EP Hexenjagd-1

Transcrição

EP Hexenjagd-1
Freie Universität Berlin / Institut für Theaterwissenschaft
PS Einführung in die Aufführungsanalyse
Frank Richarz, Christel Weiler
SoSe 2009
05. - 06.07.2009
Marlene Hartmann
Erinnerungsprotokoll zu „Hexenjagd“ in den Kammerspielen des Deutschen Theaters,
Berlin, 04.07.2009 20 Uhr (Derniere)1
Von Arthur Miller
Deutsch von Hannelene Limpach, Dietrich Hilsdorf und Alexander F. Hoffmann (Mitarbeit)
Regie: Thomas Schulte-Michels
Bühne: Thomas Schulte-Michels
Kostüme: Tanja Liebermann
Besetzung:
Peter Beck – Ezekiel Cheever
Roland S. Blezinger - Danforth
Meike Droste – Mary Warren
Michael Gerber – Giles Corey
Christian Grashof – Samuel Parris
Gabriele Heinz – Rebecca Nurse
Jürgen Huth – Francis Nurse
Sven Lehmann – John Proctor
Falk Rockstroh – Thomas Putnam
Thomas Schmidt – John Hale
Isabel Schosnig – Elizabeth Proctor
Ursula Staack – Tituba
Henning Vogt - Hathorne
Kathrin Wehlisch – Abigail Williams
Simone von Zglinicki – Ann Putnam
Ausgelassen tanzende Mädchen im nächtlichen neuenglischen Wald, das ist für das
puritanische Örtchen Salem des ausgehenden 17. Jahrhunderts mehr als merkwürdig, und
ebenso ihr Verhalten, nachdem sie vom Pastor erwischt werden. Muss man mit dem
1
Die nachfolgenden Informationen zur Besetzung und Bearbeitung, sowie die kurze Zusammenfassung der
dramatischen Handlung sind entnommen von www.deutschestheater.de
1
Schlimmsten rechnen? Liegt der Teufel auf der Lauer, und wenn ja, in wem? Die Rechtslage
ist klar: Hexen droht der Tod. Perfide Logik: Nur wer geständig ist, wird vom Galgen
verschont. Wer den anderen beschuldigt, wechselt sicher auf die sichere Seite. Eine
hysterische Treibjagd beginnte, in der so manch alte Rechnung beglichen werden könnte...
Ein Blick in die Fragilität der Vernunft, auf das Instrumentalisieren von Moral und Ängsten,
in
die
Welt
der
taktischen
Manipulation
und
versagenden
menschlichen
Kontrollmechanismen. Basierend auf den realhistorischen Salemer Hexenprozessen 1692
kommentierte Pulitzerpreisträger Miller in dem 1952 entstandenen Drama die damalige
Kommunistenverfolgung in den USA unter McCarthy. Regisseur Thomas Schulte-Michels
wendet sich nach O’ Neills »Eines langen Tages Reise in die Nacht« erneut der
amerikanischen Nachkriegsdramatik zu.
I. Die dramatische Handlung
Zu den Figuren und der dramatischen Handlung2
Das Bühnengeschehen setzt nach der Entdeckung des okkulten Rituals der Mädchen durch
Pastor Samuel Parris ein. Betty Parris ist bettlägerig und Parris sorgt sich um seine soziale
Stellung, sollte sich das Gerücht streuen, die Mädchen, allen voran seine Nichte Abigail
Williams und seine Tochter Betty, hätten den Teufel beschworen. Parris fragt Abigail zu dem
Ereignis aus, doch sie besteht zunächst darauf, man habe nur getanzt. Auf näheres Nachfragen
zeigt sich jedoch, dass es sich sehr wohl um ein okkultes Ritual gehandelt hat, was nochmals
durch Ann Putnam bestätigt wird. Diese hat ihr Dienstmädchen damit beauftragt, bei einer
höheren Macht (dem Teufel?) zu erfragen, warum sie sieben Totgeburten erlitt. Parris sieht
sich gezwungen Pastor John Hale einzuschalten, einen Spezialist für den Teufel.
In der Abwesenheit Parris, treffen einige der Mädchen, darunter Abigail und Mary Warren in
Bettys Krankenstube aufeinander. Marry ist in großer Angst, ihr Treiben könnte entdeckt
werden, denn damit verbunden sind die Prozesse, Inhaftierungen und sogar Hinrichtungen,
die auf Hexerei ausstehen. Sie fordert von Abigail ein Geständnis, welches diese jedoch
gleichfalls aus Angst vor Strafe und gesellschaftlichem Ausschluss nicht unternehmen will.
Stattdessen bedroht sie die anwesenden Mädchen unter keinen Umständen die Wahrheit über
das nächtliche Ritual zu verraten, da sie sonst Abigails Rache fürchten müssen.
Pastor Hale trifft ein und versucht Betty zum Reden zu bewegen. Er befragt auch Abigail und
schließlich beschuldigt Abigail Tituba, eine Sklavin aus Barbados , die im Hause Parris dient,
sie zu okkulten Handlungen gezwungen zu haben und sie ferner durch böse Magie zu quälen.
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Die folgende inhaltliche Zusammenfassung bezieht sich auf die konkrete Bühnehandlung, also auf die von mir
erinnerten Aktionen, Haltungen und Informationen, welche die dramatische Handlung auf der Bühne bilden und
katalysieren.
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Das Spiel geht auf und neben Tituba nennt Abigail nun auch weitere Dorfbewohner, die in
Verbindung mit dem Teufel stehen sollen. Zusammen mit den anderen Mädchen, die bei
Abigails Täuschung mitspielen, wird sie so zur Hauptzeugin in einem immer weiter
ausufernden Hexenprozess, angeführt durch Hathorne und Danforth, sowie Pastor Hale.
In einer Nebenhandlung erfährt man, dass Abigail mit John Proctor ein Verhältnis hatte, was
dieser jedoch, aufgrund seiner Frau Elizabeth Proctor, aufgelöst hat. Abigail versucht
verzweifelt Proctor an ihre Liebe zu erinnern, doch dieser wehrt sich zunächst, lässt sich dann
aber doch auf ihre körperlichen Annäherungsversuche ein, ohne aber eine wirkliche Zusage
zu Abigails Zukunftsträume zu geben.
Schließlich kommt Pastor Hale auch zu den Proctors um sie auf ihre christlichen Tugenden
hin zu prüfen, denn Abigail hat Elizabeth der bösen Hexerei an ihr beschuldigt. Die Proctors
sind vorher durch ihr Dienstmädchen Marry Warren gewarnt worden und Elizabeth verknüpft
die Denunziation sofort mit der einstigen Affäre ihres Mannes mit Abigail. Sie drängt ihren
Mann, dem Gericht von Abigails Betrug zu berichten, denn Abigail hat in einem intimen
Gespräch mit Proctor die Wahrheit über die Ereignisse der Nacht gestanden.
Proctor zögert zunächst den Gang zum Gericht hinaus, als seine Frau aber tatsächlich von den
Schergen des Gerichts abgeholt wird, drängt er Marry, die mittlerweile von ihrem schlechten
Gewissen geplagt wird, die Wahrheit zu sagen und die beiden finden sich bei Hathorne und
Danforth ein.
Zwar haben sie eidesstattliche Aussagen, auch von anderen Dorfbewohnern, die dem
Geschehen gegenüber misstrauisch sind, als Beweise mitgebracht, doch die richterliche
Autorität Danforth und Hathorne schenkt Proctor und Marry keinen Glauben. Abigail und die
Mädchen werden zu den Vorwürfen befragt, doch Abigail schafft es durch geschickte Lügen
und Intrigen Marry als Lügnerin darzustellen. Proctor versucht die Situation zu wenden,
indem er von seinem Verhältnis mit Abigail erzählt und damit ihre eigentliche Intention
enttarnt, doch als Beweis dieses Verhältnisses fordert Danforth die Bestätigung durch
Proctors Frau, die laut Proctor von dem Ehebruch wusste.
In einer verhängnisvollen Szene wird Elizabeth von Danforth und Hathorne in Anwesenheit
ihres Mannes und der Mädchen zu der Ehre ihres Mannes befragt. Proctor ist es nicht
gestattet, sie darüber aufzuklären, dass er sich selbst schon beschuldigt hat und so steht
Elizabeth für die Ehre ihres Mannes ein.
Hathorne und Danforth sehen darin nun den Beweis der Unglaubwürdigkeit Proctors und
Marrys und Abigail spielt sogleich einen neuen magischen Angriff durch Marry vor. Auch
3
Proctor wird mittlerweile der Hexerei beschuldigt und so kommt es zur Verhaftung der
beiden.
Einzig Pastor Hale ist Abigails wilden Beschuldigungen gegenüber misstrauisch geworden
und gerät in Zweifel über die von ihm ausgesprochenen Todesurteile. Er versucht Proctor
dazu zu bewegen, den Pakt mit dem Teufel einzugestehen, um zumindest der Hinrichtung zu
entgehen und am Leben zu bleiben. Proctor zeigt sich nach einem Gespräch mit seiner Frau
zunächst willig, tritt dann jedoch wieder von seiner Aussage zurück, da diese öffentlich
bekannt gegeben werden soll und damit sein öffentliches Ansehen vollkommen ruiniert wäre
und er in einer ständigen Lüge leben müsste.
Abigail ist in der Zwischenzeit – der Zuschauer erfährt dies durch Parris selbst - mit dem
gesamten Vermögen aus Parris Tresor verschwunden.
II. Bühnenraum und Requisiten
Bühne und Licht - Ausgangssituation
Der Bühnenraum besteht aus einem circa 10 m breiten Steg auf dem sich anfangs rechts vorne
ein Bett mit dickem Daunen-Bettzeug befindet. Links davon steht eine kleine, antikaussehende Waschschüssel, die mit Wasser gefüllt ist. Links und rechts an den Wänden sind
schwarze Stühle durch Haken an die Wand gehängt.3 Einige der Stühle, es mögen etwa 40
insgesamt sein, stehen an den Wänden oder sind übereinandergestapelt. In der Mitte der
Bühne, etwas links gelegen, ist ein Schacht, der unter die Bühne führt. Er misst ca. 1m². Für
mich nicht sichtbar, müssen sich dort Stufen befinden, die unter die Bühne führen – die
Darsteller verlassen die Bühne teilweise durch den Schacht. Außerdem befinden sich links
und rechts schmale Seiteneingänge, die ebenfalls zum Abgang benutzt werden können (und
werden).
Oberhalb des Bühnenraums sind drei parallel verlaufende, längliche Lampen angeordnet. Ich
nehme an, dass es sich um Neonröhren handelt, die jedoch nicht wie üblich in Röhrenform
gestaltet sind, sondern darüber noch einen metallenen, viereckigen Überbau haben, der das
Licht durch mehrere kreisförmige Öffnungen auf den Bühnenboden fallen lässt.
3
Eine nähere Beschreibung der Stühle, die einen zentralen Teil meiner Erinnerung einnehmen, findet sich auf
Seite 6.
4
Der gespiegelte Zuschauerraum
Neben dem fixen Zuschauerraum4 befindet sich ein weiterer Zuschauerraum auf der anderen
Seite des Steges. Der Zuschauerraum ist quasi gespiegelt, jedoch ist diese Konstruktion etwas
kleiner und zählt weniger Reihen, auch bei den Sitzgelegenheiten handelt es sich nicht um
Theatersessel sondern Klappstühle.
Der Einlass für den gespiegelten Zuschauerraum ist zeitlich leicht verzögert. Während der
fixe Zuschauerraum schon besetzt ist, werden die Zuschauer auf der anderen Seite erst
eingelassen. Die zeitliche Verzögerung des Einlasses ermöglicht es mir, „die Anderen“ beim
Platz suchen und finden, sich setzen und zurecht rücken zu beobachten. Das Publikum kann
während der gesamten Aufführung – die Lichtverhältnisse reichen, bis auf drei kleinere
Blacks aus – sich selbst als Publikum beobachten.
Natürlich kann man als Zuschauer nicht tatsächlich sich selbst und seine Umgebung
wie in einem realen Spiegel abgebildet sehen und sich so unmittelbar selbst bei der
Beobachtung beobachten. Betrachtet man jedoch das Publikum als einheitliche Masse von
Subjekten, deren Konvergenz in der vorwiegenden Einnahme der Beobachterperspektive, also
in der Differenz zu den auf der Bühne vornehmlich handelnden Subjekten, den Schauspielern,
liegt, kann man von einer indirekten Selbstbeobachtung sprechen. Das Publikum als Kollektiv
sieht sich selbst beim Sehen zu. Neben dieser indirekten Selbstbeobachtung des
personifizierten Publikums, hergestellt durch die besondere Bühnensituation, entsteht auch
ein Effekt der Selbstbeobachtung bzw. Reflektion des Zuschau-Vorgangs auf Ebene des
einzelnen Subjekts. So sehe ich gegen Ende der Aufführung - John Proctor versucht mit
stummer Verzweiflung das Leben seiner Frau zu retten, indem er Marry Warren als
geständige Zeugin der Täuschung dem Gericht vorführt, dort jedoch gnadenlos mit seinem
Anliegen scheitert – während ich die steigende Spannung der offensichtlichen
Ungerechtigkeit, die Proctor widerfährt kaum ertrage, wie die gespiegelten Zuschauer auf der
anderen Seite verkrampfte Haltungen eingenommen haben: ein Mann sitzt weit nach vorne
gelegt und hat beide Hände an die Schläfen gelegt, eine Frau stützt sich mit dem Ellenbogen
auf die Lehne ihres Sitzes während sie mit der anderen an ihrem Kleid herumnestelt. Durch
das kurze Betrachten der Haltungen der Spiegel-Zuschauer reflektiere ich meine eigene
Sitzposition und Mimik. Ich merke, dass ich selbst den Kopf schief gelegt habe, in den letzten
fünf Minuten mehrmals meine Beine übereinandergeschlagen und wieder gerade aufgesetzt
habe und an meinen Lippen kaue.
4
Der Einfachheit halber, werde ich im Folgenden den in die Kammerspiele fest verbauten Zuschauerraum als
fixen Zuschauerraum, den für „Hexenjagd“ konstruierten gegenüberliegenden Zuschauerraum als gespiegelten
Zuschauerraum bezeichnen.
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Die Stühle5
Die anfangs noch teilweise an den Wänden aufgehängten, teilweise
dort auf- und übereinandergestellten Stühle scheinen fast mit der
Bühne zu verschmelzen. Sie sind komplett schwarz, ebenso wie die
Bühnenwände und der Steg und wurden von mir daher nicht auf den
ersten Blick als Stühle, bzw. als Requisiten wahrgenommen, sondern
in erster Linie als direkt zur Bühne zugehörig. Sie scheinen eher
Ausbuchtungen in den Wänden zu sein, als aufgehängte Stühle, eher
Hindernisse als Sitzgelegenheiten.
Im Verlauf der Aufführung werden einige Stühle (aber niemals alle!) jedoch von den Wänden
genommen und fungieren dann tatsächlich als Sitzgelegenheiten: Wenn Mary Warren
zusammen mit John Proctor dem Gericht ihre Täuschung gestehen will, um den tödlichen
Verlauf aus Anklagen, Prozessen, Folter und Hinrichtungen aufzuhalten, werden die sich
unter Abigails Führung versammelnden Mädchen von Hathorne und Danforth in den
Gerichtssaal gebeten. Die ungefähr 15 Mädchen kommen durch den linken Seiteneingang auf
die Bühne und nehmen sich sogleich jede einen Stuhl von der linken Wand, um sich dann in
einer Reihe links, parallel zur Wand, Mary und Proctor, die rechts stehen, frontal gegenüber,
zu setzen. Die Reihe aus Mädchen in ihrer Überzahl, so direkt Proctor und Mary gegenüber
gestellt, wirkt sehr bedrohlich und aggressiv. Durch die Stuhlreihe verschließt sich für Mary
und Proctor auch der linke Seiteneingang. Hinter ihnen, vom fixen Zuschauerraum aus rechts,
stehen Hathorne und Danforth, die willkürlich auch den rechten Ausgang verstellen könnten.
Eben noch sich in dem freien Bühnenraum bewegend, wirkt die Bühne nun wie „besetzt“,
voller Hindernisse und vollkommen ausweglos.
Auch die Tatsache, dass die Mädchen sich nicht in einer Reihe aufstellen, sondern stattdessen
sich auf eben jene Stühle setzen, wirkt wie ein klarer Machtanspruch. Während Mary und
Proctor im Raum stehen, sitzen die Mädchen, wie fest verankerte Institutionen in der zum
Gerichtssaal mutierten Bühne. Zwar können sich Mary und Proctor frei bewegen, sie müssen
dafür
aber
auch
immer
wieder
einen
tatsächlichen
Standpunkt
finden,
das
Mächtegleichgewicht nicht nur in ihrer Sprache, sondern auch in ihren Bewegungen und
Positionen sorgsam zu ihren Gunsten austarieren. Durch das offensichtliche „SesshaftGeworden-Sein“ der anklagenden Mädchen begrenzt sich der Spielraum für Mary und
Proctor. Ebenso kämpfen sie nun nicht mehr gegen eine Front, Hathorne und Danforth,
sondern gleich gegen zwei.
5
Die Grafik habe ich nach meiner Erinnerung mit Paint erstellt.
6
Kaum sind die Mädchen mit ihren Stühlen auf der Bühne, bewegt sich auch Danforth, der
scheinbar die exekutive Gewalt vertritt, zu ihnen hin. Er stellt sich hinter Abigails Stuhl auf,
fragt sie in vertrautem Tonfall zu den Vorwürfen aus und demonstriert dadurch noch einmal
die Machtverteilung und damit einhergehend die Glaubwürdigkeit der Parteien.
Neben diesem offensiven Einsatz der Stühle als Macht-Demonstration durch Besetzung von
Bühnen-Raum, erinnere ich die Stühle in anderen Szenen auf nahezu konträre Art. Zwar kann
ich keine genaue Benutzung mehr erinnern, jedoch bleibt der Eindruck einer absoluten
Ohnmacht des Sitzenden gegenüber den Stehenden Personen. Der Sitzende scheint wie auf
dem Stuhl festgenagelt, es gibt keine Lehne, die seinen Rücken schützt, stattdessen befindet
sich dort in den Stühlen ein Loch, dass das Rückgrat des Sitzenden freilegt. Der Rahmen der
Lehne wirkt wie eine Scheinsicherheit, die sobald man sitzt als purer Schein entlarvt ist:
dieser Stuhl macht kein angenehmes Anlehnen möglich, er bietet keinen Schutz vor Angriffen
außerhalb des Blickfelds, stattdessen denunziert er seinen Benutzer und macht ihn von allen
Seiten zugänglich. Der Stuhl erscheint als Metapher der dramatischen Handlungsessenz: er
duldet keine Geheimnisse und legt alles offen, jetzt kann alles gegen den Nutzer verwendet
werden. Die Aufforderung Platz zu nehmen wird so zur Farce. Die scheinbar höfliche Geste
ist eigentlich die Aufforderung sich frei zu legen. Und hat man sich einmal vor der
richterlichen Autorität gesetzt, so ist man fortan entblößt und damit zu Tod oder Schande
verdammt.
Die Umbauten
Innerhalb der Aufführung finden zwei Umbauten statt: nach Abigails Beschuldigung Titubas
und dem Einstimmen von Betty in die Vorwürfe, sowie nach der Verhaftung von Proctors
Frau.
Der dramatische Text macht nach den Umbauten deutlich, dass der Bühnenraum nun auch
einen anderen Ort des Dramas darstellt. Im ersten Fall wechselt die Handlung von der
Krankenstube Bettys zum Hause Proctor, im zweiten Fall zu einem unbestimmten Raum
innerhalb des Gerichtshofs oder des Gefängnisses.
Der Umbau selbst ist in beiden Fällen ein klarer Bruch: Es erfolgt ein Black, die Darsteller
verschwinden als Schatten wahrnehmbar hastig von der Bühne und es kommen
Bühnenarbeiter oder Requisiteure6 durch die Seiteneingänge, um die Bühne zu
transformieren.
6
Ich nehme an, dass es sich bei den am Umbau beteiligten, um Requisiteure oder Bühnenarbeiter gehandelt hat,
da sie entgegen der schwarz gehaltenen Kostüme der Darsteller, teilweise bunte Alltagskleidung trugen, die trotz
der Dunkelheit auffiel.
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Außerdem wird der Umbau von einer fröhlichen Musik begleitet7, die wie ein kompletter
Bruch mit der vorher hergestellten Atmosphäre wirkt. Es handelt sich um ein gepfiffenes
Lied, dass durch Rhythmus-Instrumente unterstützt wird und ein bisschen wie Musik aus der
Warteschleife oder im Fahrstuhl klingt.
Zusammen mit dem sehr plötzlich einsetzenden Black und dem überraschend (mitunter im
Reden/Schreien) abgebrochenen Spiel der Darsteller, markieren die Umbauten einen scharfen
Bruch zur angespannten Atmosphäre vorher und nachher. Ich fühle mich wie sehr unsanft aus
einem Traum gerissen.
Nach dem ersten Umbau steht das anfänglich erwähnte Bett nicht mehr auf der Bühne,
stattdessen findet sich ungefähr mittig, jedoch etwas näher zum gespiegelten Zuschauerraum
hin, ein langer Tisch, der ungefähr fünf Meter misst. Er ist in der selben Art wie die Stühle
gestaltet, weist ein ebenso tiefes Schwarz auf, dass mit dem Bühnenboden und den Wänden
verschmilzt. An den kurzen Enden des Tisches steht jeweils ein Stuhl, außerdem in der Mitte
der langen Seite, mit der Lehne zum fixen Zuschauerraum.
Innerhalb des zweiten Umbaus wird der Tisch wieder herausgetragen und die Stühle zurück
zu den Wänden gestellt. Stattdessen befindet sich nun eine rechtwinklige Bank rechts auf der
Bühne, wiederum näher am gespiegelten Zuschauerraum.
III. Schauspiel und Atmosphäre
Das Spiel mit zwei Zuschauer-Fronten
Die Theaterkonvention, als Darsteller nicht mit dem Rücken zum Publikum gedreht zu sein,
wird innerhalb der Aufführung nahezu in jeder Szene bedient. Die Darsteller stehen oder
sitzen meist mit Blick in Richtung einer der beiden Seitenwände und verlassen die Bühne
durch die Seiteneingänge. Auch Bewegungen im Bühnenraum werden zumeist so getätigt,
dass der Rücken der Schauspieler nicht dem Publikum zugekehrt ist.
Eine Ausnahme bildet die Szene in der Hale Proctor und seine Frau besucht, um ihre
christlichen Tugenden zu prüfen. Proctor sitzt gerade beim Essen am langen Tisch links, seine
Frau befindet sich am anderen Ende des Tisches, mit den Händen auf der Tischplatte
abgestützt. Nach dem Eintritt Hales bietet Elizabeth ihm den freien Stuhl in der Mitte des
Tisches an, die Lehne befindet sich, wie schon beschrieben, auf der Seite des fixen
Zuschauerraums. Hale setzt sich nach kurzem Zögern und befragt Proctor nun im Sitzen.
Zwar sitzt Hale nun streng genommen mit dem Rücken zum fixen Zuschauerraum, trotzdem
wendet er sich innerhalb des Gespräches aber immer wieder Proctor oder seiner Frau – je
7
Die Musik während des Umbaus ist die einzige Musik, die während der Aufführung eingesetzt wird und sie
erklingt auch nur während der beiden Umbauten.
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nachdem, wer gerade das Wort ergreift – auch körperlich zu. Dadurch sehe ich jederzeit einen
Teil seines Gesichts und damit einhergehend, seiner Mimik.
Diese mehr oder minder direkte Zuwendung zum Publikum, auch in Szenen, in denen
zunächst eine Position mit dem Rücken zur einer der Zuschauerraumseiten eingenommen
wird, wirkt auf mich voyeuristisch8. Es ist mir in jeder Szene möglich, den Darsteller in all
seinen Mimiken „einzufangen“. Die Bühne bietet keinerlei Möglichkeit, sich vor dem Auge
des Zuschauers zu verstecken und das Spiel der Darsteller intensiviert diese fehlende
Fluchtmöglichkeit durch die immer gegebene Zuwendung zum Publikum.
Atmosphäre: Nacktheit, Entblößung ← Omnipotenz des Blickes
Wie schon zuvor angedeutet, sind nahezu alle Aspekte der Aufführung auf eine Atmosphäre
von Nacktheit und Entblößung zurückzuführen:
Die Bühne bietet keinen „toten Winkel“, auch die Stühle haben keine schützende Lehne, die
zumindest einen Teil des Körpers bedeckt und das Spiel der Darsteller entzieht sich nicht den
Blicken beider Zuschauerhälften.
All dies lässt mich mein Zuschauen wie einen Gewaltakt am Körper des Schauspielers
erfahren. Zwar sind die Darsteller jederzeit bekleidet, tragen sogar hochgeschlossene
Kostüme (bis auf eine Szene in der Abigail ein langes (!) Nachthemd trägt, dass jedoch kurze,
ständig verrutschende Ärmel hat), trotzdem wirken sie auf mich nackt und vollkommen
schutzlos. Die Schauspieler sind den Blicken der Zuschauer jederzeit unterworfen, der
Zuschauer wagt mit seinem Blick einen gewaltsamen Zugriff auf den Schauspieler.
Auch das Spiel der Darsteller untereinander ist von ständiger Entblößung und AusgestelltSein gekennzeichnet. Gleich zu Anfang der Aufführung wirkt Parris durch die in der
Krankenstube Bettys eintreffenden anderen Dorfbewohner wie bedroht. Sein Gestik wird
fahrig
und
gehetzt,
seine
Stimme
überschlägt
sich,
er
beschwichtigt,
versucht
hinauszudrängen und seine Tochter Betty vor den Blicken zu schützen. Kaum sind die
Besucher weg, erfährt der Zuschauer durch den Dialog Parris mit Abigail, dass dieser um sein
Ansehen fürchtet, sollte sich das Gerücht ausbreiten, bei Bettys Krankheit handle es sich um
die Folgen eines schwarzmagischen Hexen-Rituals. Die vorher eingetroffenen Besucher
wirken nun a posteriori als Eindringlinge, die Parris durch ihre Blicke – denn sie haben den
rätselhaften Zustand Bettys „mit eigenen Augen gesehen“ – entmachten können.
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Das „Theater-Gucken“ in nahezu allen Aufführungen mit einem gewissen Voyeurismus des Zuschauers und
einem Exhibitionismus auf Seiten des Darstellers einhergeht, sollte an dieser Stelle vorausgesetzt werden.
Bezeichnend für die Hexenjagd-Aufführung ist jedoch, dass mir dieses Charakteristikum bewusst wird, ich es
reflektiere und mit erhöhter Sensibilität wahrnehme.
9
Eine weitere Szene, in der die Macht des Blickes, aber auch des Gesehen-Werdens für mich
zentral erscheint, ist die, in welcher Abigail, nach der Enttarnung durch Marry Warren einen
Anfall von Besessenheit vortäuscht. Plötzlich fixiert sie einen Punkt in der Luft und fragt, was
denn der Feuervogel da mache, dann wendet sie sich rasch zur anderen Seite und verfolgt mit
ihren Blicken den Flug eines unsichtbaren Vogels zu einem anderen Punkt im Bühnenraum.
In diese Beobachtung ohne sichtbaren Gegenstand der Beobachtung stimmen die hinter
Abigail in einer Reihe sitzenden Mädchen (Abigail befindet sich zu diesem Zeitpunkt stehend
im Bühnenzentrum) durch Drehen des Kopfes und synchrone Blickrichtung mit ein. All dies
geschieht wiederum unter den Augen Danforths und Hathornes, sowie Proctors und Marrys.
Während Proctor und Marry das Geschehen eher entrüstet (verärgerte Miene, Marry: „Hör auf
damit, Abi! [...] Ich mache doch gar nichts!“) wahrnehmen, betrachten Hathorne und
Danforth konzentriert Abigail bei ihrem Anfall. Ihr Blick wendet sich dabei nicht zu dem von
Abigail als „Feuervogel“ fixierten Punkt, sondern stattdessen direkt zu Abigail.
Der erneute Anfall Abigails, den die richterlichen Autoritäten selbst miterleben (wieder: mit
eigenem Auge sehen), bestärkt noch einmal Abigails Glaubwürdigkeit vor Gericht, auch
gegen die rationalen Argumente Proctors.
IV Persönliche Notizen
Ansatz zur Aufführungsanalyse
Wie funktionieren die Macht-Mechanismen von Beobachten und Beobachtet werden? Wann
wirkt der Blick als schonungsloses Ausgesetzt-Sein, wann autorisiert er die beobachtete
Person? Auf wie viele Ebenen wirkt „der Blick“?
Private Bemerkungen
Es erstaunt mich immer wieder, dass „dramatischem“ Theater eine solche Kraft innewohnt.
Sofern die Illusion gelingt (und das ist sie) und sich der Zuschauer ganz in das
Bühnengeschehen hineingeben kann, mit dem Herz und Kopf vollkommen in der „falschen
Bühnenrealität“ gefangen ist, entwickelt die Aufführung eine solch archaische Kraft, die mich
noch Stunden danach beeindruckt hat. Ich fühle mich transformiert, scheine der Macht eines
Rituals unterlegen zu sein. Der Applaus stört mich und ich mag kaum klatschen. Genauso
irritieren mich die Umbauten, die mich für kurze Momente aus der Realität des Dramas
herausreißen und mir in aller Deutlichkeit aufzeigen, dass dies hier „Theater“ ist. Trotzdem:
Ich wage es das Schimpfwort dramatisch in diesem Fall als überaus positiv zu bewerten.
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Diese Aufführung brauchte keine Metaebene, keine ständige Selbstreflektion auf sich selbst
als Theater, als Aufführung von a der b gibt, oder sogar a, der a spielt, deswegen aber nie
ganz a ist. Während mir in postdramatischen Aufführungen (auch hier wage ich es, alles in
den Topf zu werfen, der mittlerweile auch schon alt und rostig ist und in dem keiner mehr
seine Theatersuppe kochen will) ständig die Gefahr aufgezeigt wird, ja nicht zu glauben, was
dort scheinbar geschieht, bzw. nur zu glauben was wirklich geschieht, also niemals an den
Text glauben (!), sondern immer nur an die Brüche und an das Aufscheinen des TheaterTheaters und deswegen ständig all mein abstraktes Denkvermögen gefordert wird, kann ich
mich bei „Hexenjagd“ vollkommen fallen lassen und darf verbotenerweise von den
dramatischen Leckereien der Bühne naschen. Und ich muss sagen, dass es überaus gut
geschmeckt hat und ich Appetit auf mehr von solch wenig intellektuellem Theater habe, dass
trotz allem meinen Geist nachhaltig beschäftigt.
Der Abend hat eine spezifische Sinnlichkeit hergestellt, die sich fernab von abstraktem
Intellektualismus-Theater bewegt (hiermit soll nun nicht gesagt werden, postdramatisches
Theater sei unsinnlich). Hier kommt mir Tabori in den Sinn, der das Konzept der Sinnlichkeit
stets vor der Rationalität auf der Bühne verteidigte. Die Darsteller sollen ohne Netz spielen9,
sie sollen sich den Gefahren der Bühne und der Beobachtung vollkommen preis geben.
9
Diese Aussage Taboris geht auf seine erste Theatererfahrung zurück, die ihn nachhaltig prägte. Tabori, 5 Jahre
alt, besucht mit seinem Vater einen Zirkus in dem unter anderem auch Trapezkünstler ohne Netz auftreten. Der
kleine Tabori macht sich vor Angst in die Hose und sieht die gespannte Erwartungshaltung in den Gesichtern der
anderen Zuschauer. Er erkennt, dass es eigentlich immer um den Fall geht, ob er nun stattfindet oder nicht. In
dieser spezifischen Zirkusaufführung hat er stattgefunden: Eine Artistin stürzt hinunter und stirbt vor den Augen
der Zuschauer. Vgl. George Tabori: Bett und Bühne. Berlin 2007
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V Anhang10
Sven Lehmann als John Proctor
Links Abigail Williams (Kathrin Wehlisch), rechts Elizabeth Proctor (Isabel Schosnig), im Hintergrund die
anderen Hauptzeuginnen im Hexenprozess; Szene: Elizabeth wird zum Ehebruch ihres Mannes befragt, den
anderen anwesenden Personen ist es nicht gestattet, sich zu äußern
10
Die ersten drei Bilder sind entnommen von www.deutsches-theater.de, Bild vier und fünf von www.360berlin.de
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Kathrin Wehlisch als Abigail Williams
Abigail und Proctor; Szene: nicht genau identifizierbar Abigail und Marry Warren (Meike Droste); Szene: nicht
genau identifizierbar
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