiß, wo: Blut ist namenlos. Keiner weiß, wo. Rot nur leuchtet das Blut, blind ach – und ohne Namen. Blut der Hirschkuh im Wald ist eins mit dem Blut meines Bruders. Eins ist jetzt alles und nah, denn die Erde ist Mutter. Freude gibt sie und Leid: ein Leid nur eine Freude. Die Erde kennt keinen Hass, gab Leben uns gleich einem Wunder: warmes Blut, welches liebt, sanftes Blut, welches weint. Wie sollt ich den Bruder vergessen, die Hirschkuh, o schwarze Erde, du meine schwarze Erde, du mein zerrissenes Land! Dreizehn Kummer Dreizehn Kummer trieben der Korana Wasser hinab, dreizehn Sklavenzüge, dreizehn Schiffe, mit Ketten beladen voll. Dreizehn Städte der Trauer, so vieler Sklavenheere Grab, so viel bleiernes Dunkel, großer Heerführer Zoll. Und dreimal hohe Gebirge, wunder Riesen Gestalten, dreimal blutig Gewässer und Meer, hundertfach Rabenscharen, hundertfach finstere Spalten, dreizehn grüne Kummer und eine Sternenmär. Eine Sternenmär-rostfarbenen Himmels ein Stück. Zertreten die schwarze Nacht, die Kummer von gestern, von einst. Für dich tanzt mein Herz, o Land, singt von dir voller Glück, ob du schon Regenbogen oder ob du noch weinst. Eisig war der Frost, bitter des Wermuts Blut, um so süßer der Tau, schimmernder die Perlen gereiht... Schlaf, gutes Land, in deiner Söhne Hut, dein Morgenrot-taufeucht und sternbesät-wird still von ihnen bereut. RELA TIONS RELA TIONS Dossier: Vesna Parun ¹Fragmenteº Purpurne Vision von Feuern und Festen, im Heu die Grille. Stille. Sommer, fruchtschwangerer Regen. Warme Kühe, Mondscheingarben. Mädchen sticken in mattgoldnen Farben Rosen für traurige Hochzeit. Am Eliastag sucht Blitz die Ernte heim, und Weihnachten sind verödet die Höfe, und weiße Schneestürme wehen. Unhörbar brennt die dicke Kerze, die Augen suchen: Karpaten dahinter Russland. Sie können nicht lesen, die Alten, Könnten sie’s, läsen sie nachdenklich: es fiel einer, rauben wollt er die Neretva, das unruhige Wasser, leise wie eines Tannenzapfens Rascheln. Sagt den Mädchen aus den gelben Ebenen: dies Land ist ein grimmiges Land, grimmig wird hier gestorben. Eins ist das Blut vom Peipus bis Toledo. Rote gestickte Rosen, Johannisfeuer. Woher, o Land, die Namen deines Gesteins und deiner Gewässer, so klar, dass sie den Himmel doppelt spiegeln? 67 68 Vesna Parun: Gedichte RELA TIONS Eins ist das Blut vom Peipus bis Toledo. Die Korana fließt es hinab. Stickt rote Rosen verbrannter Jugend Auf Aschen, auf Herbstblätter, Wolken. Foto: Jakob Goldstein Die Krähen scheuen vor dem Schatten der Bomber, der Mensch vergisst, dass er Kind war. DBC Pierre beim Festival Europäischer Kurzgeschichten RELA TIONS Dossier: Vesna Parun Nur ein Herz, ein einziges, hat er, und gibt es der Sonne. Der Maiensonne, dass sie glühender strahle und die Erde Liebe werde. O mein Volk, wie viele Klippen noch bis zur Freiheit! ––– Verkleidet Als Echsen, Schildkröten, Krokodile, Werwölfe, in Rudeln auf Schienen reitend, motorisierten Besen, auf Ziegenböcken aus Gummis, vermummter Mörder Walpurgisnacht. Den schimmernden Kopf im Mondschein bewegend des Krieschtiers Heer, gespenstisch Band. Räderkreischend kichert zahnlose Klapperschlange, Beelzebub: Hordenrauch, Kanonendonner, dröhnende Gongs des Dritten Reichs. 69 70 Vesna Parun: Gedichte Baum „Sei Baum!“ sagtest du. Und ich war ein Baum. „Sei scheu!“ sagtest du. Und ich wagte kein Blatt zu bewegen. „Sei treu!“ sagtest du. Und ich wartete. Dann hülltest du dich in Schweigen. Der Baum steht aber immer noch da Und wagt nicht ein Blatt zu bewegen. Altertümliches Lied Fest schnallte ich den Gürtel, Mädchen mein, schnallte fester den Gurt, kein Sonntag ist’s. Sen schwarzen Rappen sattelte ich, Wiese mein, den Rappen sattelte ich, Wiese du – Blickt in den tiefen Brunnen, Trauer mein, tief in den Brunnen blickt’ ich, weißt du’s noch? Erhob sich ein kalt Windstoß, Äpfelchen mein, kalter Windstoß, frühreifes Äpfelchen du. Kräuselte das Wasser im Brunnen still. Trübte mein Antlitz im Dämmergrau. RELA TIONS Dossier: Vesna Parun 71 Schule für Landstreicher 3 Wer bin ich? Und wo? Zur Musik des Stubs wird der Tag noch länger – und die Nacht noch tiefer. Steppe schläft. Für ein Zweigelein regennassen Laubs singt die Nachtigall ihr Liebeslied. Wo bist du? Und wer? Dein Gesicht zeigt nackt, Schatten eines Menschenschattens, halt! Bleib stehn! Will dir regungslos ins Auge sehn, ich, im Augenlid der Erde ein schneller Katarakt. Mach mich, o Schritt, zu finsterem Kristall, drin sich gleißend eine Welle bricht, bin kein Wesen mehr, bin nur ein Strahl von Licht. Meine Freiheit steht unmenschlich und allein mitten im entweihten Tempelsaal wie eine eben erst verlassene Gruft – leer und rein. Foto: Jakob Goldstein RELA TIONS Petri Tamminen beim Festival Europäischer Kurzgeschichten 72 Vesna Parun: Gedichte Drei Inseln Drei Inseln mitten im Meer, eine schroffer als die andere, eine leidenschaftlicher als die andere von Zikaden besungen, von Pinien umrauscht. Die erste eine Schlange, zum Knäuel eingeringelt, die zweite ein glänzendes Schwert, aus der Scheide gezogen, die dritte ein offener Sarg, auf den Wellen schaukelnd. Alle drei verwunschen. Alle drei gesegnet. Alle voll tiefer Höhlen und Kiesel, steiniger Landzungen. Uralte Schatzkammern voller Erfahrung im müden Stein, dessen Schicksal von niemandem noch enträtselt. Alle drei bissen mit steinernen Zähnen in mein Herz! Alle drei peitschten mich mit Salz, mit grünem Rosmarin verletzten sie mich. Die erste ist bekannt für grimmige Kämpfe und rote Weinkufen. Die zweite für sonnige Weglosigkeiten des Winters, auf denen Delphine spielen. Auf der dritten, mit weißem Marmor eingefassten, weiden Wildschafe und fürchten den Tod. Drei Inseln mitten im Meer. Eine verwunschener als die andere, eine leidenschaftlicher als die andere von Zikaden besungen, von Pinien umrauscht. ¹Hvar, 1971º Telegram, 26. 11. 1971 RELA TIONS RELA TIONS Dossier: Vesna Parun Gedicht für einen alten Piratensegler Alles was du besaßest, o Erde, gabst du mir, die durchsichtige Luft und den standhaften Stein. Die Winde und ihre grünen Mündungen. Nicht umschlingen kann ich all deine Meere, deine gläsernen Meridiane nicht zerschlagen, auch die Korallengemächer, die Terrassen der Inselwelt nicht, die Pelikan-Siedlungen, Ruder und Kiemen, die stürmischen, tosenden Hochzeiten fröhlicher Wale. Festland und Meer wurden in meinem Blut vollendet. Bin ich ein Segler – wer nähte mir Segel? Bin ich ein Drache – wer entwarf mir die Flügel? Vor meiner Ankunft besaß ich nichts, abfahrend bin ich schwer beladen. Sieh, zehn Kamele tragen meine Morgen, sieben alte Elefanten ziehen langsam die Truhen meiner Monate, einen Berg bleierner Geheimnisse, eine Liebe, verankert im lebendigen Meeresboden zwischen rostigen versunkenen Blitzen, weißen Schwämmen und gierigen Seeigeln. Am Seil des Mondscheins hängend verabschiede ich mich von meinen Trugbildern. Bin ich ein Segler – wer nähte mir Segel? Ich entferne mich so reich, so erwacht. Vielleicht kehre ich wieder, die Ufer zu betrachten, die mit Meerschaum bedeckt, mit Perlenmusik, mit der riesigen fahlen Sonne, eingespannt in Salzgärten, in Laternen, sich in den Herzen der Piraten, im Weglosen der Erinnerungen befinden. ¹1963º 73 74 Vesna Parun: Gedichte RELA TIONS Das Gesicht im Schatten Ich vergaß seinen Namen, aber ich weiß, dass die Vögel ihn gern hatten; und dass sein Lächeln reizend war, daran erinnern sich meine Augen. Auch jetzt gehen die Menschen den Kai entlang; ich blicke mich nicht um, vertieft in das Flüstern verhallender Stürme. Vergaß nicht auch die Möwe ihren toten Kameraden, warum trauerst du? Ihren Felsen vergaß die Möwe, Süden und Norden kennt sie nicht. Den Vorhang zog ich noch nicht vors Fenster, noch hat das Meer sich nicht beruhigt. Tadle, o Wald, mich nicht mit deinen Wipfeln; ängstige, o Wasser, mich nicht mit deiner Tiefe! ¹Zore i vihori – Morgenrot und Wirbelsturm, 1947º Flügel der Leere Ich stehe auf der Schwelle. Das Haus warf mich aus seiner Erinnerung. Die Zeit kann mich nicht wieder annehmen. Ein wenig werde ich noch nachdenken, dann aber wende ich mich um und breche in Gelächter aus. Ein Gelächter, aus dem die Flügel aller Sterne erschaffen wurden in der endlosen Leere des Alls. ¹Bubnjevi umjesto srca – Trommeln statt Herzen, 2003º RELA TIONS Dossier: Vesna Parun 75 Gedicht in Form eines Gebets Guter Geist meines feurigen Lebens, erhöre mein Gedicht in Form eines Gebets, in Form eines Brunnens, der nie versiegt. Mein Gedicht, gerichtet an die Verachteten. Den ins Gras Verliebten habe ich seit langem nichts mehr zu sagen, und den in den Vogelflug Verliebten kann ich nicht helfen ihren kindischen Traum zu vergessen. Aber denen, auf die der Zorn des Himmels und der Erde hinabstürzte, blicke ich in die Augen, denn ihnen verdanke ich den morgigen Tag. Wegen ihnen werde ich die Wabe des Lebens in Stückchen schneiden und jedem eine goldene Biene aus meiner Brust vermachen. Guter Geist meines feurigen Lebens, verwahre meine bitteren Wünsche in einem urtümlichen Kästchen der Winde und stelle es an einen dunklen Kreuzweg, damit das Geheimnis eines jeden daraus erstrahle. Sorge dafür, dass mich alle verlassen, die in mir eine Bestätigung für ihre süßen verlockenden Irrtümer suchen. Gib, dass ich immer von neuem meine Ruhe verliere und finde, die für mich unentbehrlich und schwer und fremd ist. Es war ein heißer, endloser Sommer. Komm, Geliebter Wer auf dem weiten Meer lenkt meine Sehnsüchte und treibt meine Augen in die Wildnis? Mich quält ein Lächeln, an das ich mich erinnere. Mich quält eine Gestalt, nach der ich mich sehne. Blickt in meine Erinnerungen, so werdet ihr sehen, es ist nicht e i n e Gestalt. Es ist nicht e i n e Leidenschaft. Nicht nur ein einziger Ruf, ein einziger Wirbelsturm, ein einziges Gebet, das mein ferner Jupiter hört und lächelt. Ferner Gott, falls auch dein Haar dem Gras ähnelt und deine Schenkel denen des Hirschen, erlaube mir, ihre Wälder zu lieben, ihre Stirnen und ihren Gang, 76 Vesna Parun: Gedichte RELA TIONS der uralt und einzig ist auf diesem bebenden Stern. Erlaube mir, deine Welt so zu lieben, wie ich es möchte. Auch wenn zuletzt alles in Schmerzen endet. Auch wenn zuletzt alles zu Wildnis wird. Meine Wildnis wird üppig sein vom wachen Lied der Weiblichkeit, erdichtet zum Ruhm des Körpers, der stirbt, und des Herzens, das unsterblich ist wie der Stamm der Agave auf dem Felsen, geschunden von der Gier des Meeres. Auf dem Felsen: der weißen Brust, getaucht aus der Trauer des uralten Ozeans. Wenn du die Erde bist und ich eine Frau, geschaffen für den Irrsinn der Pflanzen und den Traum des Pflügers, dann wollen wir deine und meine Lieder singen, wollen fruchtbar sein, hellsichtig und unsterblich. Auf dass wir eine neue Sanftheit der Welt gebären. Ein neues Heiligtum der Güte. Wach auf, ferne Flöte. Komm, Geliebter! ¹Ropstvo – Sklaverei, 1957º Das Kind und die Wiese Nur das Kind spürt deutlich im Moos das Glitzern des baldigen Frühlings, das Zwitschern im Gefieder des Eisvogels. Es läuft mit den Bächen um die Wette, küsst sonnen beschienene Fichten, und seine Augen nehmen die Farbe des nahen Hügels an. Das Kind kann mit seinem Lachen die Schönheit des Morgens wecken ohne auf die Dauer des Klanges zu achten, der zufällig im Wind zerriss. Kinder sind das Echo erloschener Dinge. Nackt und rein wie ein Fischteich sehen sie sich im Auge der Wiese, im Netz der Spinne. ¹Zore i vihori – Morgenrot und Wirbelsturm, 1947º Dossier: Vesna Parun Foto: Jakob Goldstein RELA TIONS Zoran Lazi} beim Festival Europäischer Kurzgeschichten 77 78 Vesna Parun: Gedichte RELA TIONS Ein echtes Gedicht Ein echtes Gedicht hätte man vor langer Zeit schreiben müssen, als die dunklen Urnen des Lebens noch im vergoldeten Zenit des Sommers standen, unbeweglich, und die Klänge der Tiefen sie nicht berührten. Als das Schweigen bitterer war und die Worte leichter, und die Gedanken sich mit den Gedanken wie Sonnenstrahlen in den verzauberten Räumen des Südens trafen. Ein echtes Gedicht hätte man vor langer Zeit schreiben müssen, um es den Menschen zu geben, die es verachten würden, und hätte ohne es weitergehen müssen, um sich im Dunkel nach ihm umzusehen. Aber ein echtes Gedicht hätte uns mit sich in seine Wirklichkeit fortgeführt, dort wo die Bäume erfrieren und wo tote Menschenaugen groß wie Seen wachsen. Ein echtes Gedicht würde uns ertränken in diesen Seen, in diesen Augen, den großen, toten, in diesen Urnen, die langsam vom Zenit herunterstiegen, um sich im Kreis um unser Herz zu gruppieren, mit der Anmut der Nachtigall seine Asche zu sich rufend. ¹I prolazim `ivotom – Und ich gehe durchs Leben, 1972º Schlaflied Ihr lieben Fernen, heilt mir die schweren noch wachen Augen mit einem Lied vom Märchenwald, einem Lächeln in der Umarmung, einem Gespräch einsamer Boote in schattigen Häfen. Tragt mich, ihr weißen Arme, zur Kindheit an die klingende Küste. Ach, dort werde ich vielleicht nur den Duft der alten Bäume finden, das Zischen des Meeres, besorgte Augen, rauchigen Jugo. Den Grund des Brunnens werde ich nicht finden. Auch nicht den Rand der Sterne. ¹Vidrama vjerna – Den Fischottern treu, 1957º RELA TIONS Dossier: Vesna Parun Wenn du in der Nähe wärest Wenn du in der Nähe wärest, lehnte ich meine Stirn an deinen Stock, und lächelnd umschlänge ich deine Knie. Aber du bist nicht in der Nähe, und meine unruhige Liebe zu dir kann keinen Schlaf finden im nächtlichen Gras, nicht auf den Wellen des Meeres, nicht auf den Lilien. Wenn du nah wärest. Wenn du wenigstens so unbeständig nahe wärest wie eine Regenwolke über dem einsamen Haus im Tal. Wie über dem bleigrauen Meer der Schrei einer Möwe, die vor dem kommenden Sturm ängstlich in den Abend fliegt. O, wärest du wenigstens so traurig nah wie eine Blume, die mit geschlossenen Augen unter einer weißen Schneedecke schläft, in der Stille steinerner Wälder den Frühling erwartend. Wenn du nah wärest, o, meine kalte Blume. Wenn du nur mit einer Bewegung in der Nähe meiner freudlosen Gärten wärest, die schon verdorren, erschöpft vom langen Wachen. Aber es ist Nacht, und die Welt ist fern, und ich weiß nichts von deiner Ruhe. Meine Vögel flogen von deinen Ästen. Und der Glanz des frühen Morgens verschwand für immer aus meinen Augen in die verletzte Erde des Vergessens, in der der Name Liebe unbekannt ist. ¹Crna maslina – Der schwarze Olivenbaum, 1955º 79 80 Vesna Parun: Gedichte Eifersucht Ich weiß, dass Orkane tausendjährige Bäume entwurzeln. Ich weiß, dass Rost die Flanken von Ozeandampfern zerstört. Ich kenne das Toben, über die Ufer getretener Flüsse, und das Brüllen der Löwen vor einem Erdbeben. Ich weiß, dass Termiten in Australien Schäfersiedlungen untergraben können. Und Heuschreckenheere, die gen Norden ziehen, die Sonne verdunkeln. Aber ein Übel kenne ich, das schlimmer ist als alle Unwetter, als das Tosen reißender Ströme, als Heere von Heuschrecken. In unserem Herzen brennt ein Feuer, das von zwei uralten mit Binsenmatten bedeckten Teufeln bewacht wird. Dort rührt in kupfernem Kessel eine grünäugige Zauberin das stärkste Gift, das die verzweifelte Phantasie der Liebe erdacht hat. Das ist die Eifersucht. Ich habe Angst, dieses Wort voll Grabesluft und Fäulnishauch auszusprechen. So wie ein Kuckuck im Nest eines zarten Vogels aufwuchs, hat die Eifersucht, die im Nest der Liebe nistet, aus meinem Herzen alle Singvögel verstoßen und mich unglücklich gemacht. Folgt mir nicht, umgeht meinen Weg, auf dem eine Kobra lauert. Trinkt nicht aus jenem Brunnen, aus der verseuchten Quelle Aussätziger! ¹Crna maslina – Der schwarze Olivenbaum, 1955º RELA TIONS RELA TIONS Dossier: Vesna Parun Langeweile oder wer weiß, was für ein Tag In einem Gedicht, das ich nie schreiben werde, Liegt ein See, schon alt geworden Von taubenetzten unsichtbaren Blüten, die eine Unbrauchbare Leiter immer tiefer In mich tauchen, in eine Stadt Zu einer lustlosen Statue des Frühlings, Dem grünen Trommler, der in Lumpen gehüllt, Bei militärischem Regen irgendwo wartet, Wo altmodische Tränen müde wurden Und sich in Hass verwandelten. ¹Bubnjevi mjesto srca – Trommeln statt Herzen, 2003º Musik der Nacht Die Abendglocken sind verklungen. Grau fließt der Fluss in der Niederung. Geheimnisvolle Schritte hab ich vernommen am leeren Brunnen in der Dämmerung. Nachts dürsten die Lippen, und die betrogene schmerzende Seele schluchzt auf im Schlaf. Lodernde Nacht, in Rosen wogende, als das irre Mädchen mit dem Mond sich traf. Musik der Nacht: das sind die Flüsterstimmen der Vögel, die am Wegesraine im Dunkel betend auf den Bäumen liegen. Wenn aus dem Schlaf sie wecken morgendliche Stimmen, wird die Musik, zerstoben in die Steine, im Morgennebel leicht verfliegen. ¹Bubnjevi umjesto srca – Trommeln statt Herzen, 2003º 81 82 Vesna Parun: Gedichte RELA Fenster Ich träume von grünen Schiffen im stillen Hafen, in einer unbekannten Gegend, jenseits des Hügels. Irgendwo bellt ein Hund in weiter Ferne. Die Straße wartet vor dem Haus, voll Ungeduld. Ein Pferd mit goldener Mähne wiehert in einem mit Mauern umgebenen Hof. Es ist windstill. Wenn ich auf den Turm steige, werde ich die Himmelskuppe sehen, niedrige, niedrige Wolken. Eine Schwalbe und den Rauch des Dampfers. In noch weiterer Ferne wird die Welt groß und merkwürdig sein. Unter dem roten Balkon ruht der Abend auf Rosen. ¹Zore i vihori – Morgenrot und Wirbelsturm, 1947º Die Mutter des Menschen Besser, du hättest den schwarzen Winter geboren, o Mutter, statt meiner, einen Bären im Bau geboren, eine Schlange im Nest. Und einen Stein geküsst, besser als mein Gesicht, dass mich ein wildes Tier mit dem Euter gesäugt, es wäre besser als eine Frau. Und hättest du einen Vogel geboren, o Mutter, so wärest du Mutter. Du wärest glücklich, unter dem Flügel würdest das Vöglein du wärmen. Hättest du einen Baum geboren, der Baum wäre zum Leben erwacht im Frühling, eine Linde würde erblühen, das Schilf ergrünen bei deinem Lied. Zu deinen Füßen schliefe das Lamm, wärest du eines Lammes Mutter. Würdest zärtlich du sein oder weinen, dein sanftes Junges würde dich verstehen. So aber stehst alleine du da und teilst mit den Gräbern dein Schweigen; es ist bitter, ein Mensch zu sein, wenn Messer und Mensch sich verbrüdern. ¹Zore i vihori – Morgenrot und Wirbelsturm, 1947º TIONS RELA TIONS Dossier: Vesna Parun Der Körper und der Frühling Schlage aus, mein Apfelbaum, die Sonne kam zur Tür herein. Heimlich steigt das Wasser des Baches, und der Wind rauscht von ferne. Warm zwitschert der Mittag, die Tage glänzen in goldenem Schein, entferne den schmerzenden Vorhang, dass in blauer Nacht ich sehe die Sterne. Flüsternd lass Früchte lebendig werden, mein stiller Apfelbaum, klare Augen wie deine, o Brunnen, schenke auch mir! Lass den Stein mir zum Kissen werden, mein Herz zum Farbentraum, ein weiches Blumenlager erfrische mich hier. Teile mit mir, o Welt, dein ewig’ Gedicht, in einen Wald mich verwandle. Meine Seele schlage aus, gib im Schlaf ihr die Größe. Ich werd’ eine andre mit dem ersten Wandrer, der über die Landstraße wandle. Der Frühling kommt, horche; o Mutter, die Brust mir entblöße! ¹Zore i vihori – Morgenrot und Wirbelsturm, 1947º Angst Mir kommt in den Sinn ich könnte sterben die Finger auf dem Kissen die Finger die noch den ganz blauen blauen auf deine Schwelle geworfenen blauen Mittag suchen Ich erschrecke und laufe in die Felder ¹Vjetar Trakije – Der Wind von Thrakien, 1964º 83 84 Vesna Parun: Gedichte Ich war ein Junge Im Mondschein verbarg mich der Abend, die Kerze löschend. Die ganze Nacht träumend lag ich zwischen blauen Bäumen schlafend. Ich war eine Weinbeere, eine pralle zwischen den Zähnen beim Küssen, ein Fuchs, entkommend der Falle, ein Junge jauchzen wird müssen. Biss eines Gedichts auf der Stirne Mitten, eine bunte Katze beim Spiel in der Laube. Was ward mir nicht alles, Erfüllung der Bitten, Spiegel des Fisches in der Otter Auge! ¹Zore i vihori – Morgenrot und Wirbelsturm, 1947º Die Mädchen im Mausoleum Das Gold der Mosaiken weckt Tulpen auf dunkler Mauer. Nachdenklich bewegen sich die Schatten. Wer könnte die stillen Jahre des Mausoleums zählen? Wir sind braungebrannt, halbnackt. Und betreten das kalte Oval der Gruft, schlanke Eidechsen, von Liebe gequält. Wir flüstern: du alter Marmor, sind wir schön? Jung ist dieser Abend, voll Unruhe; schwer von Glut der Horizont. Das grüne Herz in uns wie Mondschein. Keine Galeeren sonnen sich, keine Kaiser schreiten durch die Säulenhalle. Wir aber lachen im Peristyl. Das Echo erschreckt dunkel gewordene Tauben. Heute Abend werden wir durch die Straßen ziehen, wild und außer Atem. Düster das Stimmengewirr des großen Platzes ahnend. RELA TIONS RELA TIONS Dossier: Vesna Parun Ach, niemand versteht die dahinschwindende Zeit, unsere Vorfahren, die Barbaren, die freudlose Sphinx. Unter einer gelben Lampe im Rov wird schwermütig gesungen. Feuchte Trauer der Dinge fällt auf uns. Erzählt nichts mehr von dem merkwürdigen Diokletian! Angst trübt unsere Augen. Das Meer schwemmt Apfelsinen in den Hafen. Und der Frühling hat den Himmel rot gefärbt. ¹Zore i vihori – Morgenrot und Wirbelsturm, 1947º Das Fenster durch das ich den Mond heimlich beobachte Ans Fenster gelehnt, erwarte ich das Aufgehen des Mondes; sein Kopf erscheint dort unten hinter den Sträuchern am Saveufer, wo die Frösche quaken. Gierig und träge erhebt er sich, wächst, während auf der anderen Seite des Flusses die Erde mit dem Krieg sich paart. Wehklagen ist zu hören. Den blutigen Mondteller waschen die Mädchen hinter den Büschen im Nebenarm des Flusses, wo leichte Winde die Leichen anschwemmen. Barfuß, mit nackten Armen, laufen sie hin und her im Sumpf, bei den kichernden Wildenten. – Nie wieder wirst du aufgehen, kranker Mond – schreien sie ihm ins Ohr. – Von deinem Schatten erwuchs der Mensch, der über die Spitzen des Schilfrohrs geht und uns verfolgt. O, ihr Sumpfgötter, euer Tempel steht verlassen, in ihm knien Witwen... Und dann sehe ich, wie zwischen den Sträuchern am Saveufer ein Jüngling von unendlicher Schönheit hervortritt. Auf dem Rücken trägt er einen tausendjährigen Wald, sein Mund ist ein glühheißer Mühlstein. Aus den Grübchen seiner Wangen fliegen Schmetterlinge und hinterlassen nur güldene Asche für mich, späte Pilgerin des Schmerzes. Bezaubernd ist die Landschaft seines schwermütigen Gesichts, wie man es oft auf Gemälden alter Meister sieht, wo Augen und Himmel ineinander verschmelzen. 85 86 Vesna Parun: Gedichte Am Horizont stirbt die Sehnsucht, und das Geschick wird geboren. Manchmal kündigt es sich an mit Flüchen, manchmal mit einem Lied; nichts lockt das Herz so süß wie die Vergänglichkeit. O, geballte Stille der Leidenschaft, du Unverständnis, das in jeder Saite göttlicher Musikinstrumente summt! Im Nebel des Sumpfes kämpft sich der junge Mann durch seinen glühendsten Traum. Er flüstert: ein Schlafwandler bin ich, doch nirgends find ich eine Ebene für meinen aufrechten Gang, auch keinen Engel, mir mit Küssen die Fesseln zu lösen. Worin soll ich das Leben hüllen, ich, Totengräber des Mondes, auf dass ich nie mehr den Leib einer Frau berühre, ich, ein Krieger mit erloschener Fackel, Geliebter der Heimat... Ich sammle den Staub unter deinen Füßen. Du gehst fort voller Erinnerungen, voller Vögel und Hagebutten der Morgenröte. Und nie mehr wird es die goldene Einsamkeit ruhiger Nachmittage geben. Und nie mehr Liebe diesseits der Sonne. ¹Bubnjevi umjesto srca – Trommeln statt Herzen, 2003º Die Ballade von den betrogenen Blumen Gerade war das Geißblatt an den Hängen erblüht. Und das Gold meckernder Herden rauschte über das Grün schattiger Weiden. Die Jungen zogen ihre Schuhe aus, um die Gänseblümchen nicht zu zertreten. Warm war der Sonntag; die Schwalben durchstießen das Blau des Himmels. Ein weißes Netz spann die Spinne im duftenden Kiefernwäldchen. Wer denkt an die Traurigkeit ungetünchter Zimmer und an Tote! Kinder glauben nicht, dass die Erde den Körper verschlucken wird. Am Horizont steigt schwarzer Rauch auf. Ein Gerücht von sich nähernden Soldaten geht um. Wem gehören die rot schimmernden Weiden, wem die Fenster auf dem Hügel? RELA TIONS RELA TIONS Dossier: Vesna Parun Rundum läuten die Glocken, sie läuten im Gänseblümchen, in Blicken blau wie Veilchen. Warum spannte die Spinne ihr Netz aus, warum nähert sich das Heer? Ach, lest das klangvolle Märchen von Blumen, von Wolken, ihr Brüder! Im schmelzenden Schnee sind noch Spuren von Rehen erkennbar, und das Rauschen der Nadelhölzer tönt um die freien Gipfel. Man sagt, ein böser Geist erschrecke den Mondschein mit den funkelnden Scheinwerfern seiner Augen. Warum gehen die Jungen mit der Zielscheibe des Spinnennetzes nicht nachhause? Gefangene Hummeln sollten sie freilassen und fliehen, fliehen. Der böse Geist geht um im Mondschein. Die Jungen binden den Drachen los, und das Heer nähert sich. Hunderte kleiner Hämmerchen schmieden goldene Tulpen. Nichts ahnt die blinde Made. Nur das Kind hat Augen. Das unglückliche Kind! Es wird den erhängten Vater sehen am weiß blühenden Pflaumenbaum im Hof, an ihrem Pflaumenbaum. Gestern erblühte das Geißblatt am Hang, und heute zerstört das Trommelfeuer den Frühling. Alarm läutet über den stillen Lichtungen, Alarm erschreckt die Blumen. Ein Schuss verwirrt das Eichhörnchen. Die Jungen stürzen sich in die am Ufer liegenden Kähne, aber Wachposten erlauben ihnen nicht, sich zu entfernen. Kriecht schnell in kleine Ameisenhaufen, löscht die Kerze. Versteckte Torpedos zerstören den Fischfang. Nichts verblieb mehr in der Sonne. Nur der Wind trägt aus trockenen Gräbern namenlose Asche. Die Toten vergiften den Tag. Was bleibt dem Menschen zu tun übrig? Das Gänseblümchen öffnet vor Angst die Augen, denn der Heckenschütze zog seine Stiefel nicht aus. Ein Lamm verlor die Milch und bleibt betroffen an der Straße stehen. Der Feind – ein Mensch – überfiel die unbewaffneten Blumen. ¹Zore i vihori – Morgenrot und Wirbelsturm, 1947º 87 Vesna Parun: Gedichte RELA TIONS Foto: Jakob Goldstein 88 Igor Rajki beim Festival Europäischer Kurzgeschichten RELA TIONS Dossier: Vesna Parun Regen Ich höre keinen Regen mehr. Das Fenster, die grüne Seerose, atmet im Zwielicht. Die Stimmen der Jungen entfernen sich zur Mole hin, wo die weißen und schwarzen Dampfer ankommen. In ebenerdigen Spiegeln liegt die Farbe des Himmels, ruhig und gedämpft. Einsame Spaziergänger suchen noch den Sommer im Weinberg. Ein Jäger wartet in der Dämmerung. Die Phantasie ist golden wie die ferne Ebene. Den Pinien und dem Mond öffne ich die Tür. Ans Fenster gelehnt ahne ich ein fernes Echo. ¹Zore i vihori – Morgenrot und Wirbelsturm, 1947º Lauter als die Jahrhunderte ¹für A. B. [imi}º Aus den wachenden Sternen schuf der Dichter einen Traum von der Heimat für die, die mit dem Herzen die Heimat nicht erkannten. Er lieh seine Augen dem Morgenrot, dass es hinuntersteige ins Bodenlose, von der Sonne beschienen. Und blind auf der Höhe stehend, von der aus die irdischen Mächtigen nur einen Schatten der Erde erkennen, starrt er auf das, was Gott vor den Sterblichen verstecken will. Und stumm ruft er den Sternen entgegen: diesen Augenblick meines Lebens hielt ich an durch die Kraft eurer Ewigkeit. Und meine Heimat folgt mir. ¹Bubnjevi umjesto srca – Trommeln statt Herzen, 2003º 89 90 Vesna Parun: Gedichte RELA Wenn das Meer sich fortbewegt Wenn das Meer sich von einem Ende des Horizonts zum anderen fortbewegt – bewegen auch wir uns mit ihm zusammen fort, du meine Seele, die du mit der Eintönigkeit der Erinnerungen bedeckt bist. Wenn sich das Meer, in Wut gehüllt, aus den schweigsamen Grüften der Vorfahren erhebt – erheben auch wir uns mit ihm zusammen unwillig, du meine Seele, du Brachland, auf das das Korn der Zukunft gesät wurde. Das Meer mag verschwinden, aber es stirbt nicht. So verschwindet wohl auch die Seele, ohne etwas von dem zauberhaften Tod zu wissen, den sie nur mit dem Rand ihres Flügels gestreift hat! Die Seele verschwindet und nimmt in eine unendlich milde Schatzkammer all das mit, was aus Gottes Hand in ihr erblühte. O Meer, das meine Seele besser als ich versteht, hilf mir, dass ich sie wie eine traurige Fackel durch das Dunkel des Gebets trage! ¹Telegram, 26. 11. 1971º Vor dem Meer, wie vor dem Tod, habe ich keine Geheimnisse Wenn du den Weg zu meiner Seele suchst, führe mich ans stürmische Meer. Dort wirst du mein enthülltes Leben sehen – einem zertrümmerten Tempel gleich: meine Jugend, eine von Feigenbäumen umstandene Hochebene. Meine Schenkel: ein uraltes Klagelied, wegen dessen die heidnischen Götter auf die Knie sinken. Vor dem Meer, wie vor dem Tod, habe ich keine Geheimnisse. Erde und Mond verwandeln sich in meinen Körper. Die Liebe verpflanzt meine Gedanken in die Gärten der Ewigkeit. ¹Vidrama vjerna – Den Fischottern treu, 1957º TIONS RELA TIONS Dossier: Vesna Parun Pilgerfahrt in den Schlaf So wollen wir, meine Seele, diese feindliche Welt bereisen. Wir lieben sie nicht mit den Augen, trotz des Durstes, der uns quält. Wir haben es nicht eilig, ihre Geschenke mit unserem neugierigen Herzen zu empfangen. Alleine wollen wir die steilsten Pfade betreten, an gefährlichen Stellen Zeichen setzen, und nur das Eichhörnchen mit der blauen Nuss zwischen den Zähnen wollen wir nach den Jahreszeiten fragen, nach dem zwischen Fichtenwurzeln und dem Grün der Erinnerung verronnenen Tag. Aber was wir auch erforschen auf der Erde, wir können uns nur mit all dem an sie wenden, was sie selbst uns freudig gab, (mit unserer Jugend, mit Augen unklarer Visionen). Die Blumen wachsen nicht, um uns zu ergänzen, wir leben nur, um ihr Leben zu verteidigen. Man muss ihn betrachten, den unverständlichen Lauf alles dessen, was uns umgibt, um die einzige Möglichkeit des Atmens zu erkennen. Die Liebe aber ist etwas ganz anderes. O, diese Entfernung zwischen uns und dem Frieden der Blume, die uns gegeben wurde, um deren Glück zu betrachten. Dieses Reifen erzeugt in uns den Durst und den Begriff der Liebe und lässt uns erkennen, dass sie der schwerste Weg zur unerreichbaren Schönheit des Schlafes ist. Warum zögern wir? Machen wir uns auf dorthin, von wo die Blume uns nicht mehr zurückbringen kann, auch dann nicht, wenn wir alle Irrtümer, die wir in unserer Jugend mit Augen unklarer Visionen hegten, erkennen. Aber was wir auch in der Schatzkammer der Erde fanden, wollen wir für immer, für immer lieben. Und nur für immer, denn ein anderes Wort weiß uns die unbekannte Ewigkeit nicht zu sagen. Sie schläft. ¹I prolazim `ivotom – Und ich gehe durchs Leben, 1972º 91 92 Vesna Parun: Gedichte Du deren Hände unschuldiger sind Du, deren Hände unschuldiger sind als meine und die du weise bist wie die Sorglosigkeit. Du, die du von seiner Stirn besser als ich seine Einsamkeit ablesen kannst und die leisen Schatten des Wankelmuts von seinem Antlitz verscheuchst wie der Frühlingswind die Schatten der Wolken, die über den Hügel ziehen. Wenn deine Umarmung das Herz ermutigt und deine Schenkel die Schmerzen heilen, wenn in deiner Nähe seine Gedanken ruhiger werden und deine Kehle seiner Lagerstatt Frische bietet und die Nacht deiner Stimme zum Fruchtgarten ihm wird, noch unberührt von jeglichen Stürmen. Dann bleibe bei ihm und sei frommer als alle, die vor dir ihn geliebt. Fürchte dich vor Wehgeschrei, das sich der unschuldigen Lagerstatt der Liebe nähert. Und sanft bewache seinen Schlaf bei den Bergen, den unsichtbaren, an des tosenden Meeres Ufer. Wandere über seinen Kieselstrand. Trauernde Delphine mögen dich begleiten. Durchstreife seinen Wald. Freundliche Eidechsen werden dir nichts Böses antun. Und die durstigen Schlangen, die ich zähmte, werden demütig dir begegnen. Die Vögel, die ich wärmte in Nächten klirrenden Frostes, mögen für dich singen. Der Junge, den ich schützte vor Bösewichtern auf einsamer Straße, möge dich streicheln. Und die Blumen, die ich mit meinen Tränen begoss, mögen für dich duften. RELA TIONS RELA TIONS Dossier: Vesna Parun Die schönste Zeit seiner Mannbarkeit erlebte ich nicht. Seine Fruchtbarkeit empfingen nicht meine Brüste, die von den Blicken der Viehtreiber auf den Märkten und gieriger Räuber verwüstet wurden. Nie werde ich seine Kinder an der Hand führen. Und die Geschichten, die ich seit langem für sie ersann, werde vielleicht weinend ich kleinen armseligen Bären erzählen, die im düsteren Wald verlassen wurden. Du, deren Hände unschuldiger sind als meine, bewache zärtlich seinen Schlaf, der arglos blieb. Doch erlaube mir sein Antlitz zu sehen, wenn unbekannte Jahre sich auf ihn senken. Und erzähle mir manchmal etwas von ihm, damit ich nicht Freunde fragen muss, die sich über mich wundern, und die Nachbarn, die meine Geduld bemitleiden. Du, deren Hände unschuldiger sind als meine, bleib neben seinem Lager und sanft bewache seinen Schlaf! ¹Crna maslina – Der schwarze Olivenbaum, 1955º 93 94 Vesna Parun: Gedichte RELA Aufgehaltene Schritte In einer Stadt sah ich einen Platz voller Rosmarin der Sonne zugewandt Und plötzlich war alles so freudig überwunden Der Tod war ganz sinnlos geworden im abendlichen Grün des Laubes vergessener Gemächer ¹Vjetar Trakije – Der Wind von Thrakien, 1964º Nur eins verstehe ich nicht mehr Nur eins verstehe ich nicht mehr: die Sternensehnsucht, diesen irrsinnigen, leidenschaftlichen, brutalen, unendlichen Fluch des Wachsens der Seele in alle Richtungen. Wie soll man den eigenen Drachen in ein fremdes Schicksal einspannen, diese dunkle Verbindung des Wurzelwerks, die keine Verantwortung trägt für das, was sich mit dir und so manchen anderen ereignen wird. Zufällig triffst du auf eine Wolke und denkst: sieh da, ein Spaziergänger, der dem Flüstern des Grases bei Tagesanbruch ähnelt. Jemandes blasse Stirn nimmt einen Platz in dir ein, für immer. Bohrt ein Schloss in die Zeit, tritt hinaus in einen Fisch. Umsonst die eisernen Gitterstäbe. Am anderen Ufer gibt es keine Wahl mehr. Schließ die Kammer auf! Alles ist so, wie wir es uns wünschten. Du wirst nicht getäuscht. Die gierige Zeit in uns wurde fortgeschoben. Endgültig. Der Weg ist unser Gefangener. Wir aber sind frei. Gerührt entfernt sich der Mensch mit seiner Geschichte, in der nichts erfunden wurde. ¹Stid me je umrijeti – Ich schäme mich zu sterben, 1974º TIONS RELA TIONS Dossier: Vesna Parun Der Olivenhain Ich weiß nicht, ob mich die Stimme eines Vogels oder das Pfeifen des Ostwinds einst am späten Abend in den Olivenhain führte, wo über den silbriggrünen Wipfeln noch das friedliche Licht des Tages hing. Damals stieg ich hinab in die bittere Bucht der einsamen Kräuter und erblickte am Ufer des glitzernden Meeres, auf den vom Mond beschienenen Kieseln, seine sanfte Gestalt, umhüllt vom Flüstern und Murmeln der Wellen. O, hätte doch nie ich ihr Rauschen gehört! Wäre ich doch bei der Mauer geblieben unter dem wilden Feigenbaum, wär ich doch nicht in den schattigen Hain am Silberstrand und mondbeschienen Felsen hinab gestiegen. Du hast einsam und unbekannt auf einem Stein gesessen am sandigen Ufer. Und des Windes trauriges Tosen wiegte die dunkel gewordenen Äste und deine düsteren Gedanken. Und vielleicht wärest du unglücklich über die herbstlichen Hügel geirrt, verwandelt in einen ziellosen Vogel, in einen Stern, unruhig glühend über der Weite des Meeres. Ich aber wäre unbesorgt unter dem wilden Feigenbaum früh eingeschlafen, wäre nicht traurig, die Wege des Jünglings nicht zu kennen, der alleine und fremd beim Glanz der Wellen und Schweigen des Sommers das Meer betrachtet. ¹Crna maslina – Der schwarze Olivenbaum, 1955º 95 96 Vesna Parun: Gedichte Der Baum Du sagtest: Sei ein Baum. Und ich wurde zum Baum. Du sagtest: Sei schüchtern. Und ich wagte nicht, mit den Blättern zu rauschen. Du sagtest: Sei treu. Und ich wartete. Dann schwiegst du. Der Baum aber steht noch hier. Und wagt nicht, mit den Blättern zu rauschen. ¹Crna maslina – Der schwarze Olivenbaum, 1955º Der schlafende Jüngling Hingestreckt auf die Kiesel der schattigen Bucht, liegt er wie ein umzäunter Weinberg, einsam und den Wellen zugekehrt. Sein Gesicht ist lieblich und ernst. Der Mittagswind umspielt ihn. Ich weiß nicht, ob ein Zweig des Granatapfelbaums voll zwitschernder Vögel oder die Vertiefung seiner Taille, geschmeidiger als eine Eidechse, schöner ist. Ich lausche dem Dröhnen fernen Donners, das vom Meer aufsteigt und immer näher kommt. Und versteckt hinter einer alten Agave beobachte ich, wie die Kehle des Jünglings zur Möwe wird und der Sonne entgegenfliegt, melancholische Schreie in gelbe Wolken ausstoßend. Und aus der Bronze seines prächtigen Leibes erhebt sich dunkel eine blühende Klippe, auf der entzückende Feen und Märchenköniginnen ruhen. RELA TIONS RELA TIONS Dossier: Vesna Parun Der Kieselstrand klirrt und das Meer färbt sich grau. Goldene Schatten verdunkeln den Weinberg. Wolken türmen sich auf in der Ferne. Blitze berühren die bewaldete Bucht. Ich atme den Duft des Sommers, der über den Pflanzen hängt, und ihre Nacktheit berauscht mich. Dann betrachte ich meine glänzenden, vom Meeresschaum vergoldeten Arme und Hüften, aus denen das Öl der Olivenhaine fließt. Und als ich meine stillen Blicke wieder auf den Schlafenden richte, der eingetaucht in den Lärm des trägen Sturms und alt wie eine Agave ruht, denke ich voll verwirrenden Verlangens, wieviele weiße Vögel in den weißen Wolkenschluchten dieses Körpers mit ausgebreiteten Flügeln zittern, die mit ihrer Stille das Rauschen des Meeres und die Einsamkeit der Gräser verwirren. ¹Crna maslina – Der schwarze Olivenbaum, 1955º Unbegreifliche Passanten Jemand verließ uns, lächelnd. Es war Mitternacht. Es war im Dezember. In unserer, wie ein Spiegel kalter Erinnerung schweigt sein Bild und welkt. Der Jüngling mit dem braungebrannten Gesicht eines Vagabunden ging fort und wird nicht wiederkehren. Langsam und ohne Lärm machen wir uns auf den Weg. Immer seltener denken wir an ihn, manchmal mit Verwunderung. Eines Tages aber wird ein Schmetterling ins Zimmer fliegen, und die Mutter wird erschrecken: Wer steht dort vor der Türe? Die Straße hat sich völlig verändert. Durchs Fenster sehe ich: Jemand betrachtet nachdenklich die Wolken. Wer könnte je vergessen, wie sehr der Jüngling das Blau des Himmels liebte und den Staub der Landstraße! Es riecht nach frischer Farbe. Hier stehen Neubauten. Die Frühlingssonne wärmt gelbe Schlüsselblumen. 97 98 Vesna Parun: Gedichte RELA Plötzlich ist das Meer so nah, so nah; Der Dampfer hat angelegt, wie damals. Sie schickten einen Korb Feigen und einen Brief; wer grüßt da mit geduldiger Handschrift schon jahrelang? Ist meine Mutter nicht müde? O, schon lange ist das alles her. Wir eilen weiter, reißen Stückchen von der Vergangenheit ab – wie verwelkte Blumen. Hinter uns zurück bleiben Baumreihen, abgeholzt und traurig. Unbegreiflich ist das Scheiden. ¹Zore i vihori – Morgenrot und Wirbelsturm, 1947º Die dem Meer zurückgegebene Koralle Zurück gebe ich diesen scharlachfarbenen Sonnenreifen, diesen Stern der Erde im Spiegel des Meeres, verkörperte Form des Lebens, die sich nicht ausreißen lässt, die in der Siedlung lebendigen Wurzelwerks und großer, regloser Fische auf dem Grund des Meeres wächst, zurück gebe ich, was ich zuerst nahm, um mich wie eine Pflanze zu schmücken zur Feier der Menschen und des Frühlings vor der morgendlichen Ikone des Lichts und den Winden der Ferne, zurück gebe ich den Samen des Lebens, die rote verästelte Blume, die nicht Stein nicht Muschel nicht Salz nicht Rebe nicht Keim ist, jedoch lebt und wächst und zum Berg und zur Insel werden kann. Zurück gebe ich meine Jugend und meinen Tod und alles, was der Baum vom Morgen bis zum Abend gibt, Zurück gebe ich die Boote der hohen See und die Vögel dem Festland, die Bäche dem Klee, die Nester dem Licht im Osten, die Zärtlichkeit den Bitteren und Verwirrten, den Mut den zum Aufbruch Bereiten, die Einsamkeit dem sich verirrten Mond, die Trauer den Herden der Morgenröte im Gebirge, zurück gebe ich die Wiege dem Meer, das Feuer den Feuersteinen und schreite weiter auf den unbekannten Wegen meines Lebens, das vom Lauf der Sterne und von der Fülle der Stille stammt. ¹Koralj vra}en moru – Die dem Meer zurückgegebene Koralle, 1959º TIONS RELA TIONS Dossier: Vesna Parun Wenn ein Vogel aufhört zu lieben Wenn ein Vogel aufhört einen anderen Vogel zu lieben, sagt er zu ihm: fliege jetzt tausend Meilen weit fort, um nicht zu sehen, wie die Gleichgültigkeit in meinen Augen wächst! Denn ein Vogel ist nicht träge wie der Mensch; Ferne bedeutet für ihn das Flattern süßen Lichts, das Liebe entfacht. Er sagt nicht zu ihm: Jetzt verstecke dich tausend Fuß unter der Erde, um nicht zu hören, wie ich des Abends ein sanftes Schlaflied einer anderen Liebsten singe, die mit dem Schnabel unter meinem Flügel neben mir liegt! Denn ein Vogel ist nicht oberflächlich wie der Mensch; er weiß, dass das Schlagen des Herzens unter der Erde noch stärker ertönt, und statt der beruhigenden Klänge eines Schlaflieds müsste der ganze Wald das Dröhnen des unterirdischen Raums, das der Schmerz hervorrief, hören. Wenn deshalb ein Vogel aufhört einen anderen Vogel zu lieben, bleibt er bei ihm, um in Einsamkeit zu sterben. Wenn aber der Mensch aufhört, einen anderen Menschen zu lieben, vor Scham und Verwirrung weiß er nicht, was er tun soll, und indem er weiter und weiter vor ihm flieht, setzt sich für immer in seinem Herzen dessen Trauer fest. Die Gedichte auf den Seiten 72-99 aus dem Kroatischen übersetzt von Hedi Blech-Viduli} 99 Nikola Mili}evi}: Vesna Parun RELA TIONS Foto: Jakob Goldstein 100 Maike Wetzel beim Festival Europäischer Kurzgeschichten RELA TIONS Dossier: Vesna Parun 101 Vesna Parun Nikola Mili}evi} W ie ein Komet stieg Vesna Parun 1947 auf mit ihrer Gedichtsammlung Zore i vihori (Morgenrot und Wirbelsturm), die aus verschiedenen Gründen ein besonderes Datum in der Entwicklung der kroatischen Poesie darstellte. Wir wissen, dass im Augenblick des Erscheinens dieser Sammlung die Kritik ihren Wert nicht erkennen wollte oder konnte, aber später wurden über das Buch zahlreiche treffende und wesentliche Charakteristiken aufgezeigt, über die als Erster Stanislav [imi} sehr scharfsinnig in seinem Nachwort zu Crna maslina (1955) (Der schwarze Olivenbaum) schrieb. Doch trotzdem hat sich bis heute niemand grundlegend mit dieser originellen Gedichtsammlung befasst, um aufzuzeigen, um welche Neuheit es sich hier eigentlich handelte, weshalb sie so bedeutend und ungewöhnlich war. Dabei hätte das Buch es wirklich verdient, wieder verlegt zu werden, was leider nie geschah. Der ganze Gedichtband ist durchdrungen vom Geist und der Kraft der Jugend, vom unmittelbaren Erleben der Welt, in der die Elemente der Sinnlichkeit überwiegen. Die Dichterin legt weniger einen Sinn in die Dinge, sondern sie fühlt sie mehr. Aber Gefühle und Empfindungen führen zu innerer Unruhe oder auch zu Unbesonnenheit. Deshalb sagt sie an einer Stelle: „Im Regen brechen wir auf, glühend vor Erregung“. Und jene Empfindungen durchziehen wie ein roter Faden das ganze Buch: Eine ständige heftige Sehnsucht nach Bewegung. Das Ziel ist unwichtig; an einem bestimmten Ort anzukommen ist nicht notwendig. Wichtig ist, dass uns etwas in seinen Strudel zieht, uns fortschwemmt, uns erregt, dass vor allen Dingen die Sinne befriedigt werden. Es ist jene Kraft, die aus dem Innern quillt, der wir uns aber oft nicht bewusst sind (Konjanik) (Der Reiter). Deshalb nähert sich die junge Dichterin allem so, als befände sie sich „scheu versteckt im Hinterhalt der Sinne“, wie sie selbst sagt. Und allem nähert sie sich in erster Linie mit scheuer Bewunderung, als wenn sie noch nicht aus der ganzen Vielschichtigkeit von Welt und Leben geschöpft hätte. In ihrer ungetrübten Naivität wünscht sie sich eine Welt ohne Makel, eine heitere und unbeschmutzte: „O, wenn doch die Welt ganz aus Morgenrot und aus Brot gemacht wäre!“ Und dann ruft sie aus, befürchtend, die klaren Ausblicke könnten getrübt werden: „Erschrecke mich, Wasser, nicht mit deiner Tiefe!“ Doch bald schon erkennt sie, dass die Welt nicht so hell und nicht so harmonisch ist, wie sie sie sehen möchte. Auf Schritt und Tritt tauchen Hindernisse, Widerstände, dunkle Wolken auf. Sie aber scheint sich weder damals noch später mit dem Bösen in der Welt versöhnen zu können, da sie in ihrer Sanftheit hilflos ihm gegenübersteht. Und so lesen wir auch in Sto soneta (1972) (Hundert Sonette): Wohin soll denn ich mit meinen Kinderhänden in diesem Dunkel inmitten des Bösen? So steht Vesna Parun schon am Anfang ihrer Dichterlaufbahn vor einem Chaos, das sie nicht entwirren kann und es auch gar nicht erst zu entwirren versucht. Ihr Leben lang steht sie bestürzt davor und das Einzige, was ihr übrig bleibt, ist, ihre Verwunderung, ihr Nichtzustimmen und ihre Erbitterung auf ihre Weise auszudrücken. So entsteht schon in Zore i vihori ein Riss zwischen ihr und der Welt und es ist ihr nie gelungen, mit dieser Welt vertraut zu werden und sie zu verstehen. Einzig und allein die Natur bleibt gut und sanft, die Natur und die Erde, die uns ernährt und trägt: „Die Erde kennt keinen Hass, sie schenkte uns das Leben wie ein schönes Wunder“. Und dieses Wunder des Lebens und die Schönheit der äußeren Welt stört nur der Mensch, der die herrliche Fähigkeit besitzt, alles düster zu machen und zu beschmutzen. Deshalb sagt die Dichterin: „Sie (die Welt) wird dich lieben, der Mensch aber war dein Henker“. Und es folgen Schmerz und Leid und die Frage: warum? Warum kann nicht alles menschlicher und großmütiger sein: 102 Nikola Mili}evi}: Vesna Parun Ihr Brüder, wir hätten doch leise wie ein Feuer sein können, knisternd im roten Glück, weil wir Menschen sind. Kindlich staunend vor der Welt ruft sie sogar aus: „Wer sah den Tod? O, ihr Geschöpfe, glaubt nicht an ihn!“ Aber auch diese Illusion wird bald zerschlagen werden von dem Ansturm der kalten Wirklichkeit, sodass sie an anderer Stelle sagt: „Die Toten vergifteten den Tag. Was soll der Mensch da tun?“ Alles Malerische in Vesna Paruns Poesie stammt aus der Natur, alle ihre Assoziationen, Vergleiche, Eindrücke entstammen der verwirrenden Vielfalt der Naturerscheinungen, hauptsächlich der Pflanzen- und Tierwelt. Wahrscheinlich gibt es in den Gedichten von Vladimir Nazor (der Naturwissenschaften studierte), kaum so viele Namen von Pflanzen und Tieren wie bei Vesna Parun, die die ganze Botanik und Zoologie auswendig zu wissen scheint. Hier nur einige ungewöhnlichere Bezeichnungen, die wir in erwähnter Gedichtsammlung antreffen: Fichte, Geranie, Primel, Vergissmeinnicht, Löwenzahn, Bambus, Geißblatt, Gänseblümchen, Maßliebchen, Minze, Schöllkraut, Annemone, Pfingstrose, Kamille, Ulme, Kornblume, Zypresse, Ananas, Kaktus, Mimose; Pirol, Dohle, Reiher, Specht, Eisvogel, Kolibri, Hecht, Aal, Delphin, Forelle, Maulwurf, Schildkröte, Walross, Orang-Utan, Kamel, Gazelle, Küchenschabe, Hummel, Hirschkäfer usw. Doch für Vesna Parun ist die Natur kein buntes Gemenge, kein bloßer Dekor, auch keine Ausstellung schöner Bilder fürs Auge. Für sie ist die Natur ein Partner des Lebens. Sie ist nicht statisch sondern dynamisch, lebendig, vital. Wälder, Bäume, Tiere, Wind, Regen, Gewässer, all das lebt miteinander in wundersamer Harmonie und sich gegenseitig helfend, wie in dem Gedicht ^udesna panorama (Ein wun- dersames Panorama). Die Natur spielt auch eine Rolle in den Gefühlen und Wünschen des Menschen: Sie trägt ihn, lebt mit ihm zusammen, ernährt ihn mit Schönheit und Brot, versetzt ihn in einen Rausch oder spendet ihm Trost, wie in dem Gedicht Rujan (September), jener enthusiastischen Hymne auf die Fülle des Lebens: Weinet, satt vor Glück, das euch die Erde bietet, jene Erde, die reifen und wachsen kann. Vesna Parun zeigt hier in erster Linie ein tiefes Gespür für die Sprache und wir können nur staunen, über welchen Wortschatz sie verfügt. Und die Sprache empfindet sie, genau wie die gesamte Umwelt, vor allen Dingen sensuell, in ihrer berauschenden – tönenden und farbigen – Wirkung, wobei sie natürlich auch auf die Bedeutung der Wörter achtet. Die Sensualität (beim Empfinden von Welt und Sprache) verleiht ihrem gesamten Werk ein charakteristisches Gepräge, was bei den Kritikern viel Uneinigkeit und Unsicherheit beim Beurteilen ihrer Gedichte hervorruft. Denn da drängt sich zuerst einmal die Frage auf: kann eine solche Poesie, die aus sinnlichen und emotionalen Quellen stammt, als modern angesehen werden? War also Vesna Parun in dem Augenblick, als ihre Gedichtsammlung erschien, bahnbrechend neu und originell (modern) oder bot sie nur eine eigene spezifische Synthese bisheriger dichterischer Erfahrungen? Jedenfalls war sie kein poetischer Revolutionär mit bestimmtem Programm. Höchstwahrscheinlich wusste sie auch gar nicht viel über dichterische Programme und interessierte sich auch nicht dafür. Aber gewiss trat sie mit einer bestimmten dichterischen Erfahrung auf (wie auch alle anderen), die sie mehr instinktiv als planmäßig absorbiert hatte. Sie war außerordentlich begabt, neugierig, phantasievoll, vol- RELA TIONS ler Begeisterung, Kraft und Feinsinnigkeit. So besaß sie alle Voraussetzungen, um sich leicht an verschiedenartige Strömungen anpassen und sie in sich vereinigen zu können, sie umzugestalten und ihnen in ihrem eigenen Reichtum eine Form zu geben. Aus diesem Grund war Vesna Parun originell und neu und modern. Sie ging von anderen aus, war aber urwüchsig genug, um anders als alle anderen zu sprechen. Ihre ganze Erlebniswelt, ihre ungewöhnliche Phantasie, ihre völlig neue, oft luzide Bildhaftigkeit und erstaunliche Weise, simultane Bilder zu verbinden, die Art ein Gedicht aufzubauen – all das war wirklich ihr eigenes, unwiederholbares Werk. Ihre reiche Metaphorik baute sie nach schon bekannten Prinzipien auf, aber dennoch gestaltete sie sie auf ihre Art und Weise, gab ihr ihre eigene Dimension und Färbung. Sie entstammte also der Tradition, war aber trotzdem originell und neu, da sie das Erbe auf ihre Weise annahm, es bereicherte und ergänzte mit eigener schöpferischer Erfindungsgabe. Das aber ist das Wesentliche eines Künstlers. So war sie in unserer Poesie auch modern. Im Übrigen wirkte sie gerade mit ihrer ersten Gedichtsammlung wegweisend und setzte Zeichen, die nützlich sein konnten und waren für diejenigen, die nach ihr kamen, denn jede echte Erfahrung beeinflusst auf die eine oder andere Weise die zukünftigen Kunstrichtungen. Und wer könnte überhaupt sagen, was die „Modernisten“ der fünfziger Jahre aus Zore i vihori in sich aufgenommen haben von jener modernen Sensibilität, die verwurzelt ist im Menschen der modernen europäischen Zivilisation, der sich oft zerrissen und hilflos im Chaos der neuzeitlichen Gesellschaft fühlt, was auf verschiedene Weise viele Dichter, angefangen von Baudelaire bis zu den Heutigen, zum Ausdruck brachten? Vesna Paruns reiche Metaphorik ging RELA TIONS meistens nicht aus der modernen europäischen Poesie hervor, deren Wege von Baudelaire und Rimbaud geebnet wurden, denn ihre Erlebnisse waren nicht mit deren dunklem Fluch belegt. Der größte Teil ihrer Metaphorik, und damit auch ihres Welterlebens, sind sehr verwandt mit dem Romantiker Lamartine (um bei der französischen Poesie zu bleiben). Eine große Anzahl ihrer Bilder setzt sich aus Naturphänomenen zusammen oder aus Begriffen der Pflanzen- und Tierwelt (worüber schon etwas gesagt wurde), wie z. B.: der Flügel des sanften Pirols, der Federbusch der goldenen Kolibris, das Gezwitscher in den Federn des Eisvogels, der blaue Durst in der Kehle des Vergissmeinnicht, der Hochzeitstraum der Gazelle, ein Festtag der Lorbeerzweige usw. Alle diese und viele andere Bilder stammen nicht aus der Tiefe sondern aus der Atmosphäre, sind fluid und berühren die Sinne. Aber bei den Gedichten, die düsteren Ahnungen entspringen, hat auch das Malerische einen anderen Charakter, da es mit einer anderen Atmosphäre verbunden ist. Hier sind die Bilder dunkler, tiefer; betreffen nicht nur Farben sondern sind auch voller vernunftmäßiger Andeutungen, beinhalten eine schwerwiegendere semantische Struktur: Vertieft ins Geflüster zurückgebliebener Stürme; ängstige mich, Wasser, nicht mit deiner Tiefe; der Tote sitzt auf einem Baumstumpf; Erinnerung kalt wie ein Spiegel; wir suchen nach Resten der Vergangenheit; unterirdisches Wehgeschrei besiedelt die Stoppelfelder. So zeigt Vesna Parun schon in ihrer ersten Gedichtsammlung ihren ganzen kreativen Reichtum. Hier finden wir alle wesentlichen Eigenschaften, die beständig in ihrem Werk anwesend sein werden. Manche dieser Eigenschaften wird sie später vervollkommnen und disziplinieren, andere werden nach und nach ihren Dossier: Vesna Parun ursprünglichen Reiz von Frische und Unmittelbarkeit verlieren. In den folgenden Büchern Vesna Paruns werden wir eine Reihe von schwerwiegenderen, tiefgründigeren und stabileren Gedichten finden, aber trotzdem besitzen einige aus Zore i vihori eine unwiederholbare Spontanität, die den reinen, noch ungetrübten Quellen ihrer kühnen Erfindungsgabe entspringen. Trotz alle dem wurde das Buch geradezu verrissen, was in unserer Literatur zum Paradebeispiel für Missgriffe rücksichtsloser Kritik wurde. Die junge Dichterin wurde dadurch sehr in Verwirrung gebracht und da sie ungeschickt und in ihrem Urteil schwankend war, richtete sie sich sofort nach jenem Fehlgriff der Kritik, so wie sie später auch sich selbst sehr oft Zugeständnisse machte, indem sie ihrem zügellosen Trieb zum Dichten allzu oft nachgab. Um angeblich ihre „Schuld“ zu berichtigen, schreibt sie, beeinflusst von der fehlgegangenen Kritik, das hauptsächlich fehlgeschlagene Buch Pjesme (1948) (Gedichte) mit 120 ¹!º Gedichten mit je vier Strophen. Hier gibt es auch einige gute Gedichte, inspirierte Verse, aber es überwiegen doch Monotonie, Reimerei, Verschwendung ihres Talents. Die einzige teilweise Entschuldigung für dieses Zugeständnis wäre, dass dieses Buch vielleicht eine gewisse Entlastung für die Dichterin bedeutete, eine Pause und Übung, nach der sie ihren eigenen Weg finden und gehen wird. Erst sieben Jahre nach Pjesme erscheint die Gedichtsammlung Crna maslina (1955), die Vesna Parun in neuem Licht erscheinen lässt. Hier leuchtet ihr Talent in voller Reife auf. Manch einer meint, es handele sich vielleicht um ihren besten Gedichtband überhaupt; jedenfalls aber nimmt dieses Buch einen bedeutenden Platz in ihrer Entwicklung ein. Zore i vihori bedeuteten ihre kühne Öffnung 103 der Welt gegenüber, ein pures Eintauchen in die Fülle von Natur und Leben, während Crna maslina sie zu sich selbst, zu ihrem nackten und bitteren Inneren zurückbrachte. Allerdings war das ein ganz natürlicher Entwicklungsweg, denn weder das Leben noch ein schöpferisches Werk können auf der gleichen Stelle stehen bleiben. Einmal wird die Kraft der Jugend verbraucht, es folgen Schicksalsschläge, Erfahrungen, Erkenntnisse und Enttäuschungen; danach folgen Konzentration und Reife, und das menschliche Wort nimmt eine andere Färbung und einen anderen Sinn an. So gibt es zwischen Zore i vihori und Crna maslina nichts anderes als Lebenserfahrung und Erfahrung des Dichtens, einen Aufstieg aus dem grünen Tal der Jugend zum windigen Berg des Lebens. Die innere Schwere musste ausgerückt werden in schwereren und dunkleren Versen. Die glänzende und kühne Bildlichkeit ist verschwunden, aber das Wort wurde intensiver, konzentrierter, innerlich angespannter. Stanislav [imi} bemerkte, dass Zore i vihori moderner sind, Crna maslina dagegen traditioneller, intimer (was manche nach ihm wiederholten). Vielleicht stimmt das, aber es ist schwer, den Wert der beiden Bücher in die Waagschale zu legen, da beide bedeutend und wertvoll auf unterschiedliche Weise sind. Sie ergänzen sich wie zwei Lichter, die zu einem einzigen Glanz zusammenfließen. Während in Zore i vihori nur Ahnungen und verhaltene Sehnsüchte eines unruhigen Mädchens zum Ausdruck kamen, entdeckte Vesna Parun in Crna maslina die leidenschaftliche und vielschichtige Welt einer reifen Frau. Hier zeigt sich ihre ganze Spannung zwischen Fleischlichkeit und Seele, eine Kluft, die sie nie überbrücken wird: Es begann das ewige Umherirren zwischen Leidenschaft und Schmerz. Nach kurzen Augenblicken von Schlaf und Vergessen 104 Nikola Mili}evi}: Vesna Parun folgen andere Momente des Leids, Nachdenkens, der Hilflosigkeit. Seitdem klingt aus ihren Versen ununterbrochen „das Leid, das keine Ruhe finden kann“, wie sie in einem Gedicht aus Crna maslina sagt. Das aber ist das „Unheil der Liebe“ (wie einer ihrer Titel lautet), Unheil und Fluch, in dem es Höhen und Tiefen gibt, Leben und Sterben, Leuchten der Sterne und dunkle Abgründe. Die Liebe beinhaltet alles; sie bedeutet für die Dichterin das Maß des Lebens und allgegenwärtige Qual. Deshalb sagt sie, dass nur diejenigen, die sich lieben, „wissen, dass es nicht völlig vergeblich ist zu leben“ (Ti i nikad) (Du und nie). Und in der Gedichtsammlung Koralj vra}en moru (1995) (Die dem Meer zurückgegebene Koralle) wiederholt sie nach vielen bitteren Erfahrungen ihre Ergebenheit und Hilflosigkeit gegenüber diesem Gefühl, das sie nährte und ihr die Kraft zu leben gab: Die Liebe, die wir nicht mehr verstanden, obwohl sie uns als Erste die Welt offenbarte. Wegen ihr wurden wir mutig, durchschwammen Flüsse und durchwateten Sümpfe. Wir trugen sie durch alle Erniedrigungen auf dem Arm wie ein weißes Lamm des Friedens, um sie zu retten, sie, die Einzige, und um sie als Letzte zu verlieren. Wegen ihr bin ich nun Vagabund und Dichter. Und dennoch, was bedeutet in Wirklichkeit die Liebe für Vesna Parun? Wenn sie ihr das ganze Leben und den größten und sehr bedeutenden Teil ihres dichterischen Werkes ausfüllte, wenn sie die Liebe als schicksalhaft und gut empfand, was sah sie dann eigentlich als Wesentliches in ihr, und gab ihr die Liebe einen bestimmten (philosophischen) Sinn im Leben? Man kann sofort sagen, dass diese Frage sehr schwer zu beantworten ist, da sich die Dichterin selbst in ihren Versen nicht ganz klar und eindeutig über ihr Erleben und Begreifen des Liebeslebens ausdrückt. Deswegen beurteilten es die Kritiker auch auf verschiedene Weise. Jedenfalls könnten wir nur schwer eine genaue Philosophie ihrer Liebe in Worte fassen, denn sie gab ihrer Liebe keinen tieferen Sinn, sondern sie lebte und fühlte sie. Sie sprach mehr von konkreten Gefühlen und Erlebnissen, als von abstraktem Sinn und Zweckmäßigkeit. Deshalb ist ihre Liebe immer gespalten zwischen der Kraft der Leidenschaft und der Schwäche des Geistes. In Zore i vihori öffnete sich die Dichterin erst der Welt, und es quälte sie nur die Ankündigung und Ahnung einer versteckten und drohenden Sinnlichkeit, wie in dem Gedicht Tijelo i prolje}e (Der Körper und der Frühling), in dem sie sagt: „Der Frühling nähert sich, horch; o Mutter, entblöße mir die Brust!“ So wird sie auch auf den warmen Kieseln spüren, wie aus ihren Schenkeln „jung und habgierig ein schmiegsamer Delfin lachend auftaucht“. Hier ist ihre Liebe nur ein unbewusstes Blühen und Lodern, als wenn eine junge Göttin beginnt, in des Pans Haine des Lebens zu treten, ohne zu wissen, was sie dort erwartet, sich aber nach etwas Wundersamem und Ungewöhnlichen sehnend, was sie erregen und mitreißen könnte. Deshalb ist in diesem Buch, in dem es gar keine wirklichen Liebesgedichte gibt, die Liebe keine Qual, kein inneres schmerzliches Verglühen, keine Angst und keine Bitternis. Hier kommt vor allen Dingen Lebensfreude, voll heiterer Erwartung und Ergebenheit, zum Ausdruck, während die Liebe als „sanftes Prickeln an einem Grashalm“ bezeichnet wird, als „reiner Schluck“ und „Märchen einer schöneren Welt“. Über jene Zeit sagt die Dichterin später: „Ich war ganz rein und tauig und sanft“. RELA TIONS Allerdings wird nach etwa zehn Jahren das Bild vollkommen anders aussehen, und das Märchen wird sich in eine Ballade oder ein Klagelied verwandeln. Indem sie die Süße und das Gift der Frucht des Eros erfährt, breitet Vesna Parun in Crna maslina (1955) und Ropstvo (1957) (Sklaverei) eine abgerundete und vollkommene Chronik ihres Liebeslebens mit all seinen keineswegs lichten Erfahrungen vor uns aus. Hier finden wir auch alle wesentlichen Merkmale ihrer Beziehung zur Liebe. In diesen Gedichtsammlungen erkennen wir das Schicksal einer starken Frau, die sich ihrer Schwächen, über die sie mit Stolz spricht, bewusst ist. Wir sehen vor allen Dingen ihren Schmerz über die Schicksalsschläge und Erniedrigungen, die sie als schwächeres Wesen erfuhr, das in seiner Naivität Schutz und Verständnis erwartet, jedoch auf Grobheit und Gleichgültigkeit stößt. Sie hat das Gefühl, die Schönheit sei gestorben, die Kindheit mit ihren Märchen verschwunden und der vernichtete Mensch wisse nicht mehr wohin. Daher stammen ihre Brüche, die Erschöpfung und die Hilferufe, ausgedrückt in bitteren und harten Worten der Klage. Es wurde schon mehrmals erwähnt, dass solche Liebesbekenntnisse mit solch schmerzlicher Ehrlichkeit in unserer Poesie niemand vor ihr geschrieben hat. Es sind das Gedichte einer Frau, die erkannte, dass es ein großes Übel ist, „wenn man all seiner Träume beraubt wird“ und die von sich sagen konnte: „durch alle Spießruten der Liebe lief ich“. Deshalb kann man mit Sicherheit behaupten, dass ihre Liebespoesie nicht aus trunkener Begeisterung und Genuss entstand, sondern aus tiefem Leid und Aufopferung. Liebe widerfuhr Vesna Parun spontan und auf unerklärliche Weise, „so wie das Wachsen einer Blume unklar ist“. Sie wusste nur, dass sie jenes dunkle und unruhige Meer be- RELA TIONS reisen musste, aber sie wusste und fragte nicht, wohin die Fahrt sie führen werde. Deshalb sagt sie, Empfinden der Liebe ahnend: „Das ist Liebe. Mache dich auf ins Weglose“. Sie wusste, dass die Liebe stärker ist als sie selbst, und deshalb, so sagt sie, liebte sie sorglos, „ohne zu denken, verwundert“. Sie versuchte also noch nicht einmal, eine Lösung für dieses verwirrende Rätsel zu finden. Deshalb überließ sie sich dem unwiderstehlichen Trieb, dass er sie trage, wohin er wolle. Und indem sie diesen verwunschenen Weg begeht, kann sie nur feststellen: Keine Sümpfe gibt es, die ich nicht durchwatete, keinen Baum, vor dem ich nicht niederkniete. Am meisten litt sie, weil ihre Anhänglichkeit nicht geschätzt wurde („Keine andere war so gehorsam wie ich“) und man sie auszog, „wie einen Schuldigen, nicht wie eine Frau.“ Das aber ist eine tiefe Verletzung sinnlicher und sanfter Weiblichkeit. Sie fühlte sich wie die Beute in der Höhle eines Lüstlings, und sie singt „eine Hymne an ihre erniedrigte Liebe“. Und sagt, dass die Liebe derer, denen sie sich hingab, wertlos ist, der Baum in der Ferne jedoch und die Glut der Morgenröte prachtvoll (Ropstvo). Das aber war nur eine Täuschung, denn weder der Himmel noch die Erde konnten in Wirklichkeit das Feuer der Fleischlichkeit und die Sehnsucht einer heißen Seele ersetzen. Als eine andere begabte Dichterin (Vesna Krmpoti}) über das Gefühl der Erniedrigung sprach, bemerkte sie: „Die Frau gleicht der Erde, die alle mit Füßen treten, und die alle ernährt. Das ist eine traurige und stolze Weisheit, die zwischen den Seufzern Vesna Paruns reift“. Vesna Parun schrieb einmal die außerordentliche Zeile: „Die Liebe verpflanzt meine Gedanken in die Gärten der Ewigkeit“, aber das war nur Dossier: Vesna Parun ein schöner Gedanke des Augenblicks, denn ihre Sehnsucht nach Liebe verwandelt sie in Wirklichkeit nie in metaphysische Illusionen, auch idealisiert sie nicht die Erotik. Diese fast tragische Priesterin des Eros brachte ihre Brandopfer nicht auf einem steinernen Altar des Gebets sondern auf der lebendigen Haut ihrer Sinnlichkeit. In ihrer Begeisterung versuchte sie nicht, sich jenseits von Körper und Leben emporzuheben. Sie war realistisch, und ihre Gedichte sind voll verborgener Sinnlichkeit. Sie selbst sagt: „O Rose der Liebe, Rose der Wollust!“ Und dennoch wäre es ein großes Unrecht zu behaupten, diese Dichterin sei ausschließlich eine Anhängerin körperlicher Leidenschaften. Sie dichtete zwar aus den Schmerzen des Körpers, noch mehr aber aus den Tiefen ihrer verletzten und unglücklichen Seele heraus. Deshalb scheint mir, dass es für ihr Erleben der Liebe keine bessere Definition gibt als Ujevi}s Vers: „Meine Seele leidet am Fleisch“. Die meisten Liebesgedichte von Vesna Parun entstammten nicht dem Erleben ihrer Leidenschaft sondern dem Leid, das danach kam. So besang sie nicht den Akt der Liebe sondern seine Folgen, das aber ist der Schmerz der Einsamkeit: „Ich aber bleibe wieder allein zurück.“ Aber sie zieht sich nicht in die Einsamkeit zurück, um ihre Liebe in etwas Mystisches umzuwandeln, in erotische Illusion (wie es die alten Mystiker taten) oder in übersinnliche Begeisterung. Sie verband die Liebe nicht einmal mit dem Tod (Eros-Thanatos), obwohl uns das, was wir am meisten im Leben bejahen, mit der größten Angst vor Vergehen und Vernichtung erfüllt. Der Tod wird in ihren Gedichten erst viel später erscheinen. Damals erwähnte sie ihn nur hier und da als unbestimmte Ahnung: „Mit der Liebe gewöhnen wir uns immer leidenschaftlicher an den Tod.“ Aber wegen ununterbroche- 105 ner Verluste ist neben ihrer Liebe immer die Angst anwesend – die Angst vor Vergänglichkeit. Deshalb ist ihr Hedonismus nie vollkommen, nie ganz frei; immer wird er von Ungewissheit, Unzufriedenheit und dem Vorgefühl zukünftigen Leids beschattet, was auch der Grund dafür ist, dass die Dichterin sich den Geschenken des Lebens immer mit einem Gefühl von Trauer hingab. Alle ihre Genüsse scheinen im Voraus von Schmerz durchdrungen zu sein, als wenn über ihnen die unbarmherzige Hand eines finsteren Schicksals drohen würde, die den Menschen nirgendwo in Ruhe lässt, sondern immer in seiner Seele wühlt und ihm jede Freude heimtückisch vergiftet: „Deine Stimme begleitet mich mit Vergänglichkeit“. Dieses Angstgefühl finden wir sehr oft, fast unausweichlich in Vesna Paruns Versen, weshalb sie an einer Stelle sagt: „Liebe und Angst werden sich nie verstehen, aber sie werden immer gemeinsam auf den Straßen sein“. Warum gerade auf den Straßen? Sehr wahrscheinlich schrieb die Dichterin dieses Wort nicht zufällig. Es tauchte wahrscheinlich aus ihrem Unterbewusstsein auf, aber wir wissen, dass aus dem Unterbewusstsein oft die nacktesten Wahrheiten dringen. Zweifellos handelt es sich hier um eine sehr wichtige Eigenschaft der Liebe Vesna Paruns, einer Liebe, die im Grunde vagabundenhaft und ruhelos ist, ständig auf der Suche nach etwas, was es nicht gibt. Sie erwähnt oft Unbekannte, Reisende, Seeleute, Obdachlose, Landstreicher, von denen sie weder Namen noch Heimat kennt. Schon in Zore i vihori sagt sie zu einem „fremden Jungen“: „Ich kenne deine Heimat nicht“. Und in dem wunderbaren Gedicht Dom na cesti (Ein Heim auf der Straße), sagt sie: „Weder ich sah sein Gesicht, noch er das meine“, und alles endet in schmerzlicher Verlorenheit, für die es keine Rettung gibt: 106 Nikola Mili}evi}: Vesna Parun Und der Mensch nimmt sein Bündel und wendet sich weinend seinem Zuhause zu. Sein Zuhause aber ist der Staub der Straße wie mein Zuhause auch. Es liegt etwas Schweres und Tragisches in der Erkenntnis der Verdammnis des ewig Umherirrenden, des Ahasverus, der nie ein Zuhause und nirgends Ruhe finden wird. Eine solche Erkenntnis und ein solches Gefühl sind ein Charakteristikum ausschließlich großer Seelen, die in unablässiger Bewegung, in ewiger Suche nach etwas Übernatürlichen und Unerreichbaren sind. Solche Seelen wissen, dass sie nie ans Ziel kommen, dass sie nie ihr verlorenes Paradies finden werden, aber ihren Weg werden sie nicht aufgeben, da sie wissen, dass ihr Schicksal nicht Rasten sondern Suchen ist, so wie sie auch wissen, dass das Umherirren sie nie allzu glücklich machen wird. So wusste auch Vesna Parun nur allzu gut, dass sie ständig an einer Stelle wartet, „wo noch nie jemand glücklich wurde“. Indem sie hartnäckig und sich dessen bewusst ist, schreibt sie auch diese Verse: Erlaube mir, deine Welt so zu lieben, wie ich es möchte. Auch wenn zuletzt alles in Schmerzen endet. Eine solche Frau trachtet nicht danach, sich geistig mit dem Wesen, das sie liebt, zu vereinen, sich hinzugeben und mit ihm zu verschmelzen und in ihm zu bleiben in ständiger Seligkeit und Ruhe. Zu solcher Hingabe war sie zu selbstbewusst, zu unruhig und unzufrieden, sie sehnte sich nach einem Getränk, dass nicht leicht zu finden ist. Und eine einzige Liebe konnte ihre reiche und ungestüme Seele nicht erfüllen: Blickt in meine Erinnerungen, so werdet ihr sehen, es ist nicht e i n e Gestalt. Es ist nicht e i n e Leidenschaft. Sie gibt sich hin, macht sich los und geht weiter, eine Liebe lebend, die kein Zuhause, keine Ruhe und keine völlige Befriedigung kennt und die von ewigem Durst getrieben wird. Um von neuem zu lieben, um wieder zurückzukehren zum Wasser berauschender Quellen, musste sie verlieren und leiden, um im Leid wiedergeboren zu werden und Kraft zu gewinnen für – neues Leid. Sie war, so scheint es, nur in ihrer Unbeständigkeit beständig: Ich bin, genau wie ihr, unbeständig wie der Sand unter unbeständigem Himmel. Deshalb war ihr Herz eine wahnwitzige „Spielhölle der Liebe“, einer Liebe, „die das ist, was wir ununterbrochen zurücklassen“, und in einem ihrer späteren Bücher (Stid me je umrijeti) (Ich schäme mich zu sterben) zieht sie den Schluss: „Die Liebe: nur Übersiedlungen, Übersiedlungen“. Nach dem jugendlichen, aus voller Kehle gesungenen Zore i vihori, erreicht Vesna Parun in Crna maslina Besonnenheit, Erfahrung und Reife. Ihre Beziehung zum Leben ist immer bitterer und bestimmter, ihr Ausdruck ruhiger. Deshalb war zu erwarten, dass die Dichterin von Jahr zu Jahr immer gesammelter und gefestigter werden würde, dass die Lebens- und dichterische Erfahrung sie zu Besonnenheit und klassischem Maß beim Aufbau ihrer Gedichte führen würde. Ihre Schaffenskrise hielt jedoch ziemlich lange an, und sie brauchte zehn und mehr Jahre, um größere Konzentration und Tiefe zu erreichen, damit ihr Wort schwer und durchdringend wird. Das gelingt ihr besonders in dem Buch Ukleti da`d (1996) (Der verwunschene Regen), aber auch in weiteren Gedichtbänden der siebziger Jahre, oder besser gesagt, in den gelungensten Gedichten jener Sammlungen. Nachdem die Dichterin alle menschlichen Wege und Irrwege gegangen RELA TIONS ist, wobei sie ununterbrochen die eigenen Wunden pflegt, spürt sie sich plötzlich wie gereinigt und von Schwere befreit, als wenn sie in sich „die Liebe der Töne, die keine Körper haben“ ahnt. Alles wird stiller und gedämpfter, während nur die Endlosigkeit und die Sehnsucht, in sie einzutauchen, bleibt, damit sie sich ihr hingibt in einem glückseligen und schwerelosen Zustand: „Merkwürdig, wie schwerelos die Arme in den Höhen sind“. Indem sie die Tragik des menschlichen Schicksals auf Pascal’sche Weise versteht: „Hier, wohin wir geworfen wurden“ und wo „wir uns wie Schuldige quälen, um unsere Heimat zu finden“, wünscht sie fast auf buddhistische Art, sich vom Schmerz zu befreien, sich sogar auch von ihrem Körper zu befreien: Ich überlasse diesen Körper dem Wind, der dornigen Rose, in der die Schönheiten klarer als alle Winter blühen All das wünscht sie nur, um „Kultstätten orphischer Harmonie“ zu finden, die sie früher einmal in dem Gedichtband Koralj vra}en moru erwähnte und in Olovni golub (Die bleierne Taube) als „Antrieb zum Tau der Harmonie“ wiederholte. Jene Heiligtümer der Schönheit, nach denen die Dichterin ewig suchte, erschienen ihr jetzt in unerreichbarer Höhe. Deshalb sagt sie, man müsse Die Schale des irrsinnigen Eies des Willens zerschlagen und in die Wirklichkeit hinausgehen, wo Licht und Blumen einen gemeinsamen Weg in die Höhe haben. Damit ist auch ihre Frage verbunden: „Gibt es eine Stadt, in der die Bäume nicht sterben?“, und wo die Liebe ein Gedicht ist, ein ewiges und unauslöschliches, wo vielleicht auch der Mensch den Hauch der Unsterblichkeit spüren würde. Fasziniert von diesen Erkenntnissen wird sie auch ausrufen: Dossier: Vesna Parun 107 Foto: Jakob Goldstein RELA TIONS Milko Valent beim Festival Europäischer Kurzgeschichten 108 Nikola Mili}evi}: Vesna Parun Verwandle mich, Leben, in eine Salzsäule. Lass mich zurückkehren, o Gott, in eine Handvoll Lehm. Die Dichterin gibt ihrem erdachten Ideal und endgültigen Ziel keinen Namen. Es ist die Höhe („Höhe, bleibe unser unsichtbares Zuhause“), die Schönheit, die Musik. Alles ist ins Erhabene gesteigert zu berauschender Ergebenheit, zur „Musik des Vergehens“, zu einzigartiger Erhöhung und Gesang, verbunden mit tiefer Sehnsucht nach Befreiung von jeglicher irdischen Bitterkeit und dem Wunsch, sich mit dem unerreichbaren Strömen des Lichts, der Zeit und der Ewigkeit zu verschmelzen. Ist das nicht ein Suchen nach etwas Endgültigem und Absolutem, das zuletzt alle durchlebten Qualen krönt – wenn auch mit einem Dornenkranz – und sie in endgültigen Glanz verwandelt? Oder ist es vielleicht ein Suchen nach dem „Kristall der Seele der Zeit“, vereint mit dem Wunsch, dass alle sichtbaren Farben verschwinden und nur die inneren, die in uns brennen (Smrt je jeka boja) (Der Tod ist das Echo der Farben), übrig bleiben? Alle diese ernsten Erkenntnisse werden auf ebenso ernste und ehrwürdige Weise ohne die einstige strahlende Metaphorik ausgedrückt. So sollte man zum Beispiel das außerordentlich gelungene, längere Gedicht (Jedno stablo iz vje~nosti) (Ein Baum aus der Ewigkeit) betrachten, um zu sehen, wie ein Vers in den nächsten übergeht, ein Bild ins nächste; wie diese Bilder verschmelzen und kein einziges herausragt aus dem Fluss des Gedichts, aus seinem wesentlichen Sinn, wie es der Dichterin manchmal passierte. Es gibt etwas wirklich Zauberhaftes in dem spontanen und reichen, so bedeutungsvollen und luziden Aneinanderreihen, etwas was aus dunklen und unerklärlichen Tiefen ihrer Imagination stammt. Zu erwähnen wäre auch das Gedicht Ho- do~a{}e snu (Pilgerfahrt zum Traum) aus dem Gedichtband I prolazim `ivotom (Und ich gehe durchs Leben), von dem Ivan V. Lali} sagt, „Rilke hätte es in einer seiner zartesten Inspirationen schreiben können“. So finden wir auch in weiteren Gedichtsammlungen der siebziger Jahre Gedichte, die aus tiefer Konzentration entstanden, aus einem Blick auf „reine Ufer des Wachens“, in denen man den Sinn unseres Daseins und unserer Entwicklung finden könnte, um „den unverständlichen Verlauf alles dessen, was uns umgibt“ zu begreifen und vielleicht „die einzige Möglichkeit zum Atmen zu erkennen“. Auch hier ist, genau wie früher, die Suche nach der Kindheit anwesend, das Eintauchen in die Güte der Natur, aber auf tiefere und zartere Weise: Alles wird wie ein dauerhafter, vergeistigter Besitz betrachtet, um die Welt „für unsere Augen fremd und unschuldig“ darzustellen, befreit von allem Verkehrten, das sie entstellt. Deshalb sagt die Dichterin „alles lieben, was unschuldig unter diesem schrecklichen Himmel lebt“. In vielen Gedichten aus diesem wirklich reifen Zeitabschnitt Vesna Paruns gibt es eine uranfängliche, wie gerade erst erwachte Kraft, die aus den Wurzeln der Pflanzen und den Säften der Erde zu entspringen scheint, eine Kraft, die sich in einer konzentrierten und suggestiven Sprache verwirklicht. Man könnte sagen, dass in der kroatischen Poesie der Nachkriegszeit kaum jemand so vollkommene Gedichte schuf. Vesna Parun schrieb in neuerer Zeit auch viele satyrische Gedichte, was man von einer lyrischen Dichterin ihres Gepräges nicht erwarten würde. Über eine solche Art von Versen kann man auf verschiedene Weise urteilen, sicher aber ist, dass sie auch hier oft wahre Meisterschaft im Aufbau der Verse erreichte. Geistreich, bitter und bissig konnte sie sein, war aber auch geschickt im Finden von RELA TIONS passenden Ausdrücken, Wörtern, Reimen, hatte witzige Einfälle, spielte mit der Sprache, sodass ihr Gedanke im Reim an Schlagkraft gewann. Als Tonko Maroevi} über ihre Sammlung satyrischer Gedichte Apokalipti~ne basne (1976) (Apokalyptische Fabeln) schrieb, sagt er, dass Vesna Parun, „was syntaktische und verbale Mannigfaltigkeit betrifft, wahrscheinlich nicht ihresgleichen hat“ und dass sich hier Zorn und Gesang „in einem Maß vereinen, das alle Einschränkungen purer satyrischer Poesie übertrifft“. Außerdem veröffentlichte sie etwa zehn Kinderbücher in Versform: Gedichte, Erzählungen und Romane. Dieser Teil ihres Werks hatte großen Erfolg bei den jungen Lesern, und manche dieser Bücher wurden in verschiedene Sprachen übersetzt. Unmittelbar und gewandt im Verseschreiben schaffte sie Wertvolles auch auf diesem Gebiet. Auf sensible und einfache Art und Weise verstand sie es, sich in die reiche Welt der Natur oder in Szenen aus der Tier- und Kinderwelt hineinzuversetzen. Vielleicht war sie auf dem Gebiet unserer Poesie für Kinder nicht besonders neu, aber sie konnte sich auf ihre Weise der kindlichen Phantasie mit lyrischer Feinfühligkeit und geistreichen Einfällen anpassen. Vesna Parun übergab der Öffentlichkeit bis jetzt auch drei Theaterstücke: Marija i mornar (Maria und der Seemann), Magare}i otok (Die Insel der Esel), Potres u gradi}u Kali (Erdbeben im Städtchen Kali). Diese Texte enthalten Geist, Erfindungsgabe und Ausdrucksreichtum. Sie sind hauptsächlich auf einer Reihe von Einzelheiten, von zahllosen lebendigen Gedankensplittern, sprachlichen Bravouren, geistreichen Repliken, stichelnden Anspielungen aufgebaut, auf einer Mischung von Unwirklichem und Wirklichem, Möglichem und Unmöglichen, und obwohl das alles oft unlogisch, vielleicht auch RELA TIONS absurd erscheint, ahnen wir doch einen versteckten Sinn. Aber in diesen Theaterstücken gibt es keine einheitliche und durchlaufende Handlung, es scheint auch keine wirklich dramatischen Momente zu geben, die die Aufmerksamkeit des Publikums erregen könnten. Vesna Parun wurde oft als weiblicher Dichter bezeichnet, und eine solche Bezeichnung enthält gewöhnlich einen degradierenden Beiklang. Zwar stimmt es, dass viele ihrer Gedichte aus der typischen Welt der Frau stammen, und dass sie durchdrungen sind von Emotionen und Beichten, aber es stimmt auch, dass sie die üppige und vielschichtige Welt einer wirklich starken Frau zeigen, die oft auch ihre größten Mutlosigkeiten und Schwächen auf männliche Art auszudrücken wusste. Sie fiel und strauchelte und richtete sich tapfer wieder auf in ihrem Wort und ihrer Bitternis. Und viele Male verstand sie es, sich hoch über alle persönlichen Bürden zu schwingen, um vor allen Dingen im Gedicht, im reinen Akt des Schreibens, in der von allen niedrigen Zwängen befreiten Stärke zu leben. Denn wie sehr die Seele dieser Dichterin auch von der Sanftheit des mediterranen Klimas geformt wurde, sicher brachte sie ebenfalls etwas von der rauen Kraft des Meeres, der Härte des Karsts und der Schärfe der Boras mit sich. Durchs Leben geht sie eher wie eine Träumende als wie ein wirklicher Mensch („Schwer ist es, den zu wecken, der wachend schläft...“), aber trotzdem bewegt sie sich nicht außerhalb der harten Gleise des Lebens und ist nicht blind gegenüber all dessen, was um sie herum geschieht. Davon zeugen viele ihrer Gedichte – angefangen von ihrem ersten Gedichtband und allen weiteren – in denen sie auf ihre Weise inspiriert über die Probleme ihrer Zeit spricht. Oft wird vergessen, dass sie zu Zeiten des Krieges wie nur wenige spontan, ehrlich Dossier: Vesna Parun und auf starke Weise die Leiden des Kampfes und die Wiederherstellung und Geburt einer neuen Zeit besang. Übrigens ist ihr menschliches und schöpferisches Prinzip eine humanistische, sinnvolle und emotionale Beziehung zur Welt und ein menschliches Engagement in Lebens- und Ethikfragen. Sie wurde von vielen Missgeschicken und Ungerechtigkeiten heimgesucht, geriet in schwierige Situationen, es gab Augenblicke der Hoffnungslosigkeit, aber ihre Zähigkeit brachte sie immer wieder zurück in Wind und Wetter ausgesetzte Gebiete des Lebens und von der Verzweiflung wurde sie nie ganz niedergedrückt. Deshalb gibt es in ihrem Werk keinen Platz für Pessimismus. Indem sie ihrem dichterischen Weg unermüdlich und ergeben folgte, suchte und fand sie sich in mannigfaltigen Manifestationen des Lebens und menschlichen Geistes; sie tauchte in die Schönheit und Vielschichtigkeit der äußeren Welt, in den Reichtum der Natur, aber auch in dunkle Bereiche ihres Inneren; aus sinnlichem Empfinden versetzte sie sich in gedankliche und geistige Regionen und plagte sich mit den ewigen Rätseln des Lebens und Sterbens, der Gegenwart und der Ewigkeit, wobei sie sich bemühte, das Wesen des Jenseitigen, den Sinn des Lebens zu erfassen. Deshalb ist Vesna Parun nicht nur eine Dichterin der Liebe (wie manche meinen), sondern sie ist eine Dichterin der ganzen Vielfältigkeit des menschlichen Lebens und sie schuf in dem Band Ukleti da`d wie auch später Gedichte, die in ihrer geistigen Sammlung, ihrer Tiefe und Aussagekraft alle ihre früheren (Liebes-) Gedichte weit übertreffen. In ihrer Entwicklung, in der Erkenntnis von Welt und Leben, gibt es kein bestimmtes System, aber es gibt glänzende geistige Errungenschaften und tiefe Konzentration, es gibt etwas, was spontan aus dem Abgrund des menschlichen Wesens 109 hervorquillt. Aber man muss sagen, dass Vesna Parun nicht nach irgendeiner bestimmten Ordnung oder nach Regeln leben und schaffen konnte. Sie sagt selbst über sich, dass ihr Vater die Flucht und ihre Mutter – das Unmögliche ist. Deshalb hätten ein System oder Programm sie nirgendwo hingebracht. Sie konnte zu ihren nebelhaften Zielen nur im Halbschlaf reisen und gelangen. Deshalb sollte man in ihrem oft luziden Gedankenreichtum keine Systematik suchen, was sie in etwa auch selbst sagt: „Diese Hoffnung ist nur ein reiner Kristall der Eingebung, hinter ihr ist nichts“ (Ukleti da`d). Sie konnte fast nie abstrakt denken ohne lebendige Basis, ohne sinnliche Anregungen und emotionale Unruhe, dessen war sie sich auch selbst bewusst ist, wenn sie in einer Anmerkung sagt: „Wenn du versuchst, in Abstraktion zu fliehen, schickt dich das Gedicht zu deiner augenblicklichen Aufgabe zurück: zum Zeugnisablegen“. Ihre Gedankenflüge sind oft nicht bis zu Ende ausgedrückt, aber sie sind voll Kraft und Suggestivität, da sie immer mit einem Schleier innerer geheimnisvoller Glut umhüllt sind. Sie schwebt immer an der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit. „Wenn wir ein Gedicht schreiben, berühren wir den Boden eines Märchens“, sagt sie in ihrem ausgezeichneten Essay über die Märchen. Indem sie das Leben besingt, verwandelt sie es oft in mythische Visionen, während sie in den Märchen den menschlichen Sinn des Lebens sucht. Aus all dem Gesagten ersehen wir, dass Vesna Parun zu den besten und bedeutendsten Dichtern neuerer kroatischer Poesie gerechnet werden muss, und ihr reiches und mannigfaltiges Werk wartet noch auf gründlichere Leser und Interpreten. Aus dem Kroatischen von Hedi Blech-Viduli} 110 Tea Ben~i} Rimay: Wenn der Mensch aufhört ... RELA TIONS Wenn der Mensch aufhört, einen anderen Menschen zu lieben Tea Ben~i} Rimay Wenn aber der Mensch aufhört, einen anderen Menschen zu lieben, vor Scham und Verwirrung weiß er nicht, was er tun soll, und indem er weiter und weiter vor ihm flieht, setzt sich für immer in seinem Herzen dessen Trauer fest. Vesna Parun Viele Seiten wurden über Vesna Paruns Poesie geschrieben, besonders über einzelne, anthologische Gedichte – wie über Du deren Hände unschuldiger sind; Der schlafende Jüngling; Die Mutter des Menschen usw. Schließlich wurde ihre erste Gedichtsammlung Zore i vihori (Morgenrot und Wirbelsturm) als Beginn der modernen Poesie bezeichnet – neben dem Gedichtband Crveni konj (Das rote Pferd) von Jure Ka{telan auch als Beginn der sog. Nachkriegspoesie; aber wichtiger zu sagen ist, dass sich andere, persönlichere Arten des Schreibens von Gedichten entwickelten. Die Kritiker jedoch befassten sich häufiger mit neuen aber gleichzeitig gemeinsamen Charakteristiken des Dichtens, und es gibt eigentlich nur wenige Texte, die gerade einer spezifischen Eigenart der Dichterwelt gewidmet sind, dem auf neue Weise dargestellten Universum Vesna Paruns. Jene Welt stilisierter und starker Empfindsamkeit, voll Güte und Verzeihen, Liebe und Opfer ist auch heute ebenso in ihrer Poesie anwesend als einer Quelle, aus der weiterhin ununterbrochen geschöpft werden kann, wie auch in deren lang andauernder Wirkung, in ihrem Verwobensein mit Kultur und Tradition. Viele befassten sich mit der Poesie Vesna Paruns, aber es scheint, dass über das Wichtigste, das Gehaltvollste in ihren Gedichten bis jetzt nicht gesprochen wurde. Vielleicht wurde ihre Poesie in den ersten drei Jahrzehnten ihres Schreibens zu oft erwähnt, später dann immer seltener und ungenügend analysierend. Im Unterschied zu manchen Auslegungen z. B. der ersten Gedichtsammlung, die immer noch mit der Nachkriegszeit verbunden war und meist auch mit dem Syntagma der „Kriegsstürme“ dargestellt wurde, meine ich, dass schon in der Überschrift der hintangesetzten Morgenröte ein viel größeres Gewicht gebührt als dem Wirbelsturm, bzw. schwerwiegender sind die Gedichte, in die wir wie in sonnige Morgen treten, die beschienen sind von der Heiterkeit zwangloser Begeisterung eines jungen Wesens ungezähmter Vitalität. Allein das Wort „Morgenrot“ wird später in Vesna Paruns Poesie sogar die trübsinnigsten Situationen und rauen Winde, die in ihre Poesie hereinbrechen, erhellen. Aus den ersten Gedichten sprach natürliche und unschuldige Ehrlichkeit; das sind die Gedichte Tijelo i prolje}e (Der Körper und der Frühling), Djevi~anstvo (Jungfräulichkeit) und der üppige Rujan (September), die in den fünfziger (sogar in den vierziger!) Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts bestimmt völlig verrückt klingen mussten in dem noch immer nicht erwachten und konservativen Umfeld der kroatischen Poesie und Kritik. Jede Unschuld und kindliche Begeisterung (Bila sam dje~ak) (Ich war ein Junge) besonders aber sinnliches Schwärmen in den folgenden Gedichtsammlungen wurde mehr als erfunden und naiv, ja sogar als unreif, wild und dekadent ausgelegt. Aber gerade die ungezähmte Wildheit war vielleicht damals schon die wertvollste Eigenschaft der Poesie Vesna Paruns, die später ehrlich verwundert war über das von den Menschen verursachte Böse und Chaotische in der Welt. Denn die Dichterin brachte bei ihrem Erscheinen in der kroatischen Poesie gren- RELA TIONS zenlosen Glauben mit sich, kindliches Vertrauen und die Überzeugung, dass es die Liebe ist, die die Welt in Bewegung setzt. Völlig ergeben, sich ihren starken Emotionen überlassend, die die Aussage in ihren Gedichten auf mustergültige Weise begleiten, bot sie der Welt ursprünglichste Unverfälschtheit und erwartete mit kindlicher Naivität, dass ihr eine solche Liebe auf die gleiche Weise entgegengebracht würde. So überstand die Poesie in ihrer Gesamtheit den kindlichen Traum der Dichterin. Und bald schon gerät sie in den erahnten Wirbelsturm, nicht nur in den Krieg und die Nachkriegszeit der äußeren Welt, sondern auch in die Kämpfe der menschlichen Seele (Zlo ljubavi – Das Übel der Liebe; Bol {to si ~ovjek – Der Schmerz, ein Mensch zu sein), die unfähig ist, die Ursprünglichkeit fremder und eigener Empfindsamkeiten anzunehmen und die Schönheit und Kraft einer reinen Seele, die sich plötzlich im Schmutz der Welt befindet, zu erkennen. Wie sie schon in Zore i vihori die lebhafte Herde der Worte – zur Quelle des heiteren Tals trieb, so zeigte sie mit Crna maslina (Der schwarze Olivenbaum), Vidrama vjerna (Den Fischottern treu), Ropstvo (Sklaverei), Koralj vra}en moru (Die Koralle, die dem Meer zurückgegeben wurde), Ukleti da`d (Der verwunschene Regen) und anderen Gedichtsammlungen eine erstaunliche Spannweite zwischen Sinnlichem, Imaginärem, Geträumtem und Mythologischem. Die Ausgangspunkte ihres Dichtens befinden sich in der Nähe biblischer Quellen, ihre Themen sind die Idee der Liebe, aber auch das Leid wegen des menschlichen Schicksals. Die tiefe Empfindsamkeit Vesna Paruns, die sich schon bei Dora Pfanova zeigte, wird mit ihrer Sinnlichkeit, Wollust und ihrem Erotismus noch verstärkt werden. Unmerklich und leise werden in der kroatischen Poesie die Liebe und der Mond auf- Dossier: Vesna Parun tauchen, wie auch die mythologisch und märchenhaft klingende Metapher archaische Lilien werden sich in Wirklichkeit verwandeln. Anscheinend ist das Paraphrasieren der Gedichte Vesna Paruns die einzige Art und Weise, die Interpretation nicht von ihren Gedichten zu entfernen. Gerade ihre metaphorischen Syntagmen, die übernatürlichen und kindlichen Landschaften, führten sie spontan und unmittelbar zum Prosagedicht, das bei dieser Dichterin von der märchenhaften Kurzgeschichte zu distanzieren ist (z. B. Molitva Ard`uninu strijelu – Gebet an Ard`unins Pfeil oder Le{ina Marabu ptice – Der Kadaver des Vogels Marabu), das bei ihr aber auch besonders beachtet werden sollte wie spezifische Kristalle im langjährigen Spiel mit der Poesie, wenn die Poesie aber aufhört, ein Spiel zu sein und zum heiligen Ort der Beichte wird. Bei ihr finden wir nur sehr wenige Prosagedichte, die alle ziemlich spät entstehen (wenn man bedenkt, dass ihre Gedichte seit 1947 veröffentlicht wurden). Den Zyklus Krv svjedoka i cvijet (Das Blut des Zeugen und die Blume) schrieb sie 1989 und die außerordentliche Prosagedichtsammlung Indigo-grad (Indigo-Stadt) 1990. Im Unterschied zu ihrem ständigen Dichter-Reisegefährten Jure Ka{telan, der beim Schreiben seiner Prosagedichte Sprache, Ausdrucksweise, Struktur und die Beziehung zum Gedicht ändert, verändert sich in den Prosagedichten Vesna Paruns fast gar nichts außer der strudelnden Tiefe – die sie jetzt mit dem Gedicht öffnet – da der Ausgangspunkt ihrer märchenhaften Landschaft, der die Metaphorik strukturiert, schon seit langem vorhanden ist. Nur wurde in den Prosagedichten der Ausdruck gedrängter, wenn die Dichte des Beschriebenen es erlaubte, Wörter, nicht aber Gedanken zu wiederholen. Der Gedanke in ihren Gedichten erweiterte und breitete sich geradezu aus, 111 begleitet von einer immer größeren Farbenvielfalt, angefangen von hellgelb, orange und feuerrot, über indigoblau, mondscheinblau, bis schwarz (das schwarze Meer). Es ist interessant – auch für eine genauere Analyse – wie die Dichterin selbst ihre lyrische Vorgehensweise in ihren ausführlichen und polemischen Essays aufdeckt. Da der Weg vom Gedicht zum Prosagedicht lang ist, muss auch Schritt für Schritt theoretisch jener Weg erklärt werden. Doch schon jetzt wollen wir sagen, dass es sehr wichtig beim Schreiben von Poesie ist, sich das eigene Vorgehen bewusst zu machen, zur Quelle der irgendwo entstandenen Landschaften und Bilder zu gelangen. Das Märchen und der Mythos sind ein unerschöpflicher Ausgangspunkt für fast jede literarische Form, die aus Vesna Paruns Feder fließt. „Ich werde mein eigenes Forschungsvorgehen darlegen, damit ein anderer, der das alles nicht erlebte, auf meiner Erfahrung – die potentiell auch die seine ist – die Verknüpfung seiner eigenen Vorstellungen und Kenntnisse, die wiederum auch meine potentiellen sind, aufbauen kann. Sich als Nachkommen der gleichen uralten Phantasie dieser Welt zu fühlen, bedeutet, sich an den Traum unserer gemeinsamen weit zurückliegenden Vergangenheit zu erinnern und zur geistigen Sorglosigkeit zu werden, sich mit ihr zu vereinigen – wenigstens für einen verwunschenen zeitlosen Augenblick, wie er nötig ist für Großmutters Verwandlung einer Schlangen- in eine Menschenzunge, einer archetypischen in eine kommunikative.“ Gerade die angedeutete Kommunikation, die eine wichtige Eigenschaft der Poesie Vesna Paruns darstellt, ist ein paradoxes Phänomen, wenn wir die fast ununterbrochene Metaphorik ihrer Gedichte in Betracht ziehen, die zahlreichen Personifikationen, die Synekdochen, den Abstieg in 112 Tea Ben~i} Rimay: Wenn der Mensch aufhört ... mythische und archetypische Schichten des Bildlichen, tausend Fuß tief unter die Erde! Deutlich auch in der schwierigsten Aussage zu sein, nah und verständlich, dies verleiht ihrer Poesie Gewicht und Kraft, ist ein Zeichen ihres Zeitbezugs, und steht in Verbindung mit ständiger sprachlicher Wandlung, erkennbar auch am formalen Gewand der Gedichte – von unterschiedlichsten Vers- Strophen- und Reimformen, bis zu freien Versen und dem anspruchsvollen Prosagedicht, das bei Vesna Parun wie in plötzlicher Eingebung als eine erstaunliche Fortsetzung schon bekannter Motive aus ihrer früheren formal gebundenen Poesie auftaucht. Die hier gebotene Auswahl der Gedichte Vesna Paruns zeigt ihre fortdauernde, aber auch unerschöpfliche Liebesbeziehung zur Poesie, die sie seinerzeit wütend und vehement von sich wies, als sie den Glauben an sie verlor, an ihrem Zweck und Sinn und an ihren eigenen Anfängen – in Wahrheit an sich selbst – zweifelte. Oft wurde jene Koralle dem Meer zurückgegeben, oft gab das Meer, diese ewige Heimat hilfloser Schönheit, die Dichterin dem Gedicht und dem Leben zurück. Denn es war nicht einfach, die Begeisterung, mit der Vesna Parun die Welt des Gedichts betrat, alle die Klänge und die Magie der Landschaften und die Situationen der Seele, alles Staunen und alle Bitternis, die sie in den Gedichten zum Ausdruck brachte, aufrechtzuerhalten. Deshalb ist es wichtig, eine wesentliche Richtungsänderung im Aufbau ihres reichen Werks zu verfolgen – die Veränderung in Vesna Paruns Liebe und Leidenschaft. Es handelt sich dabei nämlich nicht mehr um nur eine Person, es handelt sich überhaupt nicht mehr um eine Person, sondern um die verwandelte Liebe zur dichterischen Reinheit, um die Sehnsucht nach dem Aufbau eines poetischen Kristalls, ohne überflüssige Worte, wenn Liebe, Leiden- schaft, Begeisterung, Fruchtbarkeit und das angefachte Feuer ihre antithetischen, besänftigten Pole der Weisheit und des Verständnisses erlangen. Die Dichterin sagt das am besten auf ihre Weise: Die Liebe verpflanzt meine Gedanken in die Gärten der Ewigkeit. Aus der Schatzkammer, aus dem Reichtum zwanglosen Dichtens näherte Vesna Parun sich einer weisen, selbstbewussten Beziehung zum Gedicht als einem Wesen. Sie sagt: Der Kristall meines Wesens ist schon geschliffen, Leere und Echo funkeln in ihm. Luzidität und oft auch Scharfsinn, die sie in ihrer Poesie wie auch im Leben entfaltete, bewahrten die innerlich angestaute Kraft, aus der heraus ihr Gedicht wie aus unversiegbarer Quelle erwuchs; brüllend und lärmend brachen die unaufhaltbaren, beweglichen, in den Rythmus und die Harmonie reimender Vierzeiler und Terzetts gebetteten Herden ihrer Worte heraus ins Sonett (Sonet o ~isto}i – Sonett über die Reinheit, Sonet o naran~i – Sonett über eine Apfelsine, Sonet o proljetnoj ptici – Sonett über einen Frühlingsvogel). In den achtziger Jahren engte die Dichterin selbstbewusst die breiten Spektren ihres dichterischen Vokabulars ein und „entblätterte“ – wie Tin Ujevi} – das Gedicht bis auf die nackte Haut, kürzte die Länge der Verse. Durch die Kraft der Erfahrung und der Reife wurde diese Poesie diszipliniert und harmonisch. Der Forscher des Gedichts in Vesna Parun beaufsichtigte jetzt ununterbrochen ihre Poesie. Wieviele Male sagte ich mitten in der Nacht: Lebt wohl ihr Feuer! Ich gehe für immer einer wunderbaren Einsamkeit entgegen... sagt die Dichterin in einem Sonett. Wenn es schien, dass sie sich in ihren ersten Gedichten manchmal am Rande des Sentimentalen, Romantischen, allzu RELA TIONS Empfindsamen oder allzu Hingebungsvollen bewegte (obwohl sie nie ins Pathetische abglitt), in den neueren Gedichten, besonders in der Sammlung Indigo-grad (die ich für die reifste, wichtigste und poetisch stärkste Sammlung halte), zeigte sie die Ursprünge ihrer Empfindsamkeit, den Kontext von Ursache und Wirkung, ließ das Gedicht als Ganzes, sowie seine Struktur harmonischer werden. Wenn für Vesna Krmpoti} die Poesie der vom Vogel gelöste Flug ist, so ist für Vesna Parun die Poesie der Vogel selbst, der nicht oberflächlich wie der Mensch ist, der weiß, dass das Schlagen des Herzens unter der Erde noch stärker ertönt, und statt der beruhigenden Klänge eines Schlaflieds müsste der ganze Wald das Dröhnen des unterirdischen Raums, das der Schmerz hervorrief, hören. Durch ihren ganzen dichterischen Opus, ohne Rücksicht auf den Wandel der Form ihrer Gedichte, zieht sich beharrlich eine Diagonale, eine jetzt schon reife ontologische Kategorie ihrer Poesie, in deren Aufbau Liebe, Träume, Freiheit die Basis bilden. Vesna Parun hört nie auf zu lieben und in der Liebe zu unterweisen, zu träumen und im Träumen zu unterweisen, dem weißen Faden der Freiheit zu folgen. Sie bleibt ihrer Begeisterung für die Liebe treu, der feurigen Leidenschaft und deren Echo, dem Widerschein – wie Dora Pfanova sagen würde. Auch Vesna Parun nimmt in ihren dichterischen Schoß dieses Wort auf, denn auch sie hat wie Dora Pfanova ihre bitteren Wünsche in einem altertümlichen Kästchen der Winde aufbewahrt, das sie einsam an eine Wegkreuzung stellte – damit jedes Menschen Geheimnis daraus widerscheinen soll. Das Meer ist ein unerschöpfliches Thema in Vesna Paruns Poesie. Eher noch könnte man sagen, dass das Meer ihr dichterischer Spiegel ist, es spiegelt ihre Seele bei jedem Wetter wider, im Guten wie im Schlechten, RELA TIONS weshalb sie sagt, wenn du den Weg in meine Seele suchst, führe mich zum stürmischen Meer, oder sie gibt sogar die Wiege dem Meer zurück oder sie selbst ist das Meer von Wut umhüllt. Vor dem Meer, wie auch vor dem Tod, hat sie keine Geheimnisse. Das gleiche Meer entwickelt sich zum Symbol, wenn die Metapher sich selbst überragt, das Zeichen umfasst, das in seiner Größe die kontrapunktischen Motive von Liebe und Tod, Erde und Mond, Heiterkeit und Wut annehmen kann. So entdecken wir noch eine erstaunliche Verfahrensweise in der Poesie Vesna Paruns – sie verschiebt, schmelzt Symbole, denn das gleiche Meer kann auch in seiner Identifikation mit der Seele verschwinden, hinter die andere Seite des Spiegels gelangen (einzig und allein die Poesie ist stärker als das Meer!). Verschwinden heißt nicht sterben, im Gegenteil: In eine milde Schatzkammer treten und seine Blüte hineintragen. Das Meer verschwindet vielleicht, aber es stirbt nicht, sagt die Dichterin. So verschwindet wahrscheinlich auch die Seele, ohne etwas von dem zauberhaften Tod zu wissen, den sie nur mit dem Rand des Flügels flüchtig berührt hat! Die Seele verschwindet und nimmt das, was in ihr aus Gottes Hand blühte, in eine unendlich milde Schatzkammer mit. Was ereignet sich eigentlich in jener unendlich milden Schatzkammer, in die das Meer und die Seele ihre Geheimnisse brachten? Es ereignet sich das Gedicht, denn gerade Vesna Parun zeigt und beweist, dass die Poesie ein Akt der Seele, weniger der Emotionen und des Intellekts ist. Vor langer Zeit gab die Dichterin einem ihrer Gedichte aus der Sammlung Prolazim `ivotom (Ich gehe durchs Leben) den Titel Prava pjesma (Ein wirkliches Gedicht). Darin sagt sie, sie habe schon längst ein wirkliches Gedicht schreiben sollen, als die dunk- Dossier: Vesna Parun len Stunden des Lebens hoch am vergoldeten Zenit des Sommers unbeweglich standen. Natürlich hat Vesna Parun das wirkliche Gedicht schon seit langem geschrieben. Das ist ein Gedicht, das fast nicht erlaubt, dass wir jemals aus ihm hinausgehen, erschüttert vom überwältigenden und aufrichtigen Eindruck, den es auf uns macht. In dieser Auswahl befindet es sich auf dem Ehrenplatz, d. h. an erster Stelle. Mati ~ovjekova (Die Mutter des Menschen) ist ein Gedicht, dass man zuerst als eigene Erfahrung unseres Daseins erlebt, das in einem bestimmten Augenblick so unerträglich wird, dass man dem entsagt, der uns erschuf. Die Gestalt der Frau als Mutter wird bildhaft in animalische (Bär, Schlange) oder sogar unbewegliche, zum Gegenstand gewordene Surrogate (ein Stein) verwandelt. Das Schockante des letzten Verses der ersten Strophe: es wäre besser, dass mich ein wildes Tier mit dem Euter gesäugt, als eine Frau wird in der zweiten Strophe vollkommen gemildert, da die ganze Strophe auf Vogelflügeln in die Höhe fliegen und uns mit dem archetypischen Bild des Baums, der duftenden und blühenden Linde (der Baum der Kindheit!) beruhigen wird. Der freimütige Ausruf des ersten Verses am Anfang des Gedichts scheint aus dem Mund eines zürnenden Mädchens am Bach zu stammen – wie ein geflügeltes Wort oder sogar ein Fluch: Besser, du hättest den schwarzen Winter geboren, o Mutter. Jetzt sind wir von dieser Stelle schon einen ganzen Zivilisationsschritt entfernt, denn dies ist ein Zivilisations-Gedicht, das in seiner hilflosen Schönheit Boden und Höhe, Weltlichkeit und Heiligkeit des menschlichen Wesens entzweibricht. Dieses Gedicht besitzt – entwickelt innerhalb einer pyramidalen Konstruktion – die Kanons eines befestigten und stabilen Bodens, einer Höhle; durch die Steigerung der Auswahl von Lexemen, die eigentlich 113 antithetische Pole des Gedichts sind, steigt es in die Höhe bis zum Vogel – von der Schlange im Nest bis zum Lamm, dem sanften Jungen, von Winter und Kälte zum wärmenden Flügel, zu Zärtlichkeit und Tränen. So erschafft die Dichterin ein wunderbares, wirkliches Gedicht, aus dem schon seit langer Zeit die Botschaft des letzten Verses widerhallt: es ist bitter, ein Mensch zu sein, wenn Messer und Mensch sich verbrüdern. Die Einsamkeit des Menschen, das Erleben des Todes, der Tod selbst, aber vor allen Dingen die Gewalttätigkeit im Menschen hallen mit einem solchen Gedröhn an Bedeutungen wider (Vesna Paruns neuester Gedichtband trägt den Titel: Bubnjevi umjesto srca – Trommeln statt Herzen), dass es unmöglich ist, sie aufzuzählen, unmöglich sie zu vergessen, denn nach jedem wiederholten Lesen, finden wir, selbst wenn wir das Gedicht schon auswendig können, etwas Neues darin, etwas noch nicht Bemerktes obwohl so Kraftvolles, wie jede der Metamorphosen, die es in diesem Gedicht, wie im gesamten poetischen Werk der Dichterin in Hülle und Fülle gibt. Wir dürfen den Titel nicht vergessen – es handelt sich nicht um unsere oder um die Mutter Vesna Paruns, sondern um die Mutter – des Menschen. Alles beginnt dort, wo es wiedererkannt wird, und die Poesie Vesna Paruns muss man von neuem entdecken, auf rechte Weise wiedererkennen. So werden wir auch ihre schwer zu interpretierende Metaphysik deuten, das Wunder des Daseins und des Wiedergeborenwerdens. Wo? Dort wo die großen Flüsse die Nacht erleuchten Und die Wasserfälle den Namen Der noch ungeborenen Welt aussprechen Aus dem Kroatischen von Hedi Blech-Viduli} Veljko Barbieri: Ergreifende Erinnerungen and die ... RELA TIONS Foto: Jakob Goldstein 114 Georgi Gospodinov beim Festival Europäischer Kurzgeschichten RELA TIONS Zeitgenössische Poesie und Prosa 115 Ergreifende Erinnerungen an die dalmatinischen Tafeln Eine Reise in die Vergangenheit und Gegenwart unter dem Einfluss der Serenissima Veljko Barbieri A m dunklen Mahagonitisch, an dem ich seit meiner Kindheit an der tagtäglich durch das Essen gestillten und gezähmten Leidenschaft meiner Großeltern teilnahm, strömte aus alten Schüsseln aus Aluminium, Kupfer, Porzellan oder Silber die kulinarische Geschichte – neben Menüs und Speisen, die sich wohlriechend und dampfend auf dieser stets lebendigen Bühne bewegten und bisweilen das Halbdunkel des Esszimmers mit einem zarten Dunst erfüllten, der auf dem Gaumen sogleich die Empfindung eines bekannten und verlockenden Geschmacks hervorrief oder aufgrund seines würzigen Geruchs die kindlichen Lippen verschloss, da sich diese damals häufig gegen die schweren und in der Regel zum Kult gewordenen familiären Gerichte wehrten. Eine Geschichte der verwickelten, über Generationen mündlich oder schriftlich weiter gegebenen Herkunft dieser Speisen, die in einem dunklen, klebrigen Fleischsaft oder in einer roten Fischsoße, die nach trockenem Weißwein roch, kondensiert wurde. Oder im Dampf, der vom benetzten Braten aufstieg, mit gleicher Intensität aus seiner vergoldeten Haut wie von der Oberfläche eines dampfenden gekochten Fleisch- Veljko Barbieri wurde 1950 in Split geboren. Sein Abitur machte er am Klassischen Gymnasium in Zagreb, wo er später auch an der Philosophischen Fakultät studierte. Er verfasste zahlreiche Prosawerke und seine Romane und Erzählungen wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Er erhielt mehrere Literaturpreise und seine Prosa ist in einheimischen und ausländischen Anthologien vertreten. Sein bekanntester Roman Epitaph eines königlichen Feinschmeckers („Epitaf carskog gurmana“), der die Gastronomie als Ausgangspunkt im Kampf eines Einzelnen gegen die autoritäre Gewalt wählt, wurde in der größten Auflage in der Geschichte der kroatischen Literatur gedruckt und distribuiert. Nach gastronomischen Rubriken in verschiedenen Wochenblättern und kulinarischen Beiträgen im kroatischen Nationalfernsehen schreibt er seit drei Jahren die ständige Kolummne in der Wochenzeitschrift Nacional, aus der das vierteilige Werk Canzoniere der dalmatinischen Küche: Mediterrane kulinarische Erinnerungen („Kuharski kanconijer“) entstanden ist. Nur der erste Band des Canzoniere wurde bis jetzt in vier Auflagen veröffentlicht und ist ein literarischer und gastronomischer Bestseller. Das Buch wurde ins Deutsche, Englische und Italienische übersetzt und vom Verlagshaus Profil herausgegeben. Das gesamte Projekt ist als dreibändiges Werk gedacht, das das gastronomische Erbe unseres Mittelmeerraums, an den Grenzscheiden der Geschmäcker und Düfte, der Epochen und der Zeit historisch und zivilisatorisch darstellt. stückes, dessen Essenz die kräftige dalmatinische Suppe bereits bereichert hatte. Erst viel später, als ich aus diesem großen geerbten Kaleidoskop jede einzelne Speise auszulesen vermochte, als ich die leichten Kalbsgerichte von den schweren betörenden pa{ticadas zu unterscheiden lernte, die aromatischen brujets von den zarten Fischaufläufen, die gewürzten Risottos von den Teigwaren und Gnocchi in ihren {al{as, begann sich diese gastronomische Kette langsam zu einer persönlich erlebten Geschichte zu ordnen. Sie durchzog ganz unmittelbar, dabei völlig unbemerkt, die Wurzeln meiner Ahnen und meiner selbst, und über die Löffel und 116 Veljko Barbieri: Ergreifende Erinnerungen and die ... Gabeln, mit denen die einzelnen Bissen von den Tellern gereicht wurden, durchzog sie auch Küchen, alte Kessel und Gefäße, die immer noch auf den längst erloschenen Flammen rauchten, vom mittelalterlichen Brescia über das humanistische und ungezähmte Venedig der Renaissance bis zum barocken Dalmatien, nach Trogir, Zadar, Split, Hvar, Vis, Makarska und Dubrovnik, all’ das Orte, in denen seit Jahrhunderten meine Vorfahren und meine Eltern leben. Es wäre freilich sowohl anmaßend wie auch unwahr, die eigene familiäre Linie für ein Musterbeispiel jener Dalmatien und dem Mittelmeer eigenen Fähigkeit zur Vererbung zu halten, auch wenn sich diese Linie stützt auf die verloren gegangenen und überlebten Rezepte, die von Mund zu Mund weiter getragen und später in ersten handgeschriebenen Kochbüchern festgehalten wurden, in welchen sich die Sprachen und die Bedeutungen vermischten; in späteren Zeiten gab es ja auch gedruckte kulinarische Handbücher, die ebenfalls sehr persönlich gestaltet und später von unseren Großmüttern durch Anmerkungen ergänzt wurden. Aber auch dieser begrenzten, manchmal beengten Auswahl, die unter anderem von der vererbten Zuneigung zu diesem oder jenem Gericht, zu dieser oder jener Zusammensetzung von Geschmäckern und Gerüchen bestimmt wurde, wohnt eine unverhüllte Vitalität inne, die tagtäglich von der Küche bis zum Gaumen, vom Gaumen bis zum Bauch den Willen zum Leben und zum Genuss festschrieb. Es genügt, mich an die wechselseitige Leidenschaft meiner Großeltern zu erinnern, die sich in den – im Verlauf eines Tages mehrfach wiederholten – Ritualen der Teilhabe am Kochen und am Tisch äußerte, an die Ungeduld, die bis zu jenem Zeitpunkt spürbar war, an dem ein Gericht aus dem Topf meiner Großmutter hervortrat und mei- nem Großvater serviert wurde, an jenes stille, schweigende Genießen und an die abschließende laute Zustimmung, die von ausführlichen Disputen über die Qualität der Speise begleitet wurde, um in dieser persönlichen Geschichte von Zuneigung und Hedonismus die Spur der Zeitumschichtung zu erkennen, die beim Aufstieg Dalmatiens sowohl in den Kesseln großer Umwälzungen wie auch in den Töpfen voller heute verlorener Geschmäcker und Gerüche erkennbar wurde. Auch wenn es nur einen Aspekt zeigt, ist dieses Bild zugleich doch sehr allgemein. Es ist sowohl im Nachhall der scharfen Stimme der Großmutter erkennbar, mit der bei jedem Abendessen mit einem beinahe prophetischen Beiklang verkündet wurde: Morgen werden wir pa{ticada haben, übermorgen gebratene Pute, am nächsten Tag schwarzen Risotto oder frittierten Rochen und so unendlich weiter, bis zu einem Feiertag oder dem Tag eines Heiligen, einer Gelegenheit, bei der alle altertümlichen Menüs in einem Festival familiärer Geschmäcker und kulinarischer Tradition detonierten, wie auch im eingeprägten Genuss dieser Gerichte, die als Unterpfänder der Herkunft und als gekonnt gekochte Stückchen gemeinsamer Rezepte und Zutaten über unseren Tisch und unseren Gaumen glitten. Diese aufregende, nur anscheinend persönliche Geschichte, die meines Erachtens in Dalmatien sowohl in den Tönen des antiken Erbes wie auch der romanischen und kroatischen Erfahrungen erklingt und sich anlehnt an byzantinische, sarazenische, apulische und levantinische Einflüsse, hat das kulturelle und kulinarische Bild einer einheitlichen gastronomischen Region geschaffen, bevor sich die Löwenpranke der venezianischen Republik über sie legte. Ab diesem Augenblick wurde der Einfluss Venedigs, so scheint es mir, RELA TIONS entscheidend. Vor allem ab dem XV und XVI Jahrhundert, als die reiche Küche des Geflügelten Löwen, die auch selbst dem antiken und dem byzantinischen Erbe entstammte und die durch östliche und levantinische Einflüsse bereichert wurde, die Venedig auf demselben Weg wie Dalmatien erreichten und den illyrischen Küsten die Vielfältigkeit der Zubereitung schenkte, die milderen gastronomischen Akzente, die vermischten Grundlagen aus geschmolzener Butter und Olivenöl, die wieder entdeckten Teigwaren und Risottos, gefüllte Kopffüßler und Salate aus Meeresfrüchten, verfeinerte Gerichte aus Wild, Geflügel und Fisch, die Jahrhunderte lang in den Lagunen der Republik entwickelt wurden. Die Republik begann im Gegenzug allmählich den dalmatinischen Kohl zu genießen, das dalmatinische Gemüse, Safran, Salbei, Origano, Thymian, Mandeln und Johannisbrot, gesalzene Sardellen und Anchovis, Öl, Wein, aber auch geräuchertes Fleisch und geräucherten Fisch, die für Feierlichkeiten nach Venedig exportiert wurden, lange bevor Mitte des XV Jahrhunderts jener Abenteurer Pietro Querini den Stockfisch aus dem Norden mitbrachte. Eine kurze Aufzählung, der ich noch in den Menüs meiner Großmutter lausche und in denen noch tiefer zu graben sich lohnen würde, um daraus schöpfen zu können, wie mit einem Löffel im tiefen Porzellan der Zeit. Bis hin zu jenem gemeinschaftlichen, wahrhaftig rituellen Mord, bei dem die Zähne zum ersten Mahl in das Fleisch der lebenden Muschel vordrangen und mit dem eine Entwicklung beginnt, die bis zu jenem Augenblick führt, in dem der gepresste Saft einer wilden Apfelsine oder einer Zitrone das Sterben der Kreatur erschwerten und einem mittlerweile vergessenen Feinschmecker einen echten gastronomischen Genuss verschafften – jenem Augenblick, in dem die Küche RELA TIONS und die Kunstfertigkeit der Zubereitung von Speisen geboren wurden. Ein mit Vorsatz angewandtes Verfahren zur Veränderung der chemischen Zusammensetzung von Lebensmitteln, erhoben zu einem hedonistischen und überaus intellektuellen Akt. Auf der üppigen und lustbetonten dalmatinischen Tafel gibt es viele Reste aus uralten kulinarischen Zeiten, verborgen in oder ausgegraben aus den Ablagerungen großer Höhlen, wie aus jenen auf der Insel Hvar, in denen im Zeitraum vom 6. bis zum 1. Jahrhundert vor Christus Tierknochen, meist von gezüchteten Ziegen und Schafen, aber auch von Wild, wie auch Muschelgehäuse und Fischgräten gelagert wurden – neben Fragmenten neolithischer ritueller und landwirtschaftlicher Gefäße zur Aufbewahrung von Getreide und Körnern, griechischer und römischer Pfannen und Schüsseln, in denen das Erbe von Arhestrat und Apicius noch nicht erloschen ist und das heute noch präsent ist in den noch beliebten Speisen aus Innereien wie den dalmatinischen Kutteln oder den einheimisch gewordenen Speisen aus verschiedenen Leberarten, die unsere Familientafel zierten. Ihre Provenienz ist vollkommen venezianisch, allerdings in einer uns angepassten Form, wie bei der Leber dolce garbo oder jener alla veneziana. Aber auch hier, in diesem süß-sauren Ensemble, leben die Antike und das Mittelalter fort, der Genuss und das Ritual, in dem die gedünsteten Innereien mit guten und schlechten Vorzeichen vermischt werden, die die griechischen Hieromnamons und die römischen Haruspexe aus den Eingeweiden geschlachteter Tiere und die Mönche in der lebenden Inkarnation des Christus-König sahen. Über unsere Tafel zogen sowohl die ruhmreichen dalmatinischen le{adas, gregadas und brodets, dicke Fischaufläufe, deren Vorlagen ebenfalls in der gastrono- Zeitgenössische Poesie und Prosa mischen Mittelmeergeschichte brodeln, und Varianten davon mit ähnlichen oder gleichen Namen und etwas anderer Zubereitungsart duften von Portugal und Spanien bis in die Provence, nach Ligurien, Veneto, Istrien und Dalmatien. Die ganze gastronomische Welt ist in eine allgemeine hedonistische Weltanschauung verwoben. Dalmatien hat freilich jeden dieser Einflüsse aufgesaugt, angefangen von der archaischen und verhältnismäßig enthaltsamen, aber gewürzten Küche ihrer Polis-Städte Pharos und Issa, in der das Meer und das Festland ebenbürtig vermischt wurden, Seeigel und Muscheln, geopferte Welpen und Singvögel, Scampi und Krabben in Honig, Lammund Ziegenfleisch mit dem starken Wein und Essig der ionischen und dorischen Siedler dieser Provinzen. Später die der entwickelten und hohen Küchenkunst der römischen Zentren und Großstädte wie Jader, Salona und Narona, künftiger bedeutsamer byzantinischer und venezianischer Besitztümer, die in der imperialistischen Epoche bei den üppigen Festgelagen überall in den Munizipen und Kolonien zu Ehren kam. Es wurde kaum ruhiger an den verrauchten Feuerstätten und in den Weinschenken vom VI bis zum X Jahrhundert, als sich die Geschmäcker und Glaubensbekenntnisse der adriatischen Romanen, die die antiken und byzantinischen Namen der Fische, der Kochtechniken und der Gerätschaften übertrugen, mit denen der ersten angesiedelten Kroaten vermischten, die uralten Fladenbrote, die gleichermaßen den antiken, levantinischen, dalmatinischen und venezianischen Tisch zieren, mit den biblischen Brotlaiben, der hellenistische gesalzene Fisch mit neuen Kunstfertigkeiten. Und wenn zur Sommerzeit die mir damals verhassten und meinem Großvater so lieben gefüllten Auberginen auf dem Tisch erschienen, wurden ihre im Ofen über- 117 backenen Hälften plötzlich zu schnellen Booten der Sarazenen, die neben Konflikten und Brandstiftungen auch die Gerüche und Geschmäcker des italienischen Südens mit sich brachten, Siziliens, Nordafrikas und der Levante, den schon vergessenen Reis, Kichererbsen, Gewürze, Obst und Gemüse, welche die Wüstenreiter zusammen mit dem wieder entdeckten alten Können in die eroberten Gebiete trugen. Das napoletanische und sizilianische, hohenstaufensche und anjouische Königreich importierte vom XI bis zum XIV Jahrhundert seine ebenfalls durchmischte gastronomische Hinterlassenschaft nach Dalmatien und an das gemeinsame Mare Nostrum und brachte venezianische und dalmatinische Gewürze, Techniken, Lebensmittel und Veredelungen mit ihren unschwer erkennbaren gemeinsamen Wurzeln in seine Besitztümer zurück. An jenem Mahagonitisch, an dem ich immer noch meine Großeltern sitzen sehe, verbindet sich die Erinnerung an diese Zeiten mit schweren, gedünsteten Speisen aus Fisch und Fleisch, die alle mit dem euphemistischen Beiwort „wie Wild“ tituliert wurden, mit Rosmarin, Knoblauch und Petersilie, begossen mit Weinessig, mit der einen oder anderen verirrten Gewürznelke und etwas Muskatnuss. Diese Speisen scheinen die kreuz und quer laufenden Wege, in deren Mitte gerade Dalmatien lag, zu durchkreuzen, sie wenden sich gleichermaßen den alten venezianischen Aufläufen aus Fisch und Fleisch aus der Zeit des Ruhms zu, bevor Dalmatien und Serenissima, ihre Märkte und Küchen vom Gemüse aus den beiden entdeckten Amerikas überflutet wurden. Und obwohl der venezianische und der dalmatinische Tisch nun auf ein kleines Meer beschränkt waren, in einer Zeit, die gerade die Kontinente entdeckte, erlebten gerade der Geschmack, die Rezepte und das Wissen, die über den mittelalterli- 118 Veljko Barbieri: Ergreifende Erinnerungen and die ... chen Horizont hinaus gingen, ihre Auferstehung in der Renaissanceküche, die von Venedig und vom Mittelmeer beeinflusst war, in den bedeutsamen Werken von Maestro Martin, Bartolomeo Platina und Bartolomeo Scappio, in welchen man wieder die belebte Lust der hausgemachten maccheroni, der dalmatinischen makaruni, der istrianischen fu`i spürt, von Malvasia und Plavac und von einem Strauß aus aromatischen Pflanzen, deren Duft von dalmatinischen Tellern zu den humanistischen italienischen Tafeln strömt, um von dort veredelt zurück zu gelangen. Etwas später färbt sich der gastronomische Horizont rot durch die aus Neapel kommende Tomatensoße, die Felder und Mündungen großer Adriaflüsse werden gelb von Polenta und vom Mais, diesen Stützen der venezianischen und dalmatinischen Gastronomie, und noch später werden Paprika und Kartoffeln auf den Tisch gebracht, zusammen mit Hülsenfrüchten, den künftigen Ernährern Europas und der Adriaregion – diese werden das alte Bild der gastronomischen Welt verändern. Wie viele andere wichtige Errungenschaften, die die Spanier und Portugiesen schrittweise aus Amerika und Asien brachten, so werden auch diese zunächst nach Venedig und dann nach Dalmatien kommen, manchmal nach Serenissima aus dem Norden Italiens und nach Illyrien aus dem Süden, aber nie mit einer großen Verspätung gegenüber den immer erreichbarer gewordenen französischen und europäischen Tafeln. Denn die adriatischen Zentren waren im kulinarischen und gastronomischen Sinne bereits gut organisierte Kommunen. Durch ihre mittelalterlichen und Renaissance-Statuten waren die Handelsweisen und -orte von Fleisch und Fisch vorgeschrieben, die Bedingungen für Export und Import, die im Kolonat geregelten Besitzverhältnisse der Grund- stücke, die Zucht von großem und kleinem Vieh. Immer wenn ich mich an eine anspruchsvolle Speisefolge meiner Großmutter erinnere, von buzara, marinada, Risottos und Suppen über gefüllte Tintenfische zu großen gegrillten Fischen, erinnere ich mich gleichzeitig an die Hunderte ordentlich beschriebener Blätter von Verordnungen, die in den Verträgen der Fischer, Händler und Nahrungsverarbeiter vom XV bis zum XIX Jahrhundert erwähnt werden und die sowohl die Entwicklung dieser Zentren an der Adria und am Mittelmeer beeinflusst haben, wie auch die Qualität des Lebens und der Ernährung all’ ihrer Bewohner. Die Mahlzeiten konnten mit luftgetrocknetem Schinken und Würsten beginnen. In früheren Epochen mit den heute vergessenen tinguli – Tunken aus Vögeln, Tauben, die mit kleingeschnittenem Speck, Knoblauch, Zwiebeln, Sellerie, Weißwein und Lorbeer gedünstet wurden, mit ein wenig Nelke und Safran. Mit Kutteln und Risottos aus Fleisch oder aus Muscheln und Krebsen, gewürzt mit demselben Safran, mit Rebhühnern im eigenen Saft oder mit großen Tabletts, auf denen gebratene Hühner, Kapaune, Gänse und Enten in Soßen aus wilden Apfelsinen, mit welchen manchmal auch die zeitgenössischen Dalmatiner ihren gebratenen Fisch beträufeln, aneinander gereiht wurden. Diesem Gang folgt der harte und herbe Schafs- und Ziegenkäse oder der junge, in aromatischen Kräutern eingelegte, danach kamen Torten aus Mandeln und Maraschino wie die berühmte Torta Macarana, erneut eine starke gastronomische Erinnerung an die Kindheit, die ravjioli, die sich zusammen mit dem Karneval aus Venedig eingeschlichen haben, fritule, kro{tule und pa{urate. Das Barock wurde langsam von der Aufklärung abgelöst, und im immer weniger wichtigen Dalmatien, das immer noch unter RELA TIONS der Obhut von Serenissima, dessen Glanz dank den Menüs von Canaletti, Goldoni und Casanova erhalten wurde, stand, in dieser vernachlässigten Provinz also pflegte man – natürlich bei feierlicheren Anlässen, bei Gesprächen, die für die Schicksale vieler damals schon angeschlagener Kommunen vermeintlich wichtig waren, – auch jene Speisen aus Artischocken aufzutischen, die meine Großmutter alla dalmata zubereitete, in einer Soße aus Knoblauch, Petersilie und Semmelbröseln, gekocht mit Saubohnen und Erbsen, des weiteren Lammfleischgerichte aus den Berg- oder Inselregionen, im Frühling ein Zicklein am Spieß, im Herbst, während der Weinlese, gegrillte Frikadellen aus Hammelfleisch, ferner Hasen und Kaninchen, bei winterlichen Festlichkeiten auch einmal ein gebratenes Spanferkel, aber am häufigsten die schon so oft erwähnte pa{ticada, die unter allen dalmatinischen Speisen am ehesten einen Kultstatus erreicht hat, die direkte Vorgängerin oder die Weiterentwicklung der venezianischen pastissada aus einer zarten Rindernuss. Als Beilagen wurden alle Arten von Blattgemüse gereicht: Mangold, Ginster, Mischungen aus verschiedenen Sorten. Spargel im Frühling, die raren Trüffeln im Herbst. Nach dem Tod Venedigs im Sand der bonapartistischen Arena, nach einer kurzzeitigen französischen, englischen und dann der langen österreichischen Herrschaft, begann sich die dalmatinische Küche langsam der europäischen anzunähern und ihre Tische füllten sich immer öfter mit verschiedenen Suppen, Gulaschs, Ragouts und Koteletts, Wiener Schnitzeln, Süßwasserfisch in Wein, Butter und Öl, Nudeln und Risottos, ergänzt durch neue Soßen aus Fleisch oder aus Meeresdelikatessen, in denen zugegebenermaßen die dalmatinische und venezianische gastronomische Hinterlassenschaft wieder eine Rolle spielte, Zeitgenössische Poesie und Prosa 119 Foto: Jakob Goldstein RELA TIONS Lucia Etxebarria beim Festival Europäischer Kurzgeschichten aromatische Kräuter und Pflanzen, Kapern und Oliven, der gesalzene oder der schöne frische Fisch, frisches und geräuchertes Fleisch und wohlriechendes Mittelmeergemüse, zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits in ein neues kulturelles und gastronomisches System eingegliedert. Es kommt nicht selten vor, dass in dem von der Hand meiner Urgroß- und Großmutter geschriebenen Rezeptbuch Anweisungen zur Zubereitung von venezianischem riso in cavroman, dalmatinischem Reh „wie Wild“, französischen timbales de cervelle und österreichischem Käsekuchen in trauter Nachbarschaft vorzufinden sind, bei immer stärker anwachsender Präsenz der damals etwas exotischen otomanischen und balkanischen Einflüssen der sarma und verschiedener dolmas. Ein bunter kulinarischer Fächer, in dem sich die ersten Anzeichen der Vereinigung der allgemei- nen europäischen Küche mit der partikulären dalmatinischen Tradition zeigen, ja auch mit jener venezianischen – keine Ausnahme innerhalb der neuen gastronomischen Tendenzen des XIX Jahrhunderts, dieses bürgerlichsten aller Jahrhunderte, in dem zugleich die Republik auf den Lagunen und die kleinen oligarchischen Stadtstaaten verschwanden, unter ihnen Dubrovnik, wo meine Familie ebenfalls gelebt, gekocht, gegessen und das Leben genossen hatte. Ich sehe wieder, wie ich mich an jene dunkle Tafel niedersetze, während die Gerichte unter den Lichtbändern, die durch die geschlossenen Fensterläden fallen, glitzern. Eine Spannung, die nur feierlichen Augenblicken eigen ist, verströmt von der duftenden Oberfläche der Speisen, die ihre lange Geschichte ausstrahlen. Über einem von Dampf umhüllten Teller zeichnet sich die Silhouette meiner Großmutter ab, die etwas erklärt, verloren im Hintergrund der großen Vitrine, aus der mich glasierte Pagoden und Brücken aus chinesischem Porzellan anstarren, eine Landschaft, der in jedem Augenblick Marko Polo entspringen und uns die ganze Welt seiner großen Entdeckungen darbieten könnte. Die Sagen über die Nudeln vermischen sich mit den Legenden über seine Abstammung von der Insel Kor~ula, und mein Großvater probiert zufrieden die dargebotenen Speisen und spinnt Geschichten über ihre jeweilige Herkunft. Vor ihm die feierlich gedeckte Tafel, auf die Großmutter gerade die Creme aus Stockfisch stellt, die wir einst wie Leberwurst dick auf frisch getoastetes Brot schmierten. Direkt danach bietet sie uns den dalmatinischen Stockfisch „weiß“, der mehr einer Suppe ähnelt als der venezianische. Mit dem dalmatini- 120 Veljko Barbieri: Ergreifende Erinnerungen and die ... schen roten brodet aus diesem schon heimisch gewordenen getrockneten nördlichen Fisch endet der Fastentag, und schon beginnt der nächste, an dem dicke Fischsuppe serviert wird, Muschelrisotto, Kraken, Sepias und Tintenfische in einer dunklen Soße mit Polenta und geriebenem harten Ziegenkäse und am Schluss der gekochte oder zart gratinierte Fisch aus dem Backofen. Wir essen schweigend in der Erwartung des Fleischfeiertages. Und schon kommt die klare Kalbssuppe, und dann duftet aus der Küche die pa{ticada mit den hausgemachten Gnocchi und Maccheroni, die meine Großmutter am Vortag vorbereitet hat. Es folgt die gebratene Putenbrust mit Kastanien und Lammfleisch mit Kartoffeln aus dem Ofen. Am Ende wird aus der Kristallkaraffe Wein in die Gläser gegossen und zusammen mit dem Rubin und dem Gold gleiten die Gestalten unserer gemeinsamen Vorfahren aus Venedig nach Dal- RELA TIONS matien und zurück, aus dem uralten Dalmatien nach Venedig, aus der Karaffe in das Glas und aus dem Glas in die Karaffe zurück und werden in meinem Bewußtsein wie Wirklichkeit in Erinnerungen umgefüllt, wie Nahrung in Entstehung, wie Gegenwart in Vergangenheit, wie das Leben in den Tod. Aus dem Kroatischen von Alida Bremer Rezepte zum Text: Gregada von der Insel Hvar: In Wasser kochen wir 1 Kilogramm in Scheiben geschnittener Kartoffeln mit 1 Kilogramm in Ringe geschnittener Zwiebeln, 5 Knoblauchzehen und einem Bund kleingeschnittener Petersilie zu 2 Kilogramm festem Fisch – Meeraal, Seeteufel, Drachenkopf und weißer Fisch. Wenn es zu kochen beginnt, werden eine Tomate und einige Lorbeerblätter in die gregada gegeben. Etwas später nehmen wir mit einem Sieb ein Drittel des bereits gekochten Gemüses ab und zerdrücken es zu einem Püree und geben es zurück in den Topf. Wir fügen Salz und Pfeffer hinzu, gießen 100 ml Olivenöl dazu und lassen es noch einmal kurz kochen, bis alles dick geworden ist. Ganz zum Schluss empfiehlt es sich, ein Glas trockenen Weißwein zuzugeben. Dalmatinische pa{ticada: Lassen Sie eine gespickte Rinder- oder Jungbullennuss (2 Kilogramm) einen Tag und eine Nacht in einer Marinade aus verdünntem Wein, Weinessig und aromatischen Kräutern liegen. Dünsten Sie sie mit 1 Kilogramm kleingeschnittener Zwiebeln, zwei Möhren und einer Selleriewurzel und begießen sie Sie dabei behutsam mit der Marinade. Wenn das Fleisch von allen Seiten Farbe bekommen hat, fügen Sie zwei Teelöffel Tomatenmark hinzu, gießen Sie ein Glas pro{ek und ein Glas Rotwein darüber, salzen Sie und pfeffern Sie nach Geschmack, fügen Sie Nelken und Muskatnuss hinzu und löschen Sie allmählich mit Wasser und mit einem dicken Fleischfond, so lange, bis das Fleisch im klebrigen dunklen Saft weich geworden ist. Nehmen Sie das Fleisch heraus und schneiden Sie das Stück in Scheiben; diese begießen Sie mit dem durchsiebten Saft der pa{ticada, in dem Sie getrocknete Feigen gekocht haben. Reichen Sie das Gericht mit hausgemachten Gnocchi oder mit Maccheroni und mit geriebenem harten Käse. Torta Macarana: Für den Teig benötigt man 400 Gramm gesiebtes Mehl, 3 Eigelbe, 200 Gramm Butter, die geriebene Schale einer Zitrone, ein wenig Maraschino und 2 Esslöffel Zucker. Die Zutaten werden gut verknetet, bis der Teig geschmeidig ist. Mit einem Nudelholz wird aus ca. 2/3 des Teiges ein ziemlich dünner Tortenboden gerollt; mit diesem Boden wird eine flache, breite und eingefettete Form von allen Seiten belegt. Mit einem Löffel wird die Füllung hinzugefügt. Füllung: 1 Kilogramm leicht gerösteter Mandeln wird gemahlen, 1 Kilogramm Puderzucker und etwas Vanille mit den Mandeln vermischt. 15 ganze Eier werden geschlagen, die Mandeln mit dem Zucker, die geriebene Schale einer Zitrone und einer Apfelsine, 1 geriebene Muskatnuss und 2-3 Gläschen Maraschino werden hinzugefügt und alles gut vermischt. Vom Rest des ausgerollten Teiges werden Streifen geschnitten; diese werden wie ein Netz über die Füllung gelegt. Die Torte wird 45 Minuten bei guter Hitze gebacken. Anschließend wird sie reichlich mit Maraschino beträufelt und mit Puderzucker bestreut. RELA TIONS Zeitgenössische Poesie und Prosa 121 Der Sommernachtstraum Alida Bremer Man stirbt leicht in diesem Kaff – sagte Jozo nachdenklich. Er schwenkte den Wein in seinem Glas. – Wie meinst du das? – meldete sich Ana, seine Frau. Wir saßen in ihrem Garten, auf der Terrasse direkt vor der Küche, und da sich über uns der Balkon erstreckte, bildete er eine Art Vordach, so dass die Einrichtung hier draußen wie in einem Wohnzimmer wirkte. Hier tranken wir morgens Kaffee und abends Wein. – Habt ihr nicht ein anderes Thema? – fragte ihr Sohn Marko, ein junger Mann mit dichtem schwarzen Haar, unter dem er schwitzte. Ich sagte gar nichts. Die Hitze dieses Juni-Tages hatte etwas nachgelassen, und ich genoss es, endlich ruhiger und tiefer atmen zu können. – Ich erinnere mich an all die Toten in den letzten Jahren – setzte Jozo in dem gleichen nachdenklichen Ton fort, als hätte er die beiden gar nicht gehört. – Stipe stand plötzlich im Hinterhof und rief um Hilfe, und hinter ihm hörte man seine Frau röcheln. – Mein Gott – seufzte Ana. – Muss das jetzt wirklich sein? Sie hatte doch Magenkrebs. – Ich habe sie gemeinsam mit Stipe ins Krankenhaus gefahren. Sie kam nicht mehr zurück. Und dann der Nachbar Ivo. Er wollte zu Weihnachten seine Tochter besuchen. In Zagreb. Das verwöhnte Ding hat in Alida Bremer, geboren 1959 in Split/Kroatien. Mit ihrem Mann und zwei Kindern lebt sie in Münster. Freie Autorin und Übersetzerin. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Romanistik, Slavistik und Germanistik in Belgrad, Rom, Münster und Saarbrücken. Langjährige Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lektorin an den Universitäten in Münster und Gießen. Arbeitsschwerpunkte: Literatur- und Kulturtheorien, Erzählforschung, Frauen- und Geschlechterforschung, kroatische, bosnische und serbische Literatur – Forschungsprojekte, Artikel, Essays und andere Texte zu diesen Themen in Deutschland und Kroatien. Zahlreiche Übersetzungen aus dem Kroatischen, Serbischen und Bosnischen ¹Gedichte, Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Essaysº. Zagreb studiert und vergessen, dass der Vater, der den Spaß bezahlte, hier alleine ist. Und das zu Weihnachten. Wenn in seinem Garten die Mandarinen so groß wie Tennisbälle sind. Der Zug blieb sieben Stunden lang im Schnee stecken, die Lokomotive hatte eine Panne. Natürlich hatte der Zug keine Heizung. Und unser Ivo holte sich eine Lungenentzündung und starb. – Jetzt kommen alle Verwandten und Bekannten an die Reihe, einer nach dem anderen – sagte Marko in meine Richtung und zwinkerte mit den Augen. Mit seinen schönen Augen. Der plötzliche Tod unseres Nachbarn (sein Haus liegt zwischen meinem und dem von Jozo, Ana und Marko) hatte uns alle geschockt, und ich konnte nur schweigen. Eine Kat- ze huschte durch die blauen Hortensien, auf die Ana besonders stolz war. – Die Jagd beginnt – zwang ich mich zu sagen, und ich zeigte mit dem Finger auf die Katze. Jetzt verstummte auch Jozo, und wir alle sahen der Katze nach. Vom Meer kam endlich eine milde Brise auf, und am Himmel zeichneten sich die Sterne immer deutlicher ab. Irgendwo in der Ferne lachte jemand. – Sag mal – fragte mich plötzlich Marko – wie kam es eigentlich, dass William hier landete? – Tot – sagte Jozo ganz leise. – Mausetot ist er, und noch gestern hat er mir von seinem neuen Außenkamin mit Grill erzählt. Er wollte ihn ganz fein mauern, aus Stein, mit allen Schikanen. Der Alte tat es auch, aber der gute alte Willi wollte es immer 122 Alida Bremer: Der Sommernachtstraum ganz besonders gut haben. Ich meine mit dem Haus. Das war ihm besonders wichtig. Er hat auf jede Kleinigkeit geachtet, jede Blüte sah aus wie aus dem Bilderbuch, und nur er hatte diese komischen Korbsessel, die meine Frau so vornehm findet, aber bei uns hat man so etwas nicht. Wir achten doch nicht auf die Farben der Sitzkissen und Markisen! Sind eigentlich alle Engländer so? – er blickte zu mir. Ich kam mir nicht gerade als Expertin für britische Verhältnisse vor. Die einzige Qualifikation, die ich hatte, war meine Reise nach Leeds vor zwei Jahren, die beim sonst sehr verschlossenen William dazu geführt hatte, dass er mir etwas mehr erzählte, als er es üblicherweise tat. Er konnte mit mir Englisch sprechen, und das war vielleicht das Ausschlaggebende, denn sein Kroatisch war schlecht, und wenn man ihn vom Weitem reden hörte, glaubte jeder, dass er Englisch spricht. – Verstehst du eigentlich Englisch, Marko? – Nein, wir alle nicht – antwortete Ana. – Erzähl schon – drängte Marko. Die Schweißperlen bildeten einen Kranz auf seiner Stirn. Die kleine Lampe an der Außenwand des Hauses beleuchtete ihn, während wir anderen im Schatten saßen. – Gut. Ja, ich glaube, dass das schon sehr britisch ist, die Farbe der Sitzkissen in seinen Korbsesseln mit der Farbe der Blumen auf der Terrasse abzustimmen, oder bei unseren Wasserverhältnissen den Rasen zu sprengen. – Ich habe ihm immer gesagt, was ich darüber denke – brummte Jozo. – Er hat auch Tee getrunken. Kaffee lehnte er strikt ab und machte sich damit im Ort unbeliebt. Immerhin ist das unsere Lieblingsbeschäftigung: zum Kaffee vorbei zu kommen – sagte Marko. Es war unheimlich, dass der Nachbar William morgens nicht mehr über den Zaun grüßen würde. Sein grauhaariger Kopf tauchte immer zwischen den lilafarbenen Blüten einer Bougainvillea auf, wenn ich vorbei ging, um Brot zu holen. – Wir wissen alle, dass er seine englische Frau und die gemeinsamen drei Kinder wegen Kata verlassen hat. Aber ich glaube, er war nicht geschieden, womöglich erbt jetzt die Frau sein Haus. Ob sie das überhaupt interessiert? Vielleicht wegen der Kinder, aber vielleicht legt sie auch keinen Wert darauf. Er hat Kata kennen gelernt, als die Befreiung der Küste durch den gemeinsamen Kampf der Partisanen und der Engländer gefeiert wurde – das war noch unter Tito. Die schöne Kata stand in Volkstracht und mit Blumen in den Händen am Flughafen, und da haben sie sich zum ersten Mal gesehen. Er war persönlicher Referent von irgendeinem wichtigen Menschen oder so etwas. Da Kata nicht nur schön, sondern auch ehrgeizig war, wurde sie auch in den nächsten Tagen als Dekoration benutzt. Alle anderen Mädchen wurden nach Hause geschickt. Wie sich die Liebesgeschichte dann entwickelt hat, weiß ich nicht, auf jeden Fall ist William nach einigen Monaten wieder gekommen. – Das wusste ich schon alles, aber warum ist er geblieben, als sie ihn verlassen hat? Diese Frage hätte ich ihm gerne gestellt, aber es war mir unangenehm. Dabei haben wir uns jeden Tag gesehen! Aber er hat nur über seine Weintrauben, seine Feigen, seine Granatäpfel und sein Boot gesprochen. Die Nachtluft duftete nach Rosmarin und Meersalz. Ana und Jozo atmeten beide tief und ruhig, als würden sie schlafen. Ich senkte etwas meine Stimme: – Dass Kata nicht zurückkommt, war ihm schon klar. Sie war so wenig verwurzelt hier. Als ob sie nicht aus unserem Dorf wäre. Aber er hat sich hier eingelebt. Und er wusste nicht, wie er ein neues Leben in England beginnen sollte. Innerlich war er zer- RELA TIONS rissen. Denn wegen seiner Heimat hat er mindestens so stark gelitten wie wegen Kata. Allerdings nicht stark genug, um dieses Meer zu verlassen. Und die Sonne. „Siehst du meine Zitronen, Rozana?“ hat er mich oft stolz gefragt. Ana unterbrach mich so überraschend aus der Dunkelheit, dass ich in meinem Sessel hochfuhr. Oder kam mir ihre Stimme nur deshalb zu laut vor, weil sich die dalmatinische Nacht über uns gelegt hatte? – Glaubst du, dass er sie wirklich so geliebt hat? – Wen? Die Zitronen oder Kata? – Kata. – Ja, ich glaube schon. – Ich spürte, dass es falsch war, das zu sagen. Etwas lag plötzlich in der Luft, eine Spannung, die nicht hierher gehörte. – Nimm noch etwas Wein, Rozana – sagte mir Jozo und füllte darauf mein Glas, ohne dass ich mich gerührt hatte. – Was interessiert es uns, warum William hier geblieben ist? Er war ein Holzkopf, wenn du mich fragst. Doch ich hörte ihm kaum zu. Eine Hortensie verwandelte sich in den runden Kopf der Chashire Cat. In einer langsamen Prozession glitten vor meinen Augen die möglichen Enden dieser Geschichte mit tödlichem Ausgang vorbei: William hatte ein Auge auf unsere Ana geworfen, und Jozo hat ihn umgebracht. Ana hat ein Auge auf William geworfen, und da er nur von Kata schwärmte, hat sie ihn umgebracht. Mit einem selbst gemachten Nachtisch aus Giftbeeren. Marko hat gespürt, dass zwischen Ana und William etwas läuft, und da er alles tun würde, um seine familiäre Idylle auf dieser Terrasse zu retten, hat er ihn umgebracht. Ich war in Marko verliebt und habe gehört, dass Kata seinetwegen William verlassen hat, und dann wollte ich sie umbringen, aber da sie nicht RELA TIONS andersetzung hat sie William eine tödliche Spritze verpasst. Die funkelnden Augen der Grinsekatze waren erloschen. 123 – Willst du noch Wein, Rozana? – fragte Anas weiche Stimme aus dem Nichts. Ich hörte sie kaum noch, da mich ein süßer, schwerer Schlaf überkam. Foto: Jakob Goldstein aufzutreiben war, habe ich William umgebracht. Die englische Ehefrau war zurückgekehrt und nach einer kurzen Ausein- Zeitgenössische Poesie und Prosa Hans Gunnarson beim Festival Europäischer Kurzgeschichten 124 Da{a Drndi}: Leicaformat RELA TIONS Leicaformat ¹ Auszugº Da{a Drndi} Es war ein kranker Winter, ein krank-warmer Winter. Die Tiere unterbrechen ihren Winterschlaf, kommen auf die Lichtung und taumeln umher wie Geister – völlig verwirrt. Der Ginster blüht. Die Zweige werden grün, überall Knospen, die Stadt kann kaum atmen unter dem Mantel aus dichter Feuchtigkeit, die auf ihr klebt wie der Schweiß auf dem Gesicht einer Frau in den Wehen. Die Geräusche sind gedämpft, das Leben surrt trübe, kein Echo, kein Sprechen, nur Geflüster. Wenn ein Glas fällt, dann fällt es dumpf, es zerspringt nicht. Die Schiffssirenen melden sich, als bereite sich Die lange Reise in die Nacht vor, die Eisenbahnlinie ist unterbrochen, die Fußgänger schweigen, während sie sich schleppend fortbewegen, als würden ihre Füße an den steinernen Straßen festkleben, und es scheint, als schmelze der Stein. Das Licht bewegt sich trunken, es zwängt sich durch die Ritzen der Wirklichkeit, und dann gibt es auf, kehrt in sein Versteck zurück, dort oben über dem Berg, der genauso wie das Meer unter ihm schweigt. Das Meer tritt über die Ufer und verschmilzt mit dem Regen, verliert sein Salz und seine Kraft, wälzt sich über die Straßen, die Erde kann es nicht aufnehmen, da sie voll und aufgedunsen ist, sie kann nicht, Da{a Drndi} wurde 1946 in Zagreb geboren. „Ich hatte einige ganz verschiedene Leben in einigen ganz verschiedenen Städten in einigen ganz verschiedenen Ländern zusammen mit verschiedensten Menschen.“ Sie lebte lange in Belgrad und kehrte im Krieg nach Kroatien zurück, emigrierte von dort nach Kanada und kehrte nach bitteren Emigrantenerfahrungen erneut nach Kroatien zurück... Heute lebt sie in Rijeka, lehrt an der dortigen Anglistik und schreibt. Sie studierte Medizin, Anglistik und Dramaturgie, schrieb 30 Hörspiele, viele Dokumentarsendungen für den Rundfunk, übersetzte aus dem Englischen und veröffentlichte folgende Prosawerke: Der Weg zum Samstag, Stein vom Himmel, Sterben in Toronto, Canzone della guerra, Totenwande, Doppelgänger, Leicaformat und Sonnenschein. und das Meer läuft in die Gullys. Die Stadt ist übersät mit Salzkristallen, sie funkelt grau-weiß, vor allem im Traum; würde es doch nur schneien. Würde es doch nur schneien, lange und trocken, damit alles einfriert und erhalten bleibt. So aber droht der Stadt unter dem Regenmantel aus Feuchtigkeit Zerfall, eine langsame, gründliche und schmerzhafte Fäulnis. An einer einsamen Stelle und doch in der Nähe der Stadt wächst eine Fichte und stößt einen herzzerreißenden Schrei aus. Eine großartige Fichte, achtundzwanzig Meter hoch, siebzig Jahre alt, bei bester Gesundheit, eine königliche Fichte mit ausladenden und festen Ästen, mit denen sie in Richtung Himmel winkt, und schwarze und rote Beeren zittern und beben wie fröhliche Tränen, die nicht fließen, sondern nur ihren Glanz und ihren göttlichen Duft verbreiten. Eine schwere Fichte, sieben Tonnen, die ihren Harz an die einsamen, kleinen Kapellen und Kirchen in der Umgebung verschenkt, wo er zu Weihrauch wird – als wäre es der Extrakt ihrer Seele. Wir werden nur den besten Honig an unseren Quellen sammeln, nur den Weihrauch aus den verborgensten, wohlriechendsten Ideen. Und dann halten – in diesem feuchten, klebrigen und schweren Winter – Kräne unter der einsamen Fichte, unter der Fichte, die sich von der unvorhersehbaren und unangekündig- RELA TIONS ten warmen Luft irreführen lässt und die unbedacht zarte, hellgrüne Triebe bekommt und sich an ihnen erfreut wie eine Frau, die nur scheinbar schwanger ist. Die Kräne sind eingetroffen, um ihre Wurzeln herum wird gegraben, gebohrt, gegraben, gezogen, gewühlt. Es kreischen elektrische Sägen, Hubschrauber fliegen über der Fichte und kreisen um sie herum wie Geier und warten auf ihren Tod. Und siehe da, ein Wächter, ein Heiliger, kommt vom Himmel herab und ruft mit mächtiger Stimme: „Fällt den Baum, sägt die Äste ab, entfernt die Blätter, werft die Früchte fort!“ ... ich bin Jahve, der den hohen Baum erniedrigt und den niedrigen erhöht; den grünen Baum trockne ich aus, und den trockenen Baum lasse ich erblühen. Die Ermordung der Fichte wird laut, hastig und pompös abgewickelt. Sieben Tage lang schießen die Medien Fotos und jubeln. Sie schwafeln von Stolz und von Glück, vom Glück und vom Stolz aller in Kroatien und anderswo lebenden Kroaten, die den toten, getöteten Baum für sich vereinnahmen, weil er als Geschenk für den alten, erschöpften und in den Gemächern seines Glaubens eingemauerten Mann vorgesehen ist, möge er etwas von der Kraft einatmen, die diese Liebhaberin der Vögel und Wolken ausstrahlt, diese anschmiegsame Königin des Waldes, deren Odem Zeitgenössische Poesie und Prosa jeden Reisenden ins Nirvana versetzen kann. Und die Fichte macht sich auf die Reise. Eingewickelt in dunkle Jute, eingeschnürt, in die Waagerechte gelegt wie ein Schwerkranker. Dieser Riese der Natur, dieses Spiegelbild der menschlichen Kleinlichkeit und Bosheit erstickt in seinen eigenen Säften und zappelt in der ihm aufgezwungenen Enge. Die Fichte versucht vergeblich ein letztes Mal ihre Äste zum Gruß zu erheben, ein Lebewohl an die anderen Bäume, die zurück bleiben und die, in ihrer Sprachlosigkeit gefesselt, schon sehen und spüren, wie sich der Tod an ihrem Stamm empor schlängelt. ¹Ich bewundereº die Bäume. Diese aufrechten, ruhigen Stoiker. Die einzig Weisen unter den Lebewesen. Sie wissen, wann es an der Zeit ist, Laub zu bekommen, zu blühen, Insekten anzulocken und den Wind zu empfangen, der sie befruchtet; sie wissen, wie man mit Wurzeln Wasser und nahrhafte Mineralien aus der Erde saugt; die Blätter in Richtung Sonne stellt, so dass sie Licht tanken können: Sie wissen, wann sie Früchte empfangen, austragen und abwerfen, wann sie ihre Blätter zu verlieren haben, um den Winter mit nackten Zweigen begrüßen zu können. Wie sie unter ihrer Rinde das Leben aufsaugen, wie sie Schnee, Orkane und andere Verrücktheiten der Natur ruhig und weise über sich ergehen lassen können, und all’ das lautlos, ohne zu blöken und zu brüllen... Sie ertragen es geduldig, als erwar- 125 te sie in ferner Zeit eine große und helle Zukunft, in der sie ihre Wurzeln aus der fettigen, flachen und dümmlichen Erde herausziehen, um sich befreit emporzuheben und mit den Vögeln, den Baumkronen, den Bienen und Schmetterlingen aufzufliegen... Die Fichte fährt nicht allein nach Rom. Gemeinsam mit ihr verlässt eine Kolonne von ermordeten kleinen Tannen und etwa vierzig kleineren, nur zwei bis sechs Meter hohen Fichten, die an einen Zug gefangener Kinder erinnert, dieses Land. Die kleinen Tannen und Fichten werden ebenfalls den zentralen Platz einer verbrauchten und halbtoten Welt zieren, sowie die stickigen Gemächer der vatikanischen Kardinäle, und die demütigen Besucher werden sich gefällig und unterwürfig man soll den Kleinen Gegenüber nicht unbillig streng, noch den Mächtigen gegenüber kriecherisch unterwürfig sein verbeugen und die Luft in sich aufsaugen, von der sie glauben, sie würde ihnen die Wiedergeburt schenken, aber sie erkennen nicht, dass sie die Reste des Lebens einst freier Bäume berühren, während die kleinen irdischen Engel, von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidete Mädchen und Jungen, Stille Nacht, Heilige Nacht anstimmen – auf beinahe allen Sprachen der Welt. Aus dem Kroatischen von Alida Bremer Tea Ben~i} Rimay: Wenn der Mensch aufhört ... RELA TIONS Foto: Jakob Goldstein 126 Simon Crump beim Festival Europäischer Kurzgeschichten RELA TIONS Zeitgenössische Poesie und Prosa 127 Die Metzger Drago Glamuzina Drago Glamuzina ¹1967º, geboren in Vrgorac. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft und der Philosophie an der Philosophischen Fakultät Zagreb. Arbeitete als Journalist bei der Tageszeitung Vjesnik und stellvertretender Chefredakteur beim Nachrichtenmagazin Nacional, derzeit ist er Chefredakteur und Verlagsdirektor von Profil. Er ist Mitbegründer und einer der Programmdirektoren der Zagreber Buchmesse. Lyrik, Prosa und Kritiken veröffentlichte er in Zeitschriften, Zeitungen und im Radio. Zusammen mit Roman Simi} brachte er die Anthologie kroatischer erotischer Kurzgeschichten Libido.hr ¹2002º heraus. Er veröffentlichte den Gedichtband Mesari ¹Naklada MD, 2001º, für den er den Vladimir Nazor-Preis für das Buch des Jahres und den Kvirin-Preis für den besten Lyrikband des Jahres 2001 bekam. Der Gedichtband Mesari wurde ins Slowenische ¹Litera, Maribor, 2001.º und ins Makedonische ¹Makedonska rije~, Skopje, 2004.º, einzelne Zyklen aus dem Buch ins Deutsche, Englische, Polnische und Russische übersetzt. Er wurde in zahlreiche Anthologien zeitgenössischer kroatischer Lyrik aufgenommen: Zvonimir Mrkonji}: Me|a{i – hrvatsko pjesni{tvo 20. stolje}a; Miroslav Mi}anovi}: Utjeha kaosa – antologija suvremenog hrvatskog pjesni{tva; Milo{ \ur|evi}: Ru{enje orfi~kog hrama – antologija novijeg hrvatskog pjesni{tva; Jurij Hudolin i Nenad Rizvanovi}: Ludi po{tari ulaze u grad – antologija suvremene hrvatske poezije; Tvrtko Vukovi}: Off-line – hrvatsko pjesni{tvo devedesetih und andere. Als hätte sie sie nie geliebt Anais Nin betrog 1933 ihren Mann mit Henry Miller mit Antonin Artaud, ihrem Vetter Eduard und mit ihrem Vater. Sie hat sie alle geliebt. Auch ihren Mann. So steht es zumindest im Tagebuch daran zweifle ich ja nicht. Wie ich auch an ihr nicht zweifle wenn sie sagt, sie habe sie geliebt, auch ihren Mann, aber dass sie jetzt alle tot seien. Wenn sie sagt, sie würde sie auf der Straße nicht einmal grüßen, wenn ich das so will. 128 Drago Glamuzina: Die Metzger Will ich nicht, sage ich aber trotzdem – während ich ihr sage, dass sie das einmal, später, jemandem auch von mir sagen wird – betaste ich das, was sie gesagt hat und streichle verstohlen diesen Satz wie meinen Hund nach dem Essen. Kraust sich Bra~ Hinter deinem Rücken kraust sich Bra~ es regnet nicht aber du bist traurig und verliebt und mich stören die Finger des Mannes der mir die Haare stutzt. Obwohl sie warm, weich und sanft sind genau wie die Finger der Frau, die das sonst tut. Du bist hier, weil du sehen wolltest, wie sie mich berührt, du wolltest wissen von welcher Art dieses kleine, saubere und absichtslose Vergnügen ist, von dem ich dir erzählt habe und jetzt siehst du im Spiegel wie mein Missmut wächst. Und nimmst eine Strähne deines Haars und formst sie über deinen Lippen zum Bart und hältst sie so bis ich lächeln muss. Es ist früher Morgen und wir sind uns einig Es ist so früh, dass es draußen noch fast finster ist. Aus deiner Bibliothek schmeißen wir alle Bücher, die dir ehemalige Liebhaber geschenkt haben, die mit Widmung und die ohne Widmung. RELA TIONS RELA TIONS Zeitgenössische Poesie und Prosa Nicht dass wir uns der Sinnlosigkeit unsres Tuns nicht bewusst wären, aber wir lachen und fluchen während wir sie zerreißen und in den Müll schmeißen. Es ist früher Morgen und wir sind uns einig. Der Schnee, der eben zu rieseln beginnt Sie sagte, ich dürfe mich nicht nach anderen Frauen umdrehen denn das könne sie nicht ertragen, aber auf meine Frau sei sie nicht eifersüchtig. Wir saßen auf den nassen Laken und beobachteten, wie in der kleinen Pfütze in ihrem Nabel eine Fliege ertrank. Wir leckten uns und pissten einander an, wie Hunde, die eine Spur hinterlassen wollen, die der Schnee nicht begräbt, der eben zu rieseln beginnt. Ich hoffe, dass ich dich nie mehr sie sagte ich hoffe, dass ich dich nie mehr sehen werde. sie sagte geh raus und komm nicht zurück bevor ich nicht aus diesem haus verschwunden bin. ich sagte sie brauche sich nicht zu beeilen, ich müsse das auto in die werkstatt bringen und bliebe lange aus. ich zog lederjacke und schuhe an. dann stand ich vor der tür und sah zu, wie sie kleider in die tasche stopfte. nach einigen minuten öffnete ich ein wenig die tür und schloss sie wieder. draußen schneit es, sagte ich und blieb weiter vor der tür stehen. 129 130 Drago Glamuzina: Die Metzger ich stand vor der tür und wartete, dass sie losschluchzte. ich wartete auf den richtigen moment überzeugt, dass auch sie auf ihn wartete. Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden Sie liebte ihn und er liebte sie. Und dann kidnappte sie der Türke mit dem Pferdeschwanz, entführte und vergewaltigte sie beinahe. Ich sage beinahe, weil sie am Ende selbst die Beine breit machte. Ihr gefiel der wilde Türke, der Köpfe abschlug, als wären sie gerade dafür in seinem Garten gezogen, der alles nahm als wärs sein Eigen sie aber wollte er jetzt eben nicht, sondern er schlief vor dem Zelt und wartete, dass sie ihn hineinrief und sich ihm selbst hingab. Und dann fand ihr Mann die beiden, der ein ganz anderer Mann war als dein Mann. Während sie sich im Clinch würgten verlangten sie von ihr, mit dem Schwert den zu köpfen, den sie nicht liebte. Es fiel ihr nicht leicht, aber sie köpfte ihren Mann. Vielleicht, weil sie glaubte, er würde ihr nie verzeihen, weshalb sie sich bei der Wahl zwischen den beiden für sich selbst entschied. Vielleicht aber auch, weil der wilde Türke sie dorthin gebracht hatte, wohin beständige Liebe es nie geschafft hatte. RELA TIONS RELA TIONS Zeitgenössische Poesie und Prosa Franco Nero tötete trotzdem Dragan Nikoli} und brachte seine Frau mit der Blume des Türken auf der Stirn wieder heim. Und ließ nicht zu, dass sie ihr Vater mit glühendem Schwert blendete. Seine Liebe war stärker als das Gesetz und als ihr Versuch, ihn zu töten. Sich ihrer selbst sicher, umhüllte sie sie wie diese Decke uns. Jeden tag schlägt mir jemand den kopf ab jeden tag schlägt mir jemand den kopf ab. das sagte sie, als sie den rock hob und stammelte ich kann nicht mehr, und ihren slip zur seite zog. der wind blies und es war kalt und grau. ich wollte, dass sie sich möglichst bald auf mich setzte, damit mir warm wurde. auf der bank neben uns betrachtete uns ein alter neugierig. er zeigte keinerlei absicht zu gehen, auch nicht als ihr zucken ganz offensichtlich wurde. Der alte herr, der sie gevögelt hat gestern hat ihr ehemaliger liebhaber angerufen der alte, der um die sechzig ist und von dem sie einmal in ihr tagebuch geschrieben hat: „nie hat mich jemand so erregt. weder vorher noch nachher.“ 131 132 Drago Glamuzina: Die Metzger er war ein freund ihres vaters dieser alte herr, der sie gevögelt hat als sie im krankenhaus lag. und danach. der glaubt, dass er nach fünfzehn jahren anrufen kann und sagen: ’ich hab in der zeitung dein foto gesehen, morgen habe ich dienst, komm zu mir wenn es dunkel wird. es wird dunkel und ich steige zum krankenhaus hinauf. ich möchte diesen arzt sehen dem sie so untergekrochen war, dass er noch heute glaubt, es reiche aus zum telefon zu greifen und sie anzurufen. Ein nachmittag mit meinem sohn heute nahm ich meinen sohn mit in die stadt er sah die leute, mit denen ich arbeite, meinen chef und die chefin, er aß pizza mit mir und meiner geliebten, er fragte warum ich sie anschreie. dann küsste er mich. um zu zeigen, dass er auf meiner seite ist. später lief er über den platz, schlief in der straßenbahn ein kam nach hause voll einer welt die er nicht versteht die aber in ihm mit sicherheit ihren platz gefunden hat. RELA TIONS Zeitgenössische Poesie und Prosa Foto: Jakob Goldstein RELA TIONS Etgar Keret beim Festival Europäischer Kurzgeschichten 133 134 Drago Glamuzina: Die Metzger Wie der reiber in der straßenbahn du wartest auf sie in der straße, durch die sie kommen muss und dann schüttelst du dich wie ein nasser hund und gehst ihr nach, stunden folgst du ihr durch die stadt und schaust wie sie geht. wie sie geschäfte betritt, mit den verkäuferinnen spricht, wie sie die zeitung kauft, sich in der straßenbahn drängelt. schließlich erinnerst du dich an ihren mann, erinnerst dich, wie entrüstet du über den typ warst, der das telefon seiner frau abhört. schuldbewusst drängst du dich in ihre nähe lehnst dich mit dem rücken an sie wie der reiber in der straßenbahn, von dem sie dir erzählt hat, und wartest, dass sie sich umdreht. Ausgestreckt wieder in diesem hässlichen hotel. wir liegen auf dem rücken und hören diesen typ und die frau, wie sie vögeln im zimmer nebenan. wir versuchen zu reden und lassen es sein das stöhnen, das hartnäckig herübertönt und das zimmer füllt, erregt uns schon längst nicht mehr. dieses rappeln, zwei menschen, die ineinander dringen die dunkelheit, die immer dichter wird und wir beide ausgestreckt nebeneinander. dann der abgang, durch das spalier von vertriebenen aus vukovar auf dem gang, die uns wie gefühllose eindringlinge betrachten, die kommen, um vor ihrer nase zu vögeln. zimmer, gänge und momente, an die sich der körper erinnern wird, in anderen momenten voll verlangen nach dieser zeit. RELA TIONS RELA TIONS Zeitgenössische Poesie und Prosa Er sagte, sei nicht böse, sie sagte, ich bin nicht böse gestern hat ihr ehemaliger liebhaber angerufen, und mein freund den ich vor vielen jahren ermutigt habe in der beziehung mit dieser unmöglichen frau auszuhalten. er verlangte, dass sie ihn anruft, wenn sie alleine ist. ich verlangte, dass sie ihn anruft wenn ich neben ihr bin, und dass sie ihm das natürlich verheimlicht. er sagte ihr, er wolle wieder mit ihr zusammen sein sie sagte ihm, das sei nicht mehr möglich. er sagte – sei nicht böse. sie sagte- ich bin nicht böse. ich war zufrieden mit dem, was ich gehört hatte bis mich im autobus der gedanke befiel, sie könnte ihn noch einmal angerufen haben nachdem ich gegangen war um ihm zu sagen – ich hab’s mir anders überlegt. Das telefon läutete lang dann fragte ich: hast du ihn angerufen. sie antwortete nein. Zitternde Hirsche „Hasardeure und Liebhaber spielen im Grunde genommen um zu verlieren“ Die Nacht kam und Mahler ging Gropius holen, zwei Männer gingen lange in der Finsternis, einer hinter dem anderen, ohne auch nur ein Wort zu wechseln. Als sie ankamen, rief Mahler Alma und ließ sie im Salon mit ihrem Liebhaber alleine. 135 136 RELA Drago Glamuzina: Die Metzger TIONS Als Alma endlich Gustav holte fand sie ihn in der Bibel lesend – und er zitterte, ich bin sicher, dass er zitterte. Dann sagte er zu ihr: „Das, was du tust, wird das beste sein.“ Einige Minuten später begleitete Mahler, mit dem Hut in der Hand, Gropius bis zum Zaun ihres Anwesens und leuchtete ihm den Weg mit einer Lampe aus. Später setzte er sich, und auf das Manuskript der Zehnten Symphonie schrieb er mit zitternder Hand: „Für dich leben, für dich sterben, Almschi.“ Neun Jahre später ist Mahler tot und Alma lebt. Es ist das Jahr 1918 und der wohlgebaute Leutnant der deutschen Armee und Begründer des Bauhauses, Walter Gropius, kehrt aus dem Krieg zurück. Bei seiner Ankunft in Wien holt er zuerst den korpulenten Franz Werfel und nimmt ihn mit nach Hause. Dort fällt der vierfach verwundete Städtebauer vor Alma und ihrem Liebhaber auf die Knie und sagt mit zitternder Stimme: „all das ist meine Schuld.“ Und am nächsten Tag, in neun oder fünfzehn Jahren? Was habt ihr denn gedacht: Franz Werfel – der mit der Novelle „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig“ Ruhm erlangte – sieht durch das Fenster auf den Pfarrer, der jeden Morgen und Abend zu seiner Frau kommt, und sagt mit zitternder Stimme: „Das ist Almas letzter Wahnsinn.“ Die Höhle der Schwimmer Fall nicht drauf rein und sage nie es sein ein Traum gewesen oder das Ohr habe dich verführt Konstantin Kavafis: Gott verläßt Antonius Durch das Dunkel der Höhle drangen Bruchstücke einer unverständlichen Zunge die sich zwischen unsere Zungen flocht, unsere Küsse verschlüsselte. RELA TIONS Zeitgenössische Poesie und Prosa Gestern noch haben wir uns vor deinem Mann versteckt auf dem Markt in Tripolis und als der Wüstenwind dein Kleid anhob und als die Araber sahen, dass du kein Höschen trägst – sprangen sie auf die Tische, sprengten die Pyramiden aus Wassermelonen, Datteln und Johannisbrot und versuchten schnaubend, dich im Gedränge zu erhaschen. Du hast gebebt wie Nessims Fohlen hinter der Jalousie der Pension und zugesehen, wie deine Verfolger auf der Straße brüllten, lachten und sich die Eier hielten. Sag mir, was sie sagen, sagtest du während sich Bruchstücke der unverständlichen Zunge zwischen unsere Zungen flochten und dann lauschten wir, wie der Sand über das Fenster rieselte. Wie der Regen in Dover, sagtest du. Und morgen. Wirst du mich in die Wüste schicken um Rommel zu suchen Bevor ich gehe, wirst du mir die Finger in den Mund schieben und auf meiner Zunge ein Steinchen zurücklassen um das sich Wasser sammeln wird. Sie kost mich auf serbisch es ist früher morgen und sie treibt mich zur arbeit, kost mich auf serbisch: ti si moj pesnik* und sagt, sie werde mich, * Serbisch: Du bist mein Dichter, Anm. d. Ü. 137 138 Drago Glamuzina: Die Metzger wie Nietzsches schwester, ins zimmer sperren, solange, bis ich etwas zu papier gebracht habe. ich setze mich an den computer, und sie setzt sich auf unser rotes sofa, das wir auf kredit gekauft und über das wir uns gefreut und geglaubt haben, seine weichheit würden uns einander wieder näher bringen. in seinen mulden würden wir öfter zueinander gleiten. dann liest sie, was ich geschrieben habe. Ich küsse sie, sie küsst ihn, er küsst mich ich küsse sie, sie küsst ihn, er küsst mich, gleichzeitig so dass sich unsere drei nasen die ganze zeit berühren. dieses spiel hat unser sohn erfunden, der dreieinhalb ist, als er zwischen uns im bett lag und mitanhörte, wie wir uns stritten Josips mama heute morgen erfuhr ich, dass Josip verunglückt ist. und ich versuche mich zu erinnern was er mir alles bedeutete, wie wir beide, freunde, zusammen aufgewachsen und schießlich auseinandergegangen waren wie menschen eben nach einer bestimmten zeit auseinandergehen. ohne besonderen grund. RELA TIONS RELA TIONS Zeitgenössische Poesie und Prosa ich möchte an ihn denken sein tod scheint mir grund genug, wieder an ihn zu denken, aber so sehr ich mich auch bemühe und über mich ärgere – ich kann nichts finden, was in mir lebendiger wäre als die geschichte von der möse seiner mama, die vor ihm ging völlig nackt Alles ist genau so wie es sein muss ende august, vor zehn jahren. ein unbekannter mann und eine unbekannte frau setzen sich an unseren tisch und zanken sich. vor uns, die wir, im gegensatz zu ihnen, nur ein wenig beschwipst sind. gerade so sehr, dass wir nicht aufstehen und gehen. sie redet von den flecken, die sie wieder auf seiner hose gefunden hat. über die nutte, die er in der arbeit vögelt. dann sagt sie – und ich habe ihn so geliebt, und erzählt, wie sie am tag ihrer hochzeit gekommen ist, bevor er sie berührt hat. vor lauter glück. gestern, im bett, lagen wir da und schwiegen, hörten, wie der kassettenrekorder im nebenzimmer eierte. du sagtest –alles ist genau so wie es sein muss, und ich erinnerte mich an die frau, an die fromme entzückung, mit der sie uns von ihrem orgasmus erzählt hatte. an deine hand in meiner als wir ihr zuhörten. 139 140 Drago Glamuzina: Die Metzger RELA Ich sollte in die küche gehen, ein messer nehmen und diese buchstaben zerschneiden Sechs jahre sind schon vergangen, seit wir die wohnung gekauft haben aber erst vor ein paar tagen bemerkte ich die in die klotür geritzen buchstaben da steht – Boris. Boris war der sohn des mannes, der uns die wohnung verkauft hat, ein serbe verliebt in eine kroatin, mit der er 1993 gefallen ist – vom dach des gebäudes unter sein zimmerfenster. Boris’ eltern sind damals aus der stadt gezogen und wir haben ihre geschichte von den nachbarn erfahren. es gefiel uns nicht, dass wir in einer wohnung leben würden, die nur deshalb verkauft wurde, weil sein bewohner eine frau liebte, die er nicht lieben durfte. aber davon wussten wir nichts als wir sie kauften, acht jahre waren wir untermieter gewesen und für die wohnung haben wir uns tief verschuldet – wir wehrten uns indem wir sie in ein heim verwandelten. manchmal erzählen wir diese geschichte unserer wohnung gästen. selten, ernst und pietätvoll, aber– zugegeben – auch als bizarrerie, die das erlahmende gespräch beleben soll. Die Metzger längst habe ich mich daran gewöhnt, dass mich dieses metzgerbeil ins bett treibt. vorher möchte ich aber noch die letzte folge von Campells Comic über Bacchus zu ende lesen. heute ist er viertausend jahre alt und müde von all dem wein und den frauen. er treibt sich in den kneipen von New York umher und erzählt, bei einem glas wein wie einst die Griechinnen zu ihm kamen, sich aufreißen zu lassen. auch königinnen und nutten. manchmal übertreibt er und holt seinen verschrumpelten schwanz heraus und schlägt mit ihm auf den tisch – wie mein freund Milko – worauf sie ihn normalerweise aus der kneipe schmeißen und die polizei rufen. TIONS RELA TIONS Zeitgenössische Poesie und Prosa 141 ich öffne das fenster und lasse die morgenluft ins haus. schweinehälften, fertig zum tranchieren, werden in die metzgerei im erdgeschoss getragen um aufgerissen zu werden. dann koche ich kaffee und wecke Lada. wenn sie zur arbeit geht, lege ich mich genau auf die stelle an der sie gelegen hat. ich spüre noch die wärme ihres körpers während ich warte, dass der schlaf mich übermannt. dass ich auf diesen alten gott vergesse, auf seine frauen, die metzger. Foto: Jakob Goldstein Aus dem Kroatischen von Christine Okresek Halgrimur Helgason beim Festival Europäischer Kurzgeschichten 142 \ur|a Kne`evi}: Über meine Mama, die Russen ... RELA TIONS Über meine Mama, die Russen, Feuerwehrmänner und andere ¹ Auszug aus dem Romanº \ur|a Kne`evi} Die Feuerwehrmänner üben Die Junisonne hatte sich in die- sem Jahr entschlossen, die Erde zu verbrennen – mit einer Wucht, die dem Kalender nach noch nicht zu erwarten war. Es war Mittag und die Sonne im Zenit übergoss die Gemeindekirche so ungeschützt mit ihrer Gluthitze, dass diese nicht den geringsten Schatten um ihre Mauern herum zu bieten hatte. Einige Dorfköter lagen in der vollkommenen Stille regungslos dicht an die hintere Kirchenmauer gekauert, da sie dort eher instinktiv Schutz vor der Sonne, Schatten erhofften, und sie hechelten kurzatmig und schnell mit heraushängenden Zungen. Die gelbliche Fläche, die sich hinter der Kirche erstreckte, war überzogen von flechtenartigem dünnen, vertrockneten und verendeten Gras und ohne sichtbaren Grund mit einem niedrigen Zaun umsäumt, und sie diente in besseren Tagen als Fußballplatz. Heute geschah dort etwas ganz anderes, es herrschte beinahe Gedränge, ein Zustand, der für diesen Ort, der sich schon längst an die triste Verlassenheit gewöhnt hatte, gänz- \ur|a Kne`evi} wurde 1952 in Jastrebarsko/Kroatien geboren. Sie studierte Geschichte und Archäologie in Zagreb. Bis 1992 war sie Direktorin des Museums der Revolution des kroatischen Volkes, 1992 gründet sie die Fraueninfothek in Zagreb, das erste politisch-feministische Bildungszentrum in Kroatien. Als Leiterin der Fraueninfothek entfaltet sie eine umfassende Verlagstätigkeit, gibt die Zeitschrift Brot und Rosen heraus, leitet das internationale Seminar „Frauen und Politik“, das einmal im Jahr in Dubrovnik stattfindet. Viele ihrer Artikel, Essays und Studien wurden in feministischen und politischen Publikationen in Kroatien und in vielen Ländern Europas und in den USA veröffentlicht. Ihr erster Roman Über meine Mama, die Russen, Feuerwehrmänner und andere hat die gesamte politische und feministische Öffentlichkeit in Kroatien überrascht – niemand wusste, dass \ur|a Kne`evi} Prosa schreibt, und noch weniger erwartete man, dass sie einen solchen Roman schreiben würde. Seit dem hat sie zwei weitere Romane geschrieben... lich ungewohnt war. Der denkwürdige Kommandant der Feuerwehrbrigade, ein groß gewachsener Mann, dessen Wangen, die auch sonst schon rot waren, jetzt beinahe lila glänzten, schrie laut, was aufgrund seines weit aufgerissenen Mundes und seiner geschwollenen Halsadern wahrlich leichter mit den Augen als mit den Ohren zu erkennen war. Mit einer Stimme, die angeschlagen war von Anstrengung und Durst, mit seinem brüchigen Falsett rief er den nicht eben jedem verständlichen und schon gar nicht eindeutigen Satz: „Gesäß zum Zaun, heute hinstellen wie gestern.“ Zehn Männer, die schon zuvor sichtbare Schwierigkeiten mit den Befehlen „Linksum“ und „Rechtsum“ gehabt hatten und sich deshalb meist in die entgegengesetzte Richtung drehten, verstanden erst jetzt, was von ihnen verlangt wurde. Nach diesem letzten für sie klaren und präzisen Befehl sollten sie alle harmonisch ihre Hintern dem Zaun zuwenden und auf diese Weise eine Reihe bilden. Und tatsächlich schafften sie es trotz eini- RELA TIONS gen Drängelns und Herumstolperns – die einen, indem sie sich nach links drehten, die anderen, indem sie sich nach rechts wandten, und die dritten schließlich, indem sie sich umguckten und bemüht waren, sich zu merken, wie es die Kollegen machen – am Ende doch, alle mit ihren Hintern den Zaun zu berühren und eine einigermaßen gerade Reihe hin zu bekommen. Die Hunde, die an der Kirchenmauer lagen, drehten jedoch ihre Köpfe nicht zu den Männern, den freiwilligen Feuerwehrleuten, die in der örtlichen Freiwilligen Feuerwehrgesellschaft organisiert waren und die das Programm für die Parade einstudierten. Mit ihren Bäuchen, die an der Erde klebten, hofften sie auf Abkühlung, und das war das Einzige, womit sie sich in diesem Moment und bis auf Weiteres, solange diese Bruthitze herrschte, bereit waren auseinander zu setzen. Sie kümmerten sich nicht einmal um die Fliegen, die langsam auf ihren Schnauzen landeten und die man ohnehin nicht vertreiben konnte. Es reichte nicht aus, mit der Schnauze oder dem Fell zu zucken. Auch mit der Pfote zum Schlag auszuholen, brachte kein Ergebnis. Die Fliegen hoben nur faul einige Zentimeter zur Seite ab und kehrten sofort dorthin zurück, wo sie gesessen hatten. Die Hunde hatten schon längst von den Fliegen abgelassen, aber noch weniger als die Fliegen interessierte sie die nahe und merkwürdige Versammlung von Menschen. Diese setzte sich vorwiegend aus Dorfburschen ohne bestimmte Berufe zusammen, weiter dem örtlichen Metzgergesellen, einem Elektriker, einem Notariatsgehilfen aus dem Gemeindehaus und einem Studenten, von dem im Ort keiner so genau wusste, was er eigentlich studiert; tatsächlich fuhr er jeden Tag zu seiner Fakultät nach Zagreb und studierte so lange Jahre, dass niemand mehr nach der Art sei- Zeitgenössische Poesie und Prosa nes Studierens fragte. Nun standen sie nach ihrem kurzen Kampf mit der linken und der rechten Seite ordentlich und in gerader Linie gereiht vor dem breitschultrigen und in seine neue schmucke Uniform gekleideten Kommandanten der Feuerwehrbrigade der FFG. Die freiwillige Mannschaft musste sich mit altmodischen, dunkelblauen und plumpen, zu großen oder zu kleinen Uniformen zufrieden geben. Den einen reichten die Ärmel kaum bis zur Hälfte des Unterarms, während bei anderen nur die Fingerspitzen herauslugten. Einem Blick, der die in Reih und Glied stehenden Füße gestreift hätte, hätte sich eine ähnliche Szene offenbart. Offensichtlich hatte das aber keinen Einfluss auf den glänzenden Geisteszustand der kleinen Truppe. Sie standen mit stolz geschwellter Brust, mit scharfen, entschlossenen Blicken, ihre Köpfe bedeckt mit den glühenden Metallhelmen, deren Messingränder entweder ihre Ohren vollständig bedeckten oder aber überhaupt nicht bis zu den Ohren reichten. Von den feuerroten Gesichtern floss ihnen reichlich Schweiß hinter den Ohren und am Hals entlang in die steifen Kragen, und die Flecken, die noch dunkler als die Farbe ihrer Uniformen waren, breiteten sich stetig auf den Rücken und unter den Achselhöhlen aus. Die freiwillige Brigade übte das feierliche In-Reih-und-Glied-Stehen und auch das simulierte Feuerlöschen für die bevorstehende und außerordentliche Feuerwehrparade. Es hatte noch nie im Verlauf der langen und – wie man sagt – ruhmreichen Feuerwehrgeschichte unserer Gegend, eine Parade mitten im Sommer stattgefunden. Und nie eine solche. Es war üblich und allgemein akzeptiert, dass der Herbst oder der Frühling, meist jedoch der Herbst, die Zeit der Weinlese und der Weintaufe zum Hl. Martin, die passende Zeit für die 143 Feuerwehrübungen ist. Aber diese außerordentliche Gelegenheit, für die sie sich gerade vorbereiteten, war von besonderem Charakter und hoher, ja geradezu höchster Wichtigkeit, so dass niemand auf die Idee kam, irgendwelche Beschwerden vorzutragen. Sie war vielmehr so wichtig, dass sie nicht einmal ein mögliches Feuer, das zur gleichen Zeit ausgebrochen wäre, in Frage hätte stellen können. Brände hat es letztlich immer schon gegeben und es wird sie auch immer geben, aber einen solchen Anlass, ein Ereignis, wie es bevorstand, erlebt man einmal im Leben, und nicht einmal das ist gesagt. Um ganz offen zu sein, es geschieht selten, sehr selten, und wenn wir ganz ehrlich sind, eigentlich nie. Tage- und wochenlang wurden Geschichten über das große Ereignis durch den Ort verbreitet. Alle wussten etwas, einige wenig, andere beneidenswert viel, aber niemand, so schien es, wusste alles. Die Bürger informierten sich gegenseitig und jeder fügte Teilchen des eigenen Wissens hinzu, häufig eines unsicheren Wissens, getrieben von der Sehnsucht, jene Bruchstücke aufzuschnappen, die einem selbst fehlten. Es war jedoch schwierig zu erkunden, was noch fehlt. Und so fand sich jeder, ohne alles vollständig und endgültig zu wissen, auf seine eigene Art zurecht, jeder nahm etwas und fügte eigenes hinzu, und die Aufregung wuchs immer mehr. Es gab schließlich keinen, der sich allein auf seinen zwei Beinen bewegen konnte, der nicht das Grundsätzliche, Wesentliche und Wichtigste gewusst hätte, und es handelte sich kurz gesagt um folgendes. Die Nachricht, die in allerkürzester Zeit durch den Ort ging, besagte, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt der Präsident auf seiner Fahrt mit einem Automobil in Richtung Adria durch den Ort fahren würde. Die erste Kunde davon durchzuckte den Ort wie ein Stromschlag und stieß 144 \ur|a Kne`evi}: Über meine Mama, die Russen ... überall auf eine gewisse Ungläubigkeit, und darauf folgten und vermischten sich Begeisterung, Besorgnis und schließlich, als sich doch zeigte, dass es sich nicht um ein bloßes Gerücht handelt, ergriff alle ein Gefühl enormer, übermäßig großer Wichtigkeit. Vor allem diejenigen, die selbst die wichtigen Menschen im Ort waren. Der liebste Gast Es stimmt, wir alle betrachteten seine Photos, die an den Wänden in den Büros und Klassenzimmern hingen, die in den Lehrbüchern beinahe aller Fächern abgedruckt waren und in den Zeitungen – wenn man sie las. Wir trafen seine Gestalt auf Plakaten und Kalendern und in jenen zu bestimmten Anlässen herausgegebenen Büchern. In fein gebundenen und in Kunstdruck gestalteten Monographien und Biographien, in denen er in verschiedenen Posen und in noch mehr verschiedenen Anzügen und Uniformen verewigt wurde. Feierlich oder nur streng offiziell, gelassen und lachend mit Kindern in geeigneten Uniformen, besorgt und konzentriert, bevor er den entscheidenden Knopfdruck tätigt, jenen Knopfdruck, mit dem er auf der Stelle das Wasserkraftwerk in Funktion setzen wird, und in demselben Augenblick wird in Tausenden von Haushalten der Strom zu fließen beginnen. Wir sahen ihn, wie er breit in Farbe lacht, aus dem Zugfenster, mit einem schwungvoll zum Gruß erhobenen Arm und nach außen gedrehten Handrücken. Voller Hochachtung betrachteten wir die Szenen aus der gefahrvollen Wildnis mit dem Bär unter dem siegreichen Fuß, oder jene ganz gegenteiligen Momente der Beschaulichkeit in weichen, watteweißen Mokassinschuhen hinter dem großen, ebenfalls weißen Klavier mit glänzender Goldverzierung. Wir betrachteten ihn, ja das stimmt, aber das war doch alles eine manchmal von der schlechten Druckfarbe etwas schlampig geratene, unbewegliche Gestalt auf dem billigen Zeitungspapier oder erfroren auf den Fotos, die mit der Zeit an den Wänden verblassten und vergilbten, und ihre glänzenden Oberflächen waren mit ungehörigen braunen Pünktchen und feinen dünnen Rissen wie von Falten übersät. Es war irgendwie unpassend, geradezu schwierig Ihn zu betrachten, wie er mit den Händen am Schiffszaun lehnt, während in einer seiner Hände eine Zigarette glüht und der Rauch sich irgendwohin zur Seite kräuselt, und diese Hand will sich kein einziges Mal erheben und diese glimmende Zigarette zum Mund führen, um uns alle die Erleichterung verspüren zulassen, dann, wenn er den Rauch einzieht und seine Hand wieder an den Zaun legt. Der Ereignis, das auf uns zukam, war etwas ganz Außergewöhnliches, Einmaliges und beinahe Unglaubliches. Wir alle im Ort werden ihn sehen, und er wird sich live hier unter uns bewegen. Vielleicht wird er lachen und direkt danach, in einem sehr wichtigen Gespräch, sichtbar ernst werden, seine Hand wird er nach Belieben heben und senken, die Zigarette anzünden, rauchen und dann ausdrücken, er wird sicher laufen, sich vielleicht hinhocken, er wird die Arme ausbreiten, vielleicht einem Glückspilz die Hand schütteln, er wird sich sicher beugen, um das Köpfchen eines kleinen Jungen in Scout-Uniform zu streicheln, oder – und das ist ganz sicher – um Blumen von einem noch kleineren Mädchen in einer noch kleineren Uniform der staatlichen Kinderorganisation in Empfang zu nehmen. Und es ist beinahe sicher, daran kann kaum gezweifelt werden, dass er sogar etwas sagen wird. Er liebte Gespräche mit gewöhnlichen Menschen, er erkundigte sich gerne nach verschiedenen Dingen. Die Verantwortli- RELA TIONS chen des Ortes haben jedenfalls in weiser Voraussicht verschiedene nützlichen Angaben über die lokale Produktion und vor allem über die Erträge der Ernte vorbereitet. Wir hörten im Radio hundert, tausend Mal seine Stimme, jeden Tag, das war nicht das Problem, aber das jetzt war etwas ganz anderes. Es handelte sich darum, dass er sich an uns wenden und etwas zu uns sagen würde, den Hiesigen, er wird direkt in unsere Augen schauen, Tausende unserer Augen werden mutig und ehrlich in die seinen blicken und seine Sätze werden in einem bestimmten Moment für uns geformt und genau an uns gerichtet. Und was noch wichtiger ist, vielleicht wird er etwas Besonderes sagen, etwas, was noch niemand, weder wir, die Einheimischen, noch alle anderen Staatsbürger je zuvor gehört haben. ¹...º Zwei Russen und dann auch noch meine Mama ¹...º Die Proben des Schulchors fanden an verschiedenen Tagesabschnitten statt, manchmal auch abends, man fehlte viel in der Schule, eifrig und mit großer Freude. Man betrachtete uns, die wir in den Kultursektionen aktiv waren, als glückliche Menschen, weil wir, vor Wichtigkeit strotzend und ohne um Erlaubnis zu fragen, den Unterricht zu jeder Tages- und Stundenzeit verlassen konnten. Doch es übte nicht nur der Schulchor und man übte nicht nur im schulischen Rahmen. Fleißig übten auch die Turnsektionen und die Folkloregruppen, die dieselbe hohe Wichtigkeit besaßen und die beinahe so hoch geschätzt wurden wie der Schulchor. Neben den Feuerwehrleuten übten noch die lokalen Jäger und Briefmarkensammler. Sie bereiteten eine interessante und lehrreiche vergleichende Präsentation von Briefmarken, auf denen verschiedene Tiere abgebildet waren, und einer Sammlung der meisten dieser Tiere auf den Briefmarken, die in präparierter Form im Besitz der Jägergesellschaft waren. Der Schachclub und die örtliche Bibliothek bereiteten zusammen ein Kulturprogramm von Ausstellungen in der Volkshochschule vor. Es gab beinahe niemanden, der nicht etwas einübte oder vorbereitete. Doch es gab welche. Die Ortspolizisten übten nicht. Schließlich war das für sie etwas Echtes, eine äußerst wichtige und ernsthafte Aufgabe. Eine toternsthafte. Die Sicherheit des Präsidenten in ihren Händen. Auch unser Pfarrer übte nicht. Er wurde nur still und dann, wenn man ihn überhaupt vor die Augen bekam, ging er mit einem etwas beleidigten Gesichtsausdruck an einem vorbei. Noch beleidigter wirkte sein Küster, eine Frohnatur mit etwas schwächerem Verstand, der sonst einige herausragende Dienste ausübte, die wichtigsten davon waren sicher das Tragen des Kreuzes bei Beerdigungen und Kirchenprozessionen, das Treten des Blasebalgs der Kirchenorgel und natürlich das Glockenläuten. Er war auf diese bedeutenden Dienste so stolz, dass er deshalb mit dem denkbar breitesten Lächeln strahlte, während er seine Arbeit ausübte, etwa auf dem Blasebalgpedal der Orgel herum hüpfte oder das Kreuz bei einer Beerdigung trug. Einmal ereignete sich eine wahre Tragödie. Der arme Küster wurde von Gefühlen großer Enttäuschung, Trauer und Wut heimgesucht. Der Pfarrer hatte sich für Modernisierung entschieden und damit verbunden für eine große technologische Veränderung in seiner Kirche. Er führte die Elektrizität als Antrieb für den Blasebalg der Kirchenorgel ein. Der Küster verzweifelte, weil die Orgel ihn nicht mehr nötig hatte, sie spielte ganz verräterisch „von alleine“. Es sah so aus, als könne er diesen Schlag nicht verkraften, aber man tröstete Zeitgenössische Poesie und Prosa 145 Foto: Jakob Goldstein RELA TIONS Rashid Novaire beim Festival Europäischer Kurzgeschichten sich damit, dass ihm noch zwei wichtige Dienste geblieben waren, von denen er sich nicht vorstellen konnte, dass sie ihm jemand auf irgendeine Art streitig machen könnte, im Gegenteil, er glaubte fest daran, dass sie ihm geradezu von Natur aus für immer zugesprochen waren. Mit der Zeit kehrte seine gute Laune dann doch zurück, er verschmerzte die Orgel, und nur manchmal, wenn er in der Kirche diente, indem er die Almosen einsammelte oder darauf achtete, dass die Kirchengegenstände nach dem Gottesdienst auf ihren Plätzen blieben, und wenn dann die Orgel zu erklingen begann und in tiefen Basstönen „von alleine“ – ohne seine Hilfe – donnerte, wurde sein Gesicht von Sorge und leichter Trauer überschattet. Um so mehr und wahrscheinlich aus Trotz trug er mit noch mehr Freude und Eifer das Kreuz und zog an den Glockenseilen. Klein, flink und dunkel, lachte er, während er an ihnen zog, und zeigte dabei seine starken und großen Zäh- ne. Am Anfang hüpfte er nur fröhlich, aber wenn das Glockengeläut schneller und stärker wurde, begann er leicht zu hopsen und dann immer stärker zu springen mit Sprüngen, die immer höher wurden, als seien sie von der Erdanziehung nicht mehr gedämpft – irgendwie wild. Der Küster, nun zum Glöckner geworden, tollte immer mehr und bewegte sich in seinen Sprüngen immer höher und höher, und es sah so aus, als ob er an den Seilen festgebunden wäre und als ob eigentlich diese an ihm zögen und nicht er an ihnen, als ob sie ihn herum schleuderten und immer weiter in die Luft empor tragen würden. Die Glocken brummten und dröhnten, der ganze Glockenturm bebte und zitterte. Es schien so, als würde sich der Glockenturm mit schwerem und immer heftigerem und schnellerem Glockengeläut von der Erde erheben und als Rakete zum Himmel fliegen, den ekstatischen, verrückt gewordenen Glöckner an den Seilenden mit sich tragend. 146 \ur|a Kne`evi}: Über meine Mama, die Russen ... Er lächelte fröhlich und stolz auch bei Beerdigungen, was die Ortsansässigen und die Trauernden nicht im Geringsten beachteten, nur bei dem einen oder anderen Gast löste es gelegentlich Bestürzung aus. Dieses Lächeln verschwand von seinem Gesicht und wich einer düstren Grimasse, die unvorstellbare Wut ausdrückte, als einige von uns boshaften Kindern ihm leise zuriefen: „Du wirst es nicht mehr tragen, man hat das elektrische Kreuz erfunden!“ Die Perspektive einer weiteren Modernisierung und das Voranschreiten der Technologie an seiner Arbeitsstelle, die ihm, das wusste er ganz genau, das Wichtigste in seinem Leben rauben würde, war eine schreckliche, unbegreifliche, die letzte denkbare Beleidigung. Sein Gesicht verzog sich vor Schrecken und wurde noch dunkler, seine Augen verengten sich gemeingefährlich und wurden klein und böse. Er sah schlimm aus, und als er einmal dergestalt herausgefordert wurde, konnte er sich nicht zurückhalten, er warf das Kreuz mitten auf den Weg, ließ die Trauernden geschockt und die ganze Prozession erstaunt zurück, und zu unserer unbeschreiblichen Freude – gleichzeitig machte er uns auch Angst – rannte er wild hinter uns her. Das war RELA TIONS gefährlich, wirklich gefährlich und natürlich derart überwältigend, dass wir kaum die nächste Beerdigung abwarten konnten. Der Küster fühlte sich durch diesen Anlass, der plötzlichen Ehre eines persönlichen Präsidentenbesuchs in unserem Ort, genauso wie der Pfarrer zutiefst beleidigt, denn verständlicherweise kam es nicht in Frage, dass man beim Empfang des Präsidenten das Kreuz trägt oder die Orgel unserer Ortskirche spielt. Aus dem Kroatischen von Alida Bremer Über meine Mama, die Russen, Feuerwehrmänner und andere ¹Zum Roman von \ur|a Kne`evi}º Die Überraschung, die uns dieser Roman bereitet, basiert auf mehreren Punkten: Die Autorin wählt als Ausgangspunkt ein klassisches Werk der russischen Literatur – den Revisor von N. V. Gogol. Doch nicht ein Revisor soll das Örtchen besuchen, in dem die kindliche Ich-Erzählerin zu Hause ist, sondern der Präsident persönlich, der namentlich nicht genannt ist. Man glaubt jedoch, Josip Broz Tito in ihm zu erkennen. Die Leser aus dem Reich der ehemaligen Länder, etwa der ^SSR, der UdSSR oder der DDR, würden in ihm bestimmt andere Persönlichkeiten zu erkennen glauben – bei weiterem Nachdenken ließe sich anstelle von ihnen eine stattliche Zahl nicht nur kommunistischer und sozialistischer, sondern verschiedener anderer Führer in der kleinen Geschichte vorstellen. Die Geschichte ist deshalb „klein“, weil sie sich um ein einziges Ereignis rankt: Es verbreitet sich die Kunde, dass der Präsident auf einer Durchreise in „unserem Ort“ Station machen wird. Oder vielleicht auch nicht, aber passieren wird er ihn auf jeden Fall. Aus der Perspektive eines sich gut erinnernden, aufgeweckten Mädchens werden die Vorbereitungen für dieses große Ereignis dargestellt, wobei vor den Augen des Lesers eine ganze Galerie origineller Gestalten entwickelt wird. Zunächst sind da die Feuerwehrmänner, die eine Parade einüben, dann verschiedene Sektionen des Kulturlebens des Volkes, die – dem kollektiven Verständnis von Kultur entsprechend – ihre Gruppenauftritte vorbereiten. Neben der Tradition der russischen Literatur (mit ihrer Phantastik und mit ihrem Humor) verdanken wir einem russischen Emigranten die „Russen“ im Titel des Buches. Er ist ein beliebter Gast bei den Kaffeekränzchen, die „meine Mama“ aus dem Titel veranstaltet und bei denen das Mädchen ganz andere Geschichte hört, als jene, die es auf den Pionierversammlungen begeistert aufsaugt. Das Mädchen ist allerdings das einzige Familienmitglied, das an den Sieg des Sozialismus glaubt. Der Papa ist ein gutmütiger und bekannter „Staatsfeind“, der sich im Interesse des großen Ereignisses freiwillig ins Gefängnis begibt, um dort zu trinken und Karten zu spielen. Den Schlüssel stecken die Wächter von innen in die Tür der Gefängniszelle, da es ein Feuer geben könnte und alle Feuerwehrmänner beschäftigt sind. Am Ende sind alle gut vorbereitet – und der Präsident kommt, man sieht nur seine leicht winkende Hand hinter der dunklen Fensterscheibe seiner Limousine. Noch lange wird im Ort darüber diskutiert, ob die Autokolonne mit dem Präsidenten kurz angehalten hat oder nicht. Alida Bremer RELA TIONS Zeitgenössische Poesie und Prosa 147 Diese Handvoll Sand ¹ „To malo pijeska na dlanu“, Profil, Zagreb 2005º Marinko Ko{~ec Dieser Mann war so lange abwesend, dass er für die Frau, die er verlassen hatte, schließlich aufhörte zu existieren. Und die Frau quälte dieser Gedanke so sehr, dass der Mann zuletzt wirklich aufhörte zu existieren. Jacques Sternberg, Abwesenheit Es schneit wieder; es muss wohl zu einer Zeit angefangen haben, da die Nacht mit ihrer Quälerei innehält und mich ausliefert an ein gleichförmiges Schwarz. Du hörst den Schnee nicht, aber du spürst ihn hinter den Scheiben, und die von der Straße heraufklingenden Geräusche sind weicher, wie durch Gaze dringend. Der erste Bus quietschte um genau fünf Uhr fünfzehn, nahm zwei schon verkrustete Gestalten auf, die den Alkoholpegel in sich nur durch ihre Umarmung halten konnten, schnaubte verächtlich über einen so dürftigen Menschenhappen und brummte die Victoria’s Street hinunter. Um halb sechs wurden die Müllcontainer geleert. Der Schneepflug fuhr vorbei und schob den Pulverschnee zu Haufen zusammen, die später auf Lastwagen davonfahren würden. Vereinzelt tröpfelnd, begannen die ersten Autos vorbeizufahren, bis sie alle vier Fahrstreifen in Richtung Zentrum füllten, wie Monsterbienen, die zur Giftquelle eilten, um ihren Durst zu Marinko Ko{~ec ¹1967º, Dozent für französische Literatur an der Abteilung für Romanistik der Philosophischen Fakultät in Zagreb. Diplom in englischer und französischer Literatur an der Philosophischen Fakultät in Zagreb, Magistertitel in Literatur an der Universität Paris VII und an der Philosophischen Fakultät in Zagreb, wo er 2005 auch den Doktortitel erlangte. Er schreibt Prosa, ist als Übersetzer und Redakteur tätig. Ausgezeichnet mit dem „Me{a Selimovi}“-Preis ¹2002, Jemand anderes – „Netko drugi“ – für den besten Roman, der 2001 im bosnischen, kroatischen, serbischen und montenegrinischen Sprachraum veröffentlicht wurdeº und Gewinner des Preises des Verlagshauses VBZ ¹2003, Wonderland – für den besten unveröffentlichten Roman des Jahresº. Dreimaliger Finalist des Wettbewerbs der Tageszeitung Jutarnji List für das Prosawerk des Jahres. ROMANE: Eine Insel unter dem Meer ¹Otok pod moremº, Feral tribune, Split 1999; Jemand anderes ¹Netko drugiº, Konzor, Zagreb 2001; Wonderland, VBZ, Zagreb, 2003; Diese Handvoll Sand ¹To malo pijeska na dlanuº, Profil, Zagreb 2005. In Vorbereitung für 2008 ¹Profilº: Alles über uns sagte schon der Wind. Ein Roman über menschliche und natürliche Transitionen. ¹Sve o nama ve} je rekao vjetar. Roman o ljudskim i prirodnim tranzicijama.º WEITERE BÜCHER: Skizzen zum Porträt der modernen französischen Prosa ¹Skice za portret suvremene francuske prozeº, Sammlung von Essays und Übersetzungen, Konzor, Zagreb 2003; Michel H. – Mirakel, Märtyrer, Manipulator ¹Michel H. – mirakul, mu~enik, manipulatorº, eine Studie der Werke von Michel Houellebecq, Antibarbarus, Zagreb 2007; Gemurmel im Dunkeln ¹Mrmor u mrakuº, eine Antologie der modernen französischen Kurzgeschichte, Profil, Zagreb 2007. stillen; ihr Gebrumm wird erst gegen Mitternacht wieder allmählich ersterben, gemeinsam mit dem Dröhnen der Flugzeuge, die alle fünfzehn Minuten in solch geringer Entfernung abfliegen oder landen, dass man die Namen der Fluggesellschaften ablesen kann, einer exotischer als der andere. Es schneit Tag und Nacht. Mitunter setzt es für ein, zwei Stunden aus, dann rieselt es weiter, ohne Eile, gründlich, die Sonne lediglich wie eine Erinnerung durchlassend. Es heißt, einen so kalten Winter hätte es noch nie gegeben; wenn die Temperaturen auf fünfzehn Grad minus 148 Marinko Ko{~ec: Diese Handvoll Sand ansteigen, möchte man in kurzen Ärmeln hinausgehen. Den kanadischen Boden, jene dünne Schicht, die auf den Landkarten bezeichnet ist, habe ich noch nicht unter der Schneekruste erblickt. Zugefroren ist auch der See; letztes Wochenende bin ich mit dem Bus am Red River entlang hingefahren, bin an seinem Ufer spazieren gegangen, obwohl man den See selbst unter der eintönig ausgebleichten Ebene lediglich dank der Wildgänse erahnen kann, die von einem Ufer ans andere wechseln, durch Erinnerungen an diesen Ort gekettet oder weil ihnen kein anderer einfallen will. Auch die Gerüche sind im Eis gefangen, alles ist steril, weiß, taub, wie in einem Kühlraum, in dem wir alle, Gänse wie Menschen, darauf warten, zur Obduktion an die Reihe zu kommen. Jeden Morgen erwache ich um fünf. Ein Ruck, Herzklopfen, und dann bleibt mir nichts, als mich im Dunkeln in dieselben schmerzvollen Gedanken zu bohren; sobald das Bewusstsein sich in Gang setzt, sind sie da. Seit Monaten, bestenfalls haben sie ein bisschen Platz gemacht für etwas, das auf der Arbeit gefordert wurde, aber nicht einen Augenblick lang haben sie aufgehört, mich zu treten, zu durchwühlen, in immer kleinere Trümmer zu zerbröckeln. Immerhin ist es besser geworden, seit ich in Kanada bin. Mein Körper ist taub geworden; wenn das Stechen einsetzt, bringe ich sogar ein Lächeln zustande. Dabei ist es nicht zum Lachen, aber bitte, lachen wir eben, warum nicht. Warum nicht den einen oder anderen dreckigen Witz beim Bier erzählen, warum nicht U-Bahn fahren, Würstchen grillen, ins Museum gehen oder in den Stripjoint. „Sure“, sagte ich, als Jeremy diesen Vorschlag machte, um auf diese Weise meines Geburtstags zu gedenken, nachdem mir dummerweise herausgerutscht war, dass ich vor genau dreiunddreißig Jahren ge- boren bin. Bestimmt wollte er mir damit eine Freude machen, und ich wollte ihn nicht enttäuschen. Eine innere Stimme sagt mir, dass er noch nie einen nackten Frauenkörper unmittelbar gesehen, geschweige denn berührt hat; dadurch wird seine mystische Aura nur noch vollkommener. Während ich am Küchentisch schreibe, liegt Jeremy in seinem Zimmer, in der unveränderlichen Pose einer Mumie, seine zwei Meter Länge leblos auf dem Rücken ausgestreckt. Ihm bleiben noch fünfzehn Minuten bis zum Weckerklingeln; wäre Wochenende, würde es bis mittags dauern. Ich weiß nicht, was genau ihn zum Mystiker macht, aber ich habe keine andere Bezeichnung für die Seligkeit, die aus ihm strömt, für das Gefühl, dass er in einer nur ihm bekannten Weise absolutes Gleichgewicht, Vollkommenheit, Abgerundetheit innerhalb seines eigenen Körpers erlangt hat. Im ersten Moment könnte einen der Jammer packen beim Anblick dieses betäubt daliegenden Hünen, der aus lauter Muskeln besteht, mit Schultern so breit wie Kirchenschiffe, blonden Haaren, die, zum Pferdeschwanz zusammengebunden, bis an seinen Hintern reichen. Beim Fällen einer jahrundertealten Eiche durchweht es das Herz kälter, als wenn ein Zwetschgenbaum dran glauben muss. Aber dazu besteht kein Anlass; er ist mit sich selbst vollkommen im Reinen, erwidert jeden Blick mit einem Lächeln, zu Hause wie auch auf der Arbeit. Nicht ein einziges Mal habe ich ihn in Aufruhr gesehen oder gehört, dass er die Stimme erhoben hätte. Mit derselben Hingabe und Zufriedenheit, als wäre genau dies der Weg, das Nirwana zu erlangen, reißt er mit dem Presslufthammer Wände ein oder rührt sich beim Frühstück seine Haferflocken an, bis sie zu einer gleichförmigen Masse werden, um dann über jedem einzelnen Löffel zu meditieren. Auf Fragen antwortet er sanft und gutwillig, er selbst RELA TIONS stellt nie welche. Ich auch nicht; er hätte kaum einen passenderen Mitbewohner finden können. Ich bringe nie Besuch mit, bin nicht laut, erzeuge so gut wie keine Geräusche, aber ich bin hier, das ist unbestreitbar, zumindest körperlich. Er gibt mir auf seine diskrete Weise zu verstehen, dass er das bemerkt und respektiert. Am Samstag, dem neunundzwanzigsten, Hamburger aus der Pfanne und Fertigfritten mit Ketchup gratis, dann auf zur Odyssee in die Nacht von Winnipeg. Mit Jeremys klapprigem Chevrolet durch das am Flughafen aus dem Boden geschossene kosmopolitische Viertel, ein Labyrinth aus lauter Gebäuden mit mindestens fünfzehn Stockwerken und Sozialwohnungen. Weiter durch einen Tunnel, bestehend aus einer Reihe Aluminiummonster, die die Straße säumen, oder genauer gesagt, aus deren Konturen, die unter Neon-Strahlenkränzen und dicken Rauchsäulen verschwimmen, dann durch eine eisstarre Einöde. Und zum Schluss ein ebenerdiges Blockhaus mit der Aufschrift Nude Inn, innen und außen mit verspielt blinkenden Lichterketten, zu Ehren des Neuen Jahres. Hier haben Jeremy und ich meine Geburt gefeiert, mit abwechselnd spendierten Bierrunden. Die erste zahlte er, die nächste ich, dann noch einmal Jetzt-ich, Jetzt-du. Jedes Mal prosteten wir uns zu, bedeutungsschwere Blicke austauschend, dazwischen meist schweigend. Er schaute zum Podium, doch seinem Gesichtsausdruck zufolge hätte man meinen können, dass dort ein Bergbächlein plätscherte und ein Rehkitz sich daran labte. Die Mädchen wechselten sich ab, einzeln oder in Paaren, wanden sich um eine Metallstange oder umeinander und zeigten immer mehr Akrobatik. In der Pause sagte er mir etwas ins Ohr, aber die Musik war zu laut, und ich zu müde. Auf der Rückfahrt fügte er noch hinzu, dass wir einen ausge- RELA TIONS zeichneten Tisch gehabt hätten, und ich pflichtete ihm bei. Tags darauf, und das war das einzige Mal, sagte er mir ein paar Worte über sich, mit der gleichen weichen Stimme und demselben ungetrübten Lächeln. Unlängst sei er aus einem kleinen, fünfzig Meilen nördlicher liegenden Ort hergezogen, nachdem die Firma, bei der er arbeitete, pleitegegangen und die Tante, bei der er aufwuchs, gestorben sei, ebenso sein Zwillingsbruder. Die Tante habe nie geheiratet; vor geraumer Zeit an multipler Sklerose erkrankt, sei sie die letzten zwölf Jahre ans Bett gefesselt gewesen. Seine Mutter habe er im fünften Lebensjahr durch die Hand seines Vaters, genauer: eine Holzaxt verloren. Den Vater habe er nie im nüchternen Zustand erlebt; nach dem Gefängnis habe er sich ab und zu noch blicken lassen, im Haus einer Witwe, mit der er ein neues Leben angefangen hatte, doch bald schon verlor er dieses durch einen Brand, den er, betrunken im Bett rauchend, selbst verursacht hatte. Seinen Bruder habe er im letzten Jahr verloren, als diesem bei der Jagd das Gewehr ins Gesicht explodierte. In Winnipeg gefalle es ihm; mit der Arbeit sei er rundum zufrieden. Ich ging vor dem Mittagessen, hinaus in die Kälte, die an der Haut riss. Nach ungefähr fünfzehn Minuten Fußstampfen und Warten kam der Zug; er war leer. Bis das Abtauchen unter die Erde ankündigte, dass man sich dem Zentrum näherte, öffneten und schlossen sich die Türen umsonst. Bis zur Yong Street kam gerade mal ein Häufchen von Kopf bis Fuß vermummter Gestalten zusammen, und jeder hatte Eile, sich auf einen der beheizten Sitze zu kauern. Im chinesischen Viertel hatten einige Läden geöffnet. Aus einer Bäckerei quoll Dampf durch Spalten in den maroden Fenstern; ich trat ein und kaufte eine Tüte Gebäck mit Krabben und Ananas von einem Männchen, das Zeitgenössische Poesie und Prosa nicht aufhörte, sich zu bedanken, selbst als ich die Tür schon wieder geschlossen hatte, und das mir, an der beschlagenen Fensterscheibe klebend, noch einmal zuwinkte. Von dem Nachmittag erinnere ich nur noch, dass ich eine Zeit lang in Büchern stöberte, im Untergeschoss eines Einkaufszentrums, das nach dem weihnachtlichen Kaufrausch auf einmal in Apathie versunken war, obgleich weiterhin in Neon die Versprechen blinkten, dass 2006 all unsere Wünsche in Erfüllung gehen würden. Irgendwie schleppte sich die Abendbrotzeit heran. Ein von Hand beschriebenes Schild lockte mit taiwanischen Leckereien zum feiertäglich ermäßigten Sonderpreis in ein Restaurant, das sich am Ende eines Hofes zwischen ein Blumengeschäft und ein Bestattungsunternehmen zwängte. Gleich hinter der Schwelle ragte die Rezeption auf, kaum niedriger als ich und ausgestattet mit einer richtigen Hotelklingel, auf die man draufhauen musste, damit jemand kam. Ein beängstigend breites Frauengesicht tauchte auf; während der paar Sekunden, die es mich von oben herab betrachtete, war ich nicht sicher, ob es sich um einen Scherz handelte, eine Karnevalsmaske, die man sich hier als Willkommensgruß überstülpte. „Eat one person“, sagte sie mit einer Betonung, die sie sicherlich als Fragestellung empfand, stieg dann von ihrem Thron herab und bedeutete mir mit dem Finger, ihr in einen Saal zu folgen, der vollkommen leer war. Die Wahl des Tisches erforderte freilich einiges Nachdenken; sie brachte mich in einer der Boxen für Paare unter, hinter einer prunkvollen Trennwand aus Sperrholz, verziert mit einem Dschungel aus Reliefschnörkeln, knallroten, grünen, goldfarbenen. Der Raum erstickte in malerischer Pracht, Vergoldung und Plastik. Auf jedem Tisch thronte ein Kunstblumenstrauß, an den rosa Wänden hingen künstliche Kerzenleuchter und zahlreiche ori- 149 entalische Abstraktionen, von der Decke wiederum Leintücher, die man knapp über Kopfhöhe durch den Raum gespannt hatte, und bunte Papierdrachen mit heraushängenden Zungen. Als Kontrapunkt zur koloristischen Exaltation drang, während der ganzen Zeit, die ich in diesem Etablissement verbrachte, aus einem Lautsprecher das dünne Rinnsal einer blutleeren Frauenstimme, so klagend, dass selbst der Teppichboden, hätte er Taiwanisch verstanden, in Tränen ausgebrochen wäre; begleitet wurde diese Stimme hingegen von ziemlich hektischer Klaviermusik, die mal in Richtung französisches Chanson, mal in Richtung Salsa tendierte. Und von einem durchdringenden Surren, das die Musik zuweilen erstickte. Es dauerte und dauerte, doch das Essen kam nicht. Lediglich Bratgeruch, schwer und üppig, und eiliges Geschirrklappern aus der Küche, als würde sich die gesamte vielköpfige Familie ins Zeug legen, um massenweise Gäste zu bedienen, obwohl sich bis zum Ende meiner Mahlzeit keine Menschenseele blicken ließ. Die Wirtin brachte mir schließlich doch noch die Muscheln, die ich bestellt hatte, präsentierte sie feierlich mitsamt deren Begleitung, einem Schälchen Reis und einer Flasche Leitungswasser, und sie schmeckten nach Schwein. Als sie mir das Wechselgeld zurückgab, sagte sie so besorgt wie enttäuscht: „Not eat much.“ Zur Antwort simulierte ich, so gut ich konnte, ein taiwanisches Lächeln mit Verbeugung. Bei der Fülle der gastronomischen Attraktionen von Winnipeg gehe ich nirgendwo zweimal hin. Gestern, beim Japaner, war das Dekor genau das Gegenteil: Rechtwinklige, asketische, makellos reine Linienführung; ein Minimum an Farben, Blassgelb und Schwarz; das Licht diskret, gedämpft durch Flächen aus Reispapier, keine Musik. Am Eingang stehen sie Spalier, der Inhaber und sei- 150 Marinko Ko{~ec: Diese Handvoll Sand ne Frau nebst zwei Burschen, offensichtlich die Söhne. Alle haben sie mich, während ich aß, einzeln besucht, um zu fragen: „Everything okay?“ oder um mir Wasser nachzugießen. Ich sinnierte über ihrem Credo, das im Klo auf einem Täfelchen eingraviert war: Who comes as a friend, always comes too late, and leaves too early. Ich habe immer aufrichtig an Freundschaft geglaubt, und in dieser Überzeugung bin ich auch zu ihnen gekommen; aber das hier war ein Hinweis, dass alle Hoffnung vergeblich ist, immer ist es zu spät, wenn es denn nicht zu früh ist. Am Nebentisch unterhielten sich zwei japanische Geschäftsleute leise zwischen zwei Bissen. Sie verstanden sich ausgezeichnet so, mit halben Worten; kaum hob einer zu sprechen an, nickte der andere, die Lücken füllten sie mit gemeinsamem Kopfnicken. Dezent und mit kultivierten Bewegungen, fügten sie sich tadellos ins Ambiente ein. Während des Abendessens allerdings blätterte nach und nach ihre Politur ab; beim Öffnen einer neuen Flasche wurde das Sakko über die Stuhllehne geworfen oder der Krawattenknoten gelockert, oder die Krawatte wurde ganz abgelegt und zusammengerollt in der Hosentasche verstaut, man sprach immer lauter, lachte glucksend mit vollem Mund, trocknete sich mit dem Tischtuch die schweißfeuchte Stirn. Von irgendwoher schneite eine Gruppe von Asiatinnen herein, Teenager, vermutlich auf einer Klassenfahrt. Sie quetschten sich an fünf zusammengestellte Tische und fingen alsbald zu tschilpen an, in einer den Obern unverständlichen Sprache mit vielen langen, ansteigenden Tönen. Die Verhandlungen wurden auf Englisch geführt, und das recht mühsam: Eines der Mädchen übersetzte den übrigen jedes Gericht von der Speisekarte, was heftige Diskussionen hervorrief, bis eine riesige Gemeinschaftsplatte eintraf, die mit lauten Rufen und Applaus begrüßt und umgehend mit Fotoapparaten in Angriff genommen wurde. Sie fotografierten sich auch gegenseitig, sich umarmend oder mit Wasser Brüderschaft trinkend. Nicht eine trank Alkohol, aber bald wurden sie von einer Hochstimmung erfasst, kollektive Berauschtheit durchflutete den Raum. Der Wirt, selbst schon mit gehöriger Schlagseite, schloss sich den Geschäftsleuten an und begann, sich mit einem von ihnen über etwas sehr Erheiterndes auszutauschen; einstimmig brachen sie in Gelächter aus, schlugen sich auf die Schenkel und bleckten breit die Zähne. Der andere kicherte, den Kopf auf den Tisch gelegt, mit abwesendem Blick und mitunter vor sich hinsummend. All das ergab sich ganz natürlich, alles Mögliche hätte nun eintreten können, um ein Haar hätten wir alle angefangen, im Chor zu singen, auf den Tischen traditionelle Tänze zu tanzen; es fehlte nicht viel, und Feuerschlucker wären eingetreten, Trapezkünstler, Giraffen. Die koketten Blicke, die mir die Mädchen zunächst verschämt zuwarfen, wurden schließlich ganz unverhohlen, forschend, begleitet von Flüstern und schrillen Ausrufen. Durch die angenehme Stimmung war ich versucht, mich an ihren Tisch zu setzen. Ich war geradezu überzeugt, dass ich im selben Augenblick die Sprachbarriere, die Rassen- und Alters-, vielleicht auch die ideologischen Unterschiede überwinden, mich mit jeder Einzelnen von ihnen verschwestern und in seliger Umarmung nach Hause gehen würde, wohin auch immer. Dennoch verließ ich das Lokal. Trat hinaus in die grässliche, knirschende Kälte, zwischen Flocken, die erneut zu tanzen begonnen hatten, diesmal einen horizontalen Danse macabre, befördert von einem durchs Mark dringenden Nordwind, und langsam trug ich meinen eigenen Sack voll Knochen durch dieses Gräberfeld aus RELA TIONS Glas- und Stahlriesen, deren Beleuchtung gespenstisch verloschen war. Es ist kein Masochismus, der mich in solche Restaurants zieht. Im Gegenteil, in der Regel kommt es zu einer wohltuenden, befreienden Umkehr: Der angestaute Kummer lodert auf, wächst an zu einer unerträglichen Fülle, bis er explodiert und hervorbricht, begleitet von hysterischem Lachen, das in diabolische Euphorie umschlägt, dann in ein Gefühl des Behagens, das ich, fast schwebend, mit mir forttrage. Und für die nächsten paar Stunden ist alles blank gespült, ist alles verschwunden, es ist mir verdammt gleichgültig, wo ich bin und was geschieht, wenn man mich darum bäte, gäbe ich bis aufs letzte Stück alle meine Kleider her, sorglos würde ich zuschauen, wie man mir meine inneren Organe herausschneidet. Doch am nächsten Morgen, Punkt fünf, beginnt alles aufs Neue, vollkommen gleich. *** Nach genau drei Wochen fingen sie an herabzufallen. Zu wenig Zeit, um zu Atem zu kommen. Um abzuwarten, dass die Aggression der fremden Gerüche aufhörte, die Geister der früheren Untermieter verflogen, die Überreste von wer weiß welchen zerbrochenen Existenzen, wer weiß welchem hinausgestoßenen Jammer. Und um einen wenn auch brüchigen Frieden mit diesen Räumen zu schließen, ohne Ehrgeiz, sie je als meine eigenen zu empfinden. Ein Wohnzimmer, zum Atelier umfunktioniert, Bad, Küche mit Essecke, eine Schlafkammer. Ausreichend Licht dank der großen Fenster. Zum Glück mit Gittern. Auch wenn es paranoid sein mag – als Frau allein in einer Souterrainwohnung habe ich nichts dagegen. Schnell habe ich herausgefunden, dass Hunde an die Fenster pinkeln, selbst die, die an der Leine geführt werden. Zeitgenössische Poesie und Prosa 151 Foto: Jakob Goldstein RELA TIONS Mirja Unge beim Festival Europäischer Kurzgeschichten Ich habe mir immer einen Hund gewünscht, oder zumindest das Bellen. Einen wie den, der von seinem Besitzer zum Hüten in der Wohnung gelassen wird, ungefähr drei Stockwerke höher. An die Fenster pinkeln auch die mit Bier abgefüllten Fussballfans, nach jedem Spiel im hundert Meter entfernten Stadion. Ausschließlich in Gruppen. Und dabei grölen sie ihr „Dinamoooo” oder „Kro-azien ist Wääältmeister”. Vor den Fenstern liegt ein allzu knapp bemessener Parkplatz, auf dem einige Anwohner heldenmütig eine kleine Naturoase pflegen mit Hilfe von Schildern wie Töte die Pflanzen nicht, Gottes Auge sieht dich. Gegenüber steht ein Haus, das irgendeine Glaubensgemeinschaft für ihre Bedürfnisse errichtet hat. Diese bestehen in abendlichen Zusammenkünften an den Wochenenden und bestimmten Wochentagen. Du siehst sie nicht, wenn sie kommen, aber auf einmal ertönt Gesang, kaum hörbar, dann immer viel- stimmiger, immer stärker durchdrungen von Seiner Stimme. Wenn sie vollends entfesselt sind, öffne ich die Fenster und drehe Industrial Noise auf. Oder die Neofolk-Sängerin Siegfriede Skunk, aus der Zeit ihrer paradoxen satanistischen Phase, nach der sie ins Irrenhaus eingeliefert wurde. Sie lassen sich dadurch nicht gerade entmutigen, aber in der Luft entsteht immerhin eine Art Gleichgewicht. Die Nachbarn von oben höre ich ebenfalls, und wie! – wenn sie vögeln, oder wenn sie sich kloppen und dabei Möbel zerschlagen. Einmal habe ich versucht sie darauf hinzuweisen, dass meine Ohren nichts damit zu tun haben wollen, und habe mit dem Besenstiel an die Decke geklopft. Das haben sie als meinen Wunsch mitzumachen aufgefasst, als koketten Ansporn, den sie mit demselben Pochpoch-poch erwiderten, daraufhin gaben sie sich erst recht Mühe, noch inbrünstiger zu stöhnen und sich gegenseitig sämtliche Vorfahren zu ficken. Und dann ist die Dame aus dem zwölften Stock gesprungen. Ich saß auf dem Fensterbrett mit meiner millionsten Zigarette. Ohne Gedanken, außer vielleicht dem an die Wärme einer Herbstnacht oder das Funkeln der Sterne, während meine Blicke über den Himmel schweiften, um irgendwo vielleicht doch noch einen Schlaf bringenden Engel zu erspähen. Und hörte auf einmal hinter meinem Rücken ein Geräusch wie einen Windhauch. Ich konnte gerade noch den Kopf ein wenig zur Seite drehen, weit genug, um einen Blick auf den unnatürlich verrenkten Unterschenkel mit strumpflosem Fuß zu erhaschen. Einen Augenblick später gab es einen dumpfen Aufprall, ohne Widerhall, ein Haufen bereits lebloser Gliedmaßen krachte herunter und verwandelte sich sofort in einen formlosen, völlig entmenschlichten Lappen. Die Dame, hieß es, sei krank gewesen. Im Kopf und anderswo. Obendrein alt und einsam. Aber warum musste sie 152 Marinko Ko{~ec: Diese Handvoll Sand auf mich warten, um ihrem Leid ein Ende zu machen? Warum musste sie es fünf Meter vor meinem Fenster abladen? Drei Monate später war die Eröffnung meiner Ausstellung in der Galerie Gradec. Über drei Stockwerke verteilt, mit Fernsehen und dem Kulturminister und allen wichtigen Kulturministranten, endlich, zwölf Jahre nach der ersten Stadtbücherei. Und einer Menge aufgedonnerter Weiber, die mit ergriffenem Seufzen vor den Bildern standen, die Hand auf der Brust, und nur noch stammeln konnten: „Das ist ja... Das ist ja...” Und deren mächtig betuchten Männern mit ihren halslosen viereckigen Riesenschädeln, die sich heimlich meine Adresse notierten in der Absicht, ihren Schatz zu überraschen, einzig darum besorgt, dass sich die Farben nicht mit dem Canapé bissen. Und Wüstlingen, die sich erfolgreich im Gewühl tarnen, aber wenn sie dich allein im Atelier abpassen, wirst du sie nicht mehr los. Zunächst erkundigen sie sich ganz allgemein nach Techniken, nach der Bedeutung von diesem und jenem, decken kosmogonische Konnotationen auf, streuen immer gewagtere Anspielungen ein und verzehren sich die ganze Zeit doch nur nach einem: Den Hosenladen aufzumachen und ihn dir zu zeigen. Es war wirklich brechend voll, aber ich bemerkte auch zwei, drei Kolleginnen, die sich diskret in größtmögliche Nähe zu irgendwelchen Kustoden und Galeristen treiben ließen und dabei in alle anderen Richtungen blickten außer auf die Gemälde. Und zwei Kollegen, die dagegen vergnügt, den vernichtenden Daumen und Zeigefinger ans Kinn gelegt, die Bilder betrachteten, einander abwechselnd etwas ins Ohr flüsterten und sich dann vor Lachen bogen. Im Scheinwerferlicht und unter dem Schwall von Lobeshymnen zitterte ich vor Angst, dann vor Scham. Dass man mich wie eine Zirkusattraktion vorführte, fürs Familienalbum fotografierte, befummelte, mir Diktiergeräte in den Mund schob, das war okay, das musste abgearbeitet werden. Aber die Bilder! – als sähe ich sie jetzt zum ersten Mal. Auf einmal hingen da an den Wänden Abbilder meiner Trauer, die ich auf der Leinwand breitgetreten hatte, Tag und Nacht, monatelang, nicht wissend, was ich tat. Da schrie es nun von den Wänden, zeigte mich zerrissen, in hundertfacher Ausführung. Mir schien, alle im Raum bemerkten es. Als sähe mich jeder Einzelne von ihnen so, wie ich mich vor ihnen sah, nicht nur entblößt, sondern gehäutet. Dennoch drangen allmählich Worte zu mir durch, mit denen meine Arbeit gewürdigt wurde, etwas wie Abtauchen in archetypische Mäander, Verkettung von Ursprungsmetamorphosen, psychogrammatische Textur, Überschneidung phantasmagorischer Ebenen, und mir ging auf, wie sehr ich mich irrte. Man sieht weder mir etwas an noch den Bildern. Diese Bilder gehören jetzt ihnen, sie können sie zerreißen, wenn sie wollen. Mir haben sie nie gehört, sie sind nur durch mich hindurchgegangen. Das brachte mir Erleichterung, eine riesige Last fiel von mir, entlud sich wie rinnender Sand. Gleichzeitig stieg ich zur Decke auf und blieb darunter schweben, unsichtbar. Benommen, sogar leicht kichernd brach ich nach Hause auf, zu dem Ort, den ich begonnen hatte, mein Zuhause zu nennen. Die Champagnerbläschen wirkten mit vereinten Kräften, trugen mich wie auf Händen die Vla{ka- und Maksimirska-Straße hinunter. Selbst dann noch, als ich das Gedränge vor dem Gebäude bemerkte, Menschen, die mit den Armen fuchtelten, und andere, die herbeigerannt kamen. Meine Reaktionen sind immer verzögert. Wer nur ein bisschen Selbsterhaltungstrieb besitzt, hätte darin ein Zeichen zum schleunigen Kehrtmachen erkannt. Ich aber setzte meinen hypnotisierten Gang fort, bis ich mich buchstäblich von Angesicht zu Angesicht mit etwas befand, was zunächst wie ein Fußball aussah, der unter eines RELA TIONS der geparkten Autos gerollt war. Erst nachdem ich eine ganze Ewigkeit hingestarrt hatte, erkannte ich, dass es sich um den wichtigsten Bestandteil eines Menschen handelte, der sich, noch zielsicherer als seine Vorgängerin, vor mein Fenster gestürzt hatte. Wie mir die Hausmeisterin, meine neue Freundin, ausführlich erklärte, hatte sich der Kopf in einer Wäscheleine im ersten Stock verfangen, war davongerollt und hatte sich so vor den Findern der Überreste verborgen. Ehe ich hinzustieß, war man schon übereingekommen, dass es sich um einen beispiellosen Mordfall durch Enthauptung handelte. In jenen Augen lag eine erstaunliche Wachheit. Etwas, das mich seit jeher aus dem Dunkel beobachtet, mit schüchterner Zurückhaltung, das aber jetzt ohne zu zögern bei mir blieb. Als ich schließlich kehrtmachte und denselben Weg zurückging, durch die Maksimirska- und dann die Vla{kaStraße, geschah das ohne jegliche Absicht. Erst an der Kreuzung mit dem Medve{~ak wurde mir klar, wohin ich ging, dass ich diese Nacht bei Vater verbringen musste. Ich blieb drei Tage. Er war fürsorglich, bekochte mich und brachte mir das Essen aufs Zimmer. Ich verließ es nur, um ins Bad zu gehen, die übrige Zeit verbrachte ich zusammengerollt auf dem Bett. Zumindest weckte das vorübergehend seine Lebensgeister. Nach langer Zeit bemerkte er wieder, dass ich existierte. Am dritten Tag spürte mich meine Wirtin auf, voll tröstender Worte, vor allem aber besorgt darüber, wie sie unter diesen Umständen einen neuen Untermieter finden sollte. Die Hausmeisterin habe alles erledigt, beteuerte die Stimme im Hörer, unnötigerweise die Verantwortung übernehmend: Sie habe sie gut bezahlt. Was genau sie denn damit sagen wolle? Ja, ob ich denn nicht wüsste, dass ich das Fenster offen gelassen hätte, sodass ein Teil jenes unglücklichen Menschen, genauer: dessen, was sich in ihm befunden habe... hier unterbrach ich sie. RELA TIONS Nur mit großer Mühe konnte ich mir vorstellen, wieder dort zu wohnen. Ich hätte jemanden bitten können, meine Sachen zu holen. Sie irgendwo unterzubringen. Und dennoch, vielleicht aus Trotz, vielleicht weil ich nur schwer der Gelegenheit widerstehen kann, mir selbst zu schaden, bin ich zurückgekehrt. Die Frau, die sich der Drecksarbeit angenommen hatte, hat ihr Bestes getan. Sie hat die Vorhänge gewaschen, die Möbel poliert, sogar das Essbesteck ordentlich in die Schubladen geräumt. Aber sie ist betagt, tatterig, und mit ihren fingerdicken Brillengläsern sind keine herausragenden Ergebnisse zu erzielen. Noch Tage später fand ich immer wieder Erinnerungsstücke: zwischen den Rippen des Heizkörpers, an den Pinseln, sogar auf den Ölgemälden, die ich zum Trocknen aufgestellt hatte. Zugegeben, diese Flecken, ja selbst die reliefbildenden Stückchen haben sich nach dem ersten Schock ganz gut eingefügt. Ein Mensch, über den ich nie etwas erfahren werde noch zu erfahren wünsche, ist, obwohl ihn alles Mögliche außer diesem Vorhaben auf das Gebäudedach hätte führen können, auf eigentümliche Weise zu einem Bestandteil meines Werkes geworden. Und hat es verdient, dass ich die Existenz dieser wenigen Spuren nicht auslösche, und sei es auch in irgendeinem ultradurchgestylten Esszimmer oder im Konferenzraum eines Mobilfunkbetreibers. Auf jeden Fall werden sie den Kunstkritikern zum Ausfindigmachen von Archteypen und phantasmagorischen Ursprüngen ebenso gut dienen wie irgendein beliebiger Pinselstrich von meiner Hand. So sind die im zweiten Stock wohnhafte Hausmeisterin und ich uns also nähergekommen. Tatsächlich besteht die Annäherung darin, dass sie mich fast täglich besucht und mir auf dem Sljeme gesammelte Pilze mitbringt. Diese bilden so ungefähr ihre einzige Nahrung, was sie aber zu verbergen sucht, wie die anderen Zeichen ihrer extremen Armut. Sie steht im Morgen- Zeitgenössische Poesie und Prosa grauen auf und geht zu Fuß den ganzen Weg, hin und zurück, der Gesundheit wegen. Dieses Pilzesammeln ist im Grunde gefährlich, durch ihre Kurzsichtigkeit wird wohl auch so mancher Giftpilz in ihre Tasche wandern. Ich ertrage Pilze sowieso nicht, für mich gibt es schon in Menschengestalt zu viel, das von Verwesung lebt. Aber das erste Mal habe ich sie im Namen der Freundschaft angenommen, und so habe ich denn nun Kontakt zu einer Menschenseele aus dem Gebäude, welche dies als Aufruf zur Wohltätigkeit aufgefasst hat, als Gelegenheit, sich um jemanden zu kümmern. Sie erlaubt mir, ihr einen Kaffee zu kochen, mehr aber nicht. Bis zur Mittagessenszeit bleibt sie sitzen und erzählt mir Episoden aus ihrem Leben, die allesamt himmelschreiend traurig sind. Offen gestanden, wiederholt sie sie mehrere Male und mit krassen Variationen. Einmal war es ihr jüngerer und einziger Bruder, der noch in der Kindheit ertrunken ist, weil er einen Freund, der nicht schwimmen konnte, retten wollte, ein anderes Mal ein Lamm, und das dritte Mal wurde er von Ustaschas getötet. Das verschafft dem Gehör immerhin eine gewisse Immunität. Die Pilze getraue ich mich nicht in unserem Müllcontainer zu entsorgen, sodass ich mit der Abfalltüte in der Hand durchs ganze Viertel laufe. Noch habe ich sie nicht beim Wühlen im Container ertappt, aber die Aussichten sind allzu groß. Der Hausmeistertitel hilft ihr wenig, wenn es gilt, irgendeinen Spaßvogel mit Sinn fürs Praktische daran zu hindern, die Glühbirne im Erdgeschoss zu klauen, sobald diese erneuert worden ist. Im Zusammenwirken mit dem ewig aufgebrochenen Haustürschloss verwandelt sich dadurch am Abend der Korridor zu meiner Tür im Untergeschoss in fünfzehn Sekunden Panik. Und noch weniger wird dieser Titel die Selbstmörder des Stadtteils daran hindern, in Scharen auf unser die umliegenden Häuser überragendes Gebäu- 153 de zu steigen, nachdem jetzt an zwei Exempeln sichtbar geworden ist, wie gut es funktioniert. Einer jähen Eingebung folgend, habe ich einen Zettel an die Eingangstür geklebt mit der Aufschrift Selbstmöder werden gebeten, ab und zu auch auf der Nordseite abzuspringen. Meine Freundin hat mich am nächsten Morgen nur verwundert und mit leicht tadelnden Blicken angesehen. Sie hatte Recht, das war kindisch, und so habe ich den Zettel wieder abgenommen. ¹...º In mir war alles stehen geblieben. Von der Welt trennte mich eine dicke Glaswand. Aus dem Innern betrachtete ich meine eigenen Bewegungen wie die eines Fremden, in Zeitlupe. Jeden Morgen musste ich mir erneut in Erinnerung rufen, warum ich lebte, was mich von den Latten unterschied, auf denen ich lag, wozu eine Zahnbürste diente. Draußen kulminierte das Wettstreiten um Vielfarbigkeit, Mobilität, Dringlichkeit. Im Fernsehen wurden kroatische Idole, Vertreter der Kommunalverwaltung gewählt, wurde immer intensiver die Integration in euroatlantische Strukturen angestrebt. Im Briefkasten landeten eilfertig Rechnungen und Werbezettel mit noch günstigeren Angeboten für Waschmittel und geräucherten Pancetta. Aber das waren nur Papiergaukeleien, Relikte einer versunkenen Welt. Im Haus fehlte es an allem; das letzte Stückchen Schokolade, die letzte Tütensuppe aufbrauchen, war, als würde man für immer ihre Existenz abschaffen. Eins ums andere verschwanden die Dinge um mich herum, oder enthöhlten sich von innen heraus und ließen leere Hülsen zurück. Wenn ich jemanden auf der Straße traf, war es, als sähe ich ihn zum letzten Mal, was immer wir sagten, schmeckte nach Abschied. An jeder Ampel hing die Möglichkeit in der Luft, dort wie eine Mumie sitzenzubleiben, bis das Marinko Ko{~ec: Diese Handvoll Sand RELA TIONS Foto: Jakob Goldstein 154 Regis Jauffret beim Festival Europäischer Kurzgeschichten Einsatzteam aus der zuständigen Einrichtung einträfe. Bestenfalls lebte ich zwei oder drei Stunden am Tag, gerade so viel bekam ich noch an Lebensähnlichem zusammen. ¹...º Die Tage legten sich dennoch einer über den anderen. Die Wochenenden dauerten unermesslich lange, doch auf der Arbeit erledigte ich, was immer man verlangte, mit der Verlässlichkeit eines Roboters. Gerade Arbeitsaufträge waren es, die, je sinnloser, desto besser, ein minimales Vegetieren gewährleisteten. Und dann kam diese Buchpromotion. Junianfang, die Zeit der letzten Sommereinkäufe, der richtige Augenblick, um Inspirationen zu kulinarischen Abenteuern zu lancieren. Dennoch hatten sich im Restaurant Peking kaum mehr als die Verwandt- schaft der Autorin und ein paar zufällige Besucher eingefunden. Mit dem kalten Büfett wartete man, bis der Chefredakteur ein Lob auf die chinesische Kultur dahergestottert und einer unserer Prominentenköche über den Aufschwung dieser Küche bei uns sinniert hatte. Bevor man sie zur Verköstigung vorließ, wandten sich alle Köpfe auf Geheiß in die Richtung der Buchillustratorin. Da erblickte ich dich. Du standst neben einem der Originale, die man aus dem Anlass an den Wänden aufgehängt hatte, mit verschränkten Armen, das Kinn in die Hand gestützt, eine Zigarette zwischen den Fingern. Ich aber hatte auf einmal nur noch einen schmalen Streifen Boden unter den Füßen, alles Übrige versank in Unbestimmtheit, in einer wortlosen weiße Leere, alles außer dieser Gestalt, die, offenbar nur wenige Schritte von mir ent- fernt, von einer wohlwollenden Hand herabgelassen worden war und wie auf Knopfdruck die Welt um sich herum ausgelöscht hatte. Ich stand wie geblendet, ohne ein Atom Luft in der Lunge und ahnungslos, wo ich sie hernehmen sollte. Zum Suchen blieb auch kein Raum mehr; ich war gefunden. Aus der Tiefe, aus wer weiß welchen Urgründen jenseits der Vernunft, strömte Licht hervor und erfüllte meinen Körper mit Prickeln. Es war unwirklich, in diesem Augenblick überhaupt etwas zu empfinden, und dennoch überflutete mich unwiderlegbar die Wachheit meiner Sinne und trug mich bereits tosend fort, ohne die geringste Chance zum Widerstand. Diese Augen. Kalt wie eine Winternacht, wie Brunnen von dichtem Dunkel und flackernd vor Glut zugleich. Auf einmal wünschte ich nichts so sehr, und ich hätte mir nie träumen RELA TIONS lassen, dass ich etwas so sehr wünschen könnte, als mich an der Quelle dieses Glanzes zu befinden, in irgendeiner Weise daran teilzuhaben. Als sich meine erste Blindheit legte, begann ich dich Stück für Stück zu erkennen. Die Augenbrauen. Ihre Bogen, entfaltete Schmetterlingsflügel, und in Ruhestellung hochgezogen zu Fragezeichen, die zugleich tadelnden Kommentar zum Ausdruck brachten, scharfe Grenzen zogen, sich wunderten über das hoffnungslose Bemühen, dich in all das hineinzuziehen, dich als eine der Ihren zu betrachten. Vollkommen menschliche Augenbrauen dennoch; sie ließen nichts Sphärisches verlauten, keinerlei Ruf aus dem Jenseits. Aber wie können Augenbrauen, fragte ich mich, wie kann irgendein Körperteil so viel Seele, so viel Vollkommenheit des Wesens enthalten? Das Gesicht darunter war in schwungvollen, großzügigen, doch auch filigranen Zügen gezeichnet, mit Liebe zu jedem Detail, ohne eine Spur von Kosmetik, durchzogen von Schatten, winzigen Anspannungen, fein sich kräuselnden Partien. Das Haar, nicht einmal versuchsweise in Form gebracht, war gekürzt und in einer gestrüppartigen Schwärze von solcher Dichte belassen, dass es metallen schimmerte. Die Feingliedrigkeit der Gelenke; jede Biegung und Verschränkung bezeugte, wie sorgfältig man dich zusammengefügt, wie viel Mühe man in deine Gliederung investiert hatte, um dann dem Werk nur eine dünne Hülle überzuwerfen, die stellenweise schmerzvoll angespannt war. Dein Wuchs erinnerte an die Gestalt Däumelinchens, doch wie du so unbeweglich dastandst, erzeugtest du um dich herum Glut und Zerstörung, wie sie in diesem Raum die unverhoffte Anwesenheit eines Tigers hervorgerufen hätte; und infolgedessen wurde alles darin künstlich, unecht, burlesk. Ja, eines Tigers. So sehr ahnte man in dir Ge- Zeitgenössische Poesie und Prosa schmeidigkeit, konzentrierte Bewegung, verborgene Gefahr. Fieberndes Lauern, gepaart mit Gelassenheit, gärenden Hunger, verborgen hinter Gleichgültigkeit und Verachtung gegenüber niedrigeren Wesen, die dir selbst aber zum Verhängnis wird. Ich beobachtete deinen Blick, während er über die Oberfläche der Dinge wanderte, als ob er gestellten Fallen auswich; mitunter blitzte er auf wie eine angreifende Schlange, trug ein Stückchen des Raumes mit sich fort, sondierte es mühelos und archivierte es. Mich ängstigte die Ahnung, dass nichts in mir imstande war, ihn aufzuhalten, dass du auch durch mich hindurchschauen würdest, als wäre ich aus Glas. Seltsam, du sahst unnahbar aus, als gäbe es keine Schritte, mit denen ich die Entfernung zwischen uns verringern könnte; und zugleich war diese Gestalt mehr als eine Erscheinung, sie prägte sich unmittelbar in meinen Körper ein, wie ein Siegel, brannte mir auf der Haut durch ihre tiefe, allumfassende Gegenwart, die die gesamte Atmosphäre in die Überfülle der Materie katapultierte, ihr Dimensionen von ohrenbetäubendem, pulsierendem Charakter verlieh, mehr Sinngehalt, als die Gebäudestatik aushalten konnte, mehr als das, was weltliche Architekten vorgesehen hatten, alles war auf einmal wie aus den Angeln gehoben, seinen Konturen entglitten, alles schwankte in Verwunderung, das Geschenk dieser schwerelosen Freiheit betastend. Nicht nur, dass ich das Undenkbare tat, indem ich das interstellare Vakuum durchschritt, sondern ich zweifelte dabei auch nicht einen Augenblick, dass ich wissen würde, was ich dir sagen sollte. Ich fühlte, dass ich keinen Fehler machen konnte. Wenn es mir gegeben war, irgendwann im Leben etwas Richtiges zu sagen, in genau der richtigen Weise und im rechten Augenblick, wenn es denn so etwas auf der Welt gab, dann war 155 dies nun bereit, über meine Lippen zu kommen. Vielleicht in einer Sprache, die ich nicht verstand. Vielleicht in Gestalt einer Blume. Es überraschte mich nicht im Geringsten, dass du mich ohne Verwunderung ansahst, völlig ausdruckslos, nur den Kopf zu mir wendend, als ich an dich herantrat. Ich sagte nichts. Einen Schritt von dir entfernt blieb ich stehen, nahe genug, um dich zu berühren, doch das tat ich nicht, denn wenn ich schon entdecken sollte, dass du bloß ein Wunschbild warst, so mochte es zumindest noch ein paar Augenblicke dauern. Über dein Gesicht huschte ein Lächeln, das mir als dein Lächeln so vertraut werden würde, ähnlich einer Pforte, die sich zur Seligkeit selbst öffnet, aber ungreifbar, kaum länger als ein Aufflackern und mindestens zehnfach von Schatten unterlegt. *** So viele hatten mich schon angesprochen mit irgendwelchen charmanten Instantfloskeln, etwas Einmaligem, immer noch Originellerem. Nur zu gut kenne ich solche Worte, die nicht einmal versuchen, mehr zu sein als eine Präsentationsmappe und ein Passierschein für das Reich des Lustprinzips. Und haben sie ihre Mission erfüllt, wird die gesamte Sphäre der Verbalität aufgehoben, und die grässliche Banalität des nicht Erwähnten gibt sich zu erkennen. Angenehme Worte, unvermeidliche, mit denen wir einander schmeicheln, unterwürfig, aus Angst, zur Antwort eine Ohrfeige zu bekommen. Ich wartete, bis meine Anwesenheit auf der Promotion offiziell überflüssig wurde, wie sie es ja ohnehin von Anfang an gewesen war. Alles an diesem Ort schrie laut seine Überflüssigkeit heraus, die Krawatten, das auf den Hälsen zerstäubte Parfüm, meine Bilder, der verbrauchte Sauerstoff, obwohl keiner der Anwesenden dies selbst unter Folterqualen je eingestanden 156 Marinko Ko{~ec: Diese Handvoll Sand hätte. Im Übrigen hoben sie sich dadurch nicht von der Masse ab, die in geringerer oder größerer Dichte über den Planeten gespült wird, zwischen Wände, die sich in nichts von den hiesigen unterscheiden. Da tratst du an mich heran. So wie ein geübtes Auge an ein Bild herantritt, versuchend, den Blick in etwas im Innern Liegendes zu vertiefen und dabei die nötige Entfernung einzuhalten. Dies war dann doch etwas Neues, leicht Beunruhigendes. Dass mich jemand betrachtete und dabei ein Bild in mir suchte. Als hätte ich in diesem Blick den Ort entdeckt, von dem die Bilder ausgehen. Doch es war nur ein Aufblitzen, es ließ sich nicht fassen, in etwas Fließendes verwandeln. Auf einmal befandest du dich da, einen Schritt entfernt, ohne das Geringste zu fordern oder selbst etwas anzubieten, außer einer Weichheit, die sich von allein ergoss, stumm, melancholisch, und sich schon an mir festsaugte. Sehr schnell, vielleicht schon während wir dort standen, wusste ich, dass ich es mir nicht einbildete. Obwohl es noch gar nicht wahr sein konnte. Obwohl die Wahrheit erst Masche um Masche gestrickt werden musste. Obwohl mich so oft schon irritiert, entmutigt hatte, was ich im Vorhinein wusste. Wenn nur noch eine Schablone zu füllen ist, zu füttern mit dem eigenen Fleisch. In dem Raum zwischen uns wirkten Worte lächerlich klein, unnötig, ja schädlich, am ehesten imstande zu zerstören, was auch immer sich anbot. Nun galt es aber trotzdem zu reden. Diesen Augenblick, der uns aus der Zeit herausgelöst hatte, irgendwohin zu lenken. Und hier sitzen wir nun am Tisch eines vollkommen leeren Cafés, den Barkeeper nicht mitgerechnet, der ständig an seinem Instrumentarium herumfummelt, um zu vertuschen, dass er uns belauscht – unerschöpflich ist das Verlangen der Menschen, das zu hören, was sie nichts angeht. Vielleicht macht ihn gerade das neugierig, dass fast nichts zu hören ist: Diese zwei Sonderlinge sind hierher gekommen, um einander anzustarren. Sie gleichen sich wie ein Ei dem anderen, zwei schwarze Eier!, und kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Gefunden haben sie sich in einem Graben, wo man sie beiseite gelegt hatte, in sicherer Entfernung zu den gesunden Eiern, und haben sich in ihr eigenes Spiegelbild verliebt. Jetzt verschlingen sie es mit Blicken, und, ohne sich aus den Augen zu lassen, sagen sie wieder und wieder: Wie schön du bist! Und: Was soll ich, wo du doch so schön bist, bloß mit dir machen? Wohin soll ich mit dir, wo ich doch selbst schon so schwer an mir trage, wo es mich so viel Mühe kostet, in mir Platz zu finden? Hier, nimm und sieh selbst, wie es sich anfühlt, mit einem Ei in der Hosentasche durch die Welt zu ziehen. Oder sollen wir uns gleich anbumsen, damit es vorbei ist mit den Grenzen zwischen innen und außen, mit dem ganzen Schwindel der menschlichen Schale. Du kannst dich mit Schwarz zieren, so viel du willst, im Grunde bist du doch konfektionsmäßig fahlgelb und schleimig. Ich sitze mit dem Rücken zur Wand, wie immer, wenn ich die Gelegenheit dazu ergreifen kann. Der Vorzug eines leeren öffentlichen Raums liegt, außer in der noblen Abwesenheit des Volkes, auch darin, dass man leicht einen Platz an der Wand findet. Die Wand war schon immer der Freund, dem ich am liebsten meinen Rücken anvertraue. Es heißt, dass wahre Liebe mit der Zeit in Freundschaft übergeht. Werden wir genug Ausdauer haben, um der Liebe ein Denkmal aus Freundschaft zu errichten? Den Zweifel zum Schweigen bringen, in erster Linie. Nicht zulassen, dass er uns schon vor dem Startschuss lähmt. Alle Unverbrauchtheit aus uns schöpfen, ihr die Fenster öffnen, Raum schaffen für Frische. Zusammen würden wir zweifellos in Höhen aufsteigen, die der Mensch noch nicht kennt, oder nur aus der Fiktion. Weitab von diesen bequemen, verlockenden Konstruktionen, in denen man RELA TIONS sich zu zweit begräbt, damit dieser Zustand so lange wie möglich andauern möge. Wir wären gerne die schwerelose Variation des ewigen Hormonthemas. Und natürlich nähmen wir unsere Körper mit in die Höhe, denn sonst macht’s keinen Bock. Wir würden brennen und aus der Asche unablässig neue Flammen entfachen. Wenn wir doch nur hinter den Steinen in uns hervorkriechen könnten. Dann würde das Ei seine monolithische Glätte, seine Selbstgenügsamkeit eintauschen für ein Körnchen fremden Salzes. Wir kramen nach etwas in uns, das es verdient, ausgesprochen zu werden. Wir probieren aus, wie uns das steht, was sich da zuhinterst im Schrank angehäuft hat und von diesem Fremden nun entdeckt wurde. Wer bist du, dass du glaubst, es gehöre dir? Und wer bin ich, wenn du glaubst, dass es in mir ist? Zusammengebracht haben uns chinesische Weisheit, kulinarische und astrologische Kenntnisse. Chinesische Tierbilder auf Seide, verewigt in den Bücherregalen einheimischer Feinschmecker. Was hat uns der erste Zugriff auf das Wissen über den anderen gebracht? Dass wir im Sternzeichen desselben (heimischen) Tieres stehen und Bingo! sogar am selben Tag desselben Jahres geboren sind! Glückwunsch an die Gewinner unverhoffter Zwillingshälften! In einem anderen Fall hätte mich das zum Lachen gebracht, doch das hier roch sofort nach Tragik. Ein völlig belangloses Datum, der 29. Dezember zweiundsiebzig, warum musstest ausgerechnet du auch daran hängen bleiben? In derselben Stadt, vielleicht im selben Krankenhaus, du sagtest, dass du niemanden mehr hast, den du fragen kannst. Haben wir uns damals schon verliebt, auf den ersten Blick, ineinander und in die Welt, und uns aus Nachbarbettchen gegenseitig die Ohren vollgebrüllt über diese Verliebtheit, die von Jahr zu Jahr mit uns wachsen würde, wie ein Baum mit zwei Stämmen, wie die Wertpapiere von IT-Unternehmen, wie Passa- gierflugzeuge konkurrierender Gesellschaften, die sich gegenseitig an Größe übertreffen, bis sie die Kapazität erreicht haben, zeitgleich ganze Städte zu versetzen, eine in die andere, zum Entzücken ihrer Bewohner? War es Irrtum, Neid, reine Bosheit, was uns aus demselben Bettchen hinaus auf getrennte Wege geschickt, was das gemeinsame Ei gespalten hat und es zuließ, dass seine platonischen Hälften blind umherirrten, sich vielleicht gar für immer verfehlten? Horoskope gehören zu all dem Mist, dem man nicht entgehen kann, so sehr man ihn auch ignoriert. Los, versuch doch mal, unter keinem der Sternkreiszeichen geboren zu sein. Versuch doch mal, dich nicht für deine Eigenschaften zu interessieren, für das, was dich von elf Zwölfteln der Menschheit unterscheidet. Das liegt schon gut und gerne unter einer Milliarde! Solide Grundlage für ein Gefühl von Einmaligkeit und einen Einblick in die persönliche Bestimmung! Was also haben die Sterne uns beiden vermacht, welche Wegzehrung haben sie uns auf die Reise zu den Sternen mitgegeben? Für das Tier unseres Sternbilds gehören Menschen zu dem, was ihm auf diesem Planeten weniger lieb ist. Es bevorzugt die Gesellschaft von Gestein, scharfkantigen Felsen, auf denen sich das Talvieh die Beine bricht. Es wird dort nicht dem Edelweiß nachsteigen (höchstens im Vorbeigehen draufpinkeln), sondern in aller Ruhe in sich hineinlachen. Wenn es seine Ironie zur Genüge ausgekostet hat, wird es emsig neben dem Haus grasen (Ausdauer ist seine größte Tugend, gepaart mit der Unfähigkeit, weiter als seine eigenen Hörner zu blicken) und mit seinem Geruch unverdrossen das Haus vor Gästen verteidigen. Treu ist es, dieses Tier, es bindet sich gerne, an ein Haus oder irgendeinen anderen liebgewonnenen Mühlstein: Wichtig ist nur, dass es et- Zeitgenössische Poesie und Prosa 157 Foto: Jakob Goldstein RELA TIONS Empar Moliner beim Festival Europäischer Kurzgeschichten was am Hals hängen hat. Ein Kreuz ist nicht schlecht, aber noch heldenhafter ist es, eine Kapelle auf seinem Rücken zu tragen. Wichtig ist auch, dass es jemanden zum Kräftemessen findet, jemanden, mit dem es all seinen Kummer teilen kann. Aber bitte nicht zu oft: Was meins ist, ist meins. So sind wir also für das Glück zu zweit vorgefertigt. Auch wenn der Verstand weiß, dass es unmöglich ist, wenn kein vernünftiger Mensch es glauben würde, der Körper glaubt es bereits. Die Hände verraten ihn durch ihr Zittern, suchen Halt in einer Zigarette nach der anderen. Alle Gefasstheit, bis hin zum letzten Tropfen Nüchternheit, geht in Rauch auf. Wasser rauscht trunken in den Ohren. Wein ergießt sich aus einem umgekippten Glas über Tisch und Beine. Nasse Hosen: Gelegenheit für ein Timeout, um mir auf der Toilette Wasser ins Gesicht zu klatschen. Um mit einem Blick aus dem Spiegel zu prüfen, ob in meinem Gesicht noch alles da ist, ob es vielleicht schon irgendwelche Verformungen zeigt. So habe ich mein neues Ich kennen gelernt, ein aus dem Gleichgewicht gebrachtes, ordentlich durchgerütteltes Ich, das in den folgenden Tagen durch die Stadt gehen wird, als wäre sie von Granateinschlägen zerwühlt, das über seinen eigenen Schatten stolpern, mit Telefonzellen zusammenstoßen, einen Blinden umrennen und ihm sagen wird: Entschuldigung, ich habe Sie nicht gesehen. Das über Gegenstände in seinen Händen staunen wird und über ihre Scherben auf dem Boden. Immer hat es mich eine Riesenanstrengung gekostet, nicht den Grund unter den Füßen zu verlieren, mich selbst nicht aus den Händen gleiten zu lassen. Immer waren irgendwo Drähte gespannt, die mir halfen, das Gleichgewicht zu halten. Unablässig mussten Nähte überprüft werden, die bis zum Bersten gedehnt waren. Und jetzt gebe ich all das, was mich zusammenhält, in die Hände einer blinden Neugier. Aus dem Kroatischen von Silvia Sladi} und Dagmar Schruf Marinko Ko{~ec: Diese Handvoll Sand RELA TIONS Foto: Jakob Goldstein 158 Carlos Aguilera beim Festival Europäischer Kurzgeschichten RELA TIONS Zeitgenössische Poesie und Prosa 159 Der Vampir ¹ Romanauszugº Boris Peri} Der kleine schwarze Hund, der mir fröhlich mit dem Schwanz wedelnd knapp hundert Meter vor Kringa entgegengelaufen kam, hatte mein belegtes Brot, das ich, die Unvermeidlichkeit eines längeren Fußmarsches vorausahnend, am Morgen als Wegzehrung aus dem Hotel mitgenommen hatte, im Nu verschlungen. Dafür hatte ich jetzt einen Freund fürs ganze Leben, und das ist heutzutage immerhin eine Seltenheit. Ich saß auf der niedrigen steinernen Mauer und fütterte ihn. Dabei unterhielt ich mich mit ihm, wie mit einem menschlichen Wesen, was ich auch sonst gerne tue, wann immer mir der böse Alltag den Glauben an meine Zeitgenossen erschüttert. Da ich nicht gleich aufstand, sprang der kleine Hund auf die Mauer und legte sein Köpfchen in meinen Schoß, als wolle er sagen: Ich habe Mitgefühl mit dir. Es war ein ganz gewöhnlicher schwarzer Mischling und trotzdem irgendwie besonders in dieser trübseligen Landschaft, die, ich bemerkte es erst, nachdem ich aufgestanden war, entsetzlich öd wirkte. Ein paar Autos, die vorbeigefahren waren, änderten nichts am Eindruck, dass wir beide in diesem Augenblick die einzigen Lebewesen unter dem trüben Herbsthimmel seien. In Kringa, das im Grunde aus einer einzigen Hauptstraße besteht, findet Boris Peri}, geboren am 25. Mai 1966 in Vara`din, Kroatien. Grund- und Mittelschule in Vara`din. Studierte Germanistik und Philosophie an der Philosophischen Fakultät in Zagreb. Tätigkeit als Schriftsteller, literarischer Übersetzer und Journalist bei verschiedenen kroatischen und ausländischen Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen. Literarische Veröffentlichungen und Übersetzungen in verschiedenen kroatischen und ausländischen Zeitschriften, sowie diversen Anthologien. Mitglied der Kroatischen Schriftstellergesellschaft und des Kroatischen Schriftstellerverbands. Lebt und arbeitet in Zagreb. Veröffentlichte Bücher: Politi~ki vodi~ – Njema~ka ¹Politischer Reiseführer – Deutschland, politische Publizistikº, Zagreb, 1992; Austrija ¹Österreich, politische Publizistikº, Zagreb, 1993; Sezona stakla ¹Glassaison, Prosaº, Zagreb, 1993; Heartland ¹Prosaº, Zagreb, 1995; Putovanje na granici ¹Die Reise an der Grenze – Auswahl aus der zeitgenössischen österreichischen Prosaº, Zagreb, 1995; Quattro Stagioni ¹Prosa, mit Z. Feri}, M. Ki{ und R. Mlinarec), Zagreb 1998; Groblje bezimenih ¹Friedhof der Namenlosen, Prosaº, Zagreb, 2003; Pri~e iz be~ke kuhinje ¹Geschichten aus der Wiener Küche, Essaysº, Zagreb, 2004; Vampir ¹Der Vampir, Romanº, Zagreb, 2006; Heartland i druge pripovijetke ¹Heartland und andere Erzählungen, Prosaº, Zagreb 2006. man sich leicht zurecht. Im VampirCafé, von dem ich aus der Zeitung wusste, wurde ich äußerst herzlich aufgenommen. Das schwarz-rote Interieur, geheimnisvolle Zeichen an hölzernen Säulen und gedämpften Wandlampen, sowie die über Tür und Fenstern hängenden Knoblauchkränze, verliehen dem Ort den morbiden Charme einer längst vergessenen künstlerischen Installation, aus der Zeit als die Popart noch weitgehend mit dem Mythos vom Grafen Drakula und anderen celluloiden Blutsaugern kokettierte. An den Wän- den hingen in roten und schwarzen Rahmen Zeitungsartikel über Jure Grando und das „Mysterium von Kringa“, während im Nebenraum auf einem großen Wandbild eine spärlich bekleidete Vampirin aus der amerikanischen Fiction-Factory durch die dunkle Erotik ihres Äußeren die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich zog. Dieses eisige Inferno schien mir auf gewisse weiße die logische Fortsetzung von Meister Vincents Fresken in Beram zu sein: Existierte dort noch die Illusionen einer heiteren Welt reiner Güte, so erweist sich ihr 160 RELA Boris Peri}: Der Vampir Trost, in Angesicht der Heraufbeschwörung von Warhols Drakula, der vor Durst eingeht, weil es auf der ganzen Welt keine Jungfrauen mehr gibt, mit deren Blut er ihn stillen könnte, als reiste Träumerei, an die wir – teils aus Naivität, teils aus Bitterkeit – nach wie vor hartnäckig glauben. Nunc et in hora mortis nostrae. Vorbei an den misstrauischen Blicken vereinzelter Einheimischer, begleitete mich mein zottiger schwarzer Freund zur Pfarrkirche. Dort stieß er auf eine Hauskatze und verschwand mit ihr um die Ecke. In den Friedhof eintretend, fühlte ich dasselbe Unbehagen, wie vorher in Pazin. Der Blutgeschmack im Mund blieb abermals aus. Die alten Gräber, deren steinernes Schweigen mich umgab wie die plötzliche Flut von Stille, wenn ich nachts den Fernseher ausschalte und der Einsamkeit meiner Wohnung gegenüberstehe, bargen viele Geheimnisse, die mir für immer unerreichbar bleiben werden. Einige Nachnamen kannte ich von Valvazors Liste der „ehrbaren Exekutoren“, den Nachnamen Grando konnte ich jedoch nirgends finden. Sechzehn Jahre lang trieb der {trigun mit den Einheimischen seine derben postumen Späße, bis ihm die „kühnen Männer“ des Dorfes nicht endlich den Kopf abgeschlagen haben. Wurde sein Grab danach zerstört, damit er nicht ein weiteres Mal aufersteht und mit seinem nächtlichen Klopfen noch mehr unschuldige Bewohner von Kringa in den Tod treibt, oder wurde es nur an einem weit entfernten, weniger gefährlichen Ort verlegt? Ich wusste, dass mir das niemand mit Sicherheit sagen konnte. Niemand in Kringa heißt heute Grando, erfuhr ich im Café, was mich verstimmte, weil es meine Hoffnungen zunichte machte, es würde lebende Nachfahren geben. Aber was hat für Cernjak dann jenes geheimnisvolle „J. G.“ und „K.“ be- deuten können? Andererseits bestand kein Zweifel, ich spazierte über den Friedhof, auf dem sich in der Dämmerung des 17. Jahrhunderts der erste verzeichnete Fall der Enthauptung eines Vampirs in der Geschichte unserer trübseligen Gebiete ereignet hatte. Über dem Eingang in die alte gotische Kapelle war das Jahr 1558 eingemeißelt. Der Friedhof hatte also auch zur Zeit von Grandos Beerdigung und Exhumierung existieren müssen. Ich ging zur steinernen Mauer hinter der letzten Grabreihe und blickte in die grüne Ferne. Keine Terrassen führten zur Limska draga hinab. Weder Häuser noch Straßen waren zu sehen, nur dichter, unüberblickbarer Wald. Wie das Ende der Welt, hinter dem der Traum beginnt. Ultima Coriticum. Irgendwo im Herzen dieses tauben Nirgendlands schlummerte unsichtbar das Grab von Jure Grando. Noch näher konnte ich nicht an es herankommen. Ich kehrte zur Kirche zurück, um zu sehen, ob ich mich über Jure Grando und seine möglichen Nachfahren mit dem Pfarrer unterhalten oder sogar in den Pfarrbüchern nachschlagen könnte. Leider traf ich in der Kirche niemanden an. An der Innenseite der Eingangstür klebte ein fotokopiertes Flugblatt, das, für die katholische Kirche nicht untypisch, das Volk dazu aufrief, weniger zu sterben und mehr Kinder in die Welt zu setzen. Im Lichte der Legende konnte sein Text jedoch allzu leicht eine völlig andere Bedeutung erhalten: „In Kringa will der Unhold, dass die Menschen verschwinden. Und wem dienen wir?“ In der Tat, wem dienen wir, fragte ich mich, über Dr. Kraljevi}s Patienten und ihr sinnloses Gefasel von einem angeblichen Herren nachdenkend. Andererseits denken sich die Menschen immer wieder irgendwelche Herren aus, deren Stiefel sie von der Last der Verantwortung befreit und glücklich macht. Wir können nicht alles Übel der Welt TIONS den Vampiren zuschreiben. Kretins sind wir auch selbst. Nachdem ich die Kirche verlassen hatte, setzte ich mich auf die breite steinerne Treppe und zündete mir eine Zigarette an. Der kleine schwarze Hund, der bis dahin, nachdem er es aufgegeben hatte, der für ihn ohnehin viel zu schlauen Katze hinterher zu jagen, verspielt die Straße hinauf und hinunter rannte, kam zu mir gelaufen und begann mich mit seiner warmen, weichen Schnauze zu schubsen, als wolle er mir etwas zu verstehen geben. Gedankenversunken und ein wenig verstört bemerkte ich den PKW mit italienischem Kennzeichen nicht, der – wahrscheinlich während ich mir das Innere der Kirche ansah – unweit des Eingangs zum Friedhof geparkt hatte. Ich schenkte ihm auch weiterhin keine Beachtung, da mir eingefallen war, dass ich an einer Seitenmauer auf dem Friedhof einen Haufen Überreste zerstörter Grabsteine gesehen hatte, unter denen ich mit etwas Glück auch auf eine Spur von Jure Grando stoßen könnte. Von dieser Illusion beflügelt, begab ich mich abermals auf den kleinen lokalen Todesacker. Obwohl die gesamte Gegend seit Tagesanbruch unter einer Art Dunstglocke stand, machte sich in den Farben der Bäume und Gräber eine Nuance der nahen Dämmerung deutlich bemerkbar. Der milchig weiße Himmel war von einem Hauch früher Abendröte überzogen und leuchtete trüb über den finsteren Wäldern der Draga. Auf den ersten Blick schien der Friedhof gespenstisch leer. Als ich um die alte steinerne Kapelle herum auf den Ort zuging, wo sich die Überreste der zerschlagenen Grabtafeln befanden, fand ich jedoch heraus, dass ich auf dem Friedhof keineswegs allein war. Auf der niedrigen Mauer, die den Friedhof vom Nirgendwo trennt, saß im Licht der unsichtbaren Dämmerung eine Frau, in deren Konturen ich eine trübe RELA TIONS Widerspiegelung meines Traums von der Anhalterin aus dem Tunnel zu erkennen glaubte. Zunächst dachte ich, es sei ein Trugbild, denn die Frau hatte nichts an, abgesehen von einer weißen, in Gold eingefassten venezianischen Maske, die ihr Gesicht verdeckte. Sie sah wunderschön aus, vor dem hoffnungslosen Hintergrund beinahe wie eine Trösterin. Ihre reife, sonnengebräunte Haut unterschied sich wesentlich von der grazilen Blässe von Cernjaks Tochter, die mir immer noch wie ein Gespenst im Kopf herum spukte. Machten sich in ihrem Anblick noch Spuren von Klimts Nackter Wahrheit bemerkbar, so war die Frau mit der Maske vor mir auf der Mauer die Verkörperung der puren Rätselhaftigkeit. Die Fremdheit, die ich im Traum im Gesicht der phantomhaften Anhalterin gesehen hatte, spiegelte sich im stummen Ausdruck der Maske, ihr übriger Körper versank im Schweigen des herbstlichen Tages und brachte durch seine Stille jeglichen Zweifel an der Wirklichkeit dieser majestätischen Einbildung zum erliegen. Mors liberatrix, erinnerte ich mich an das Relief vom MirogojFriedhof. War ich denn so weit gekommen? Ich starrte, ziemlich unverschämt, in die nackte Verspieltheit der Konturen der Unbekannten und verfolgte ihr allmähliches Zerfließen im weichen Licht der unsichtbaren Sonne, als mich eine scharfe Männerstimme, die aus der Richtung der Kirche erhallte, grob aus meiner Betörung riss. – Alice, vestiti, presto! Rasch drehte ich mich nach der Stimme um und erblickte einen dunkelhäutigen jungen Mann mit einer Kamera in der Hand. Mit der freien Hand fuchtelte er nervös herum, aber Alice dachte nicht daran, ihm zu folgen. Faul blieb sie auf der Mauer sitzen und warf nur gleichgültig einen schwarzen Umhang, den ich zuvor nicht bemerkt hatte, über ih- Zeitgenössische Poesie und Prosa ren nackten Schoß. Die Maske, deren Vergoldung zwischen den Strähnen ihres üppigen Haars unterging, nahm sie nicht vom Gesicht. Obwohl wir uns wieder auf dem schlammigen Boden der sog. realen Welt befanden, wirkte ihr Anblick auch weiterhin unwirklich wie ein Traum. Ich ging auf den jungen Mann zu und stellte mich vor. Wir waren nicht wenig überrascht, als sich herausstellte, dass uns dieselbe Legende auf den Friedhof von Kringa gelockt hatte. Ich wollte nicht von den Ereignissen aus Zagreb erzählen und log ihn an, ich sei Schriftsteller, auf der Suche nach Jure Grando. Der junge Mann war Fotograf, engagiert, um im Auftrag einer mir völlig unbekannten Produktionsfirma eine Reihe erotischer Aufnahmen für die italienische Version der Legende zu machen, die als Vorlage für eine Fernsehserie oder etwas ähnliches dienen sollte. Alice, die er mir nicht vorgestellt hatte, schwieg die ganze Zeit über. In seiner Welt war sie allem Anschein nach nur ein billiges, bedeutungsloses Modell, eine von vielen Unglücklichen, die von einer Starkarriere träumen und bereit sind, für ein Stückchen Ruhm jede erdenkliche Widerlichkeit einzugehen, hauptsächlich aber nur Gebrauchsware, ohne die sein Beruf leider nicht möglich wäre. Was sie in ihrer eigenen Welt war, konnte ich wegen der Maske leider nicht herausfinden. Während wir uns über Jure Grando unterhielten und warum es in Kringa sein Grab nicht mehr gibt, kam ich nicht umhin, von Zeit zu Zeit verstohlen nach den wunderhübschen Brüsten des Mädchens zu blicken. Percy B. Shelley, habe ich irgendwo gelesen, erlebte einmal, wahrscheinlich im Opiumrausch, einen ziemlichen Schock, als er seine Frau Mary ansah, von deren Brüsten ihm statt der Brustwarzen zwei runde Augen fröhlich zuzwinkerten. Dies ereignete sich im verregneten Sommer 1816, 161 in Byrons Villa am Genfer See, als Mary Shelley, sie war kaum sechzehn, ihren prometheushaften „Frankenstein“ und Byron, in unwillkürlicher Zusammenarbeit mit dem Arzt und unverwirklichten Schriftsteller John Polidori, den ersten literarischen Vampir entwarf. Die Nacht, als die Angst einen Namen bekam, dachte ich und lächelte stumm. Ich hatte keine Lust, dem Fotografen zu erklären, worüber ich nachdachte. Alice hatte keine Augen auf den Brüsten. Ihre Brustwarzen waren vom kühlen Windhauch steif geworden, sie bekam auch schon langsam eine Gänsehaut, dachte aber nach wie vor nicht daran, sich anzuziehen. Unter dem Schutz der Maske fühlte sie sich sicher, sicher und überlegen, als würde sich das Geheimnis ihres Gesichts über die alltäglichen Fragen nach der Farbe ihrer Augen, ihren Augenbrauen oder der Form ihrer Nase erheben. Obwohl ich nicht wusste, wie ich das herausgefunden haben konnte, war ich sicher, dass sie unter der Maske mein Lächeln erwidert hatte. Da ich mit dem Fotografen englisch sprach, fragte ich sie, ob sie uns verstehe, sie schwieg aber weiter und bombardierte mich fortwährend mit ihrem unsichtbaren Lächeln. Einige Minuten saß sie noch nackt in unserer Mitte, dann stand sie auf, warf den Umhang über und ging wortlos Richtung Ausgang. – Sie ist verrückt – presste der Fotograf hervor. – Sie meint, sie sei eine Künstlerin. Das meinen sie alle. Ich tat, als hätte ich seine Worte überhört, und fragte ihn, welche Figur in der ganzen Geschichte Alice eigentlich darstellen sollte. – Ivana – sagte er gähnend. – Grandos Frau. Seine Witwe. Obwohl die erhalten gebliebenen Aufzeichnungen über Jure Grando ausnahmslos mit der Erwähnung einer Witwe beginnen, deren Bett der {trigun jede Nacht aufsuchte, konnte ich mich nicht erinnern, je einen 162 RELA Boris Peri}: Der Vampir Namen gesehen zu haben. Ich rief mir das Foto aus dem Film der Mittelschüler aus Pazin in Erinnerung, auf dem ebenfalls Grandos Witwe zu sehen war. Die begabte junge Schauspielerin verkörperte im Film eine ganz andere Gestalt als Alice, deren Talente sowohl dem Fotografen, als auch dem italienischen Drehbuchautor offensichtlich egal waren. Die erschrockene, sanftmütige Frau, die nicht versteht, was ihr zugestoßen ist, und gottesfürchtig die Behörden und die Kirche anfleht, sie vor den Dämonen ihrer eigenen Wünsche in Schutz zu nehmen, entsprach der Vorstellung von einer ländlichen Witwe um die Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts weit mehr als der geheimnisvolle Vamp, den Alice verkörperte. Trotzdem war ich überzeugt, Alice würde genau wissen, was sie tut, obwohl jeder Versuch, das herauszukriegen am Schmelz der Porzellanmauer ihres Schweigens zerschellte. Ich wartete ab, bis der Fotograf gegangen war und als ich von der Straße das Geräusch des angeworfenen Motors hörte, eilte ich zum Ort, an dem sich die Reste der niedergerissenen Grabsteine befanden. Natürlich fand ich nichts, abgesehen von einem Fragment einer uralten Grabtafel ohne Datum und Familiennamen. Nur zwei Namen hatte die Tafel für die Zukunft gerettet, zwei kurze Stichworte aus der Finsternis eines unbekannten Jahrhunderts: Jure und Ivana. Ich fragte mich, ob jemand vor mir dieses unleugbare Dokument des Altertums mit ähnlichen Anregungen schon in der Hand gehalten hatte. Konnte so die Vorstellung von der mysteriösen Ivana entstanden sein, die in keiner Chronik erwähnt wird? Und was hat das mit mir zu tun, mit den Vampiren in den Zellen des Sanatoriums von Stenjevec, den Morden an den Prostituierten und dem Renfield-Syndrom? Ich zog mein Mobiltelefon aus der Tasche und wählte Velimirs Nummer. Der Benutzer, erklärte mir eine mechanische Frauenstimme am anderen Ende der Leitung, sei nach wie vor nicht erreichbar. ¹...º Jure Grando, „der erste kroatische Vampir“, hatte sich in der darauf folgenden Nacht in meine Träume eingeschlichen. Gleich einem Schatten oder einem Gespenst im Mondschein huschte er zwischen den verschlafenen Steinhäusern des alten Kringa umher und klopfte mit seinen knöchrigen Totenfingern mal an diese, mal an jene Tür. Hinter den verschlossenen Fensterläden sprachen die erschrockenen Bauern mit gedämpfter Stimme, löschten die Kerzen aus und beteten leise zur Heiligen Jungfrau, sie möge sie vor den entsetzlichen Qualen im Rachen des {triguns beschützen. Das Licht der Welt erblickte Jure in einer schwarzen Blase, auch hing ihm hinten ein Schwanz an, den er behutsam versteckte, während er seine Nachgeburt angenäht unter der Achselhöhle mit sich herumtrug. Sobald die Uhr am finsteren Kirchturm die elfte Stunde geschlagen hatte, ging Jure zu den Kreuzungen und Kreuzwegen, schlug sich dort mit seinesgleichen herum und trotzte den krsniks, deren Kraft zwölf Mal größer war, als die seinige. Von klein an mit einer widerwärtigen, aufsässigen Natur ausgestattet, fristete Jure sein Dasein und niemandem wäre eingefallen, ohne große Not die Grandova stancija aufzusuchen, deren Ruine in der Umgebung von Kringa heute noch Unbehagen verbreitet. Als Jure sieben Jahre alt geworden war, erzählte mir eine unbekannte Stimme im Traum, erschien in Kringa ein finsterer Fremdling mit schwarzem Umhang und einem Hut, dessen breite Krempe seine Augen fast zur Gänze verdeckte, und fragte: Wie heißt dieser Jüngling? Und die Frauen in ihrer Unwissenheit und Einfalt antworteten wie aus einem TIONS Munde: Jure Grando. Und so wurde Jure zum {trigun. Und als er eines Tages schließlich gestorben war, versäumten die Bauern, seine Zunge mit einem Hufnagel zu durchstechen, worauf er zu den Lebenden zurückkehrte, um sein übles Werk mit größerer Hingabe und Wucht fortzusetzen, als in seinem ersten Leben. Ich sah im Traum verwüstete Häuser, Finsternis und Feuer in den Straßen, ich sah Hunderte, Tausende Körper, tot und verwest, auf Karren und Totenbahren aufgestapelt, in Straßengräben liegen und auf Scheiterhaufen verbrennen, und über jedem wachte Jure Grando. Ich sah Kriege toben, unzählige Heere um das gepeinigte Istrien streiten, Frauen und Kinder erschlagen, Städte und Dörfer niederbrennen, und mit jedem Tyrannen zuckte auch Jure Grando sein Schwert. Ich sah Hunger und Elend, Scharen von Bedürftigen auf vergeblicher Suche nach Gerechtigkeit und Arbeit, und in der Gesellschaft der Pfaffen und Gendarmen, Fabrikbesitzer und Wucherer schlürfte auch Jure Grando seinen Sekt. Aber das konnte doch alles nicht genügen, um aus einem Menschen einen {trigun zu machen, erwehrte sich die Stimme meines Zweifels. Eine schwarze, blutige Einweihung hätte dem doch vorausgehen müssen, wie es ja auch bei den späteren Blutsaugern der Fall gewesen ist, bis hin zum „letzten kroatischen Vampir“ Igor Cernjak. Kaum zu glauben, wie klar und einleuchtend sich das im Traum anhörte. Auch liebte Jure Grando seine junge Frau, aufrichtig und leidenschaftlich, heftig und begierig, und klopfte mit ihr an manche verbotene Pforte, deren Schlüssel von der öffentlichen Moral unter den verstaubten Teppich des Pfarrhofs gekehrt wurden. Ich sah sie vor dem Spiegel erzittern und erglühen, während sie ihre nackte Schönheit hinter einer weißen Maske zu verbergen suchte, Zeitgenössische Poesie und Prosa 163 Foto: Jakob Goldstein RELA TIONS Vitaliano Trevisan beim Festival Europäischer Kurzgeschichten 164 RELA Boris Peri}: Der Vampir die Händler aus Venedig über das Meer gebracht und die Diebe von Tinjan durch die Draga geschmuggelt hatten. Und als sie draußen das Tor knarren hörte, warf sie rasch ihre schlichte Volkstracht über und empfing den auferstandenen Nächtling in ihrer bescheidenen Witwenwohnung. Nein, sie wusste nicht, wie ihr geschah, denn sie war sanftmütig und sie war ängstlich, und sie war leidenschaftlich und sie war wild, und sie fürchtete den Dämon im eigenen Verlangen, den grimmigen {trigun im Seufzer der Sehnsucht, und sie glühte und sie verzweifelte, und war eine Heilige und war eine {triga. Dabei machte ihr jeder den Hof, seit Pater Juraj ihren Mann beerdigt hatte, ja sogar er selbst. Es scheint, dass der heilige Mann sich aus diesem Grund auch so heftig gegen den {trigun eingesetzt hatte. Er sprach zu ihr von Sünde und Hölle, von Schwäche und Versuchung, hielt ihr das Kruzifix vor und beschwor die Heilige Schrift, während er sie mit seinen lüsternen Blicken gierig entkleidete, bis sich die Ärmste in ihrer Verzweiflung schließlich an die örtliche Obrigkeit wandte, mit der Bitte, sie von den nächtlichen Heimsuchungen durch den Verstorbenen zu befreien. Ich sah sie vor dem Spiegel zittern und weinen, gejagt von Ängsten und Fieberträumen, während die beherzten Männer des Dorfes zum Friedhof auszogen, um ihren Mann mit dem Holzpflock ruhig zu stellen. Denn sie war sanftmütig und sie war ängstlich, und schwach im Glauben, denn sie war eine Frau. Als ich am kommenden Morgen die Augen öffnete, versteckte der Nebel gleich einem weißen Gewand abermals die Stadt vor unerwünschten Blicken. Immer noch stark vom Traum beeindruckt, kam es mir vor, als hätte Alice soeben das Zimmer verlassen. Nein, dachte ich, während ich vor dem Spiegel im Bad allmählich zur Besinnung gelangte, es kann nur ein Traum gewesen sein. Ich wusste nur wenig über Jure Grando und so gut wie gar nichts über seine Frau, der Alice und die junge Filmschauspielerin in meinem Traum ihre Körper und Silvija, wie es schien, ihre wesentlichen Charakterzüge geliehen hatten. Dabei wurde mir erst klar, dass meine Freundin seit jeher nur bei der Arbeit stark war, während sie sich in anderen Angelegenheiten betont nachgiebig zeigte, ja sogar mir gegenüber. Eigentlich gab sie nur der Summe ihrer augenblicklichen Erwägungen und Bedürfnisse nach, oft um den Preis der Naivität oder vorgehaltenen Gelächters, was hinreichend das Scheitern ihrer Ehen und zum Teil auch das Verhältnis mit Cernjaks Tochter erklärte. Und Jure Grando? Was hätte der denn gewesen sein können? Ein Wesen aus der Finsternis des istrischen Unterbewusstseins oder ein unangenehmer Zeitgenosse, der von Elend, Verzweiflung und Angst nachträglich schwarz gefärbt wurde? Oder war er tatsächlich ein Vampir? Vielleicht war der {trigun ja auch nur ein Sündenbock für die Plagen und Heimsuchungen, ja vielleicht sogar für die unaufhaltbare Verarmung und den Verfall dieser Gegend, in der es, wie Vlavazor zu berichten wusste, allzeitlich mehr Wein als Wasser gegeben hat? Vielleicht war er einfach nur ein Lüstling, vielleicht litt er aber auch unter jener geheimnisvollen Krankheit, der die Mediziner erst drei Jahrhunderte später einen Namen geben werden? Auf keine dieser Fragen wusste ich eine Antwort. Ich dachte an Silvija und es befiel mich ein Angstgefühl, dessen Grund ich mir nicht zu erklären wusste. Es schien jedenfalls etwas nicht mit rechten Dingen zuzugehen. Während ich mich rasierte, hatte ich zum ersten Mal, seit ich nach Istrien gekommen war, jenen vertrauten Blutgeschmack im Mund. Ich würde beinahe sagen, er hatte mir bereits gefehlt. TIONS ¹...º Ich verabschiedete mich von Velimir und stieg an der ersten Haltestelle nach Tinjan aus, von wo ich zu Fuß nach Kringa zu gehen pflegte. Der kleine schwarze Hund begleitete mich abermals auf meinem Weg, nur wirkte er diesmal nicht im Entferntesten so fröhlich wie sonst. Auch ich spürte etwas Bedrückendes in der Leere, die mich umgab. Zum ersten Mal kam es mir vor, als sei ich imstande zu antworten, sollte mich jemand tatsächlich fragen, wer Jure Grando gewesen sein konnte. Diese unerträgliche ländliche Beklommenheit, dieses plötzliche Verschwinden jeglichen Sinns im Angesicht der schwierigen Fragen, die die Not einem aufdrängt, das war dieser ominöse {trigun, der dem rechtschaffenen Bauern seit Menschengedenken das Blut ausgesaugt hatte. Es war der Totentanz von Beram und die Geißel Gottes an der Fassade in Tinjan, es war die Ohnmacht der Angst und die stille Antwort, die, über der Wiege einmal ausgesprochen, schon im nächsten Augenblick vom Vergessen in den stummen Zimmern der Unruhe verschlossen wird. In Kringa machte ich vor jedem Haus halt, kein Jure Grando wohnte dort, und bis zur Ruine der Grandova stancija konnte man sich durch das dichte Gebüsch und Gehölz gar nicht durchschlagen. Und dennoch ist Cernjak in Kringa gewesen, hat sich mit Jure Grando getroffen, ihm eine Wohnung in der Gunduli}eva Straße, gegenüber von Bastels Haus mit den Fledermäusen an der Fassade, verkauft. Wo mögen sie sich nur getroffen haben, fragte ich mich vor der verschlossenen Tür des Vampir-Cafés. Als ich einige Tage zuvor nachgefragt hatte, hatte ich eine detaillierte Beschreibung von Cernjak gegeben, es konnte sich aber niemand an einen derartigen Gast erinnern. Sie werden sich doch nicht RELA TIONS etwa auf dem Friedhof getroffen haben, schoss es mir durch den Kopf. Nein, sagte ich zu mir selbst, das wäre zu sehr im Sinne von Velimirs Klischees. Die Schriftsteller werden doch nicht alles erraten haben können. Oder etwa doch? Außerdem konnte ich nach wie vor nicht glauben, dass Cernjaks Kunde jener Jure Grando gewesen sein könnte, dem man im 17. Jahrhundert den Kopf abgeschlagen hatte. Am Friedhof angekommen, setzte ich mich auf die niedrige Mauer, auf der letztes Mal Alice gesessen hatte, und verfiel in Grübeln über die ungewöhnliche Geschichte. Vater Juraj, ein Mönch St. Pauli, des ersten Eremiten, was konnte der schon von {trigunen gewusst haben? Und warum aß er ausgerechnet bei Grandos schöner Witwe so gerne zu Abend? Ich stellte ihn mir als scheuen, gottesfürchtigen Mann vor, der sich gegen die bösen Geister seiner eigenen Triebe durchaus zur Wehr gesetzt hatte statt gleich der Ausrede, der Geist sei willig, aber das Fleisch schwach zu unterliegen. Der letzte Dämon seiner sündhaften Versuchungen hieß Jure Grando und saß hinter der Tür. Diesen {trigun galt es zu vernichten, damit Ivana, oder wie die Schöne auch geheißen haben mag, am Ende nicht auf dem Scheiterhaufen landet, denn sie hatte ihn herbeigerufen und diente seinem abartigen Willen. Jedes Mal, wenn sich der lästerliche Grando frech unter der Mönchskutte des Paters aufgebäumt hatte, zwang sich von selbst der Gedanke auf, der böse Geist solle ausgetrieben werden. Oder ist es die Vorsehung selbst gewesen, die jene beherzten Männer zum Friedhof geschickt hatte, um das Gelübde des Vaters vor der sündhaften Überredungskunst des Dämonen zu erretten? Und dann, wer war eigentlich dieser Miha Radeti}? Ein tapferer Gespan, besorgt um das Wohlergehen und die Sicherheit seines Marktfleckens, Zeitgenössische Poesie und Prosa oder ein ordinärer Karrierist, der sich durch die Erfindung des Unholds bei seinen Herrschern einzuschmeicheln suchte? Was auch immer er gewesen sein mochte, hatte er überhaupt eine Chance? Hatte irgendeiner aus dieser seltsamen Truppe von Kämpfern gegen das Übel tatsächlich eine Chance? Der Holzpflock prallte jedes Mal von der Brust des {triguns ab, als sei sein Herz mit Eisen beschlagen. Bis schließlich einer der Exekutoren dem Unhold den Kopf abschlug. Aber, ist es wirklich so gewesen, schoss es mir durch den Kopf. Könnten sie sich denn nicht alles nur ausgedacht haben, um vor der entsetzten Menge ihre Niederlage vor dem unruhigen Toten nicht eingestehen zu müssen? – Sieh her, {trigun! – wiederholte ich laut die Formel der naiven Teufelsaustreibung des Dorfältesten. – Hier ist Jesus Christus, der uns von der Hölle erlöst hat und für uns gestorben ist! Und du, {trigun, kannst keine Ruhe finden. Nichts in meiner Umgebung hatte sich verändert, weder in Wirklichkeit, noch in meiner Fantasie. Jure Grando lag wie versteinerst in seinem Sarg und weinte beim Anblick des Kreuzes, da er sich vielleicht gerade in diesem Augenblick des Mysteriums, das von der Hand Gottes diesem geheimnisvollen Symbol verliehen wurde, bewusst geworden war. Aber vielleicht trieb er auch nur Spott mit der weltlichen Gewalt, wie er im vorherigen Akt seines postumen Dramas ja meisterhaft die kirchliche verspottet hatte? Vielleicht ist Grandos Spott tatsächlich jener Zynismus, mit dem Stoker den Charakter seines stets blutdurstigen Grafen Drakula versehen hatte? Jeder Zyniker, sagte ich faul vor mich hin, ist gewissermaßen ein Vampir. Ob jeder Vampir zugleich ein Zyniker ist, das ist schon eine ganz andere Frage. Ich weiß nicht, wie lange ich auf der niedrigen Steinmauer vor dem auf- 165 gerissenen Rachen des Nirgendwo gesessen hatte. Einige Frauen waren über den Friedhof gegangen, die einen zündeten Kerzen an, die anderen wechselten den Blumen das Wasser, aber zum Glück schien keine von mir Notiz genommen zu haben. Während ich die alte Kapelle von hinten anstarrte, versuchte ich mir vorzustellen, was wohl in Zagreb vor sich ging. Das Renfield-Syndrom, für dessen Erforschung sich Doz. Dr. Velimir Kraljevi} so viel Mühe gegeben hatte, kam mir plötzlich wie eine üble ansteckende Krankheit vor. AIDS, Pest, Tuberkulose... Großer Gott, das sind doch alles nur Metaphern für ein und dieselbe Mordlust, deren Ursache, unsichtbar und verlogen, irgendwo neben uns hockt und nur darauf wartet, uns mit ihren knirschenden Eckzähnen zu fassen. Die Morde, von denen ich gelesen hatte, die Bestialität des jungen Fantasten gegenüber meiner ehemaligen Chefin, der Angriff auf Velimir vor dem Mirogoj-Friedhof, stand das alles denn nicht in geheimer Verbindung zueinander? Cernjak, seine Familie, Silvijas plötzlicher Kräfteschwund; wie viel Wahnsinn benötigt der Mensch, um all das nüchtern überblicken zu können? Wie ganz Istrien, so wurde auch Kringa Jahrhunderte lang von Pestepidemien dezimiert. Die zum leeren Himmel gerichteten Blicke der Hilflosen gaben der Plage schließlich einen Namen. Jure Grando klopfte an die Türen der Häuser und trug infolge einer stummen, zerstörerischen Logik, deren zureichender Grund nicht einmal in Gottes unergründlichem Willen zu finden war, unschuldige Leben davon. Pestbringer Grando, Nosferatu Drakula, was denn nun? Per che non pioggia, non grando, non neve, non rugiada, non brina più sù cade che la scaletta di tre gradi breve1... wer hatte das gesagt? Ich sah mich um, der Friedhof von Kringa war so gut wie leer. Ohne mich zu 166 beachten, lockerte eine alte Frau in Trauerkleidung mit einer kleinen Hacke die Erde auf einem frisch ausgehobenen Grab. Aber, die Stimme, die ich gehört hatte, konnte nicht die ihrige gewesen sein, sie war jünger und zugleich viel älter; männlich und zugleich geschlechtslos; leise und zugleich durchdringend wie Donner. Es war die Stimme meines Unbehagens. – Gnädige Frau, wissen Sie zufällig, wo das Grab der Familie Grando lag? – fragte ich die Alte. Statt einer Antwort, warf mir die betagte Frau einen zornigen Blick zu und bekreuzigte sich rasch. Ich verließ den Friedhof so schnell ich nur konnte. Als ich am Vampir-Café vorbeiging, bemerkte ich, dass die Tür offen stand. Ich ging hinein, setzte mich in die finsterste Ecke des Nebenraums und bestellte Wein. Ich fand es angenehm, dass außer mir keine Gäste da waren, deren Gemurmel gleich einem Virus in mein Ohr eindringen und dort jeden weiteren Gedanken lähmen würde. Wäre ich in Zagreb gewesen, vielleicht hätte ich Silvija angerufen und sie eingeladen, sich zu mir zu gesellen, damit wir einander bei einem Glas geteilter Einsamkeit mit nichts sagendem Geschwätz über unseren tristen Alltag langweilen. In einem bestimmten Augenblick würden wir jedes Mal zu reden aufhören und einander nur noch flüchtige, scheue Blicke zuwerfen, manchmal würde ich ihre Hand berühren und mir in der Regel wünschen, ihr meine über Jahre hinweg verschwiegene Liebe endlich eingestehen zu können, aber es kämen keine Worte über meine Lippen, wie sie auch in weit ernsteren Situationen meist ausbleiben. Die größten Lieben, traue ich 1 RELA Boris Peri}: Der Vampir mich zu sagen, wurden nie ausgesprochen und das ist der einzige Grund ihrer bitteren Zeitlosigkeit. Ich griff zum Handy, um sie anzurufen, gab mich aber mit dem wehmütigen Betrachten ihrer Nummer auf dem Display zufrieden. Ich spürte, dass wir im Begriff sind, einender zu verlieren, wie zwei trübe Vorstellungen, die in der tauben Tiefe des Universums kurz aufeinandergestoßen sind und jetzt jede in ihre Richtung treiben, ohne Wunsch und Möglichkeit miteinander zu verschmelzen. Beim nächsten Glas dachte ich an Iva, meine lebhafte Nachbarin, die ich im Laufe der Jahre lieben gelernt hatte wie meine eigene Tochter. Mein Entschluss, ihr einen Brief zu schreiben, zählte nicht viel, wie im Übrigen auch der Entschluss, während meines Aufenthalts in Istrien ein Tagebuch zu führen. Als Iva noch klein war, machte ich oft zusammen mit ihr und ihrem Vater, dem Schriftsteller, lange Spaziergänge und zeigte ihr dabei all die verborgenen Wunder der Stadt, in der sie geboren wurde. Die Welt im Spiegel ihrer großen, neugierigen Augen betrachtend, begann ich, Zagreb auch selbst wieder zu mögen und fand zwischen seinen Mythen und Lügen Zuflucht vor der Boshaftigkeit der Welt, von der ich mich tagtäglich umgeben wusste. Wer weiß, dachte ich schläfrig von der Wärme, die vom Wein ausging, wie Istrien aussehen würde, könnte ich es nur kurz durch Ivas Augen sehen? In diesem Augenblick wurde mir erst bewusst, wie sehr mir die Kleine die ganze Zeit gefehlt hatte und wie gerne ich ein eigenes Kind haben würde, ein Kind mit Silvija, die ich, trotz aller Schwächen und Flausen, stets als die ideale Mutter angesehen hatte. Natürlich waren das alles nur Hirngespinste. TIONS Als ich das dritte Glas malvazija bestellt hatte, leuchteten an der Eingangstür die Umrisse einer vertrauten Gestalt auf. Die junge Frau im schwarz-weißen Domino kam an meinen Tisch und setzte sich zu mir. Sie trug zwar keine Maske mehr, ihr Gesicht wirkte aber auch ohne fremd genug. Ich blickte in ihre Augen, sah aber trotzdem nichts. Venezianische Grazilität, Ruhe und Trauer, verwoben im stummen Rätsel einer nie erzählten Geschichte. Veni etiam, Unbekannte. Bis hierher sind wir gekommen. – Alice! – begrüßte ich sie mit übertriebener Herzlichkeit, während ich mir Mühe gab, so überrascht wie möglich zu wirken. Tatsächlich überrascht war ich, als mir die Unbekannte in reinstem Kroatisch antwortete: – Nenn’ mich, wie du willst, meinen Namen kann ich dir sowieso nicht verraten. – Aber, warst du denn nicht... vor ein Paar Tagen... hier auf dem Friedhof – stotterte ich verlegen. – Natürlich war ich es – fuhr sie ruhig fort. – Was immer du möchtest, ich war es. Sie bestellte sich etwas zu trinken, einen leuchtend roten Cocktail, der als Spezialität des Hauses galt, zündete sich eine dünne, lange Zigarette an, blies den Rauch in die Luft und fuhr fort: – Ich weiß, warum du hier bist. Auch jener, den du suchst, ist hier gewesen. – Woher weißt du das? – fragte ich ungläubig. – Seit Tagen kann mir niemand etwas mit Gewissheit sagen, und jetzt kommst du daher, als ob du meine Gedanken lesen könntest. – Warum sollte ich deine Gedanken lesen? – erwiderte sie neckisch. – Seit du hier bist, wirkst du so melancholisch und unruhig, es war nicht schwer, auf dich aufmerksam zu werden. „Wer jene kleine Stieg’ emporgeklommen / Von dreien Stufen, sieht nicht Reif noch Tau, / Nicht Hagel mehr, noch Schnee, noch Regen kommen.“ (Dante Alighieri: Das Fegefeuer, 21, übersetzt von Karl Streckfuß) RELA TIONS – Warum hast du nichts gesagt, als jener Fotograf auf dem Friedhof Fotos von dir machte? – fragte ich weiter. – Warum sollte ich? – sagte sie lächelnd. – Er versteht nichts von der ganzen Sache und du hättest mir sowieso nicht zuhören wollen. – Vielleicht doch – versuchte ich mich herauszureden. – Hier scheint sich ja alles nur um das eine Thema zu drehen. – Deine Gedanken drehen sich um ein einziges Thema – antwortete die Unbekannte. – Dermaßen stark und hartnäckig, dass du nichts anderes mehr siehst. Pass auf, dass du dich nicht in jenen verwandelst, den du suchst. – Du weißt also, wer Jure Grando gewesen ist? – schlussfolgerte ich verwirrt. Die Unbekannte lächelte rätselhaft. – Vielleicht weiß ich es, vielleicht auch nicht. Alle hier meinen, sie wüssten etwas und wissen doch nichts. Und dann wissen sie wiederum mehr, als ihnen lieb ist. Sieh dir das mal an. Mit flinken Fingern öffnete die junge Frau, die ich einmal unter dem Namen Alice kennen gelernt hatte, ihr Handtäschchen, zog ein mit Versen beschriebenes Stück Papier hervor und hielt es mir hin. Ich kann nicht behaupten, irgendetwas sei mir in diesem sonderbaren Schauspiel jenseits von Traum und Wirklichkeit noch klar gewesen, trotzdem griff ich nach dem Papier und begann bereitwillig zu lesen: But first, on earth as vampire sent, Thy corse shall from its tomb be rent: Then ghastly haunt thy native place, And suck the blood of all thy race; 2 Zeitgenössische Poesie und Prosa There from thy daughter, sister, wife, At midnight drain the stream of life; Yet loathe the banquet which perforce Must feed thy livid living corse: Thy victims ere they yet expire Shall know the demon for their sire, As cursing thee, thou cursing them, Thy flowers are withered on the stem. But one that for thy crime must fall, The youngest, most beloved of all, Shall bless thee with a father’s name – That word shall wrap thy heart in flame! Yet must thou end thy task, and mark Her cheek’s last tinge, her eye’s last spark, And the last glassy glance must view Which freezes o’er its lifeless blue; Then with unhallowed hand shalt tear The tresses of her yellow hair, Of which in life a lock when shorn Affection’s fondest pledge was worn, But now is borne away by thee, Memorial of thine agony! Wet with thine own best blood shall drip Thy gnashing tooth and haggard lip; Then stalking to thy sullen grave, Go – and with Gouls and Afrits rave; Till these in horror shrink away From spectre more accursed than they! 2 – Was ist das? – fragte ich verwundert, obwohl mir nach allem, was ich in den letzten Tagen über Vampire gelesen hatte, der Verfasser der Verse keineswegs unbekannt war. – Wo hast du das her? – Das steht auf seinem Grabstein geschrieben – sagte die Unbekannte und nippte an ihrem roten Drink. – Sei doch vernünftig – unterbrach ich sie grob. – Das wurde mehr als hundert Jahre nach Grandos Tod geschrieben. – Wenn ich es dir aber sage, das steht auf seinem Grabstein geschrieben – 167 wiederholte die Unbekannte. Meine Grobheit schien sie nicht verärgert zu haben. – Und wo steht sein Grab? Du bist wahrscheinlich die einzige, die das weiß – fuhr ich hartnäckig fort. Statt zu antworten, beugte sie sich zu mir, küsste mich sanft auf den Mund und flüsterte: – In deinem Kopf. Der Kuss der Unbekannten war kalt, fremd und fern, wie die Unkenntlichkeit ihres Gesichts und geheimnisvoll wie der Tod. Ich weiß nicht, ob ich mir das alles nur einbildete, aber nachdem ich mich von ihren Lippen losgelöst hatte, durchströmte meinen Mundraum wieder jener metallene Blutgeschmack. Trotzdem hatte ich keine Angst. Ich wollte mehr. Ein dunkler Trieb, der plötzlich von meinem Bewusstsein Besitz genommen hatte, ließ in mir Verachtung gegenüber jeglicher Gefahr aufkommen. In ihren Augen, die mich unentwegt anstarrten, spiegelte sich die Unwiderstehlichkeit eines Abgrunds, tiefer und dunkler, als die Grotte von Pazin. Ich fühlte mich leicht benebelt. Oder verführt. Oder einfach verzaubert. – Alice! – wiederholte ich und versuchte, nach ihrer Hand zu greifen. – Sei still! – flüsterte sie. – Wir sehen uns wieder, ganz bestimmt. Sie war verschwunden, ohne dass ich begriffen hätte, wie und warum. Das weiße Papier mit Byrons unheilschwangeren Versen lag immer noch vor mir auf dem Tisch. Ich faltete es zusammen und legte es in meine Brieftasche, wobei mein Blick auf Silvijas Foto fiel. Es gab keinen besonderen Grund, es bei mir zu tra- Zuerst, als Vampyr umzugehn, / Soll aus der Gruft dein Leib erstehn; / Dann schleich als Scheusal in dein Haus / Und saug das Blut den Deinen aus; /Um Mitternacht entströmt das Blut, / Des Kinds und Weibes Lebensflut. / Doch deinem Leichnam graß und fahl, / Soll Ekel werden dieses Mahl; / Dein Opfer selbst, eh es verblich, / Erkenn als seinen Vater dich – / Am Stamm welkt deiner Blumen Leben, / Die, so verflucht, den Fluch dir geben. / Doch eine soll als Opfer fallen, / Die jüngste, liebste dir von allen, / Die soll dich segnend Vater nennen – / Dies Wort wird dir im Herzen brennen! / Doch würgen mußt du sie und sehn, / Der Wange letztes Rot verwehn; / Den letzten Blick, der glasig stiert, / Da leblos drin das Blau gefriert. / Dann reiße mit verruchter Rechte, / Vom Haupt herab die blonde Flechte, / Von der ein Löckchen sonst, ein Haar, / Ein süßes Pfand der Liebe war. / Dir soll es jetzt ein Zeichen sein, / Der grauenvollsten Todespein! / Es triefe dir von Zahn und Mund, / Das beste Blut aus deinem Bund! / Dann tappe nach dem Grabe stumm, / Treib mit Dämonen dich herum, / Bis diese Schar, vor Schreck erbleicht, / Dir dem verfluchtern Unhold weicht. George Gordon Byron: The Giaour (Der Ungläubige), 1813 168 RELA Boris Peri}: Der Vampir gen, trotzdem habe ich mich nie von diesem Bildchen getrennt, obwohl das, was ich tat, auch Silvija nicht wirklich schmeichelte. Habe ich sie betrogen, fragte ich mich stumm. Mein Herz antwortete mit dumpfer Leere. Ich war zu überrascht, um mich schuldig zu fühlen. – Wissen Sie zufällig, wer diese Frau gewesen ist? – fragte ich beim Hinausgehen die Kellnerin. – Keine Ahnung – antwortete sie und TIONS schenkte mir ein letztes Glas Wein ein. – Ich sehe sie hier seit Ihrer Ankunft. Ich dachte, sie seien zusammen. Aus dem Kroatischen vom Autor selbst übersetzt Der Roman „Vampir“ des kroatischen Prosaschriftstellers und Literaturübersetzers Boris Peric stellt das erste seriöse Werk dieser Art innerhalb der kroatischen Literatur dar. Im Genre zwischen Phantastik und Kriminalistik, knüpft „Vampir“ sowohl an die Tradition der „gothic novell“ und ihrer Nachfolger in der britischen, deutschen und amerikanischen Literatur, als auch an zeitgenössische wissenschaftliche Betrachtungen, etwa jene aus den Bereichen Psychoanalyse, Medizin, Genetik oder Bio-Ethik, an. Die Handlung in Zagreb zu Beginn des dritten Millenniums ansiedelnd, hinterfragt der Autor die Aktualität einer „vampirischen“ Metaphorik in unserer alltäglichen Sprache und Welterfahrung, wobei sich das Spektrum ihrer Bedeutungen von der primären Sphäre vergifteter zwischenmenschlicher Beziehungen und Zivilisationskrankheiten bis hin zum Unbehagen der globalen Ökonomie, dem Fremdenhass oder der Abneigung gegenüber dem Anderen/Andersartigen, bzw. der aktuellen politischen Folklore am Rande des Balkans erstreckt. Einen eigenen Teil des Romans bildet eine märchenhafte Reise nach Istrien, in dessen Volksglaubens heute noch eine breit gefächerte Galerie fantastischer Wesen (Vampire, Hexen, Nachtmahre usw.) existiert, was dem Buch zusätzlichen ethnologischen Wert verleiht. Hier sollte betont werden, dass der „istrische Teil“ des Romans auf persönlichen Nachforschungen des Autors, sowie einer detaillierten Auseinandersetzung mit historischen Quellen und entsprechender Fachliteratur beruht. Bei dem zentralen Motiv der Erzählung – der Geschichte des ältesten und ohne Zweifel bekanntesten istrischen Vampirs Jure Grando – handelt es sich um eine authentische Legende aus der Umgebung von Pazin aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert, die u.a. auch von slowenischen Historiker Johann Weihkard Valvasor in seinem umfangreichen Welr „Die Ehre des Herzogthums Crain“ (Nürnberg, 1869) dokumentiert wurde. Auf wissenschaftlicher Ebene verknüpft der Autor auf effektvolle Weise reale Resultate der psychologischen Erforschung des Vampirismus („Renflied-Syndrom „, klinischer Vampirismus, Hämatophilie, Hämatodipsie usw.) mit fantastischen Theorien der „Vampirbiologie“, wie wir sie in literarischen Klassikern von Bram Stoker bis Anne Rice antreffen. Darüber hinaus liest sich der Roman als Entwicklungsgeschichte des Vampirmythos in der Weltliteratur, von seiner ersten Erwähnung bei Byron oder Polidori (bereits der Titel kann als Widmung an die erste Vampirnovelle überhaupt, John Polidoris „The Vampyre“, verstanden werden), über Stokers Klassiker „Drakula“ bis hin zu modernen Thrillern wie Stephen Kings „Brennen muss Salem“ oder Whitlea Striebers „Hunger“. Der Autor über Jure Grando und seinen Roman: „Jure Grando ist der älteste namentlich dokumentierte Vampir in Europa, dessen Charakter zudem völlig einen literarischen Nachfolgern im 19. und 20. Jahrhundert entspricht. In alten Texten wird Grando als Zyniker beschrieben, er verschmäht sowohl die kirchliche, als auch die weltliche Gewallt, und weist auch einen beträchtlichen sexuellen Appetit auf. Allein diese Tatsache würde genügen, um Grando in den Mittelpunkt einer Novelle, eines Romans oder Films zu setzen, die mit dem Mythos von der Unzulänglichkeit und Infantilität des sog. kroatischen Horrors endgültig abrechnen würden. Hinzu kommt jedoch auch eine ganze Palette anderer Herausforderungen, Situationen, Szenen und Beziehungen aus der sog. modernen Welt, in denen die Bedeutungsfülle vampirischer Metaphern all den weltlichen Übeln, die unseren ohnehin tristen Alltag schon gewohnheitsgemäß zusätzlich verdunkeln, einen vortrefflichen Spiegel vorhält. Wer sagt, dass eine Erzählung, wie Stokers Drakula nicht auch im heutigen Zagreb möglich wäre, an der Schwelle des dritten Jahrtausends, während die Welt Siegmund Freuds 150sten Geburtstag feiert und der Rachen des Unbewussten über der immer größeren Unsicherheit unserer kleinen, ungeschützten Leben auch weiterhin weit offen steht?“ RELA TIONS Zeitgenössische Poesie und Prosa 169 Nichts darf uns überraschen ¹ Auszugº Ante Tomi} Kapitel 5 A m Morgen, als sie aus der Kaserne der Grenztruppen kamen, lag vor ihnen dichter Nebel und verschleierte das Tal, die quadratisch gerasterten Felder, die Ortschaften und den See, und irgendwo in unbestimmter Ferne verschmolz er mit dem Himmel. Die ganze Welt unter ihnen verschwand im Dunst, der langsam und leise waberte, und es sah so unwirklich aus, als hinge der Berg in den Wolken. Sini{a und Hasan waren auf Patrouille an der Grenze. Geduckt gingen sie den engen Waldpfad entlang und schützten ihre Gesichter vor den dicht fallenden kleinen Tropfen, die der Wind lange herum wehte, ehe sie den Boden erreichten. Der Schäferhund Lobo, ein fröhliches, gutmütiges Tier, schnupperte neugierig in den nassen Blättern herum oder rannte weit nach vorne und verschwand, und dann tauchte er – als wolle er sie überraschen – hechelnd von hinten auf. In kurzen Abständen hob er sein Bein an einem Baum. „Kann der pissen“, sagte Hasan. „Ja“, Sini{a stimmte zu. Und das waren für lange Zeit die einzigen Worte, die sie wechselten. Hasan Nezirovi}, genannt Fledermaus, war ein schweigsamer, unge- Ante Tomi} wurde 1970 in Split geboren. Er studierte Philosophie und Soziologie an der Universität Zadar. Tomi} arbeitet als Journalist bei der Tageszeitung „Jutarnji list“. Für seinen kritischen, unabhängigen und stets humorvollen Journalismus bekam er den „Marija Juri} Zagorka“-Preis der Kroatischen Gesellschaft für Journalismus. 1997 erschien sein erster Sammelband von Kurzgeschichten „Ich habe vergessen, wo ich geparkt habe“. Die zweite, erweiterte Ausgabe dieser Geschichten erschien 2001. 2000 erschien sein Roman „Was ist schon ein Mann ohne Schnauzer?“, der über Nacht zum Bestseller wurde. Der Roman hatte 7 Auflagen und wurde auch in Serbien, wo Tomi} durch FAK-Lesungen bekannt wurde, veröffentlicht. Nach dem Roman schrieb er zusammen mit Aida Bukvi} das Drama „Was ist schon ein Mann ohne Schnauzer?“, das vom Nationaltheater in Zagreb gespielt wurde und das 2002 beim Wettbewerb „Maruli}evi dani“ als bestes Drama des Jahres ausgezeichnet wurde. Gesammelte Zeitungskolumnen unter dem Titel „Folkloreschau“ sind im gleichen Jahr erschienen wie der Roman „Nichts darf uns überraschen“, mit dem er sehr bald einen ähnlichen Erfolg wie bei seinem ersten Roman erlebte; der bekannte kroatische Regisseur Rajko Grli} verfilmte den Roman. Sein Roman „Die Liebe, der Strom, das Wasser und das Telefon“ ist 2005 erschienen. wöhnlich ernsthafter junger Mann, dessen dünnes, längliches Gesicht nur dann Heiterkeit ausstrahlte, wenn er seine perlmuttweiße Hohner-Ziehharmonika über die Schulter hängte und wenn dann aus ihr das komplizierte Klanggewebe verspielter Reigentänze aus Sechszehnteln und Zweiunddreißigsteln heraus brach. „Fledermaus stirbt für die Ziehharmonika“, sagte man. Und Sini{a konnte nur zustimmen. Er hatte bisher nur dreimal die Gelegenheit gehabt, sich vom Können des Autodidakten mit dem absoluten Gehör zu überzeugen: das erste Mal beim feierlichen Gelöbnis und zweimal hier in der Kaserne, als Hasan nur so vor sich hin spielte. Das Blut wallte und stieg langsam an bis zur besinnungslosen Trance, hingebungsvollere Zuhörer konnten dabei wahrscheinlich barfuß über glühende Kohlen laufen oder sich die Wangen mit langen Nadeln durchstechen. Sini{a erfuhr von ihm erst vor neun Monaten, als er sich in der Kaserne von Skopje meldete, aber für viele Ante Tomi}: Nichts darf uns überraschen RELA TIONS Foto: Jakob Goldstein 170 Ante Tomi} beim Festival Europäischer Kurzgeschichten RELA TIONS war der neunzehnjährige Harmonikavirtuose aus Podrinje ein wahrer Star, der schon in einigen Sendungen über die neue Volksmusik zu Gast gewesen war und für Discoton aus Sarajevo ein Album eingespielt hatte, dessen Veröffentlichung aufgeschoben wurde, bis der Künstler seinen Dienst für die Heimat abgeleistet hatte. Er verriet ihm einmal – und humorlos wie er war, fand er es nicht einmal komisch – dass der Einberufungsbescheid ihn kalt erwischt hatte, weil er seine schönen künstlichen Zähne noch nicht abbezahlt hatte; sein Manager hatte sie ihm als Investition in ihren gemeinsamen Erfolg im Showbusiness vorgestreckt. Fledermaus trug seinen ehrenvollen Namen, den er später auch als Künstlernamen behielt und der sogar das Cover der Diskoton-Kassette zierte, wegen seiner Fähigkeit, kopfüber und an seinen Beinen hängend zu spielen, eben wie eine Fledermaus. Er zog nur die Gurte seiner Hohner etwas strammer, hängte sich mit den Knien an eine Stange oder an die Sperrholzkulisse, die man eigens für ihn im Fernsehstudio angefertigt hatte, und spielte genauso als stünde er mit beiden Beinen auf dem Boden, er wurde nur etwas rot im Gesicht, weil ihm das Blut in den Kopf schoss. So photographierte man ihn auch für das Cover seines Albums, im schwarzen Frack, um die Ähnlichkeit mit dem geflügelten Säugetier noch besser zum Ausdruck kommen zu lassen, obwohl die Leute von Diskoton nicht wirklich überzeugt davon waren, da sie befürchteten, dass die Käufer vielleicht nicht begreifen würden, wie herum sie die Kassette drehen sollten. Fledermaus hatte ihnen einmal anvertraut, dass er nicht viel davon hielt, und Sini{a hatte den Eindruck, dass ihm das Ganze vielleicht sogar ein wenig auf die Nerven ging. In seinem Herzen, so ahnte Sini{a, war Hasan ein Künstler, und die Fledermaus-Nummer war für den besoffe- Zeitgenössische Poesie und Prosa nen Pöbel. Die Leute amüsierten sich, wenn sie dem hängenden Spieler Stock, Vecchia oder einen milden Slibowitz in den Mund träufeln konnten. Denn das gehörte ebenfalls ins Repertoire der Unterhaltungstricks von Hasan Nezirovi}. Er trank auf dem Kopf, ohne dass ihm ein Tropfen aus dem Mund lief. Und er konnte unglaublich viel trinken. Sie füllten ihn mit scharfen Schnäpsen ab, immer in der Erwartung, dass die Kraft in seinen Beinen nachlassen und er auf den Kopf fallen würde, aber er hing wie angeschweißt an der Stange und spielte immer schneller und schneller und schneller... Als er in der Kaserne in Skopje eintraf, fielen dort viele fast auf die Knie vor ihm. Fledermaus war der Herr Musiker, und man schätze sein Kommen höher ein, als wäre der Fußballstar Milko \urovski gekommen. Wie alle bekam er ein Gewehr, aber er nahm es nicht einmal in die Hand. Er wurde weder gezwungen, seine Knobelbecher in Marschtritt zu setzen, noch beteiligte er sich auch nur einen Tag lang an der Rekrutenausbildung, er wurde vielmehr sofort im Kulturzentrum der JVA untergebracht, um für das Offizierskader Musik zu machen. Er aß und trank mit ihnen und hurte verantwortungslos mit einer fetten Köchin herum, die mit einem Korporal von der Technischen Einheit verheiratet war, doch der war meist irgendwo im Einsatz. So ging es sechs Monate lang, und es wäre die nächsten sechs Monate so geblieben, und hätte man Hasan gefragt, sein Militärdienst hätte ruhig noch einmal um die gleiche Zeit verlängert werden können. Wahrscheinlich ging es noch nie einem Rekruten vor ihm so gut. Aber dann verbockte der Idiot alles. Sini{a glaubte manchmal, dass Fledermaus es irgendwie absichtlich getan hatte, da er spürte, dass in seiner besessenen Musik ein suizidaler, selbstzerstörerischer Trieb liegen musste. Wer weiß... 171 Wie auch immer, man feierte Sylvester, Hasan spielte schon seit acht Uhr und dann war es beinahe Mitternacht, und seit mehr als dreieinhalb Stunden hing er nun schon ununterbrochen an seinen Beinen. Schweiß floss ihm an seinem geröteten Gesicht entlang, und sein Hemd war schon ganz durchnässt, aber er gab nicht auf. Der Abend näherte sich seinem Höhepunkt, die ersten Gläser wurden – noch etwas zaghaft – zerschmissen, die Offiziere knöpften ihre Hemden auf und legten die Krawatten, die von Gummibändern gehalten wurden, beiseite, die Frauen stiegen auf die Tische und der Harmonikaspieler spielte und spielte und spielte pausenlos... Er spielte schon lange nicht mehr sein Repertoire, sondern verließ sich auf seinen Instinkt, seine Finger flogen ungezähmt über die Knöpfe, eine zauberhafte Melodie erklang, die nie zuvor zu hören war und auch nie wieder zu hören sein wird, als die Frau des Generalmajors Lukovi}, des Garnisonskommandanten von Skopje, an ihn herantrat, eine vollbusige, gebleichte und toupierte Stewardess, viel jünger als ihr Mann, und mit ihren langen, muskulösen und netzbestrumpften Beinen begann, sich vor Hasan zu produzieren. Sie kam ihm ganz nah, so nah, dass der Harmonikaspieler von unten ihr Höschen unter dem roten Lederminirock sehen konnte, und dann drehte Hasan durch, wahrscheinlich aufgrund des vielen Slibowitz. Ohne sein Spiel zu beenden, schwang er seinen Rücken so leicht nach oben, als hätte das zehn Kilo schwere Instrument nicht seit vier Stunden an seinen Schultern gehangen, bohrte seinen Kopf zwischen die Beine der Frau General und biss ihr ins Baumwollgewebe. Durch den großen Saal des Kulturzentrums der Jugoslawischen Volksarmee in Skopje erschallte der Aufschrei der Frau. Ein lustvoller Aufschrei, schwor Fledermaus 172 Ante Tomi}: Nichts darf uns überraschen sein, dass er einen bei einer Schlägerei nicht hängen ließ. Es nervte ihn nur entsetzlich, wenn Ljuba ihn Batman nannte. Es verstand nämlich nicht, warum er ihn Batman nannte. Sie liefen im Regen durch den Wald, bisweilen stießen sie auf unbewaldete Lichtungen, auf denen meterhohes Gras stand. Auf der üblichen fünf Kilometer langen Route bis zu jenem Ort, wo sie um 12 Uhr mittags die Patrouille der benachbarten Grenzkaserne treffen würden. Sie sahen einen Hirten mit fünfzig schmutzigen Schafen und winkten ihm zu; Lobo konnte natürlich nicht widerstehen, einmal durch die Schafsherde zu laufen, und die Schafe wichen erschrocken vor ihm zurück. Mit diesen Viehhirten aus den albanischen Dörfern an der Grenze, die mit ihren Herden zwischen beiden Staaten hin und her zogen, pflegten die Soldaten traditionell herzliche Beziehungen, sie tauschten manchmal mit ihnen zu beidseitiger Freude Aufschnitt und Sardinen gegen ausgezeichneten Schafskäse, ohne sich im geringsten darum zu scheren, dass die Offiziere gerne über Diversanten schwa- felten, die sich als Hirten verkleiden und die unter ihren schäbigen Mänteln, die von einem gewöhnlichen Strick zusammengehalten wurden, Bomben und Gewehre verstecken. Es war eine elende Welt aus dreckigen Dörfern mit kleinen, schiefen Hütten, bei denen die Strohmatten hinter dem abbröckelnden Putz hervor lugten. Unterernährte Kinder, blau vor Kälte, rannten durch schlammige Straßen, Männer saßen vor kleinen Läden auf Bierkisten und hörten ängstlich auf zu reden, wenn ein Soldat kam und Schnaps oder Zigaretten kaufte. Die Frauen sah man nur dann, wenn sie durch das Fenster blickten um zu sehen, wer dort vorbei geht, oder wenn sie in Pluderhosen und bunten Schlappen über den Wollsocken vor den Haustüren Wasser aus Plastikschüsseln ausgossen. Sini{a, der nie zuvor so etwas gesehen hatte, erschrak vor ihrem Elend und begriff auf’s Neue, was für ein großes und widersprüchliches Land Jugoslawien war. Aus dem Kroatischen von Alida Bremer Foto: Jakob Goldstein später, doch das spielte wirklich keine Rolle. Einige Sekunden später knallte ein Schuss aus einer Dienstwaffe. General Lukovi}, der, wenn man die Umstände bedenkt, erstaunlich gefasst war, hatte ihn auf die Saaldecke abgefeuert. Und alles erstarrte. Bereits am übernächsten Tag, dem Tag nach Neujahr, bekam Hasan Nezirovi} einen Bescheid, in dem ihm seine Versetzung zu den Truppen an der albanischen Grenze mitgeteilt wurde. Sini{a wusste nicht genau, ob Fledermaus von Natur aus mies gelaunt oder ob es die Folge seiner Vertreibung aus dem Garten Eden des Armeekulturzentrums von Skopje war. Obwohl er ganz andere Positionen vertrat, ein wenig stur und konservativ war, vor allem, wenn man mit ihm über Frauen sprach, obwohl er ihre Späße nicht verstand und auch einen ganz anderen Musikgeschmack hatte, war Fledermaus der einzige, den Sini{a und Ljuba in ihrer Gemeinschaft aufgenommen hatten. Er war ehrenhaft und treu, Genosse und Kommunist, immer bereit, jede Scheiße mitzumachen, man konnte sicher RELA TIONS Arnon Grunberg beim Festival Europäischer Kurzgeschichten RELA TIONS Zeitgenössische Poesie und Prosa 173 Die Geschichte der M. ¹ Auszugº Milana Vukovi} Runji} Sie träumte, dass ihr Zimmer von Hasen bevölkert war. Das Bett, der Sessel und der Wäschekorb waren voll von ihnen. Sie öffnete die Tür und aus dem Badezimmer hüpfte ihr ein Hase entgegen. Sie wachte auf. Vermutlich bezog sich der Traum auf ihre Reise, aber sie wird fliegen, und sie träumte nicht von einem Flugzeug voller Hasen. Dafür hätte es ein großräumigerer Traum sein müssen. Ihre Träume aber waren eng, als quetschten sie sich aus einer Flasche heraus. Vielleicht deshalb, weil sie so spät aufwachte. Zu ihrer Lebensweise gehörte es, nachts wach zu sein und tagsüber zu schlafen: vielleicht wählte sie es nicht einmal selbst so, sondern das Leben spielte es ihr zu. Es war nicht etwa so, dass sie die Nacht, Mondschein, Seen, Boote und einsame Wälder mochte. Ging sie aber vor der Morgendämmerung zu Bett, bekam sie Durst, wälzte sich herum, machte das Nachtlämpchen an und schaute auf die Uhr. Wegen dieses Lämpchens besiedelten eine erwachsene und ein paar kleinere Eulen, die nachts aus den Ästen der hohen Platanen wimmerten, ihren Garten. Aufgrund solcher Gewohnheiten konnte sie sich nur mit Schreiben beschäftigen. Gottseidank verdiente sie damit Geld. Sie hätte vielleicht auch in einem Vergnügungspark für Vampi- Milana Vukovi} Runji} wurde in Zagreb 1970 geboren. Sie studierte Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft und beendete ihr Postgraduiertenstudium mit einer Arbeit über Marcel Proust. Sie veröffentlchte drei Gedichtsammlungen: Der Garten, Passagen über Eva und Azzurgold, Erzählungen Flügel aus Äther, Romane Seuso, Revolver, Geschichte über M. und Die Straße der treulosen Frauen sowie Sexopolis. Ausgewählte Kolumnen. Mit ihrem Mann Boris Runji} leitet Milana Vukovi}-Runji} den Verlag „Vukovi}-Runji}“, in dem die wichtigsten Werke der zeitgenössischen Weltliteratur als erschwingliche Taschenbücher für ein breites Publikum erscheinen. re arbeiten können, aber so etwas gab es leider nicht. Sie konnte sich für sich selbst keinen besseren Beruf vorstellen, und deshalb schlüpfte sie in das Schreiben wie in eine zweite Haut. Sie versteckte sich darin und wartete auf eine bessere Gelegenheit. Eine Zeit lang arbeitete sie als Mädchen für alles bei einem Magazin, aber jetzt war sie weiter gekommen und schrieb Feuilletons auf Bestellung für eine Frauenzeitung und Liebesromane für eine andere, etwas schlechtere Frauenzeitung. In der Zwischenzeit versuchte sie, ihr Diplom in Philosophie und Literatur zu machen, doch das entpuppte sich als harte Nuss, weil man für jede Prüfung ungefähr vierzig Bücher studieren musste, und in jedem (ob nun philosophischen oder literatur-theoretischen Charakters) wurde die existenzielle Problematik erörtert, es wurde über Sinn und Unsinn diskutiert, und sie – das muss erwähnt werden – pflegte leicht in Depressionen zu verfallen. Schopenhauer, Kant und Fichte, die behaupten, dass die Welt nur in unserer Vorstellung existiere, verursachten ihr eine Gänsehaut. Denn wenn sie schon über fiktive Dinge schreibt, ist es ihr wichtig, von ihrer Wirklichkeit zu wissen, dass sie wirklich ist. Doch nichts erschien ihr weniger wirklich als sie selbst. Sie wusste, dass ihr Schlafen zu einer Kluft zwischen ihr und dem, was ihr wirklich erschien, geführt hatte: während die realen Menschen arbeiten, liegt sie eingehüllt in Laken und Decken. In ihrem Leben gab es viele Mitternachtsknabbereien, aber kein einziges Frühstück. Trotzdem war sie nicht dick. Als wir uns ken- 174 Milana Vukovi} Runji}: Die Geschichte der M. nen lernten, hatte sie nur ein leichtes Doppelkinn, von dem sie behauptete, es sei angeboren. Sie hatte auch ein Bäuchlein, allerdings elastisch und braun gebrannt. Sie wurde mir sehr schnell eine zärtliche und stete Freundin, mit der man nicht vor drei Uhr nachmittags telefonieren konnte. Sie ernannte mich zu ihrer Gefährtin und bat mich bisweilen, Dinge für sie zu erledigen, für die ein Mensch tagsüber präsent sein muss. Warum sollte ich nicht für sie ihre Rechnungen bezahlen, dachte ich, wenn sie mir am frühen Abend Kuchen backen und sich nach meiner Arbeit und meinem Liebeschaos, in dem ich freiwillig verharrte, erkundigen wird. Und sie wird es nicht nur aus einem neuen Blickwinkel beleuchten, sondern sie wird mir ihr eigenes Chaos als ein spiralförmiges Schneckengehäuse präsentieren, dem man entschlüpfen kann. Und warum sollte ich nicht ein morgendliches Telefonat für sie erledigen, wenn die Person am anderen Ende den Klang ihrer Stimme sowieso nicht kennt. Und warum sollte ich nicht anstatt ihrer in einer Sendung auftauchen, in der Journalisten über ihr Schreiben berichten, wenn sowieso niemand mit Sicherheit sagen kann, wie sie aussieht. Dort wo mich mein eigenes Leben irritiert hat, hat mich ihres getröstet und angespornt: es ist großartig, morgens aufzustehen und sich an einem langweiligen Schalter anzustellen, wenn man sie ist und nicht ich. Es ist großartig, ihr Flugticket nach Chile abzuholen, und sie dann zu fragen, ob sie Hilfe beim Packen braucht, die sie dann aus Angst, dass ich in ihren Schrank blicken könnte, ablehnen wird. Ihr Schrank ist – nach eigener Aussage – das reine Chaos, in dem schmutzige Schlüpfer um Blusen herum tanzen, die aussehen, als hätte jemand Zieharmonika auf ihnen gespielt. Auch ihr Bett war ein Chaos und auch ihr Badezimmer – sie zeigte großes Un- behagen, als ich mir einmal die Hände waschen wollte. Ich war vielleicht ein- oder zweimal in ihrem Badezimmer, und außer dem ein wenig vergilbten Waschbecken und der nicht gerade sauberen Badewanne sah ich auf den ersten Blick kein Chaos, doch als ich mich nach einem Handtuch umsah, fand ich ein Regal, vollgestopft mit alten Shampon-Flaschen, aufgebrauchten Schaumbädern, Deckeln von Haarspülungen, an denen Haare klebten. Sie gestand mir, dass sie nie einen Frühjahrsputz machte, weil sie sich von keiner einzigen Sache trennen kann. Dazu zählen Kinokarten, Eintrittskarten für Konzerte, Ausstellungsprospekte, nicht verschickte Postkarten, alte Terminkalender, Streichholzschachteln und Bücher, für die es in den Regalen keinen Platz mehr gab. Jeder Intellektuelle hat tausend ungelesene Bücher, zitierte sie mir einen Schriftsteller, dessen Namen ich vergessen habe. Packen war für sie eine Strafe, denn aus einem Durcheinander von Ärmeln und Knöpfen musste man ein paar vernünftige Kleidungsstücke heraus fischen, einige davon sogar waschen und sie dann in den Koffer stopfen. Soweit ich weiß, verreiste sie bisher eigentlich nicht. Einmal wegen ihrer Schlafgewohnheiten, aber noch mehr wegen des Packens: Sie pflegte nur einen Tag lang nach Triest, Venedig oder Wien zu fahren, gemeinsam mit einem Freund, der vermutlich in sie verliebt war, weil er diese Anstrengung einen Ausflug nannte, und er photographierte sie auch noch auf dem Canale Grande oder vor dem Florian, und er fuhr sie am frühen Morgen zurück, denn man ging nicht vor zwei Uhr nachmittags auf die Reise. Einmal, als wir uns noch nicht kannten, versuchte sie ihn zu überreden, für einen Tag nach Ägypten oder nach Malta zu fliegen, leere Koffer mitzunehmen und sich wie echte Touristen zu benehmen. Er erkundigte sich sogar, ob es aus Wien oder RELA TIONS Budapest eintägige Rückflugtickets nach Kairo gäbe, aber es stellte sich heraus, dass die Reise mindestens drei Tage dauern würde, und das wollte sie nicht. Nicht nur, dass sich sich vor der Reise fürchtete, vertraute sie mir an, sie fürchtete sich auch vor der Nacht neben diesem Freund: er würde sicher einschlafen, aber was wäre dann mit ihr? Du wärest wach, als wärest Du allein, sagte ich zu ihr. Ja, aber das ist nicht dasselbe, sagte sie, Ich würde mich noch elender fühlen, wenn ich jemandem sehen müsste, der neben mir schläft. Ich dachte im Stillen, dass sie getrennte Zimmer hätten nehmen können, aber M. war nie praktisch veranlagt. Außerdem plante sie wahrscheinlich, diesen Freund zu verführen, solche Dinge hatte sie immer im Kopf. Wenn sie nicht über das Schlafen sprach, philosophierte sie über Männer, ein wenig abstrakt und im Tonfall eines Essays, als habe sie ein Büchlein über die Männer im Kopf, das sie sich nicht zu schreiben traute. Sie nahm eine Pose ein, als wüsste sie alles, obwohl ich sie nie mit einem Freund getroffen habe. Ich behaupte nicht, dass sie keine Affairchen gehabt hätte, dass sie sich nie auf einem Geburtstag besoffen hätte, um danach mit irgend jemandem auf dem Berg Sljeme zu enden, oder dass sie sich wirklich nie auf einer Wiese bei Zapre{i} herum getummelt hätte, aber andere Beziehungen mied sie. Ich kann nicht treu sein, pflegte sie so ernsthaft zu sagen, als handele es sich um eine körperliche Behinderung. Ich kann nie und niemandem treu sein. In jenem Sommer vollendete sie ihr 24. Lebensjahr: sie lebte im Dachgeschoss eines alten Hauses in der Bosanska Straße. Das Haus war in einem fast so schlechten Zustand wie ihre Wohnung – es sah aus wie eine überdimensionierte Walnuss. Um das Haus herum zog sich ein alter Garten, in dem Einhörner weideten. Auf dem Spiegel hatte M. ein Zeitgenössische Poesie und Prosa 175 Foto: Jakob Goldstein RELA TIONS Faith Liddell beim Festival Europäischer Kurzgeschichten Photo eines Einhorns – natürlich eine Photomontage. Es schaute uns aus dem Profil an, es hatte ein großes, feuchtes braunes Auge. Jeden Tag warte ich darauf, sagte M. gerne, dass es mich von hier fort führt. Romantisch, aber irgendwie hohlköpfig. Doch als wahrhaft gute Freundin konnte ich ihr das nicht sagen. Ich wusste, dass sie den Schein einer Flucht braucht, denn es ist nicht leicht zuzugeben, dass Ihnen Ihr einsames, ideales Leben auf den Geist geht. M. lebte außerhalb von Zeit und Raum, ins Kino kam sie grund- sätzlich eine halbe Stunde zu spät, sie vergaß Verabredungen, weil sie die Inspiration zu einer Geschichte hatte. Sie ließ mich im Regen auf sie warten. Wenn Sie mich fragen, sie war verwöhnt, und sie dachte Tag und Nacht an sich, an sich, an sich. Doch es steht mir nicht zu, über sie zu urteilen. So wie ich sie nie wegen ihrer schlechten Schlafangewohnheiten kritisierte oder wegen ihrer Unordnung – ich begriff sie einfach als Teil ihrer Persönlichkeit, etwa wie den Klang ihrer Stimme oder ihre Gewohnheit, sich beim Schreiben am Kinn zu kratzen – so verurteilte ich sie auch nicht, als sie sich in einem dunklen, nassen Cape ins Kino schlich. Ich erlebte sie wie ein Streichholz: wenn sie mich zu sehr nervte, stellte ich mir vor, wie ich sie in den Schnee werfe oder ihren kleinen Kopf unter Wasser tauche. Vor ihrer Reise dachte ich in meinen boshaften Momenten, nur noch ein Weilchen und du wirst nach Chile verschwinden... Aus dem Kroatischen von Alida Bremer Jadranka Pintari} RELA TIONS Foto: Jakob Goldstein 176 Bernardo Atxaga beim Festival Europäischer Kurzgeschichten RELA TIONS Die Wahl eines Kritikers 177 Die Wahl eines Kritikers Jadranka Pintari} E inst, etwa ein Dutzend Jahre lang, war ich beim Besuchen der Buchmesse in Frankfurt, in der Funktion der Redakteurin eines Verlagshauses, stets tieftraurig, wenn ich all die unendliche Menge von Büchern mit dem Bewusstsein betrachtete, dass man die Prozentzahl der Bücher, die in meine Sprache übersetzt und in meinem Land veröffentlich werden würden, nicht einmal in Promill ausdrücken könnte. Und wie sollen wir dann wissen, dass wir nicht ein geniales Buch verpasst haben, einen überwichtigen Band, der sich als jener erweisen würde, der die Weltgeschichte veränderte, ein entscheidendes Werk, das neue Möglichkeiten der menschlichen Wortkunst eröffnen würde? Ich bin kilometerweit durch die riesigen Hallen gelaufen, an endlosen Reihen von Büchern vorbei und machte mich selbst mit dem Gedanken verrückt, das auf einem der Million Regale Das einzigartige Buch liegt, das mir verborgen bleiben wird, weil ich unachtsam bin. Aus denselben Gründen – dass ich Schuld haben werde an der Vernichtung eines neuen Rimbaud oder Joyce – schlug ich alle auf und überflog wenigstens die meisten Manuskripte, mit denen uns einheimische Autoren überschütteten. Zu der Zeit verfasste ich Literaturkritiken als zusätzliche Arbeit, die mit Liebe zu Büchern und zur Literatur verbunden ist. Dann lief es umgekehrt: Das Schreiben von Literaturkritiken wurde mei- Jadranka Pintari} veröffentlicht als freie Künstlerin Literaturkritiken, Essays und andere Texte, ist Redakteurin von Buchreihen und einzelnen Ausgaben, übersetzt aus dem Englischen und ist als Mitarbeiterin in Print- und ElektroMedien tätig. Ihr Buch In Richtung der Meridiane ¹„U smjeru meridijana“º wurde 2003 vom HFD herausgegeben. Von 1996 bis zum Jahr 2000 war sie Chefredakteurin im Verlag des Kulturvereins Matica hrvatska. Von 1994 bis 1996 arbeitete sie als Redakteurin im Verlagshaus Mozaik knjiga. Von 1986 bis 1994 war sie redaktionelle Mitarbeiterin beim Ersten Programm des Kroatischen Rundfunks. Sie erhielt ihr Diplom an der Philosophischen Fakultät in Zagreb und ist Mitglied des Kroatischen Verbandes freischaffender Künstler, der Kroatischen Schriftstellervereinigung und des Kroatischen Journalistenverbandes. ne primäre Tätigkeit und die redaktionelle Arbeit sekundär. Doch es sollten noch Jahre vergehen, bis ich verstand, dass ich (unbewusste) Verhaltensmodelle übertragen habe: Aus Panik, auf einheimischem Terrain einen modernen Andri} oder Krle`a zu verpassen, quälte ich mich mit dem sinnlosen Lesen schwächlicher Werke und sinnloser Papiervergeudung. Glücklicherweise passierte in einem Moment die Wende – vor Überarbeitung krank im Bett liegend – sagte ich mir selbst, dass ich nicht für den Verlauf der Geschichte der kroatischen Literatur verantwortlich bin und noch weniger für die Rezeption der internationalen. Ich lese nur gern und bin glücklich, dass ich das zu meinem Beruf machen konnte. Sollte ich dabei auch noch das, was ich lese, genießen, umso besser. Aber aus einem stillen Winkel verschwand je- doch nicht das Bewusstsein, dass jede Wahl auch eine Nicht-Wahl des Übrigen, eine Vernachlässigung und ein Verschweigen der Anderen ist. Ein Buch hervoheben, eine gewisse Menge Text, der veröffentlicht wird, darüber schreiben, heißt, dass einem anderen Buch nicht die gleiche Aufmerksamkeit zuteil wurde. Doch das ist das Schicksal der Bücher, ebenso wie das der Menschen. Das wissen alle, die sich (das bezieht sich ausschließlich auf jene, die es aus Liebe tun!) leidenschaftlich mit Büchern befassen, und sie entweder drucken lassen oder über sie schreiben, damit andere sie lesen. Man muss es nur sich und den anderen gestehen. So ist auch diese Auswahl: Persönlich, fahrlässig, beabsichtigt. Jedoch nicht willkürlich, denn Legitimität verleihen ihr – wie das so ist – geleistete Arbeit, gesammelte Erfah- 178 RELA Jadranka Pintari} rung, der Glaube an einen gewissen Riecher. Wie auch immer. Es gilt, auch nach einiger Zeit, hinter seiner Wahl zu stehen. Diese Besetzung erwies sich als zuverlässig in dieser Hinsicht – mein Riecher hat mich nicht getäuscht. Der Reihe nach. Schon seit dem ersten Buch, einer Kurzgeschichtensammlung (Der Ort, an dem wir die Nacht verbringen werden, 2000), wusste man, dass Roman Simi} (1972) ein unbestreitbares Talent ist und die große Hoffnung jener Literaturgattung, die die Aufmerksamkeit des Lesers, der jede Nuance der stilistischen Finesse und das Erkennen der gelesenen Referenz zu schätzen weiß, verlangt. Dass dem so ist, bewies er mit dem zweiten Buch, In was wir uns verlieben (2005), gleichermaßen beliebt bei Kritikern (Preis der Tageszeitung Jutarnji list) und beim Publikum (Neuauflagen). Zvonko Todorovski (1960) affirmierte sich anfangs als Kinderbuchautor, um danach den verblüffenden historischen Roman Mandra~ zu schreiben, in bester Manier eines historischen Thrillers, aber mit riesigen literarischen Ambitionen, die gerechtfertigt sind. Die Insel Hvar ist aus vielen Gründen der mythische Ort der alten und modernen kroatischen Geschichte, insbesondere der Literaturgeschichte und Todorovski hat sie zusätzlich verzaubert und zu einem Wunder gemacht. Man kann nur hoffen, dass alle, die nach Hvar kommen, um Spaß zu haben, auch nach einem kleinen Teil seiner intriganten Geschichte greifen werden, die Todorovski in einen Roman verwandelt hat. Der Nächste in meiner Reihe, Igor [tiks, hat einen besonderen Platz inne angesichts der Anfangszeilen dieses Textes. Ungefähr zu der Zeit nämlich, als Igor [tiks (1977) seinen ersten Roman Ein Schloss in der Romagna (2000) veröffentlichte, kamen Ale{ Debeljak und Andrew Wachtel nach Zagreb, um Material für ein Projekt über Literatur in Transition zu sammeln. Ich arbeitete an diesem Projekt mit und sagte zu ihnen, dass sie den jüngsten kroatischen fabelhaften Romanschriftsteller (Igor [tiks war damals 23 Jahre alt) kennen lernen müssen. Das war eine wichtige Begegnung, denn es entstand eine gegenseitige Sympathie, eine schicksalhafte Begegnung, die einige Lebenswege bestimmte, vor allem wahrscheinlich Igors. Heute sind Igor, Ale{ und Andrew große Freunde und Mitarbeiter an literarischen Projekten, Kollegen an akademischen Lehrstühlen, Schwimmer des internationalen Literaturstromes. In der Zwischenzeit schrieb Igor [tiks den ausgezeichneten Roman Der Elias-Stuhl (2006), einen Roman, der sein damals bemerktes seltenes Talent, die geschliffene Erudition und den Wunsch nach Dauer bestätigt. Im Sinne von [tiks’Roman kann nur anmerken: „Destiny is the most powerful coincidence of all.“ Der etwas ältere Ivica Prtenja~a (1969) affirmierte sich zunächst als Dichter und nach drei Gedichtsammlungen veröffentlichte er einen Roman (Gut ist es, schön ist es; 2006), mit dem er die Kritik eroberte: Durch seine ehrliche Art, den Alltag eines „Zugereisten“, das Zurechtkommen und Überleben dieses sensiblen jungen Mannes aus der Provinz in der Metropole zu behandeln. Einsamkeit ist Verlezlichkeit, aber Prtenja~a zeigte Kraft im minutiösen Porträtieren des Lebensstils einer Figur, die völlig den (leider!) überwiegenden patriarchalen Lebensstandpunkt aufgegeben hat, in allen verborgenen und subtilen Nuancen. Gleichzeitig gewann er mit seinem Humor die Sympathien TIONS des breiteren Publikums. Diese neue männliche Sensibilität drückt auch der Erfolgsroman von Kre{imir Pintari} (1971) aus, mit dem charmanten Titel Liebe ist alles. Kre{imir begann als Dichter und veröffentlichte auch Kurzgeschichtensammlungen. Er ist ein großer Fürsprecher der elektronischen Bücher bei uns und machte vier seiner gedruckten Bände kostenlos in E-Format zugänglich. Die jüngste in der ausgewählten Nationalmannschaft ist Mima Simi} (1976), die meine Sympathien durch die Absicht erlangte, völlig anders, provokativ und subversiv im Gebiet des so genennten Queer-Genres zu sein. Sie stellt Ihre Toleranz, Ihre Offenheit gegenüber unterschiedlichen Lebensarten und das Bedürfnis nach dem Austesten der Grenzen von Fantasie und gesellschaftlich Erlaubtem auf die Probe. Zuguterletzt: Olja Savi~evi} Ivan~evi} (1974) ist eine Dichterin, die bei einem Kurzgeschichtenwettbewerb gewann und damit die Veröffentlichung ihres Werkes (Den Hund zum Lachen bringen, 2006). Alle Farben des Mittelmeeres, die südliche Mentalität und der Dialekt Dalmatiens kennzeichnen diese zweiundzwanzig Kurzgeschichten mit dirchterischem Ausdruck und einzigartiger Sensibilität. Jeder Kritiker muss mit seinem Gewissen leben und dem Bewusstsein von Ewigkeit und Vergänglichkeit. Das sind Kateogrien, die seine Position unbequem machen, aber auch verantwortunsvoll. Ich möchte daran glauben, dass meine Auswahl verantwortungsbewusst war und jenseits trügerischer täglicher Modeerscheinungen. Nur die Zeit wird das widerlegen. Na ja, lass sie nur. Mein Gewissen ist ruhig. Und Ihres? Aus dem Kroatischen von Marijana Mili~evi} RELA TIONS Die Wahl eines Kritikers Ein generationenübergreifendes Trauma der liebe ROMAN SIMI]: In was wir uns verlieben ¹„U {to se zaljubljujemo“º ¹Profil, Zagreb, 2005, 174 Seitenº Wenn wir wüssten, in was wir uns verlieben, würden wir uns – wahrscheinlich – (mit der Betonung, dass dieses Wort nur ein Zugeständnis an hartgesottene Optimisten ist) nie verlieben. Zum Teil wegen des Horrors, in dem wir uns im Moment der Realisierung „dessen“, in das wir uns verliebt hatten, wiederfinden würden, zum Teil wegen der Angst vor dem Schmerz und der Ohnmacht in dem ewig dauernden Augenblick, wenn wir in unserem Zustand der Verliebtheit verletzt werden, zum Teil, weil wir mit jeder Verliebtheit lernen, dass sie vergänglich ist, wenn sie nicht in etwas dauerhafteres übergeht... Es gibt eine Million Gründe, warum es nicht gut ist zu wissen, in was wir uns verlieben. Das hat Einer gut eingefädelt. Egal, wie wir ihn nennen. Die Möglichkeit ist jedoch eröffnet, dass wir die Verliebtheit wie moderne Wissenschaftler auf das Niveau der Biologie und Chemie bringen, weil es Untersuchungen gibt, die so einen Ansatz untermauern. Dann gibt es (angeblich) keine Probleme mehr, keine Geheimnisse, keine Zweifel. Aber es gibt immer solche, die keine Ruhe geben und die müssen graben, bohren, nachdenken, analysieren, zerpflücken... Die wollen es wissen... Der Haken an der Sache ist, dass der Zustand der Verliebtheit wie die berühmte Katze von Schrödinger in dem bizzaren Experiment aus der Geschichte der Quantenphysik ist. Nämlich allein durch unsere Anwesenheit beim Akt des Versuches, verändern wir seinen Ausgang, also können wir schlussendlich gar nicht wissen, ob die Katze tot oder lebendig ist. Beziehungsweise, es ist uns nicht gegeben, verlässlich festzustellen, ob die Katze überlebt hat oder verendet ist, nur weil wir sie beobachtet hatten. Ebenso ist es mit der Verliebtheit: In jenem Moment, in dem man beginnt, sie wie ein Physiker im Laboratorium zu analysieren, ist der Zustand der Verliebtheit selbst in Frage gestellt: Man kann nicht wissen, woran man ist, und allem Anschein nach ist man immer am Verlust (würden die Existenzialisten sagen, natürlich). So wird uns auch nicht der verführerische und charmante Titel der neuen Kurzgeschichtensammlung von Roman Simi} eröffnen, in was wir uns wirklich verlieben, noch werden wir uns deswegen wirklich verlieben, aber wir werden uns, höchstwahrscheinlich, wirklich fragen, was ist es, weswegen wir uns verliebt fühlen. Und welche die feinen Nuancen dieses Zustandes sind, an welchen Übergängen spüren wir die Gefahr vor dem Fall ins Bodenlose und in welchen 179 Augenblicken als ob wir auf Messers Schneide gehen oder aber lautlos auf Glasscherben, wie die kleine Meerjungfrau – die alles für ihre Liebe gab, um sich zu verlieren. Da das „in was wir uns verlieben“ auch seine Großmutter quälte, scheint der Held des Autoren (es ist sogar gar nicht wichtig, ob es ein autobiographisches Element ist, es ist eher ein Grundstandpunkt, der sich durch alle Geschichten durchzieht) ein so genanntes generationenübergreifendes Trauma in sich zu tragen, um es mit trendigem psychiatrischen Diskurs zu sagen. In einer absurden Tat des Jünglings (des Großvaters), eines Hitzkopfes, und des Mädels (der Großmutter), in existenzieller Gefahr, ereignete sich der Akt des SichVerliebens (letztendlich war das, historisch gesehen, der Augenblick, in dem auch seine Existenz in der Zukunft möglich wurde, und ist deshalb wahrlich von ausschlaggebender Wichtigkeit), in dem Simi}s Chronik des fragmentellen Sezierens des lebendigen, sterbenden oder abgestorbenen Gewebes der Liebe im Leben völlig (un)gewöhnlicher Versuchskanninchen, die dazu verurteilt wurden, im künstlerischen Akt eines literarischen Schöpfers verewigt zu verden, beginnt. Nicht nur dass er mit forensischer Präzision und unter dem Einfluss der so beliebten Wissenschaft, die in Fernehserien, die auf Intelligenz, Rationalität und Logischsein prätendieren und nicht auf die Emotivität der Seifenopern, herhalten muss, jede sich gestellte Situation zerstückeln wird, sondern er wird die Geschichte „Der Mann in Damenhöschen“ wirklich in der Pathologieabteilung unterbringen, ihr adäquat pathologische Figuren zusprechen. Trotzdem sind die elf Geschichten von Roman Simi} elf seperate Welten, unterschiedlich in allem außer einem: Der Atmosphäre, die er ihnen gab und der Ungläubigkeit in die Möglichkeit einer dauer- 180 RELA Jadranka Pintari} haften und wahren Liebe, auf denen er sie aufbaute. Sie sind auch durch die Geschliffenheit des Textes verbunden (stilistische, syntaktische, fabulative Sparsamkeit) und die Fertigkeit mit wenigen Worten eine Situation zu schaffen oder aber einen Dialog glaubhaft (und/oder künstlerisch wahrhaftig) zu machen. Diese, sagen wir mal, nicht besonders heitere, vielleicht sogar etwas bedrückende Atmosphäre erinnert an die Geschichten von Ivan Klíma, aber der tschechische Klassiker hat das Bedürfnis, Geschichten mit ziemlichem Nachdruck zu beenden, sogar zu poantieren, während Simi} auf seine Ausschnitte nicht den symbolischen großen abschließenden Punkt setzt. Ganz im Gegenteil, er lässt sie offen. Interessant ist der Aufbau des Buches: Der erste Teil besteht aus nur einer Geschichte, Autobiographisches suggerierend, unter dem Titel „Rahmen für den Familienlöwen“ und danach folgen die restlichen zehn Geschichten, zusammengefasst unter dem bedeutungsschweren Titel „Ein paar Schritte weit sind wir glücklich“. In dieser ersten Geschichte ist ein steinerner Löwe an den Wehrmauern von Zadar zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges Ursache für die Entstehung des generationenübergreifenden Familientraumas zum Motiv des SichVerliebens, also scheint die folgende Obduktion verschiedene Musterbeispiele auf den Tisch legen zu wollen. Für Roman Simi} (1972) spielen Titel anscheinend eine ziemlich wichtige und mysteriöse Rolle. Auch seine erste Kurzgeschichtensammlung, veröffentlicht vor fünf Jahren, hatte einen bedeutsamen Titel – Der Ort, an dem wir die Nacht verbringen werden. Diese Geschichten waren durchzogen von der gelesenen Lektüre (Roman Simi} hat ein Diplom in vergleichenden Literaturwissenschaften und Hispanistik), die ihn insofern beeinflusste, dass sie ihn inspirierte, was sich auf die südamerikanischen Meister des magischen Realismus und die Mythologie des amerikanischen Südens bezieht. Für beide ist kennzeichnend, dass sie eine „dichte“ Atmosphäre schaffen, in der die Schicksale der Helden durch Schicksal oder aber durch Verkettungen von Umständen vorausbestimmt zu sein scheinen (was man auf einer höheren Stufe der Apstraktion letztendlich gleichsetzen kann). Mit ein wenig Vorsicht könnte man alles in allem sagen: Sie sind nicht die Schmiede ihres Glücks. In der zweiten Sammlung sind aber die Referenzen verdeckt, suptil oder verwischt, aber die Welt ist die unsere, kroatische, jetzt und hier: Studenten, Ärzte, ungeliebte Kinder und Eltern, die sich nicht lieben, Kriegsteilnehmer, ehemalige Lieben, Tagediebe, Näherinnen, Schriftsteller (so erscheint gar in der Pathologie der bekannte Schriftsteller Zoran Feri} höchstpersönlich), Ihre Nachbarn oder vielleicht Sie selbst. Und da er ihr Schicksal mit dem Untertitel „Ein paar Schritte weit sind wir glücklich“ bestimmte, so sind auch seine Figuren nur einige Schritte (Augenblicke des Lebens) weit glücklich, sie lieben und werden geliebt und dann kommt entweder der Zustand der erschütterten Liebe, dann der Zustand der „Un-Liebe“ – verkürzt und vereinfacht gesagt. Als ob er seine Figuren wirklich verschiedenen experimentellen Situationen aussetzte, um nachzufragen, wie viel Verliebtheit und wie viele Mühsale sie ertragen können, was wird sie und wann zerbrechen lassen, wann werden sie unter der Last zusammenklappen, wann werden sie sich oder ihre Gefühle oder aber den/die Geliebte(n) verraten, wann werden sie aufgeben, sie selbst und andere genug davon haben oder sogar versagen... „Liebestorheit ist einfach nicht dafür gemacht, um zu dauern... Und dennoch.“ – sagt eine beeindruckende Figur. Trotzdem lechzen sie danach, getröstet zu werden, aber ihr Abgrund TIONS des Unglaubens und/oder Verzweiflung findet weder genügenden noch ausreichend guten Trost. Und bereuen das, was sie nicht gesagt haben. Oder getan. Um zu Klímas „Liebenden für eine Nacht“ zurückzukehren, die nicht traurig sind, denn für sie „ist es nicht am schlimmsten ohne Liebe zu leben, am schlimmsten ist es, in einer Liebe zu leben, die zerfallen ist und in Stücke zersplittert keine Liebe, sondern nunmehr Last ist“ – ihnen gegenüber stehen Simi}s Protagonisten, die in gewisser Weise jene sind, die erst vom Geist der Liebe heimgesucht werden, Unglückliche, weil sie unglücklich verliebt sind, keinen Partner haben, nicht ihren Traum von einer Liebe leben, die den Versuchungen, sowohl weltlicher als auch metaphysischer Natur, widerstehen. Selbst wenn es sich, sagen wir mal, um Liebe gegenüber dem Erzählen selbst oder die Nostalgie nach einer (unglücklichen) Kindheit handelt. Es geht nämlich nicht unbedingt um eine Person des anderen Geschlechts: Man liebt sich selbst nicht, also liebt einen auch niemand anderer. Insbesondere nicht ein Idealer. Unter idealen Umständen. Liebe ohne Gewohnheit? Liebe ohne Schablone? Das, was den Leser in allen Erzählungen fesselt, ist die Atmosphäre, in die ihn der Autor im Nu hineinzieht, was auch der Fall mit seinem ersten Buch war – es muss sich also um ein besonderes Talent von Roman Simi} handeln, das selten und wertvoll ist. Andererseits aber kann man die Schlussfolgerung einer seiner Figuren ein wenig abändern und anwenden: „Jede Behandlung sagt über den Behandelnden genau so viel wie über den Behandelten. Sie verbindet sie als Menschen, die sich getroffen haben, um das Schicksal und sein Geheimnis zu teilen: Das Leben und seinen verborgensten Part: Den Tod.“ Anders gesagt, jedes Lesen sagt etwas über das Treffen von Schreiber RELA TIONS und Leser aus, sowie über ihre Offenheit, das Schicksal und das Geheimnis des Lebens, das das Werk beinhaltet und sein Empfinden in einem anderen Bewusstsein, zu teilen. Am Ende ist ziemlich oft die Rede davon, dass wir nach all dem suchen, wonach auch Simi}s Helden suchen. Und vielleicht ist die Lebensweisheit Die Wahl eines Kritikers so einfach (und so komplex) wie die alte persische Weisheit, auf die sich sein Großvater in der ersten Geschichte berief: Was muss ein Mensch im Leben machen, um es sinnvoll auszufüllen? Er soll: Eine Familie gründen, ein Haus bauen, einen Baum pflanzen. So legt auch Roman Simi} sich und seinen Helden diese archetypi- Unsterbliche Augenblicke der Wahrheit und Schönheit ZVONKO TODOROVSKI: Mandra~ oder die wunderliche Erzählung über Petar Hektorovi}, einen altkroatischen Feudalherren, zusammengestellt aus sieben ungleichen Büchern ¹„Mandra~ ili ~udesna pripovijest o Petru Hektorovi}u starohvarskom vlastelinu, slo`ena od sedam nejednakih knjiga“º ¹Lukom, Zagreb, 2005º Zu der Zeit, als ich dieses Buch las, führte ich eines Tages ein Interview mit dem französischen Schriftsteller Andrei Makine und bei einer seiner Antworten bin ich sofort in Gedanken zur „wundersamen Erzählung über Petar Hektorovi}“ zurückgekehrt. Makine sagte nämlich, dass wir leider Sterbliche seien und dass ein Buch der einzige Weg sei, um etwas Unsterblichkeit zu erlangen. Dem Schriftsteller-Sterblichen macht es ein Buch möglich, sich unsterblich zu fühlen, schafft aber dabei auch für den Leser Momente der Unsterblichkeit, Momente der Ewigkeit. Mit einem Buch lernen wir, wie man sich von der sterblichen Zeit lösen kann, von der Zeit der Sterblichen. Und auf einmal finden wir uns in einem anderen Zeitrhythmus wieder. Letztendlich ist ein Buch eine neue Geburt. Weshalb würden Menschen sonst lesen! Um sich zu unterhalten, sehen sie Komödien im Fernsehen oder lesen aber lustige Geschichten. Die Tatsa- che, dass Menschen Romane lesen, spricht jedoch von dem Bedürfnis nach einem Lösen von der Wirklichkeit, von einer Flucht. Ein Roman ermöglicht uns, unserer Existenz zu entfliehen, von den sterblichen Menschen zu fliehen. Ich würde auch noch hinzufügen, dass ein Roman diese magische Möglichkeit hat, Unsterbliche wieder zu erschaffen, ihnen manch neues Leben zu schenken. Und gerade dieser Roman spricht vom Schicksal eines SchriftstellerSterblichen, der sich bemüht, Augenblicke der Unsterblichkeit, Augenblicke der Ewigkeit zu erschaffen – da er seiner Sterblichkeit tief bewusst ist. Die eingewobene indirekte Zweihaftigkeit des Motivs – eines Autors, der über einen Autor schafft – fügt der ganzen Geschichte von Unsterblichkeit noch eine weitere Dimension hinzu. Obwohl, eine Sache ist gleich zu klären: Der Schriftsteller Zvonko Todorovski selbst versteckt sich geschickt, gibt an keiner 181 schen Aufgaben auf. Nur dass der Großvater nicht wusste, dass die persische Weisheit ursprünglich besagt, dass man auch ein Buch schreiben soll, ob man nun, und vielleicht ist das das wichtigste, verliebt ist oder nicht. Man kann sich immer in eine Figur aus einem Buch verlieben. Oder wenigstens in sich selbst als Erdichteten. Stelle seine direkte Präsenz preis, überlässt es ganz altmodisch diesem famosen allwissenden Erzähler, alles aufzuschreiben, wie es war. Auf der anderen Seite aber, nachdem der Leser in den Roman hineingezogen wurde, entsteht wirklich die Atmosphäre einer anderen Zeit, einer Zeit, in der auch unsere Existenz ein anders Licht und eine andere Dynamik bekommt. Außerdem ist dieser Roman unterhaltsam genug, um auch diese „sündige“ Art des Genusses eines gewöhnlichen Sterblichen zu bieten. Also, diesen namhaften Feudalherren aus Alt-Hvar treffen wir in einem Moment, als er sich schon in der Endphase der Erneuerung von Tvrdalj befindet, eines ungewöhnlichen Baus, der mit seinem kleinem Arboretum und den obligatorischen Wasserläufen und Säulengängen darin, eigentlich als arkadisches ländliches Anwesen gedacht ist, aber wegen des in der Mitte befindlichen Turms mit „drohenden, zackigen, steinernen Zinnen“ aus der Ferne wie eine Festung aussieht und dazu bestimmt ist, Feinde fernzuhalten. Und ebenso wie das harte und scharfe Erscheinungsbild von Tvrdalj täuscht, das in seinem Inneren eine polierte poetische Weichheit verbirgt, so täuscht auch das Erscheinungsbild seines Herren: Ein bärtiges Mannsbild in reifen Jahren, von üppigem Leibesumfang, mit großen und starken Armen und einem 182 RELA Jadranka Pintari} strengen Blick – denn sein Inneres verbirgt eine „Rundheit“, Milde und Pracht in Details. Es herrschen unruhige Zeiten Mitte des 16. Jahrhunderts im Mediterran und an der Adria, so zählte unser Held zu seinen Lebenserfahrungen auch das bittere Flüchtlingsleben in Venedig, als er vor dem Ansturm der Türken floh. Alles in allem ist er ein weiser Mann, ein verantwortungsvoller und fürsorglicher Herrscher, am häufigsten gemäßigt in seinen Reaktionen, aber er erlaubt sich, so ganz künstlerisch extravagant, Abweichungen unterschiedlicher Natur. Wir sehen sowieso schnell ein, dass alle in seinem Umfeld an seine Andersartigkeit und seine Launen gewohnt sind. Außerdem, wie es sich geziemt, sammelte er einen Kreis von Dienern um sich, die alle mitsamt „schräge Vögel“ sind. Das Geleit jedes der sieben Bücher dieser Inszenierung aus der Zeit der Renaissance bildet eine Gallerie von Figuren, denen Leben eingehaucht wurde, um so gründlich wie möglich alle Nuancen der Zeit und die Schichten der damaligen Gesellschaft darzustellen, aber niemals improvisiert oder auf Kosten der Glaubwürdigkeit. Die erste Reihe der Mis-enScene bilden troztdem Fischer, Bauern, Handwerker und anderes Volk – deren Gesellschaft der Herr, „Freund des Volkes“ genannt, gerne genießt. Ihre Rollen erhielten beispielsweise auch die Vertreter der arroganten Aristokraten, Liebhaber der Wissenschaften, Gelehrte, Krieger, Händler. So ganz nebenbei schlendern auch viele ruhmreiche Namen der Republik Dubrovnik aus der Zeit der Renaissance vorbei – entweder sind sie zu einem richtigen prachtvollen Renaissance-Symposium, mit dem das Buch eröffnet wird, erschienen – wie Nikola Nalje{kovi}, oder sie sind mittelbar anwesend – wie Mavar Vetranovi} oder haben die Rolle von Petars Freund – wie Jeronim Bratu~evi}. Wenn wir die Entwicklung der Handlung selbst in Betracht ziehen, die einige Helden bis in die weit entfernte Krajina, auf türkisches Gebiet, führt, wird klar, dass wir den Versuch einer kompletten realistischen Roman-Rekonstruktion des 16. Jahrhunderts im kroatischen Süden vorliegen haben. Dafür spricht auch das Bemühen des Autors, auf der grundliegenden LiebesKriminal-Handlung unentwegt „fein“, aber dicht, kleine Bilder aus dem alltäglichen Leben einzuwerfen (wie zum Beispiel eine ausführliche Beschreibung, wie man zu jener Zeit Wäsche wusch oder mit Steinen baute oder ein Festmahl abhielt), auf ungewöhnliche Kuriositäten hinzuweisen (beispielsweise, dass Petar die Gabel als Essbesteck und gläserne Trinkbecher in Hvar einführte, aber auch als erster 1541 Urlaub machte – was eine sehr lustige Szene mit den Reaktionen des Volkes ist), eine Untergeschichte zu einem Thema zu entwickeln (z. B. der Himmel über Hvar und der Stand der Sternenforschung), den Geist der Zeit einzuweben (die gesellschaftliche Lage der Frau, dargestellt durch drei weibliche Hauptfiguren oder das Echo der Rebellion von Matija Ivani}), Bräuche zu erklären (wie z. B. dass ein uneheliches Kind eines Feudalherren anerkannt werden kann, dass TIONS aber die Mutter völlig verleugnet wird, als ob sie gar nicht existiert), mit Versen (so glaubwürdigen, wie sie nur Tonko Maroevi} verfassen kann, der die Sprache und die Insel bis ins Innerste Mark spürt, und dass im Geiste von Hektorovi}) oder mit Dialogen in der Mundart „Starogrojski“ (die Magda Dul~i} „übersetzte“) zu würzen, durch das Kreisen eines Dämons, der sich mal in Tvrdalj aufhält mal durch die Insel streift, magisch zu verwickeln. Alles in allem ist klar, dass dieser Roman Zvonko Todorovski nicht nur einfach „passierte“, sondern dass ziemlich hingebungsvolle und umfangreiche Forschungsarbeit Mandra~ voranging: Historische, literarische, ethnographische usw. Außerdem veredelte, keine Kosten scheuend, die Redakteurin Mirjana [igir die Ausgabe mit einem wunderschönen bedruckten Vorsatz mit der Zeichnung der architektonischen Rekonstruktion von Tvrdalj und einem Nachsatz mit der historischen Landkarte, beziehungsweise mit Hektorovi}s Reise, auf der ja die Idee für sein Werk Ribanje i ribarsko prigovaranje (Fischerei und Fischergerede) entstand. Die Autorin beider Zeichnungen ist Magda Dul~i}. Bevor Sie erfahren, wie Hektorovi} auf den Titel Ribanje i ribarsko prigovaranje kam, muss gesagt werden, dass es im Mittelpunkt der Handlung doch nicht um dieses Werk geht, sondern um den Liebesgesang Mandra~ – und wenn Sie noch nie von ihm gehört haben, so haben Sie sich selbst um den Genuss gebracht. Kurz, dem unvorsichtigen Hektorovi} stahl ein Böser das Manuskript dieses Titels, das im Liebestaumel entstand (nur platonischem, wie es sich für den Geist der Zeit gehört, denn eine Jungfrau hat ja sittsam zu sein), und erpresste ihn mit der Veröffentlichung, denn mit der Veröffentlichung dieser Verse wäre der Autor entehrt und gesellschaftlich ruiniert. In den verschiedenen Verwicklun- RELA TIONS gen um Mandra~ helfen Petar seine Freunde aus dem Volk – gerade die Fischer, deren wirkliches und wahres Leben er vorhatte zu beschreiben, um ein für allemal die Idee vom Schäferidyll zu zerstören. Die gesellschaftliche Unziemlichkeit von Mandra~ besteht darin, dass das Werk Ursa gewidmet ist, Petars junger und wunderschöner Dienstmagd, in die fast alle Männer verliebt sind. Doch außer dass sie schön wie ein Gemälde aus der Renaissance ist, ist Ursa auch klug, aufgeklärt und sich selbst treu (ganz modern? – falsch – denn in einem diskreten Augenblick wird sich herausstellen, dass es auf der Insel ein stilles Matriarchat gibt). Sie möchte schreiben lernen und nachdem er ihr ungewöhnliches Herumstreifen durch die Bibliothek enträtselt hat, beschließt der Herrscher, sie in dieser Fertigkeit zu unterrichten. Zum Entsetzen all jener, die meinen, dass es einer Frau gar nicht geziemt, sich mit Schriften zu befassen. So, für eine ordentliche Enthüllung der Handlung ist das genug gesagt. Ob es geschlechtliche Parteilichkeit oder der Einfall einer Kritikerin ist, werden Sie nicht erfahren, aber ich behaupte, dass das wirklich Interessante in diesem Roman drei Frauengestalten sind. Das sind drei Herrscherinnen, jede in ihrer Domäne, drei Lebensprinzipe, drei Pfeiler, die dieses Romangebilde tragen. Obwohl es scheinbar nicht so ist und die junge Schönheit Ursa sie in den Schatten stellt, ist die wirkliche Stütze für den Aufbau der Geschichte über den gestohlenen Mandra~ eine Franziskanerin aus dem Dritten Orden, Schwester Lucija. Die heilige Frau, die zu Beginn jedes der sieben Bücher (und ob das ein innerer Monolog, eine Art Gebet oder ein gedanklicher Brief ist, ist schwierig zu sagen und auch nicht wichtig) zu ihrem Herrn Jesus spricht und ihn vom Feuer ihres Glaubens zu überzeugen versucht, aber auch die Begebenheiten, die sich sich herbeiwünscht oder hervorruft, Die Wahl eines Kritikers beichtet. Gelichzeitig ermöglicht sie so dem Leser einen weiteren Einblick in die Handlung, als ihn die Protagonisten selbst haben. Lucija ist, na ja klar, hässlich, hager (magersüchtig? – würden wir heute sagen), kränklich, ätherisch, düster, ungeliebt, foltert sich selbst mit Geißelungen und härenen Gewändern, eine arme Einsiedlerin, aber auch gefährliche Verrückte, wenn sie eine Vorstellung von einer möglichen Etwicklung der Geschehnisse hat. Die verdammte Gottesanbeterin ist nicht nur selbstverleugnerisch wie ein Schatten, ein Nachtgespenst, sondern auch von der Welt vertrieben, ausgeschlossen – auch gerade, um heilig zu sein. Ihr Gegenstück ist die lachende, sonnige, heitere, geliebte, „weltliche“ Ursa – ein Mädel aus einer Bauersfamilie, drall, üppig, keck, prachtvoll in ihren Rundungen und Anforderungen an die Welt. Sie ist auch eine Rebellin – denn sie lief ihrem Vater davon, der sie gegen ihren Willen verheiraten wollte, aber sehr sachlich und pragmatisch in ihren Entscheidungen. Eine Verführerin aber auch kluges Köpfchen – denn sie meisterte das Alphabet im Handumdrehen und entschied fürwahr vernünftig, wem sie ihre Hand reichen würde. Die dritte Frau ist eigentlich unsichtbar wie ein Geist, Petars undurchschaubare, aber mächtige Mutter Katarina, die alte und kranke Herrin, die aus dem Hintergrund mithilfe ihrer Schachfiguren (und Sie werden auch erfahren, dass man gerade zu jener Zeit auf Hvar lernte, Schach zu spielen) entschlossene, sogar entscheidende Züge unternimmt. Niemals direkt anwesend, aber die Feudalherrin-Witwe versucht das Leben ihres Sohnes, der mit ihr nicht einmal spricht, zu lenken. Wenn man diesem Dreiergespann noch die übrigen Inselbewohnerinnen, die Frauen der Fischer oder die betagten Alten hinzuzählt, ist es klar, warum sich die Männer in den Barbiersalon als ihrem einzigen geschützten souveränen Territorium zurückzogen. 183 Man muss erwähnen, dass es Todorovski schaffte, den Stil mit dem Thema des Romans in Einklang zu bringen, so ist er gleichzeitig klassisch und modern. Er nutzte eigentlich alle zeitgenössischen Möglichkeiten der Romantechnik geschickt, um über ein uraltes Thema zu schreiben – ein ebenso ewiges Thema: Menschliche Naturen, Liebe, die Möglichkeit des schöpferischen Bestehens. Die reiche Sprache und flüssige Syntax sprechen vom Bewusstsein des Autors, dass das Wort nur ein Werkzeug des Schriftstellers ist und nicht ein Mittel zum Prahlen. Trotz der eingefügten Dialoge in der lokalen Mundart ist der Text nicht mit Regionalismen übersättigt und somit unlesbar. Im Gegenteil, diese gelegentliche ungewöhnliche Sprache gibt dem Text eine wünschenswerte milde Altertümlichkeit und Wunderlichkeit. Ich würde gerne folgenderweise schließen: Wenn Sie, wie ich, entsetzt sind von dem Monster, das durch Europa kreist, dem Monster der amerikanisierten europäischen Geschichte, dem Monster einer drittklassigen Unterhaltung, die die amerikanische Propagandamaschinerie Literatur nennt, können Sie aufatmen, denn schon der zweite einheimische Roman mit Helden und Heldinnen aus der Renaissance zeigt, dass es hochwertige literarische Werke über kroatische Geschichte gibt und man muss das Publikum „nur“ davon überzeugen, dass sie besser als das Pulp-Fiction, das sie uns aggresiv aufdrängen, sind. Es bleibt zu glauben, dass die Leser begriefen werden, dass die einheimischen Worte „süßer als die süßeste Feige oder ein süßer Wein sind“. Darüberhinaus spricht Petar Hektorovi} zu diesem Thema weise: „Schönheit und Wahrheit müssen ein und dasselbe sein! ... Alles andere ist Lüge und Heuchelei und die Lüge hat man zu vermeiden, wegen ihres hässlichen Antlitzes, dass in der Literatur noch sichtbarer als im Leben ist.“ 184 RELA Jadranka Pintari} Fallen der Vergangenheit, die Charon nicht in sein Boot lässt IGOR [TIKS: Der Elias-Stuhl ¹„Elijahova stolica“º ¹Fraktura, Zapre{i}, 2006, 320 Seitenº Als Igor [tiks 2000 seinen ersten Roman Ein Schloss in der Romagna veröffentlichte, war er (erst) dreiundzwanzig Jahre alt und deshalb nannte ihn die Kritik, trotz aller Lobesworte über künstlerische Leistungen und die handwerkliche Exzellenz des Werkes, das von Belesenheit und Talent zeugt, am häufigsten einen jungen Schriftsteller, der viel verspricht (insbesondere, da er den Preis „Slavi}“ des Kroatischen Schriftstellerverbandes für das beste Erstlingswerk eines Autors in Buchform im Jahr 2000 erhielt). So ganz nebenbei: In der Zwischenzeit wurde der Roman ins Deutsche, Englische und Spanische übersetzt und veröffentlicht. In der selben Zwischenzeit erlangte der Autor seinen Magisterund Doktortitel in Philosophie in Paris und verdiente sich ein gutes Fellowship in Chicago, an der rennomierten Northwestern University. Darüberhinaus ist er sechs Jahre später mit einem neuen Buch hier: Igor [tiks ist (auch weiterhin) ein junger Schriftsteller, der hält, was er versprochen hat – ich meine, was auch immer das bedeuten sollte. Er hat sein dreißigstes Lebensjahr noch nicht erreicht und hat einen Roman geschrieben, um dessen Komplexität, Feinheit, Ausgereiftheit, Geschliffenheit ihn viele, deutlich ältere hiesige Autoren beneiden könnten (und da [tiks aus Sarajevo stammt, gehören dazu ebenso unbestreitbar kroatische wie auch all jene Schriftsteller die mit ihrer bosnischen Abstammung „angeben“ – ich meine, was auch immer das bedeuten sollte – denn eigentlich gibt Igor weder mit so etwas an, noch mit irgend etwas anderem, sondern Sarajevo ist einfach seine Geburtsstadt, der Ort seiner Kindheit, der für immer in ihn eingemeißelt ist, auf vielerlei Arten, persönliche und familiäre). Der Elias-Stuhl ist auf gewisse Weise in erster Linie eine Ode des Autors an Sarajevo, eine Widmung und Danksagung an die außerordentliche Stadt (die Kulmination davon ist, wenn beseeligte Schauspieler und ein erlesenes Publikum beim Premierenempfang unter Kerzenschein Verse deklamieren, die Der Stadt als solcher gewidmet sind, der belagerten Stadt, dem Sarajevo von Durell und seiner Nachdichtung von Kavafis Die Stadt), eine Begleichung der Schuld an seine Wurzeln und ein Entreißen dem Vergessen, von dem was sie war. Im Sinne der Besonderheit Der Stadt und der Menschen darin, ihrer Historie und deren persönlicher Geschichten (sogar autobiographischer Elemente und auserwählter Details aus der Familienchronik). Hier öffnet sich die zweite Schicht der Motive – die Problematisierung der Identität – eines unversiegbaren Themas jeder Zeit, die Flüchtlinge schafft, aber das Absurde besteht darin, dass wir das noch von den griechischen Mythen verfolgen können, also ist die Rede von einer ewigen Frage. Wahrscheinlich lässt auch [tiks gerade deswegen mythologische Motive und Erzählungen einfließen, vornemlich von Ödipus und Odysseus, und spielt mit dem Hades und seiner Styx, und verleiht dem Roman stellenweise die Atmosphäre einer antiken Tragödie, nicht nur wegen des tragischen Schicksals der Protagonisten sondern eigentlich we- TIONS gen der Unmöglichkeit irgendwie selbst auf ihr Schicksal einzuwirken, das Ruder ihres Schiffes zu übernehmen – denn ihren Weg bestimmten einst irgendwelche Götter. Auf der dritten Ebene, ornamental aber unprätentiös, doch sagen wir mal „voluminös“ und systematisch, eingewoben in diverse Geschichten innerhalb der Grundflusses, in den Mund einiger Protagonisten und Episodisten gelegt, kann man den Wunsch des Autors und sein Bedürfnis herauslesen, seine philosophisch-soziologisch-politologische Sicht der Zeit, über die er schreibt, auszulegen, der Zeit, die vergangen ist, der Zeit, in der er sich selbst befindet, seine Einsichten über die Beständigkeit der Menschen durch die Zeit auszubreiten. Im Geiste jener großen Tradition des europäischen Romans als dem Erbe von Cervantes, über die Kundera sprach oder worauf Hermann Broch hinwies (man sollte „... entdecken, was nur ein Roman enthüllen kann, ist der einzige Grund, warum ein Roman existiert. Ein Roman ist unmoralisch, der nicht ein bis dahin unbekanntes Teilchen der Existenz enthüllt. Erkenntnis ist die einzige Botschaft eines Romans.“), bietet Igor [tiks kühn, verständig, mit sicherer Stimme seine Antworten auf die Frage „was ist die menschliche Existenz und wo befindet sich ihre Poesie“ (Zitat von Kundera); anders gesagt, er verleiht seinem Romangebilde philosophische Grundfeste, was jedoch heute kaum noch jemand macht, insbesondere in Kroatien, denn, um das zu erreichen, muss man viel lesen und viel nachdenken und dafür hat niemand Zeit, denn alle wollen auf die Schnelle etwas „über die Bühne bringen“ und Erfolg haben. Die Körnchen seiner vielseitigen Lektüre, die schon (ja, schon – denn er ist noch nicht mal dreißig!) Dimensionen einer bewusst entwickelten Erudition erreichen, sind durchdacht verstreut wie Kieselsteine auf einem Weg, den RELA TIONS er dem Leser teilweise, aber unaufdringlich genug, damit der, der will, sie einfach überspringen kann (und dabei in demselben Wald bleibt, d. h. der Geschichte, mit all ihren zahlreichen Seitenwegen und Abzweigungen), markieren möchte. Er hat deshalb keineswegs zufällig als seinen Helden einen europäischen Intellektuellen mit verborgener jüdischer Abstammung (väterlicher- und nicht mütterlicherseits!) gewählt, der den Sinn seines Seins und sich selbst in Sarajevo 1992 sucht, in dem die schiere Möglichkeit eines Bestehens der Andersartigkeit gefährdet ist. Irgendwo im zweiten Drittel des Romans erklärt ein Jude in einer beeindruckenden Metapher, wie die Dinge eigentlich stehen – mit der Abstammung, Identität, Suche, leeren Sehnsüchten. Seine sephardischen Vorfahren haben nämlich vor langer langer Zeit den Schlüssel ihres Hauses, das sie in Córdoba abgeschlossen hatten, mit nach Sarajevo gebracht und dieser Schlüssel wird von Generation zu Generation weitergegeben. Der letzte Träger des Schlüssels in Sarajevo kennt sein Geheimnis: „Wie wäre es, den Schlüssel in das Schloss seines Hauses zu stecken und einzutreten – der unerfüllbare Traum der Vertriebenen! – wieder nach Córdoba zurückzukehren? Wären wir glücklicher? Ich frage mich, würde uns dieser Sarajever Schlüssel dann, viel weniger alt, aber trotzdem der Schüssel eines unseren Hauses, in der Tasche drücken, würde uns dieses Córdoba fremd erscheinen und würde uns nicht eine neue Nostalgie quälen, während wir geboren würden und erwachsen werden würden mit einem neuen Schlüssel als Erinnerungsstück an die Wand gehängt? Vom Haus in Córdoba wird so lange geträumt bis man es betritt, ebenso wie man diesen Schlüssel als größte Kostbarkeit bei sich trägt, solange er nutzlos ist, solange er keine Tür öffnet.“ Und hier landen wir endlich bei der Die Wahl eines Kritikers Geschichte, die mit ihrer magischen Fabel Lesern, die auf der Suche nach der Aufregung der stufenweisen Enthüllung von Geheimnissen (und Verbrechen) sind, beste Unterhaltung verspricht. Es ist schwer, höflich zurückhaltend beim Nacherzählen dieses, um Platonow zu paraphrasieren könnte man sagen, Hauptflusses der Lebensstromschnelle zu sein, ohne in stehende Flussarme einzudringen und nicht einige wichtige Elemente zu enthüllen, aber hier kommt ein parteiisch unbeholfener Versuch. Die Hauptfigur, die in keinster Weise irgendeinem Ihrer Nachbarn ähnelt oder ähneln wird, ist ein österreichischer Schriftsteller, der in Paris lebt, namens Richard Richter, seinerzeit fruchtbar, erfolgreich und preisgekrönt, aber in einer längeren Phase der kreativen Ohnmacht. Im Alter von fünfzig, das er wie eine Last von mindestens achtzig empfindet, mit einer gescheiterten Ehe und überkommen von der Sinnlosigkeit seiner weiteren Existenz, setzt er sich in einen Zug und kehrt in eine Geburtsstadt und die Stadt seines Erwachsenwerdens, Wien, zurück. An der alten Adresse der ehemaligen k. u. k. Hauptstadt, in der geräumigen 185 Wohnung und ihrem winzigen bürgerlichen Leben, empfängt ihn dort mit offenen Armen Tante Ingrid, die ihn wie ihren eigenen Sohn aufgezogen hat. Richards Mutter Paula starb nämlich bald nach seiner Geburt 1942 und sein Vater Heinrich Richter ging in den Krieg, aus dem er nur ein paar Mal zurückkam, um seinen Sohn zu sehen und beging schon bald Selbstmord. Richard wurde von Ingrid, der Schwester seiner Mutter aufgezogen und sie impfte ihm diese Geschichte vom Tod seiner Mutter und der Ohnmacht seines Vaters, in der er die Hand gegen sich erhob, ein. Nachdem er sich wieder in der Wiener Wohnung eingerichtet hat, beschließt Richard für seine Arbeit an einem neuen Roman zwei Zimmer umzubauen, reißt die Wand hinter der Bibliothek ein, findet einen kleinen verborgenen Safe und im Safe nur ein blaues Heft. In dem ein halbes Jahrhundert lang eingemauertem fatalen Heft liegt ein nicht abgeschickter Brief seiner Mutter Paula, der an die Liebe ihres Lebens und den Vater des Kindes, das in jenem Augenblick in ihr wächst, gerichtet ist und der Name dieses Mannes ist Jakob Schneider. Sie hat ihn 1941 als kommunistischen Aktivisten im geheimen Kreis der anti-nazistischen Intellektuellen, den ihre Schwester Ingrid versammelte, kennen gelernt. Er war Jude und stammte aus Sarajevo. Sie haben sich verliebt, aber er ist von der Gestapo verhaftet und in ein Lager gebracht worden, so dass sich jegliche Spur von ihm verliert. Richard beschließt den Brief demjenigen zu übergeben, an den er gerichtet ist und so seinen biologischen Vater kennen zu lernen – denn außer seiner Schaffenskrise und MidlifeCrisis überkommt ihn nun auch noch eine Identitätskrise. Für einen sensiblen mitteleuropäischen Intellektuellen, einen engagierten Schriftsteller, eine einsame Seele ist das eine fast unerträgliche Situation. Deswe- 186 RELA Jadranka Pintari} gen muss er die Wahrheit kennen, eine Antwort erhalten. Seine einzige Spur führt ihn nach Sarajevo, wo in diesem Frühling 1992 der Krieg entbrannte. Er kommt nach Sarajevo als Journalist, gibt aber schnell den informativen Journalismus auf, weil er sich, neben seiner Suche, in anspruchsvolleren Texten mehr für Die Stadt engagieren möchte. Dabei ist ihm sein neu erworbener Freund eine große Hilfe, der junge Übersetzer Ivor (eine Figur, die viele autobiographische Elemente beinhaltet und dabei spielte der Autor gekonnt und rätselhaft mit Details), in dessen Wohnung er auch einzog. „Er war, wie ich ihm später sagte, als wir uns näher gekommen waren, das Abbild eines Brooklyner Intellektuellen, der gequält ist von den Versuchen das Leben um sich zu verstehen, mit nicht definierten Wurzeln und konfusen linksorientierten Einstellungen.“ Im Augenblick als er die wunderschöne Schauspielerin Alma kennen lernt und während er auf eine Sarajever Theaterbühne Frischs Homo Faber bringt, stellt er den Sinn einer solchen Tat und die Bedeutung gerade dieses Textes in Frage, wobei Richard immer stärker ahnt, dass „Namen nie zufällig sind“ (Richard – der Richter, Jakob – der Schneider, Alma – die Seele usw.). Da beginnt die Inszenierung seines Schicksals: Darin vermengen sich ebenso Elemente des Geschicks von Herrn Faber, wie auch die neue Version der Ödipus-Geschichte und Odysseus’sche Lösungen. Bei einem Besuch in der alten Synagoge von Sarajevo setzte er sich unwissentlich auf den EliasStuhl, auf den Beschneidungsstuhl – worüber ihn in einer prophetischen Szene eine der beeindruckendsten Romanfiguren informiert, der wundersame Alte Simon und wie man später erfährt, der Träger des Schlüssels aus Córdoba, auch selbst einst von Beruf Richter, der mehr versteht als er ahnen lässt. In diesen paar Wochen, von Mai bis Juli, sind für Richard eigentlich fast alle Begegnungen schicksalsträchtig und unvermeidlich. Wenn Alma zu ihm sagt „Destiny is the most powerful coincidence of all“, spürt er in seinem Inneren ein stärkeres Brennen als nötig, da es sich um den Werbeslogan für die Filmversion von Homo Faber handelt. Denn Richard kennt schon tief in sich das ganze Gewicht der Wahrheit über das Schicksal als mächtigsten Zufall. Es gibt nämlich keine Zufälle und während er die schönsten fünf Tage der Liebe durchlebt, befindet sich sein Schicksal schon im Prozess einer tragischen und tragödienhaften Auflösung. Nachdem er also die Geschichte des Schlüssels gehört hat „... fragte ich mich, suche nicht auch ich eigentlich das Schloss eines Hauses, dessen Schlüssel ich verborgen hinter der Bibliothek unserer Wiener Wohnung gefungen habe, einen Schlüssel, den ich jetzt in alle Schlösser stecke. Sollte nicht dieses Haus, dieses väterliche Haus, dessen Existenz ich entdeckt habe, verschlossen bleiben und sein Besitzer, wenn es noch einen darin gibt, ungestört?“ Mehr darf man nicht sagen, um dem Leser den Genuss bei der Entdeckung der Geschichte zu nehmen, man kann nur noch hinzufügen, was sowieso von Beginn an klar war: Ja, Richard hat seinen Vater gefunden, ist wie Ödipus gestorben und am selben Tag geboren worden. Um sich danach im wörtlichen Sinne das Leben zu nehmen. Die ganze Geschichte erzählt uns nämlich Richard, er schreibt im Zimmer eines Wiener Hotels, während ein Revolver in Reichweite liegt, mit dem er, nachdem er seine Erzählung zu Ende gebracht hat, Selbstmord begeht, weil er eine uralte Sünde begangen hat, die man nicht sühnen kann, für die es keine Vergebung gibt. Der Schriftsteller, der seinen letzten Roman schreibt, verwandelt sich erst im Epilog in den Protago- TIONS nisten Schriftsteller, der dieses Manuskript als wertvollstes Erbstück einem anderen Schriftstellerfreund anvertraut, damit der mit dem Manuskript tue, was ihm sein Gewissen auferlegt. So liefert Ivor, der Erbe des Manuskripts, letztendlich das endgültige Bild vom Schicksal aller Figuren, während er fleißig übersetzt und somit eigentlich das letzte Werk seines schon lange toten Freundes neu schreibt, dem er alle Sünden vergibt. Diese Form zum „Einschlagen“ eines Romaninhaltes ist zwar gut bekannt und oft gebraucht, aber [tiks schaffte es, sie in einigen originellen Elementen frisch und wieder anders, dynamisch, zu gestalten. Doch im Gegensatz zu seinem ersten Roman, in dem er Sparsamkeit in der Ausdrucksweise und Knappheit des narrativen Gewebes wählte, ist er im zweiten zergliedert, er mäandiert, wirft Digressionen ein und durchdachte Wiederholungen (insbesondere wenn es sich um innere Monologe der Hauptfigur handelt, wenn er sich innerlich zerreißt, beschuldigt, wenn er sich nicht mit dem Unvermeidbaren abfindet). Wie damals auch, so hat er auch jetzt gezeigt, wie eine Geschichte in der Geschichte aus unterschiedlicher Zeit und Umgebung geschickt einzufügen ist, aber mit einer verblüffenden, selbstverständlich nie ausgesprochenen, Pointe – denn darin liegt wieder der Kern des Romans: Mittels der Figuren bis zum schieren Ende existenzielle Themen zu erforschen. Außerdem ist es interessant, mit welcher Leichtigkeit er zwischen der ersten und der dritten Erzählperson wechselt, ohne dass das den Leser verwirrt und in keinem Augenblick lässt er ihn an der Eingeweihtheit in die Geschehnisse zweifeln. Ebenso gleitet er von einer Zeit in die andere, aus der Wiener Zeit der Chronikschreibung in die Zeit des Geschehens in Sarajevo, von den Sarajever wertvollen Stunden in die abgezählten Wiener Minuten, un- RELA TIONS unterbrochen in einer Art räumlichzeitlicher Zick-Zack-Flucht – wahrscheinlich, um der Kugel auszuweichen, von der er weiß, dass er ihr nicht entkommen kann. Und obwohl der Leser schon bald ahnt, was am Ende geschieht, bleibt von entscheidender Wichtigkeit das: Wie es geschieht. Und dieses wie schildert eine glaubwürdige Stimme, die Stimme eines Menschen, der alles, was ihn getroffen hat, wiederholt durchlebt, so erkennt man, wenn er tief erschüttert ist, wenn er vor Liebe hingerissen ist, wenn er ein Beobachter auf dem Kriegs- und Geschichtsschauplatz ist, wenn er beseelt von der Atmosphäre ist, gerührt, aufgebracht, entsetzt. Kurzum, [tiks schaffte es, seinem Erzähler die glaubwür- Die Wahl eines Kritikers digen Farben einer vollen menschlichen Stimme zu geben. Alles in allem ist Der Elias-Stuhl sicherlich das Literaturereignis des Jahres, ein großer Roman unserer Tage aus der Feder eines reifen Schriftstellers (oder wie es einmal Emerson wundervoll sagte: „Das Talent allein macht noch keinen Schriftsteller. Hinter dem Buch muss ein Mensch stehen.“), der nicht nur etwas über den Zustand der menschlichen Existenz zu sagen hat, sondern die Fähigkeit besitzt, das in ein Kunstwerk von dauerhaftem Wert zu verwandeln. Vielleicht wäre es marketingtechnisch nützlicher, im Geiste der amerikanischen Klappentexte, etwas Marktschreierisches zu sagen wie: unbedingt lesen, elegant geschrieben Das Geheimrezept für Glück IVICA PRTENJA^A: Gut ist es, schön ist es ¹„Dobro je, lijepo je“º ¹Profil, Zagreb, 2006, 151 Seitenº Ich weiß nicht, ob Sie schon den Spruch gehört haben, dass glückliche Menschen nicht jene sind, die in einem bestimmten Gefüge von Umständen leben, sondern eigentlich jene Menschen, die eine bestimmte Summe von Standpunkten haben. Irgendwo als Hintergedanke, oder wenn man alle Schichten des zivilisatorischen Gewandes abschält oder in den tiefen möglichen Bedeutungen und Assoziationen, ist das eigentlich jene (manchmal fatale, denn, zum Teufel, sie hängt ja vom Kontext ab) Idee von Dostojewski, dass ein Mensch frei/glücklich sein kann, ohne Rücksicht auf Umstände, sich einkapseln kann in sein geschlossenes Universum und in einem „toten Heim“ oder einer „Unterwelt“ seinen eigenen Wirkungsraum finden kann, in der Abgefundenheit mit sich selbst. Jedoch wie sehr auch immer edel, erhaben, tröstend, idealistisch gefärbt so ein Streben sein sollte, beinhaltet es notwendigerweise einen gewissen Hauch eines fatalistischen Akzeptierens der Wirklichkeit; wie sie auch sein mag. So etwas ist nur selten vertraut jemandem, der eine breite humanistische Ausbildung im Geiste der westlichen Zivilisation besitzt, jemandem, der vielleicht auch unbeabsichtigt etwas vom Geiste Decartes, dem Argwohn Humes und einer dialektisch versprochenen heiteren Zukunft aufgesogen hat. Die Zeit des passiven 187 und weise, aufregend und unvergesslich, faszinierend und suggestiv, außerordentlich und unübertrefflich, aber ich würde lieber im Geiste jener großen europäischen Tradition enden, die dieses Werk so schön fortsetzt, und einen Gedanken aus dem Roman anführen: „Die Vergangenheit ist eine Falle... und lassen wir nicht zu, dass sie, diese fatale Vergangenheit, unsere Leben lenkt. Nicht nur auf einer individuellen... sondern auch auf einer kollektiven Ebene.“ Richard half es nicht, wird es uns helfen? „Vielleicht ist gerade das der Zweck des Schreibens – die Befreiung von der schweren Last, die Charon nicht in sein Boot lässt. Und ich muss bald über die Styx.“ Aufgebens ist vorbei, ebenso wie die Zeit des aktivistischen Bemühens nach einer Veränderung der Welt. Jetzt will eine aufgeklärte Persona das Maximum ihres Glückes in den gegebenen Umständen verwirklichen. Was auch immer es sein mag. Das moderne Individuum erwartet viel von sich und dem Leben – und ist deshalb manchmal unglücklich (was sowohl ein Eufemismus für den Zustand verzweifelter Niedergeschlagenheit sein kann, als auch eine Übertreibung für die think pink Jünger verschiedenster Provinienz und die übrigen natürlich oder erlernt Jovialen), manchmal scheint es ihm, als ob das Leben einfach nur ungerecht zu ihm ist, manchmal, dass er nicht genug für sein Leben getan hat, manchmal, dass ihm viel mehr zusteht und dass das irgendwann mal kommen wird... Wenn wir uns dabei ertappen, wie wir irgendwie dämlich oder wehleidig in einen imaginären Kalender 188 RELA Jadranka Pintari} vergeudeter Tage starren, Kombinationen von Konjuktiven der Vergangenheit verschieben und von den Konjuktiven des Futurs erwarten, dass sie zu Fakten der Vergangenheit, unserer begehrten, werden. Kurz gesagt, von der Generation unserer Großmütter und Großväter erwartete man, dass sie ein gesellschaftliches Muster ihrer Klassenangehörigkeit erfüllen, dass sie „wie der Vater, so der Sohn“ sind, Kinder gebären, sie ausbilden lassen und auf das Leben vorbereiten. Und diese Kinder sollten überdies nach Möglichkeit noch eine Stufe höher auf der Gesellschaftsleiter steigen und ihren Nachkommen die Türen öffnen in ein – alles in allem zeigte sich – strahlendes aber unvorhersehbares und letztendlich geheimnisvolles Morgen... in dem sie, konfrontiert mit den Auswirkungen der beschissenen (Verzeihung!) Globalisierung, einfach das finden mussten, was sie anders, besonders, einzigartig und einmalig macht... Und so, verflixt noch mal, wenn du nur etwas Grips und die Nase in ein paar Bücher gesteckt hast, hast du die Arschkarte gezogen – denn du bist, auf einmal, unangepasst. Es ist jedoch nicht vollkommen klar wem und woran, aber du fühlst dich auf einmal so (um nicht gar von der Peinlichkeit eines eventuell angehafteten Etiketts mit diesem Zeichen zu reden). Du wirst keinen Job finden, weil du deinen inneren Drang gefolgt bist bei der Wahl des Studiums, du wirst auf einige Kompromisse nicht eingehen, von denen du spürst, dass sie dich erniedrigen, du wirst einige Grenzen nicht überschreiten, weil du weißt, dass sie nicht die deinen sind. Und so findest du dich letztendlich in einer Patt-Position wieder. Jedoch, um nicht weiter zu soziologisieren, ist es doch möglich, da raus zu kommen und seine Dosis Glück zu finden, seine Portion Gutes und sein Stückchen Schönheit. In diesem Rahmen wandeln die Helden dieses Romans. Schon nach ein paar (und alle sind kurz, so richtig für einen Atemzug des Lesens) Kapiteln von Prtenja~as Roman dachte ich, dass der Text, obwohl offensichtlich ausgearbeitet, jene Saftigkeit besitzt, die aus einer Biographie d. h. vielen erworbenen Lebenserfahrungen stammen. Es gibt nämlich Schriftsteller, die ein gewisses Talent für, sagen wir es mal vereinfacht, eine Glattheit der Worte haben und nach amerikanischen Modellen aus den Workshops für kreati- ves Schrieben Methoden erlernen und danach Texte schaffen, die schön klingen aber hohl und leer und unfruchtbar sind (sogar ungeachtet dessen, ob es sich um Prosa oder Poesie handelt), denn ihnen selbst ist nichts (tja, nicht einmal Interessantes, geschweige denn Ungewöhnliches, sie sind einfach das, was wir – langweilige Menschen nennen, aber leider mit einer, falschen, Ambition, weil solche nicht einmal fremde, aufgelesene oder gestohlene Erfahrungen erfolgreich fiktionalisieren können) im Leben passiert, weil sie selbst wie Junk Food sind: Sie sehen attraktiv aus, sind perfekt steril, aber eigentlich ungesund und liefern leere Kalorien, darüberhinaus schmecken sie TIONS – igitt – immer gleich. Es gibt jedoch auch Schriftsteller, die deben dem Talent für die Glattheit der Worte und das Hantieren mit den Geheimnissen des Handwerks „das gewisse Etwas“ in der Biographie haben, wodurch sie anders sind, vielleicht nur etwas Bizarres, sie haben eine Handvoll vielseitiger Erfahrungen gesammelt (egal wobei: beim Wechseln des Berufs oder der Frauen), sie mussten im Leben für etwas kämpfen und sich anstrengen (Arbeitsplatz oder erstes Buch), waren irgendwo an irgendeinem Rand, lassen sich nicht in eine Form zwängen, es gibt immer etwas „Schmutziges“ in ihnen, sie haben Würze, sind immer anders. Es ist klar, dass Ivica Prtenja~a zu den Letzteren gehört. Und ich weiß nicht, worin sein Geheimnis liegt (oder Haken): In den vielen diversen Jobs, von denen er behauptet, sie in seinen siebenunddreißig Jahren gehabt zu haben (vom Bauarbeiter bis hin zum Galleristen)?; in seiner ursprünglichen dichterischen Orientierung, die von dem, der die Feder zur Hand nimmt, „Blut, Schweiß und Tränen“ verlangt und nichts als Gegenleistung bietet?; in der Schlauheit und Scharfsinnigkeit eines „Kerls“, der bei abgeschlossenem Studium der Kroatistik als Bibliothekar arbeitend auch, huch, so unliterarisch trendy, die PR für einen großen Verleger machte, die „Formel“, die heute zieht, durchschaute, d. h. den Code des kroatischen Bestsellers unserer Tage knackte. Was auch immer es ist, es ist nicht mehr wichtig, denn – es ist hier, es ist erfolgreich: Gut ist es, schön ist es. Dem Erstlingswerk in Prosa (denn in der Poesie hat er sein Geschick schon bewiesen) von Ivica Prtenja~a zufolge, gebürtig aus Rijeka, in Zagreb arbeitend, sieht es so aus, als ob er auch seine Prosa-Delikatesse fantastisch zubereitet hat: Er hat es nicht nur geschafft, das Rezept zu enträtseln (durch den Konsum von auf RELA TIONS dem Markt erhältlichen Lebensmitteln dieser Art, wie zum Beispiel dem ebenso bezaubernden wie auch erfolgreichen Roman Liebe ist alles vom in Zagreb ansässigen Kre{imir Pintari} aus Osijek), sondern er fügte wie ein richtiger Chefkoch etwas einzigartig Eigenes hinzu, passte das Rezept sich und seinem Geschmack an, änderte inventiv die Zutaten ab und kreierte einen delikaten Happen. Lesbar, süffig, schmackhaft, verdaulich, sättigend. „Die Nacht glitzerte wie Fischschuppen auf einer Zeitung, vermischt mit Blut und Eigeweiden, ich hörte bis spät in die Nacht Radio, schlief unglücklich ein.“ – einer der Sätze aus dem Buch, mit dem mich Chefkoch Prtenja~a „gar machte“ (diese kulinarische Metapher ist keine Launenhaftigkeit ohne Hintergrund!) ist nicht nur ein einfacher „Verräter“ eines Dichters, gefangen in einer ProsaFalle, sondern ist die Aussage eines Prosaisten, dem der Poet vielleicht sein Alter Ego ist, sie aber nicht zerstritten sind. Sein Held, der in der ersten Person erzählt, was ihm zugestoßen ist, seit er in einer Zagreber Buchhandlung zu arbeiten anfing, weil er in Rijeka keinen Job fand, bis zu dem Tag, als er beschloss, sein amourös-sexuelles Abenteuer mit der jugendlichen Nachbarin ad acta zu legen, ist eine überzeugende und glaubhafte Stimme einer jungen Person mit humanistischer Bildung aus der de facto nicht existierenden mittleren „Schicht“ (tja, wie sie uns unser Kampf gab, denn wir verschmähten die Klassen), die ihren kroatischen Alltag des ersten Jahrzehnts des einundzwanzigsten Jahrhunderts lebt. Durchdacht oder nicht, diese Note des Gesellschaftlichen ist trotzdem diskret, obwohl sie in ihrem Bouquet schichtweise interessant ist, beispielsweise in den skizzierten Nebenfiguren: Vom reichen Zagreber Arzt, über den Bücher stehlenden Junkie, bis zu den falsch beurteilten Kolleginnen Die Wahl eines Kritikers am Arbeitsplatz oder der scharfen Abschätzung der oberflächlichen Zagreber Schickeria („Sie haben gepflegte Fingernägel und teure Handys, teure Haarschnitte, viel MakeUp und sagen ununterbrochen fuck und motherfucker. Das dient ihnen als Krücke, damit sie darüber nachdenken können, welches der fast hundert Wörter, die sie kennen, sie verwenden möchten. Super, super, super, so erklären sie etwas Gutes, Schönes oder auf irgendeine Weise Faszinierendes.“). Tja, aber man kann das auch in der Menge des auf diesen Seiten getrunkenen Bieres spüren... Also, in seinem vierunddreißigsten Lebensjahr kommt der Desperado, der beweisen will, dass das Schicksal nicht eine Frage des Zufalls sondern der Wahl ist, in die Metropole, um den Job eines Buchhändlers in einem Buchladen, mit einer Kollegin, die einen Schriftsteller-Freund hat und einer hübschen etwas jüngeren Chefin mit schönen Schlüsselbeinen und einem problematischen Freund, anzunehmen. Außerdem ist er, welch ein Elend!, Untermieter, zeitweise „Palle allein auf der Welt“ (... in mir wuchs nur der Gedanke, wie es möglich sei, dass ein Mensch alleine stirbt, auf so eine erbärmliche Weise, dass er sich nach einem Saufgelage verschluckt... Und dass es überhaupt niemanden gibt, der kommt und an die Tür klopft, hineingeht und die Lage rettet.“), ein Sensibler, der früh, und interessant genung für ein Romanereignis (in einer katholischen patriarchalen Umgebung), erkannt hat, dass der Weg zum Herzen einer Frau über sanft (hmm: reumütig) gesprochene Worte der Bitte nach Vergebung führt, d. h. mit dem Geständnis, dass der unfehlbare Mann trotzdem gesündigt hat, ein Hedonist, der „Sinn für Humor, Eros, Verstand, Gutes und Schönheit“ liebt, obwohl er immer zuerst an Bier denkt. Aber man kann ihm alles verzeihen, denn er ist einer von jenen, boshafte Men- 189 schen sagen, man kann sie an einer Hand abzählen, Sonderlingen, die das Dritte Programm hören („Interviews mit ausländischen Schriftstellern und bildenden Künstlern. Ich ertaste, was ich liebe: Melancholie, ein trauriges In-sich-ruhen, das Abenteuer des Schaffens. Von den meisten dieser Leute höre ich zum ersten Mal im Leben. Ich höre Poesie.“) und sogar die Nuancen und die (Un)Kultiviertheit in der Stimme eines Radiosprechers erkennen („Der Sprecher hatte eine wunderbare Stimme, alte Zagreber Schule, wunderbar anzuhören, auch wenn er über die Problematik des Druckens von Telefonbüchern sprechen würde.“). Jemand mit solch einer Provenienz könnte bemerken, dass, wie die weiblichen Literaturheldinnen von einst, dieser Mordskerl zugibt, dass er insgeheim im Inneren erwartet, dass ihn irgendeine magische Liebe von dieser „Erbärmlichkeit und Abgefucktheit“ retten würde („Alles schien mir ziemlich erbärmlich, irgendwie eng und abgefuckt. Ich dachte, wenn ich schon mit jemandem zusammen sein sollte, wird diese Liebe etwas mehr sein“). Und da ist sie, im wahrsten Sinne des Wortes, ihm gegenüber! Unser Untermieter-Buchhändler verguckte sich nämlich in die schöne Gymnasiastin aus wohlhabender Familie aus der Wohnung gegenüber seiner. Schritt für Schritt, Sms hin und Sms her, du organisierst einen Zufall, kombiniert mit einigen Zutaten und Charme. Am Ende bereitete ihm diese zauberhafte, weiche und hingebungsvolle Ema einen „portugiesischen Nachmittag“ und eröffnete einige neue Kapitel seines Lebensbuches. Leidenschaftliche. So nebenbei passiert sein Alltag und er wird Zeuge der Lebensphasen der Menschen um sich herum. Er ist wird auch mit eigenen falschen Einschätzungen konfrontiert. Nicht nur einmal. Aber er bedauert es nicht und er besticht erneut mit seiner Ehrlichkeit: „Ich schä- 190 RELA Jadranka Pintari} me mich. Mein kleines Leben, in dem keiner, den ich liebte, zu früh gegangen ist, in dem die Natur auf gewisse Weise sich selbst folgte und in dem Dinge ohne Einschnitte passierten, sich aufeinander legten wie Staub, dieses Leben überschwemmte mich mit seiner Gewöhnlichkeit. Genauer gesagt, mit seiner schrecklichen, unheroischen Dumpfheit.“ Aber in diesem Moment, wenn nicht schon früher, wird Er zu Ihrem Helden – denn sein Leben bis zum Ende leben, sich selbst und seinen Träumen treu sein, heute und hier, ist Heldenhaftigkeit, ebenso wie Ehrlichkeit sich selbst gegenüber: „Ich ziehe viele Schlussfolgerungen und fälle zu wenige Entscheidungen, aber so ist es mein Leben lang.“ Aber das ist nicht wichtig, das ist doch nicht wichtig, Ivica, ein anderer fällt sowieso die wirklich wichtigen Entscheidungen an userer Stelle – die uns das Leben als solches bestimmen und wir trösten uns mit dem Dekorieren der Details. Und das ist gut, sogar schön in seinen schmerzhaften Einzelheiten. Anscheinend ist es heute weise zu erkennen, wo die Grenzen dieser schönen, tröstlichen Momente des Träumens aus den unschuldigen Jahren, als alles möglich schien, liegen. Wenigstens in den Fantasievorstellungen im Halbschlaf. Und erwachsen werden bedeutet einsehen, dass wir einige Illusionen aufgeben müssen (denn, zum Teufel, wenn wir mit so einem genetischen Code geboren wurden, bekommen wir ständig neue oder der Neuerworbenen sind so viele, dass wir sie niemals los werden) und uns dem Verlust stellen müssen. Mutig und entschlossen! Wie das auch Prtenja~as Held tut – resolut und beeindruckend. In dem Moment, in dem ihm die sexfreudige und ehrliche junge Ema zuflüstert: „... Weißt du, ich denke nicht, dass du schlecht bist, super bist du, aber du liebst mich nicht. Wie schön es mit dir auch ist, du bist trotzdem weit entfernt, entschuldige, aber weißt, irgendwie bist du durch den Wind.“ – wird er gerettet und sie beweist wiebliche Schlauheit, weil sie einen Mann zu wählen wusste, der „immer da ist, wenn ich ihn brauche und wenn ich ihn nicht brauche. Und ich hab’ Sex mit dir, obwohl, so scheint es mir, dass ich ihn noch mehr liebe, irgendwie schätze ich ihn mehr, wenn ich sehe, wie du bist, wie Männer sind.“ Ema ist klug und wählte den Richtigen und das ist offensichtlich nicht der „auf jede Art schwierige“ Dichter und Buchhändler. Er hat sich damit abgefunden und darüberhinaus den Hut vor ihrer Wahl gezogen. Das ist also das Neue und so bezaubernd Verführerische in dieser neuen, verzeihen Sie mir diese so altmodische geschlechtliche Teilung, männlichen (mit einem wichtigen Abgrenzung: Mir, einer Leserin in den mittleren Jahren, die man im „Splendour in the grass“ überzeugen wollte, dass es genug sei „bella“ zu sein, und nicht klug) kroatischen Literatur: Diese Männer, die zugeben, dass sie Fehler machen; dass es ihnen leid tut; dass sie weinen; dass sie träumen; die sich so enttäuschend hinter, mit der Ausrede, dass ihnen kalt sei, einem über die Augen gezogenen Schal der eigenen Scham und des Versagens verstecken; die in der Lage sind, der Welt (und damit „ihrer Mutter“) zu gestehen, dass sie nicht der einzige und unwiderstehliche, unverwechselbare und unersetzbare Angehörige der Art mit dem „Y“ Chormosom sind (für den Kontext, siehe das Buch von Steve Jones); diese, nicht wahr, großen Jungs, die die Hosen voll haben (und alle wissen, das dies ein Eufemismus für einen saftigeren Jargonismus ist) vor den schieren Tatsachen des Lebens (wie Abtreibung oder Tod)... Scheibenkleister, wie wir angeblich anständig sagen würden, wie erfrischend ist das! Ich hätte Lust, TIONS meine Generationsangehörigkeit zu ändern. Ich meine, sicherlich schulde ich (im Gegensatz zu den Generationen meiner Großmutter oder sogar Mutter) grenzenlosen Dank all jenen selbstlosen opferbereiten Frauenrechtlerinnen, die uns (neben dem verleugneten, nicht geschlechstbestimmten gemeinsamen sozialistischen Erbe von Klara Zetkin und anderen) außer dem Wahlrecht auch das Recht zur Bestimmung über den eigenen Körper erkämpft haben, gleichgültig ob es sich um Karrieren, Orgasmen oder Abtreibungen handelt. Und ich frage mich, ob solche Frauen diese Jungs erzogen haben (momentan fallen mir außer Prtenja~a noch Kre{imir Pintari} und Roman Simi} ein), die leise und unbemerkt neue Geschlechtsverhältnisse (obwohl man in meiner Jugend von Geschlechterrollen sprach) einbringen werden, in einer Gesellschaft, die eingetaucht in eine gewaltsam restaurierte patriarchale Ordnung ist, tiefe Spuren auch in er Literatur hinterlassend, ungeachtet dessen, ob sie aus der Position des Rockes oder der Hose geschrieben wurde. Diese neuen Jungs, um nicht zu sagen jungen Löwen, bringen neue Verhältnisse in ihren Büchern ein: Rechtschaffener sich selbst, ehrlicher anderen, offener Dritten gegenüber (und das sind wir Leser). Und letztendlich, wie der Buchhändler mit Gewissen sagen würde, das ihn bedrückte, als er lügen musste, um sein Gehalt zu verdienen und, damit er ein Buch verkaufen konnte, über „die Wärme des Satzes, die Kunst des Stils, die Größe des Autors... die Schönheit der Welt, die sich zwischen den Buchdeckeln verbirgt...“ sprechen musste – so könnte ich völlig ehrlich und mit ruhigem Gewissen diese Komplimente an Prtenja~as Roman richten. Doch vielleicht wäre das nicht vollkommen überzeugend. Deshalb ist hinzuzufügen, dass Prtenja~a wirklich eine gepflegte Aus- RELA TIONS drucksweise besitzt, frische Metaphern und, so dumm das hier und heute klingen sollte: Eine schöne Sprache. Denn er schreibt mit jenem wunderbaren Kroatisch, das langsam vor den Tsunamis aus den Fremdsprachen verschwindet, vor der Epidemie des Streichens von diesem und jenem im Dienste eines unnötigen und absurden sprachlichen Purismus, vor der verseuchten Mediensprache, die aus ein paar hundert Die Wahl eines Kritikers Wörtern besteht, er benutzt sogar Jargonausdrücke nur dann, wenn der Kontext stimmt und wenn ihr Gebrauch aus der Situation hervorgeht. Schau, schau – vielleicht ist es ja deshalb, weil er das Dritte Programm im Radio hört! Von wegen! Wie auch immer, aber sicherlich liest er und hört häufig, jedoch Menschen – denn alle schönen Welten sind in ihnen enthalten. Und auch die weniger schönen. Und weniger guten. Ein geistvoller Liebesroman von weicher männlicher Hand KRE[IMIR PINTARI]: Liebe ist alles ¹„Ljubav je sve“º ¹Profil, Zagreb, 2005, 133 Seitenº Wenn sie in alten Büchern, Zeitungen, Archiven die Angabe finden, dass eine Ehe am falschen Ausdrücken der Zahnpasta zerbrach, werden die Jugendlichen von heute nicht wissen, worum es geht und vielleicht denken, dass es sich um eine verdrehte Metapher handelt und nicht grausame Wahrheit ist. Wer erinnert sich noch an die Aluminiumtuben, die sich unwiederbringlich verformten, wenn man ihren Inhalt unkorrekt ausdrückte?! Und das war doch der legendäre Scheidungsgrund! Tja, nichts ist mehr, wie es einmal war, wäre die logische Lamentation in Folge. Doch lasst uns mal sehen, wie es denn ist, wenn sich Männer (es geht hier nicht um die statistische Mehrheit sondern um das künstlerische Motiv und die zusammengesponnene Vorstellung des Alltags) nicht mehr im Sessel lümmeln, mit der Zeitung auf der durch Bier und Sexapstinenz erworbenen Wampe, nach einer üppigen Mahlzeit, für die sie nicht schwitzen mussten, während ihre Frau mit Metallwicklern im Chintzmorgenmantel demonstrativ mit dem Wischer herumwedelt, um außer dem besoffenen Strauß (verwelkter Schneeglöckchen) zum Internationalen Frauentag oder dem Luxus des Tranchierens der gewerkschaftlichen Schweinehälften am Tag der Republik ein Körnchen Aufmerksamkeit zu erhalten. Na ja, was auch immer die, pfui und igitt, gnadenlose Statistik über die Zahl der geprügelten und andersartig misshandelten Frauen sagt, die Literatur berichtet uns trotzdem von Herzen und zur Freude der (wenigen? oder sind sie nur an strategischen Orten laut?) snobistischen intelektuellen Elite, die aus ganzer Seele den trendigen Kult des Phantom-Metro/Metasexuellen promoviert, dass nunmehr andere Umstände in den Geschlechtsverhältnissen aufgetaucht sind. Ecce homo! 191 „Als kleiner Junge vertrieb ich meine schwarzen Gedanken und Ängste mit intensivem Nachdenken und Träumen von schönen und unbekannten Dingen. Und diese Gedanken trieben immer in zwei Richtungen und hatten immer Sinn, sie retteten mich immer, selten schlief ich unglücklich ein.“ – Werden Sie auch nicht mit diesem Buch. Im Gegenteil. Das Glück ist grundsätzlich immer im Schönen, im Guten. Oder aber: Es entstand eine Mutation bei den Männern, so dass sie zu Wesen evoluiert sind, die für die Bedürfnisse langfristiger Ziele dem momentellen Trieb aus dem körperlichen und lexischen Deminutiv des Nomens „Kopf“ Herr werden können. Trendig ausgedrückt: My ass! Lassen wir, sexistisch gesprochen, den sexistischen Zynismus und unangebrache Reminessenzen sein, denn, zum Teufel noch mal, ein altes japanisches Sprichwort sagt: Wer seinen Feind verschont, wacht in seinen Armen auf. Geschieht uns recht. Und so also schreiben Männer (auch einheimische) postfeministische Liebesromane. Na, toll! Und um es noch schlimmer zu machen, schreiben sie sie gut. Na, toll! (Da haben sie uns nun auch noch das Revier weggenommen, tststs...) Es ist zwar so, dass der rückständige Typ, der einen Arschtritt/Laufpass/Korb bekam, weil er nicht auf die Ästhetik der Zahnpastatube geachtet hatte, einst den heutigen Romanprotagonisten als „Sitzpinkler“ bezeichnen würde (wenigstens im flachen Land aus dem der Autor des besprochenen Liebesromans stammt), und nicht als „Schwuchtel“, der hier und da kein Verständnis für die triviale Tatsache hat, dass Frauen von 192 RELA Jadranka Pintari} der Venus und Männer vom Mars sind, und sich in ständiger Angst zerfrisst, dass ihn diese Ideale, endlich Gefundene, trotzdem verlassen wird, wenn er über ihre Shoppingleidenschaft meckert oder dem Ruf der männlichen Herde zum gemeinschaftlichen Fußballschauen nachgibt. Nun ja, wenn es auch Witz ist, ist es doch zu viel! Todernst und bei vollem Bewusstsein sage ich, dass Kre{imir Pintari} (1971), (und seine Frau und Gott wissen, dass er mit mir weder verwandt noch verschwägert ist) den ersten lesbaren, scharfzüngigen und interessanten postfeministischen Liebesroman mit Happyend geschrieben hat. Es besteht auch ein wunderbarer verlegerisch-literarischer Zufall, dass nur ein paar Monate zuvor sein Altersgenosse Roman Simi} (1972) Kurzgeschichten veröffentlichte unter dem Titel In was wir uns verlieben, in denen er mit zisellierter Einsicht in den Zustand genannt „Verliebtheit“ oder „Liebe“ eine mögliche soziologische These über das Reifen einer neuen, anderen Art posfeministischer Männer, wenigstens in der Literatur, beweist. Das zweite Prosawerk von Kre{imir Pintari} (er veröffentlichte drei Gedichtbände und eine Sammlung von Kurzgeschichten) ist eigentlich eine Reihe von siebzehn Szenen aus dem Eheleben einer außerehelichen Gemeinschaft. Genauer gesagt eines glücklichen Paares, das in diesem seinen Glück so genau Anderen gleicht, wie es unterschiedlich oder einzigartig ist, macht dieses Buch eben anders. Den gewöhnlichen Alltag mit all seinen Banalitäten in ein literarisches Thema zu verwandeln (und nicht mehr auf der Schiene eines kroatischen Carverjüngers zu fahren? das hat doch schon die vorherige Generation gemacht, nicht wahr?), da bewegt man sich auf glattem Grund und der Autor wehrte sich vom Schlittern ins Melodramatische mit scharfzüngigem Witz und vom Gleiten in Langeweile mit gnadenloser Selbstironie. Manchmal vielleicht sogar mit übertriebener. Manchmal gar mit selbtbewusstem Kritischsein (was selbstverständlich contradictio in adjecto ist, aber so ist so oft die menschliche Psyche). Ein Beispiel dafür ist die Szene nach einem misslungenen Einkauf: „Wir gingen schweigend zum Auto. Ich wollte etwas zu ihr sagen. Etwas, um ihr zu Verstehen zu geben, dass ich sie liebe. Dann blieb sie stehen und sagte mit der schlichten und ehrlichen Stimme einer Person, der ein böses Geschick auch die letzte Illusion auf einen möglichen positiven Ausgang aller Ungemache des Lebens zerstörte: – Aber mich macht das Kaufen von schönen Dingen wirklich glücklich! Wenn ich ein normaler Typ wäre, würde ich nicken, den Mund halten und diese verdammte Spüle kaufen gehen. Sofort. Auf tausend Raten, wenn’s sein muss. Aber ich bin kein normaler Typ. Ich bin ein Wichser. Und was machen Wichser? Versu- TIONS chen normalen Leuten den Spaß zu verderben. Ihnen das, was sie glücklich macht, zu vermiesen. Ich holte tief Luft, räusperte mich und sagte: – Liebling, das bildest du dir nur ein.“ Also: Aus einem Stoff, der eventuell seine Mutter oder besten Freund interessieren könnte, aber auch das nicht in siebzehn Akten, schaffte er es, einen heiteren Text aufzubauen, ökonomisch in der Ausdrucksweise und mit ausgesprochen dynamischen Dialogen. Fast jede Szene könnte eine Geschichte für sich sein, und dass sie einen Roman bilden, der auf den Bemühungen zweier namenloser Liebespartner im Erhalten der Beziehung und der Liebe und der Intimität und des Zaubers des Unbekannten basiert, scheint ein zufälliger Umstand zu sein. Im schnellen Austausch von Themen, Dialogen, Überlegungen zu Leben, Fußball, Literatur, Bier, Konsumleidenschaften u. ä. bleibt der Leser ständig in Spannung, obwohl die einzige „Verwicklung“ eigentlich in der Psychologie der Protagonisten passiert. Trotzdem, Sie ist diejenige, die wichtig ist, vergöttert, behütet und betüttelt – Er ist (nur) hier, um es ihr Recht zu machen, sich anzupassen, sie zu behüten und zu betütteln. Darin besteht ihr Geheimnis. Darin besteht auch das Geheimnis des Erfolges dieses männlichen Generations- und Liebesromans. Leztendlich ist das einzige, was sie ihm in diesem literarisierten Entblösen ihrer Intimsphäre übel nehmen könnte, dass er sie als Vegetarier bezeichnet, statt als geschlechtsbewusster Mann zu sagen, dass seine Frau Vegetarierin ist. Oder ist das eine winzige „geschlechtliche“ grammatikalische Rache? Für die Antwort ist trotzdem dieser unterhaltende Roman zu lesen, auch um herauszufinden, warum Liebe alles und was alles Liebe ist. RELA TIONS Die Wahl eines Kritikers Die Zwei gegen alle (Stereotypen) MIMA SIMI] / IVANA ARMANINI: Die Abenteuer der Gloria Scott ¹„Pustolovine Glorije Scott“º ¹AGM, Zagreb, 2005, 80 Seiten Geschichte + 46 Seiten Comicº Es war schon vor zeimlich langer Zeit, als jemand gesagt hatte, dass man in der heutigen Welt nur dann absolut originell sein könnte, wenn man nicht lesen würde und wenn man viel, viel denken würde. Und das ist natürlich unmöglich. Deshalb kann Originalität nur aus dem ehrlichen Bemühen eines Menschen die eigene einzigartige Erfahrung, die gleichzeitig unzählige Male wiederholt allgemeinmenschlich ist, in eine Form umzuwandeln, in der sich basierend auf dem umfassenden Erbe die Facetten der Persönlichkeit, der Unwiederbringlichkeit des Moments und der investierten kreativen Energie spiegelt. Jede Kunst ist eine Form des Willens und zwar des Willens nach Fortbestand. Jeder wirkliche Künstler findet, erdenkt seine Formel dieser Form. Eigentlich ist ja auch seine Aufgabe eine alte, verbrauchte Form (des Willens nach Fortbestand) zu finden und sie umzuarbeiten, d. h. sie aufs Neue zu finden. Wenn nötig, indem er auf eigene Art die Tradition umarbeitet und so neue Formen bildet. Eben das ist gerade hauptsächlich die Methode des gesamten Postmodernismus. Je mehr er versucht die Tradition zu verneinen, desto mehr baut er auf sie. Darauf baut auch das Prosa-Erstlingswerk von Mima Simi}: Die AntiAbenteuer der Anti-Detektivin Gloria Scott und ihrer Gefährtin/Gespielin Mary Lambert. Der urbanen Legende zufolge (die /auch/ die Autorin selbst verbreitet) entstanden diese etwa zwanzig Geschichten während des Krieges in Zadar – denn: „In Zadar war es in diesen Jahren wirklich schlimm und das war sozusagen ein gewisses Ventil für mich. Kein Strom, kein Wasser, was kannst du machen? So erfand ich Gloria Scott, deren Abenteuer ich meinen Freunden vorlas und die immer mehr wollten. Mein Bruder ¹Schriftsteller und Redakteur Roman Simi}, Anm. d. V.º überredete mich, sie an ein paar Literaturzeitschriften zu schicken, in denen sie dann veröffentlicht wurden – so gelangten sie auch in die Hände der mir bis dahin unbekannten Ivana Armanini. Sie gefielen ihr so sehr, dass sie anfing, nach ihnen Comics zu zeichnen und bis zu meiner Rückkehr aus dem Ausland entstand eine ziemlich große Zahl davon.“ Die Legende besagt jedoch außerdem, dass die vervielfältigten Geschichten, die quasi selbstveröffentlicht wurden, die Runde machten (wo?) und Kultstatus erreichten. Ivana Armanini (geb. 1970) jedoch ist eine nicht gänzlich annonyme Zeichnerin, sondern die ideele Urheberin des Projekts K@MIKAZE mit einem Diplom der Zagreber Akademie für bildende Künste. Und so, als sich die beiden trafen, unter unbekannten Umständen, zündete die Idee für ein gemeinsames Werk: Flip oder BuchComic; ein doppeltes Buch – auf der einen Seite reihen sich die erzählten Geschichten, auf der anderen Seite reihen sich die Comictafeln dieser Geschichten. Die Geschichten von Mima Simi} (geb. 1976) sind ein subversiv flippiger und frischer Lesestoff eines collagenhaft-zitatlichen und parodienhaften postmodernistischen Diskurses (der offensichtlich weder noch nicht tot noch uninteressant, wenn inventiv, ist), in dem der Leser in die Lage gebracht wird, selbst Detektiv 193 beim Suchen von Referenzen und Antireferenzen zu werden. Im (Nicht) Lösen ihrer Fälle stößt Gloria Scott nämlich auch auf Figuren aus Literatur, Film und Fernsehen wie auch auf ebensolche Plots. Und obwohl sie auf der Grundlage von Sherlock Holmes und aller späteren DoyleFortsetzer erschaffen wurde, spiegelt sie dennoch die comichafte und filmische „Akkumulation“ der Kultur des 20. Jahrhunderts der Autorin wider. Des weiteren, indem sie ihr negative Eigenschaften anhaftete – Unmoralität, ethische und politische Unkorrektheit, Überheblichkeit, Dummheit, Drogenabhängigkeit – gab ihr die Autorin auch einen starken ironischen, gar zynischen Beigeschmack und Beiton und Beifarbe. Und da sie eine körperliche Beziehung mit ihrer Gehilfin Mary Lambert hat, ist auch ihre sexuelle Orientierung unzweifelhaft bestimmt. Der Legende zufolge, um der freiwilligen Kompromissvereinbarung mit dem Verleger willen, wurden aus dem Originalmanuskript für den Druck (trotzdem) die saftigen Beschreibungen ihrer leidenschaftlichen, sinnlichen Momente herausgeworfen – damit das Buch nicht als pornographisch charakterisiert werden konnte. Eigentlich ist Gloria die wahre Verkörperung einer modernen Bitch. In jeder Hinsicht. Sie ist abstoßend ekelerregend sogar auch wenn sie nur (tja, teilweise sogar nur dann?) in der Funktion einer Parodie eingebürgerter Stereotypen der heutigen (Medien)Schönheiten und altmodischer Ekelbatzen der (Medien)Vorstellungen von Feministinnen, hässlichen, aber gebildeten kalten Zicken ist. So wird Gloria beispielsweise mir-nicht-dir-nicht einem mutmaßlichen Schuldigen (Mann) das Leben nehmen, dem alles-in-allem die Schuld nicht nachgewiesen wurde, Aggresivität demonstrieren, auch wenn es nicht notwendig ist, sich irrational benehmen, gerade wenn man die absolute de- 194 RELA Jadranka Pintari} tektivische harte Logik erwartet. Was auch immer ihre Aufgabe war zu lösen – Mord, Vergewaltigung, Diebstahl, Schmuggel, Taschendiebstahl, unerlaubte Baumaßnahmen – Gloria ist die Vorgehensweise eines Don Quijote lieber als die eines Sherlock Holmes. Sie belastet sich nicht damit, dass sie Unschuldige bestraft hat statt der Schuldigen. Männer. Die übrigen sind unwichtig. Übernatürliche Wahrnehmungsmöglichkeiten dienen dazu, das, was sie gerade anfängt, auf den Kopf zu stellen: Z. B. schuld an dem zerbrochenen chinesischen Porzellan sind die zu rigorosen unmenschlichen Bedingungen, die die Einwanderungsbehörde stellt, deshalb ist die Behörde zu zerstören. Mitheldin Mary reflektiert andererseits nur die Eigenschaften ihrer Herrin. Die Comicstrips von Ivana Armanini haben eigentlich nicht die Funktion von Illustrationen, obwohl sie teils der Geschichte folgen, sondern bilden eine selbständige Art der Interpretation der Geschichten. Statt sich hart an die Faktographie zu halten, entschied sich Armanini für einen expressiven Ausdruck des eigenen Empfindens des Gelesenen. So besteht sie am häufigsten auf dem Zeichnen von Atmosphären und Gefühlen und nicht der Fabel. Eine gewisse Schärfe und „Kurzangebun- Ein Stück Heiterkeit in der Melancholie des Südens OLJA SAVI^EVI] IVAN^EVI]: Den Hund zum Lachen bringen ¹„Nasmijati psa“º ¹AGM / Vijenac, Zagreb, 2006º In der letzen Kurzgeschichte dieser Sammlung macht sich eine junge, mit einer Pistole bewaffnete Frau die Straße entlang – weil so die Geschichte beginnt: „Welche der Geschichten mich auswählen wird, weiß ich noch nicht. Unter jenen, die sich anbieten, muss ich den richtigen Augenblick wählen, in dem ich einem gut aussehenden Unbekanten zuzwinkern werde, die richtigen Stufen, auf denen ich in einen verqualmten Klub hinuntergehen werde, zu einem guten Zeitpunkt die Pistole laden werde, wenn nötig. ¹...º Sei mein Zeuge, es wird einfach sein. Ich werde den Abzug betätigen, du den Stift. Es wird eine unvergessliche Jagd auf eine Geschichte werden. In der das Biest oftmals uns TIONS denheit“ der Sätze und der Sprache von Mima Simi} spiegelt sich in der Schärfe und „Kurzangebundenheit“ der Zeichnungen von Ivana Armanini, mit klaren Linien und sparsamem Ausdruck. Am Schluss ist das Resultat ein Buch, das wahrscheinlich besonders korrespondent mit der Sensibilität eines jüngeren Publikums ist, mit einer Leserschaft, die mit moderner PopKultur und guter Literatur erzogen wurde, wie auch mit jenen, die genug weiten Geistes sind und unsteifen Sinn für Humor besitzen, um zu genießen und zu lachen über die „verschrobene“ Auffassung der Antidetektivin und das Sich-lustig-machen der Autorin über zahlreiche Vorurteile, Typologien, sogar „heilige Kühe“. Es wird interessant sein zu sehen, wie sich die schriftstellerische Handschrift von Mima Simi} weiter entwickeln wird – auch deshalb, damit sie nicht nur eine Autorin mit einem erfolgreichen vielversprechenden Erstlingswerk bleibt. verfolgen wird. Das einzige, auf das ich achten muss, ist, dass ich nicht ums Leben komme, bevor ich auf ein gutes Ende stoße. Und dass ein gutes Ende nicht auf uns stößt, sobald wir aus der Wohnung kommen.“ Und so betätigte in dieser „Unterhaltung für müßige Töchter“ Olja Savi~evi} Ivan~evi} zu einem guten Zeitpunkt den Stift, achtete darauf, dass sie weder nebenbei noch am Rande auf der Strecke bleibt und stieß auf ein gutes Ende. Auf das ausgezeichnete Ende der ganzen Sammlung, die aus zweiundzwanzig Kurzgeschichten besteht und deren Druck sie sich beim Gewinnen des Wettbewerbes des Verlagshauses AGM und RELA TIONS der Zeitung Vijenac als bester junger Autor verdiente. Obwohl sie in recht jungen Jahren in der Literatur auftauchte, indem sie Gedichte veröffentlichte und später drei Poesiebände, ist Den Hund zum Lachen bringen ihr Prosa-Erstlingswerk. In der Zwischenzeit blieb Olja Savi~evi} Ivan~evi} (geb. 1974) in Bezug auf ihren Wohnsitz ihrer Geburtsstadt Split treu und schrieb sowohl Literatur- als auch Theaterkritiken, Esseys, Zeitungstexte und war Redakteurin von einigen Studentenblättern und Periodika. Wenn man alles in Betracht zieht, haben ihre Geschichten zurecht den Wettbewerb gewonnen, denn es zeigte sich, dass die Kritik sie großartig lobte und auch das Publikum sie solchermaßen empfing, dass das Buch eine Zeit lang sogar auf den Bestsellerlisten stand. Es wird wohl so sein, dass die Geschichten sie gut erwählt hatten, dass sie es verstand, ihnen im rechten Augenblick zuzuzwinkern, dass sie ihr aufmerksamer Zeuge war und dass sie nicht umsonst nach der Feder griff. Eine frische und klare Stimme aus dem Süden, mit einem charmanten dalmatischen Dialekt, erzählte einige neue Geschichten über das Erwachsenwerden im NachkriegsKroatien jener Generation, die alt genug war, um sich an den Krieg zu erinnern und die Auswirkungen zu spüren, aber zu jung, um an ihm auch wirklich teilzunehmen. Doch damit wir uns verstehen: Das ist nur das Croquis des Hintergrundes und nicht das dominante Thema der Geschichten. Das Hauptthema ist die Möglichkeit und Unmöglichkeit des Erwachsenwerdens, der Moment oder das Ereignis des Erwachsenwerdens gegenüber der Ablehnung jemals erwachsen zu werden, die ganze Verantwortung zu übernehmen und die so genannte Ernsthaftigkeit zum Leben zu erlangen (es steht nicht wörtlich: Aber, hey – was soll sie denn eigentlich sein?). Nicht den Mode- Die Wahl eines Kritikers trends folgend beschloss Olja Savi~evi} Ivan~evi} das, was ihr nahe, bekannt, alltäglich ist, in Geschichten zu verwandeln: Die Grenze zwischen Kindheit und Reife; die Mitte, in der sie aufwuchs, die aber deshalb dennoch nicht weniger verwunderlich ist; Helden, die ihr zum Greifen nahe sind, aber zu literarischen Personen im Entstehungsprozess der Geschichte werden; Umstände die nicht exotisch sind, aber dies mit einer Intervention der Autorin werden können. Split ist nicht notwendigerweise der Schauplatz, an dem die Geschichte sie findet, aber sicherlich ist es immer ein Ort in Dalmatien – wie es auch, wenn wir die Sprache in eine andere Mundart „übersetzen“ würden – jede andere Kleinstadt im Innland sein könnte. Mädchen, verloren in der Scheidung der Eltern, verwirrte Teenager, eine unglückliche junge Magersüchtige, Obdachlose, Alks, Drogenabhängige, ganz gewöhnliche Jugendliche – ja sogar eine Supermutter mit Superkräften, die gegen die Bürokratie Krieg führt. Jede hat eine gewisse Andersartigkeit, in jeder widersetzt sich jemand etwas Eingebürgertem – will anders sein oder aber nur seine eigene Na- 195 tur, Gegebenheit oder womöglich sogar Schicksal überwinden. Die Geschichten sind zudem durchzogen von einer gewissen Atmosphäre der Schwermut, aber gleichzeitig scheint, wie von der Bora gestählte zähe Pflanzen, der charakteristische dalmatinische Trotz durch – di{pet – der Trotz, der nicht nur Lebensweise ist, sondern auch sein elementarer Bestandteil. Und gegen alle Misslagen des Lebens hat man sich zu wehren – mit Humor und Witz, immer Abstand nehmen und von Herzen ehrlich lachen – wie z. B. über das Mädchen, das für sein Abenteuer in angeblich Australien zu jeder Lüge bereit ist; oder über den Versager, dem eine müde Heilige ihre Aura hinterlässt, die entschlossen ist, sich ausruhen zu gehen. Hier und da ein (Ent)Rücken ins Fantastische ändert die etwas traurige Grundlaune nicht. Und viel Trauer, Elend und Unglück sind in diesem dünnen Band konzentriert, vielleicht benötigte die Autorin gerade deshalb einen Titel, der gleich zu Anfang dem Leser wenigstens eine Nuance der Heiterkeit prädisponieren sollte: Den Hund zum Lachen zu bringen scheint eine ebenso unmögliche Mission zu sein wie auch sinnlose Absicht (ich meine, aus der Hundeperspektive – denn was bilden wir uns eigentlich ein zu wissen, wie und worüber ein Hund lacht?), um einen Aha-Effekt hervorzurufen. Doch die Titelgeschichte Den Hund zum Lachen bringen ist eigentlich eine wundervolle, warme menschliche (und nicht hundliche) Geschichte darüber, dass wir nach dem Geben und Nehmen von Liebe in jeder Form hungern – wenn wir uns das durch all unsere Schutzschichten nur erlauben. Durch biographisches oder unbiographisches aber, eigentlich ist das egal – denn am besten ist, man stellt sich vor, es ist eine Mystifikation – Ironisieren des Standpunktes gegenüber der Autorenschaft in der Geschichte Die Fliege, einer der sel- RELA Jadranka Pintari} tenen, in denen sie sich direkter und tiefer auf die Referenzen ihrer eigenen Ausbildung bezieht (Literatur), berührt sie sowohl den romantisierenden Standpunkt des Publikums gegenüber dem Autor als auch die moderne allgemeine Profanisierung: „Früher mussten die Schriftsteller ein abgefucktes Leben haben, Drogen nehmen, sich umbringen, sich die Leber tätowieren, hungern, im Kanal krepieren, was weiß ich, um Superstars zu werden – heute macht man das künstlich. Da steckt eine ganze Maschinerie dahinter.“ In deren Hintergrund annonyme Erschaffer von Techno-Art Werken stehen. Ob das enttäuschend ist? Tja, wie es euch gefällt. Der Geschichtsschreibung ist das egal. Das Schreiben als Dienstleistungsgewerbe ist auch das Thema der witzigen Geschichte Der professionelle Cyrano, in der ein einfallsreicher Handwerker auf dem Polizeirevier endet, nachdem er seine Erfahrungen in einigen Vorlagen für Liebesbriefe zusammengefasst hat, aus Versehen den gleichen dem Ehemann und dem Liebhaber gibt. Vielversprechend für die Macht des geschriebenen Wortes in dieser Zeit des (digitalen) Bildes ist, dass am Schluss nicht einmal der Polizist der Versuchung widerstehen konnte, die Kunstfertigkeit des professionellen Cyrano auszuprobieren. Die herausragende Qualität der Prosa von Olja Savi~evi} Ivan~evi} liegt in der Knappheit des Ausdrucks. Viele Zeitgenossen, die nach der Feder greifen, könnten das von ihr lernen. Obwohl die Mehrzahl der Geschichten, wie die Autorin selbst sagt, in relativ kurzer Zeit entstanden ist, zeichnen sie sprachliche Präzision, Kürze, ohne mit Stilmitteln um sich zu werfen, und Konsequenz in der Ausdrucksweise aus. Sie wird wohl die Disziplin des Denkens, die die Gedichtskunst verlangt, am prosaischen Ausdruck angewandt haben TIONS Foto: Jakob Goldstein 196 Olja Savi~evi} Ivan~evi} beim Festival Europäischer Kurzgeschichten und so geradezu fabelhafte Zusammenfassungen, sowohl in dialektologischen Dialogen (immer konsequent und sehr sorgfältig ausgearbeitet – im Gegensatz zu vielen anderen Schriftstellern, die sich des Dialekts bedienen und ihn dann entweder angedeutet oder halb ausgearbeitet lassen) als auch in „nur“ Verbindungsstücken des Textes, die in irgendeiner Kleinigkeit den Schlüssel oder Kern der gesamten Thematik andeuten. Es gilt noch zu erwähnen, dass die Autorin auch nicht in die Falle des allgemienen Poetisierens eines Prosatextes getappt ist! Wahrlich nicht! Dazu muss man ihr ebenfalls gratulieren: Es wäre wahrscheinlich am einfachsten gewesen, die poetischen Formen in verlängerte Mischlings-Ausdrucksweisen zu „verwandeln“. Olja Savi~evi} Ivan~evi} unterlag jedoch nicht der (wenn es um ursprüngliche Dichter doch häufigen) Versuchung, so dass ihre Ge- schichten keine Fortsetzung der Poesie mit anderen Mitteln sind, sondern ein neues „Gemäuer“, bei dessen Bau gerade nur mal hier und da einige Methoden, jedoch keine Ready-made-Formeln, angewandt wurden. Mit kleinen Zeichnungen-Ikonen am Anfang jeder Geschichte von Dunja Jankovi}, die entweder den Inhalt zusammenfassen oder die Atmosphäre andeuten, ist das Buch mit Kurzgeschichten von Olja Savi~evi} Ivan~evi} viel mehr als ein viel versprechendes Erstlingswerk – denn es zeigt die Reife der Autorin in der von ihr erwählten Form: Für eine geschickte Feder wird jedes „kleine“ alltägliche Thema ein „großes“ Thema des Lebens. Alle Kritikern aus dem Kroatischen übersetzt von Marijana Mili~evi}