Manuskript, Teil 1

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Manuskript, Teil 1
Ö1 macht Schule.
Ein Projekt von
„A Krügerl, a Glaserl, a Stamperl, a Tröpferl …“
Volkskrankheit Alkoholismus
Ö1 – Radiokolleg / Teil 1 – 4
Sendetermin: 25. – 28. November 2013
Gestaltung: Winfried Schneider
Länge: 4 mal ca. 23 Minuten
TEIL 1
1. OT – Frau Kathi
„Vorweg: kann man in der Sendung Ihren Namen sagen? Ihren richtigen? …
… nein bitte nicht. Okay, gut.“
0.07
Text
Ein regnerischer Herbsttag in Kalksburg bei Wien. Ein Büro im Anton Proksch Institut, der größten
Suchtklinik Europas.
2. OT – Frau Kathi
„Des heißt wir nehmen irgendwie einen fiktiven ….. die Kathi ….
… die Stimme darf bleiben?. Okay.“
0.11
Text
Das Anton Proksch Klinikum wird als Sonderkrankenhaus für Suchtkranke geführt, in dem alle Formen
der Abhängigkeit behandelt werden. Die klinik verfügt über knapp 300 Betten. Pro Jahr kommen an die
10.000 Patienten zu Behandlungen.
Frau Kathi hat mehrere Wochen eines stationären Aufenthalts hinter sich.
Ihre Entlassung in die Phase der ambulanten Nachbehandlung steht kurz bevor.
Frau Kathi ist 34 und Mutter von drei Kindern. Sie arbeitet als Verkäuferin. Nach wie vor ist sie glücklich
verheiratet. Was alles andere als selbstverständlich ist. Denn Frau Kathi ist Alkoholikerin.
3. OT – Frau Kathi
0.07 !
„Stressalkoholikerin, würd‘ ich mal meinen …
… exzessiv dann schon.“
Text
Was muss man sich da konkret vorstellen – unter Frau Kathis früherem exzessivem Alkoholmissbrauch?
4. OT – Frau Kathi
„Na ja, da hob i mi mit den Wodkaflaschen …
… zwei Flaschen Wodka am Tag waren eigentlich Standard.“
© Diese Zusammenstellung: Ö1 macht Schule / Mag. Winfried Schneider
Ausschließlich zur nicht-kommerziellen Nutzung zu Unterrichtszwecken im Sinne des § 42 Abs 6 UrhG bereitgestellt.
0.13
1
Ö1 macht Schule.
Ein Projekt von
Text
Laut einer Broschüre des Gesundheitsministeriums über ‚Den ganz ‚normalen‘ Alkoholkonsum‘ aus dem
Jahr 2007 liegt die Harmlosigkeitsgrenze für Männer bei 8,4 ÖSG pro Woche. ÖSG ist die Abkürzung für
‚österreichisches Standardglas‘.
8,4 ÖSG pro Woche entspricht durchschnittlich ca. 24g Reinalkohol pro Tag – also geringfügig mehr als
einem viertel Liter Wein oder einem halben Liter Bier.
Die Harmlosigkeitsgrenze für Frauen von 5,6 österreichischen Standardgläsern pro Woche liegt um
einiges darunter.
In der Wissenschaft gelten derlei Mengenangaben allerdings als sehr fragwürdig.
Zum einen, weil es zu Verwechslungen mit anderen Maßeinheiten kommen kann – wie z.B. bei Angaben
in ‚angelsächsischen Standardgläsern‘. Zum anderen, weil sie vor allem auf Erkenntnissen über jene
gesundheitlichen Schäden beruhen, die Alkohol an inneren Organen wie der Leber verursacht – während
andere gravierende Folgen in diesen Mengenangaben keinen Niederschlag finden.
5. OT – Frau Kathi
„Dann ist es schon losgegangen beim Kochen …
… dass ich ein Kind verlier (xx)… und … jo .“
0.30
Text
Laut einer IHS-Studie, die im April 2013 von ihrem Autor Thomas Czypionka präsentiert wurde, wird jeder
zehnte Österreicher zumindest einmal im Leben alkoholkrank. Nicht weniger als 350.000 der über 16jährigen sind es tatsächlich. Das sind fünf Prozent der Österreicher. Besonders dramatisch sind die
Zahlen im mittleren Lebensalter.
6. OT – Michael Musalek
„Wenn wir’s auf die Bevölkerung umlegen…
… mit Steigerungsraten.“
0.47
Text
Michael Musalek ist seit 2004 Vorstand und ärztlicher Direktor im Anton Proksch Institut. Er ist Facharzt
für Psychiatrie und Neurologie, Psychotherapeut und ein international anerkannter Experte für die
Behandlung von Suchterkrankungen.
7. OT – Michael Musalek
0.36
„Die Alkoholkrankheit selbst …
… dorthin entwickelt.“
Text
Bei Frau Kathi, der dreifachen Mutter, war das nicht anders.
8. OT – Frau Kathi
„Sehr lange Zeit hab‘ i gsagt i hab kein Problem damit …
… gereizt dann, wenn i net kriegt hab mein Alkohol… jo.“
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0.28
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Ö1 macht Schule.
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Text
Die Kriterien zur Diagnose der Alkoholkrankheit sind eindeutig. Sechs dieser Kriterien gelten als weltweit
anerkannt. Michael Musalek fasst sie zusammen.
9. OT – Michael Musalek
„Zum ersten ist es das sogenannte Craving …
… nach der heutigen Definition alkoholkrank.“
1.40
Text
Craving, Toleranzentwicklung, Kontrollverlust – diese Stadien hat auch Frau Kathi erfahren müssen.
Ebenso wie das fortgesetzte Trinken, obwohl sie wusste, dass ihr ebendieses Trinken schwere Schäden
zufügt. Schließlich kam die Einengung auf die Alkoholthematik dazu, und zuletzt die körperliche
Abhängigkeit.
So lange es ging hat sie die Wodkaflaschen versteckt. Im Auto und an anderen Plätzen. Eingekauft hat
Frau Kathi immer öfter mit zwei Taschen: mit einer für den Haushalt, und einer zweiten für den Alkohol.
10. OT – Frau Kathi
„Und dann zuhause ist es mit dem Gatten dann …
…Streit und Stress.“
0.24
Text
Den Alkohol habe sie als einzige Möglichkeit erlebt, sich Entspannung zu verschaffen, sagt Frau Kathi.
Die Droge war ganz leicht verfügbar. Sie war billig. Und sie wirkte schnell.
11. OT – Frau Kathi
„In der schlimmen Phase …
…sehr schnell aggressiv.“
0.24
Text
Irgendwann ist Frau Kathi dann einfach umgekippt und eingeschlafen. Dass sie am Morgen keinen
fürchterlichen Kater hatte überrascht sie selbst. Aber Scham und Schuldgefühle wuchsen mit jedem Tag.
Weitergetrunken hat sie in ihrer schlimmsten Phase aber trotzdem. Für Gabriele Fischer, die Leiterin der
Drogenambulanz an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Wien, ist das alles
andere als überraschend.
12. OT – Gabriele Fischer
„Die Betroffenen trinken nicht …
…das kontrollieren können.“
0.25
Text
Alkoholkranken zu sagen ‚Trink nicht‘ – das ist ungefähr so wie Depressive noch weiter zu quälen mit
dem notorischen Rat ‚Reiß dich zusammen‘, sagt Gabriele Fischer. Die Psychiaterin ist auch eine
Expertin für Frauengesundheit. Darüber hinaus ist Gabriele Fischer Konsulentin für die WHO, die UNO
und das Europaparlament.
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13. OT – Gabriele Fischer
„Es sind sicher Schaltkreise …
…als in der Stadt.“
0.39
Text
In der Community der Experten und Expertinnen für die Behandlung der Alkoholkrankheit herrscht in
vielen Fragen alles andere als Einigkeit. Die große Bedeutung der Allgemeinmediziner für die ungemein
wesentliche Früherkennung unterstreichen aber so gut wie alle. Auch für Frau Kathi war ihr praktischer
Arzt die erste Anlaufstelle, als sie sich – spät aber doch – ihren exzessiven Alkoholkonsum als Symptom
einer schweren Krankheit eingestehen musste.
Sich in eine stationäre Behandlung zu begeben ist dann allerdings noch ein weiterer schwieriger Schritt.
Für alkoholkranke Frauen ist er sogar noch um einiges schwieriger als für Männer. Warum das so ist,
erklärt Gabriele Fischer von der Drogenambulanz im Wiener AKH:
14. OT – Gabriele Fischer
„ Viel leichter tun sich Männer, in Reha-Zentren einzuchecken …
… sind schon viel schwieriger.“
0.22
Text
Dabei bietet sich gerade die Alkoholkrankheit dafür an, in der Medizin geschlechts-spezifisch
vorzugehen. In der Prävention, in der Diagnostik und im therapeutischen Kontext.
15. OT – Gabriele Fischer
„ Es ist sehr richtig …
… ein Hauptthema sind.“
1.05
Text
Aber warum kann es gerade bei der Alkoholkrankheit im therapeutischen Bereich sehr sinnvoll sein,
geschlechtsspezifisch zu behandeln? Gabriele Fischer:
16. OT – Gabriele Fischer
„Zum einen ist es wesentlich …
…auch was die somatische Erkrankung anbelangt.“
17. OT – Michael Musalek
„Wenn wir uns die Alkoholkranken heute anschauen …
…. kommt eine Frau.“
0.55
0.12
Text
Michael Musalek, der Vorstand und ärztliche Direktor im Anton Proksch Institut, beobachtet seit längerem
eine besorgniserregende Entwicklung. In vielen Studien zeigt sich nämlich, dass die Mädchen in Sachen
Alkoholkonsum aufholen. Und zwar massiv und sehr rasant.
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18. OT – Michael Musalek
„Wenn wir uns die Zahl derer anschauen …
… ungefähr stabil in den letzten 20, 30 Jahren.“
0.36
Text
Alkohol schädigt nicht nur die Leber. Alkohol ist eine zell-toxische Substanz.
Er zerstört also Zellen. Zu merken ist das früher oder später unter anderem im Denkablauf.
Alkoholabhängige leiden unter Konzentrationsstörungen und kämpfen mit ausgeprägten
Aufmerksamkeitsmängeln. Im Extremfall kommt es zu Halluzinationen. Die Organschäden als Folge von
Alkoholmissbrauch sind umso gravierender, als Alkoholabhängige sehr häufig zugleich auch
nikotinsüchtig sind und stark rauchen.
19. OT – Gabriele Fischer
„Wenn Sie sich das jetzt vorstellen …
… noch eine Alkoholabhängigkeit haben.“
20. OT – Michael Musalek
„Wir haben zwei Probleme in Österreich …
…für jede Art der Erkrankung.“
0.56
0.56
Text
Die erste Anlaufstelle sind jedenfalls die Allgemeinmediziner, betont Michael Musalek. Darüber hinaus
unterstreicht Michael Musalek die Bedeutung von ambulanten Angeboten seitens der Suchtkliniken,
insbesondere im niederschwelligen Bereich.
21. OT – Michael Musalek
„Wir haben international gesehen …
… frühzeitig zu intervenieren.“
0.55
Text
Dann das große Problem in der Behandlung der Alkoholkrankheit ist, dass zwar gute und klare Kriterien
für die Diagnose existieren, dass diese Kriterien aber nur Spätstadien der Krankheit abbilden. Erst wenn
die Krankheit bei Betroffenen bereits weit fortgeschritten ist, können sie als alkoholkrank diagnostiziert
werden.
22. OT – Michael Musalek
„Und das zweite ist …
…der ist äußerst schwierig.“
0.25
Text
Frau Kathi war mutig und stark genug, kompetente Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sozial war und ist sie
gut eingebettet. Und sie hatte das Glück, einen fürsorglichen und verständnisvollen Arbeitgeber zu
haben, der sie nicht fallen ließ.
24. OT – Frau Kathi
„Ich hab' im Spind …
… nur zu Hause.“
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Frau Kathis Arbeitgeber war offenbar erfreulich frei von gängigen Vorurteilen gegenüber Alkoholkranken.
Von ebendiesen Vorurteilen wegzukommen ist dem Leiter des Anton Proksch Instituts in Kalksburg bei
Wien, Michael Musalek, ein ganz besonderes Anliegen.
25. OT – Michael Musalek
„Und eines dieser Vorurteile ist …
…regelmäßig in Behandlung geht.“
0.50
Text
Dieser Prozentsatz fällt auf 10 bis 15 Prozent, wenn jemand nur unregelmäßig in Behandlung geht. Die
Prognose an sich ist also gut. Das Problem liegt darin, dass Betroffene in die Behandlung kommen und
dass sie in Behandlung bleiben.
Frau Kathi ist in der Behandlung geblieben. Das Therapieziel, wieder ein möglichst autonomes und vor
allem ein freudvolles Leben führen zu können, war attraktiver als die ständig lockende Versuchung,
wieder zur Flasche zu greifen.
27. OT – Frau Kathi
„Vor allem das Ambulante …
…des is meiner Meinung nach das Wichtigste.“
0.50
Text
Das differenzierte Resumée von Michael Musalek, in dem auch die durchaus erfreulichen Aspekte von
massvollem Alkoholgenuss ihren Platz haben, gilt für akute oder therapierte Alkoholkranke absolut nicht.
Nicht mehr. Jedenfalls nicht der erste Teil dieses Resumées:
28. OT – Michael Musalek
„Alkohol kann nützlich sein …
… kompetent umzugehen.“
0.33
Text
Das Resumée von Frau Kathi ist ein anderes. Ausführungen über die Freuden kultivierten und
genüsslichen Trinkens sucht man in ihrem Schlusswort aus guten Gründen vergebens.
29. OT – Frau Kathi
„Meiner Meinung nach gehört Alkohol abgeschafft …
…aber da steh‘ ich wahrscheinlich so ziemlich alleine da.“
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