SNUFF Don Sanders musste die Augen schließen. Der heftige
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SNUFF Don Sanders musste die Augen schließen. Der heftige
SNUFF Don Sanders musste die Augen schließen. Der heftige Frühlingswind vom East River, der durch die 42nd Street fegte, war voll Straßensand. Der Winter war ungewöhnlich kalt und schneereich gewesen, das Streugut noch nicht restlos von den Straßen New Yorks entfernt. Don Sanders war froh, als er das Backsteingebäude an der Great Central Station erreichte. Die Räumlichkeiten der Firma „Mail and More“, bei der er ein Post- und Paketfach gemietet hatte, lagen im ersten Stock. Weil er bis zur Schließung um 20 Uhr ausreichend Zeit hatte, genehmigte er sich eine Cola aus dem Automaten und beobachtete die jungen Leute an den Bildschirmen, die im World Wide Web unterwegs waren. Ob das Paket endlich eingetroffen war? Seit einer Woche hatte er jeden Abend voll Ungeduld gewartet, bis er seine Boutique am Stuyvesant Square endlich schließen konnte. Mit dem Auto fuhr er dann zum Parkplatz, die letzten Meter ging er zu Fuß. Wie ein kleiner Junge, der auf den Weihnachtsmann wartet, dachte er. Nur dass das, was er erwartete, kein Spielzeug war. Ganz und gar nicht. Er warf die Cola-Dose in den Mülleimer und fischte seinen Schlüsselbund aus der Hosentasche. Seine Hand zitterte, als er PO-Box 348 aufschloss. War das Paketfach wieder leer, wie an den vergangenen Tagen? Würde die Zusendung des Pakets überhaupt klappen? Im Fach lag ein gepolstertes graues Kuvert von der richtigen Größe. Von der für eine DVD geeigneten Größe. Don Sanders fühlte sich ganz ruhig, als er das Paket herausnahm und in einer Innentasche seines Jacketts verstaute. Es hatte geklappt. Das Material war in seinen Händen. Der Wind in den Straßen war nicht mehr schmutzig, er war ein Zeichen für das Erwachen der Großstadt nach dem langen Winter, ein Lebenszeichen. Don Sanders fuhr zurück zu seinem Geschäft, er wollte die DVD ungestört auf seinem Computer betrachten. Er hatte einen Hinweis auf den Film im Internet gefunden, in einer Newsgroup für Freunde sehr realistischer Filme. Über Tage las er nichts als das übliche Geschwätz, das mit dem Thema nichts zu tun hatte, begleitet von Werbung für Pornofilme, bis er lernte, zwischen den Zeilen zu lesen. Ein Teilnehmer der Group, der sich Marcino nannte, wies mehrmals auf eine Postfachadresse in Soho hin, von der Interessierte spezielle Infos bekämen. Don hatte seinen Brief an diese Adresse schon vergessen, als er in seinem Postfach eine billige Broschüre in Schwarzweiß fand, die genau das Material verhieß, für das er sich interessierte: Snuff-Filme. Filme, die Menschen beim Sterben zeigten. Für 1000 Dollar auf ein Konto in Mexiko würde eine entsprechende DVD zugesandt. Don war noch sehr jung gewesen, als ihn dieses Thema zu interessieren begann. Ihn und einige seiner Freunde aus dem Judo-Club. Nach dem Training entspannten sie in der „New Mexican Bar“, einem schäbigen Bierlokal in der Gun Hill Road in der Bronx. Einer der Jungs, sie nannten 1 ihn Marcelo, erzählte von einer Sensation, einem mexikanischen Film. Er hatte ihn am Vorabend in einer privaten Aufführung gesehen. Mit einer echten Folter- und Mordszene, die abrupt abbrach. Die Freunde zeigten Interesse an dem Material, und Marcelo begann Geld einzusammeln, um eine weitere Vorführung zu organisieren, wie er sagte. Es kam nie dazu. Don und seine Judo-Kumpels sahen weder Marcelo noch ihr Geld jemals wieder, von dem Film ganz zu schweigen. Aber Dons Interesse war geweckt. Er wollte sehen, was dieser Marcelo so eindrucksvoll geschildert hatte. Er hatte sich oft nach dem Warum gefragt, nach dem Grund seines Interesses. Keine Ahnung, dachte er. Es ist nun einmal so. Ich möchte einen Film sehen, in dem ein Mensch stirbt. Nicht mehr und nicht weniger. Immerhin interessierten sich andere auch dafür. Warum wohl gab es Kriminalfilme, Kriminalromane, Kriegsfilme? Am Ende eines Shakespearestückes war die Bühne mit Leichen übersät. Nur war das alles Illusion, die Schauspieler lebten weiter. Um wieviel reizvoller war es, wenn das, was man sah, nicht vorgetäuscht war. Das hatte ihn auch schon immer an Pornofilmen gereizt. Wenn die Darsteller echten Sex hatten. Dabei interessierte ihn nicht so sehr, was diese Männer und Frauen miteinander anstellten, ihn faszinierten die Augenblicke, in denen nicht gelogen wurde, in denen man den Beteiligten in die Seele blicken konnte. Die Seele seiner Frau war ihm unbekannt, und sein eigenes Seelenleben interessierte ihn schon gar nicht. Don Sanders betrat sein Geschäft durch den Hintereingang und schaltete sofort den PC im Büro ein. Viel zu lange dauerte es, bis das Gerät hochfuhr, bis er den Media-Player starten konnte. Er öffnete das Kuvert und entnahm ihm die schwarze Hülle der DVD. Aus einem silbernen Dreieck, das auf der Spitze stand, starrte ein stilisiertes Auge, darunter stand der Name der Firma: „Devil’s Eye.“ Sonst war nichts in dem Umschlag. Don Sanders legte die unbeschriftete Scheibe in das Laufwerk. Der Film startete von selbst. „Faces of Death III“ verkündete der Vorspann, und Don fürchtete, wieder betrogen worden zu sein, wie damals im Judo-Club in der Bronx. Möglicherweise hatte man ihm für viel Geld einen alten Streifen der 70er Jahre angedreht. Dennoch wollte er sich den Film ansehen. Als sein Handy klingelte und sich seine Frau erkundigte, ob alles in Ordnung sei, betätigte er mit der Maus die Stopptaste des Players. „Ich komme heute später. In die Buchhaltung hat sich ein Fehler eingeschlichen, nach dem ich suchen muss. Es kann dauern.“ „Soll ich dir das Essen warm halten?“ „Nicht nötig. Frier es ein. Ich bin froh, wenn ich etwas zu essen habe, wenn du bei Sara bist.“ Sara war die Tochter des Ehepaares, deren Baby Mrs. Sanders an manchen Abenden hütete. Don Sanders angelte sich ein Bier aus dem Eisschrank der Miniküche und trank direkt aus der Dose. Wie damals, als er ein junger Mann war, dem alles offen stand, im Guten wie im Bösen. 2 Dann betätigte er die Play-Taste. Der Film begann mit Szenen von einem Serienunfall auf einer Autobahn in Deutschland. Im Nebel waren an die vierzig Pkws und Lastwagen kollidiert, aus manchen Fahrzeugen stieg Rauch. Diese Szenen stammten offensichtlich von den Fernsehnachrichten und waren vom Bildschirm eines TV-Geräts abgefilmt worden. Es folgten Szenen, die ein Amateurvideofilmer, der selbst in den Unfall verwickelt war, aufgenommen hatte. Sie zeigten Fahrzeuge, die von auffahrenden Autos unter Lastwagen geschoben worden waren. Von ihnen waren nur mehr Blechpakete übrig geblieben. In einem der Autos, das in Nahaufnahme gezeigt wurde, saßen noch Menschen. Der Fahrer lag über dem zerbrochenen Lenkrad, neben ihm versuchte eine Frau mit blutendem Gesicht, die Augen weit aufgerissen, den Kameramann durch Handbewegungen auf sich aufmerksam zu machen. Zwischen den Fahrzeugwracks hastete orientierungslos ein kleiner gefleckter Hund hin und her. In einen Rettungswagen auf der gegenüberliegenden Fahrbahn wurde eine Tragbahre mit einem leblosen Kind geschoben. Die Szene endete mit einer Aufnahme der Frau, die dem Videofilmer zugewinkt hatte, um Hilfe zu bekommen. Sie rührte sich nicht mehr. Ihr Blick war starr geworden. Die nächsten Szenen von „Faces of Death“ zeigten Folterung und Mord in El Salvador, gefolgt von Aufnahmen in einem Schlachthaus, in dem Hühner und Kaninchen bei lebendigem Leib ausgenommen und gehäutet wurden. Warum ich für so einen elenden Mist so viel Geld ausgebe, dachte Don Sanders und wählte die Schluss-Sequenz der DVD. Am Ende zeigten sie immer etwas besonders Spektakuläres, in diesem Fall einen Fallschirmspringer, der von einer Windböe in eine Krokodilfarm getragen wurde, wo die riesigen Mäuler schon nach seinen Beinen schnappten. Blut färbte sein weißes Outfit, er schlug um sich, doch die Tiere verbissen sich in seinem Körper. Die Szene wirkte echt. Gebannt folgte ihr der Boutiquenbesitzer. Das ist es, was er sehen wollte. Authentisches Material, das die Seele bewegte. Er war ja nicht Schuld am Tod dieses Mannes. Die salbungsvollen Worte des dunkelhaarigen, seriös wirkenden Erzählers, der die einzelnen Szenen kommentierte, beendeten den Film mit einem Hinweis auf sensationelles Material, das noch nirgends gezeigt worden war. Abschließend erschien auf schwarzem Grund in einem Dreieck, das auf der Spitze stand, die Zahlen- und Buchstabenkombination DE6944101. Ein Code, dachte Don Sanders und untersuchte die Dateien der DVD auf seinem Computer. Die Bezeichnung „snuff.exe“ wirkte viel versprechend, also klickte er sie an und öffnete eine schwarze Seite mit weißem Eingabefeld, in das er den Code schrieb. Wenige Sekunden danach kündigte der dunkelhaarige Erzähler eine absolute Sensation an. Erstmals würden den geschätzten Zuschauern authentische Bilder vom Tod einer jungen Frau gezeigt werden. Zur Abschreckung und zur Dokumentation, wozu Menschen fähig wären. 3 In einen Raum, der völlig in Weiß gehalten war, die Wände waren offenbar gekachelt, es befanden sich noch eine Couch mit weißem Kautschuküberzug und ein großer Metalltisch darin, wurde eine nackte Frau gestoßen. Zwei junge Männer ohrfeigten und traten sie. Sie versuchte ihre Blößen zu bedecken, wurde aber von den Männern überwältigt und vergewaltigt. Als die beiden Männer sich an der Frau befriedigt hatten, begannen sie mit ihrer Zerstörung. Es fing an mit dem Abschneiden der langen brünetten Haare, einem Schnitt mit einer Rasierklinge in ihre rechte Wange. Die Frau, die anfangs in Panik geschrieen hatte, war verstummt. Sie hatte die Augen bittend auf die beiden Männer gerichtet. Die Hände hatte sie wie zum Gebet erhoben. Die Kamera fuhr immer näher an ihre Augen heran. Hier blendete der Film ab. Das Gesicht des Mannes, der die verbindenden Worte sprach, erschien in Nahaufnahme. In perfekter Bühnensprache sagte der unscheinbar wirkende Schauspieler, der zwischen 45 und 50 Jahre alt sein mochte: „Wir haben mehr von diesem einzigartigen Material. Bleiben Sie uns treu.“ Don Sanders war bewegt von dem, was er gesehen hatte. Seine Beunruhigung über die Straftat, die gezeigt worden war, war erstmals stärker als sein morbides Interesse an menschlichen Emotionen in einer Extremsituation. Er würde etwas unternehmen müssen, wusste aber noch nicht was, ohne sich zu verraten. Er wanderte ziellos durch die Straßen von Manhattan. Seine Frau rief wieder an. Sie ging zu Bett und wünschte ihm gute Heimfahrt. In der „Sports Bar“ bestellte er ein kühles Budweiser und starrte auf den großflächigen Bildschirm über den Regalen mit den Spirituosenflaschen, wo auf einem Sportkanal Szenen eines Eishockeymatches gezeigt wurden. Die in monströse Dresse gehüllten Männer, die auf dem Eis eines Stadions hinund herflitzten, um in einem wilden Haufen übereinander zu landen, lenkten ihn von seinen Sorgen ab. Wie ihm ging es auch den anderen Gästen der Bar. Zwölf Männer mit alkoholischen Getränken auf den Tischchen vor sich verfolgten schweigend ein Spiel, dessen Verlauf und Ergebnis ihnen gleichgültig war, das aber die Möglichkeit bot, Phantasien nachzuhängen und doch nicht allein zu Hause sein zu müssen, wo diese Gedanken übermächtig würden. Don Sanders bestellte einen doppelten Whisky mit Eis und Knabbergebäck und vertiefte sich in das wirre Treiben auf der Mattscheibe. Nach einem weiteren Whisky fühlte er sich besser. 4