nick cave warren ellis
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nick cave warren ellis
Februar 15 | #527 Das Kommunale Kino Wiens, Akademiestraße 13, 1010 Wien Iain Forsyth & Jane Pollard, „20,000 Days on Earth“, ab 6. 2. im Stadtkino Nuri Bilge Ceylan, „Winterschlaf“, ab 20. 2. im Stadtkino Die Weisheit des Herrn Höhle Das Genre des Musik-Dokumentarfilms ist oft geschändet worden. Doch „20,000 Days on Earth“ über einen erfundenen Tag im Leben von Nick Cave ist anders. Es könnte passieren, dass man dem Sänger verfällt. JENS-CHRISTIAN RABE M an kann sein Glück immer mal wieder kaum fassen, wenn man diesen Film sieht. Dann beugt man sich ungläubig nach vorne, als könne man ihn besser verstehen, genauer sehen, wenn man nur nahe genug dran ist. Zunächst ist 20,000 Days On Earth, inszeniert von den beiden britischen Filmemachern Iain Forsyth und Jane Pollard, eine Dokumentation über den 1957 geborenen australischen Musiker Nick Cave. Also den Sänger, Songwriter, Dichter, Schriftsteller, Ex-Junkie und Ex-Punk, den man den „Bob Dylan der Achtziger“ nannte und der lange einer der sagenumwobenen lebenden Toten des Rock 'n' Roll war. Später - als er die harten Drogen hinter sich hatte - wurde er dann schwarzer Dandy, Mörderballadier, schließlich hochverehrter schwermütiger Schmerzensmann des Pop und endlich einer der großen Weisen dieser Kunst. Ja, man muss das jetzt doch genau so sagen, denn spätestens nach 20,000 Days On Earth kann es daran keinen Zweifel mehr geben. Aber vielleicht erst mal eins nach dem anderen und zum Schluss noch ein Wort zur Weisheit. Für seine Fans, die mindestens in den vorderen Reihen selbstverständlich Jünger sind, besteht über die Unvergleichlichkeit Nick Caves natürlich schon lange Einigkeit. Unter den begnadeten Rampensäuen des Pop ist er ja der Publikumsbeschwörer. In einer langen Konzertszene im Film wird das eindrucksvoll gezeigt. Die quasi-religiöse Verzückung, die er da zu erwecken vermag, ist ein großes Schauspiel. Die Frau im Publikum, zu der er sich herunterbeugt und deren linke Hand er zu der mantrahaft wiederholten, heiser geflüsterten Songzeile „Can you feel my heart beat“ über das weit aufgeknöpfte goldene Glitzer-Hemd an sein Herz führt, nickt wie in Trance. Ein Wunder, dass sie nicht in Ohnmacht fällt, als er ihr am Ende auch noch ganz leicht mit dem Handballen auf die Stirn tippt. Der Cave-Segen. Fortsetzung auf Seite 2 » Inhalt Personal Nick Christian Fuchs über Nick Cave. 3 Gemischte Gefühle Nuri Bilge Ceylan im Gespräch über „Winterschlaf“. 6 FrauenFilmTage Das beliebte Festival, wieder im Filmhaus Kino. Zulassungsnummer GZ 02Z031555 Verlagspostamt 1150 Wien / P.b.b. 7 02 Iain Forsyth & Jane Pollard, „20,000 Days on Earth“ StadtkinoZeitung » Fortsetzung von Seite 1 Aber das war, wenn man so will, der Stand der Dinge. Und alle, die sich nicht zur Gemeinde zählen, befremdet dieser Pathos-Irrsinn gelegentlich, mit dem Nicholas Edward Cave - er heißt wirklich Cave mit Nachnamen, Herr Höhle - da vor aller Augen und Ohren durch die tiefsten Tiefen seiner Seelenhöhlen taumelt. 20,000 Days On Earth ist ganz in diesem Sinne auch eine große Inszenierung geworden, aber eben doch keine orthodoxe Dokumentation. Weniger wahrhaftig nämlich, dafür wahrer. Und klüger, lustiger, kompletter, gültiger. Ästhetik wie von David Lynch Cave ist nicht nur Gegenstand und Erzähler des Films, er wird hier auch als Co-Autor des Drehbuchs geführt. Bei den meisten Szenen ist die Kamera eindeutig nicht nur dabei gewesen - die Szenen wurden unübersehbar für sie konzipiert. Die Ästhetik der Bilder ist wohl am ehesten mit der der Filme von David Lynch zu vergleichen. Also immer etwas schattig, düster, minimalistisch, nüchtern, rätselhaft bedrohlich. Aber Nick Cave selbst könnte ja auch sehr gut eine Figur aus einem David-Lynch-Film sein. Dieser Wille zu Kunst und Stilisierung hätte sehr leicht ins Nirgendwo führen können, aber das Gegenteil ist der Fall. Der Effekt ist eher eine Art Befreiung von den Konventionen des Musik-Dokumentarfilms - und damit dem elenden Zwang zur Selbst-Identität, der die Protagonisten dieser Filme gerne auffrisst. Hier nicht. Wir erleben vielmehr einen erfundenen Tag im Leben Nick Caves im englischen Seebad Brighton. Er wacht um sieben Uhr neben seiner Frau auf, spricht mit seinem Psychotherapeuten über seine frühesten erotischen Erfahrungen, kommentiert im Nick-Cave-Archiv alte Fotos und plaudert, während er in seinem Rolls durch die Gegend fährt, mit Weggefährten wie Blixa Bargeld, Ray Winstone oder Kylie Minogue. Über die Frage, wohin es führt, wenn man unbedingt jemand anderes sein möchte, darüber, was man mit einem Pop-Song überhaupt sagen kann oder darüber, wie weit das Charisma eines Stars eigentlich wirkt - bis zum letzten Zuschauer oder doch nur bis in die erste Reihe. „Wer kennt schon seine eigene Geschichte?“ Von den Sätzen, die dabei dann plötzlich in der Welt sind, ist einer schöner als der andere: „Who knows their own story? Certainly it makes no sense when we are living in the midst of it. It's all just clamor and confusion. It only becomes a story when we tell it, and retell it.“ - Wer kennt schon seine eigene Geschichte? Sie ergibt gewiss keinen Sinn, während wir sie erleben. Da ist nur Chaos und Geschrei. Es wird erst eine Geschichte, wenn wir sie uns wieder und wieder erzählen. EB-S_Anz.Stadtkino_260x122_RZ_10.06.indd 2 Eine Szene wie bei Jim Jarmusch: Nick Cave und Kylie Minogue in „20,000 Days on Earth“. Das Genre des Musik-Dokumentarfilms ist in den vergangenen Jahrzehnten oft geschändet worden. Viel zu oft. Zufall ist das nicht. Die Versuchung scheint zu groß zu sein, einen Star einfach nur zu beobachten, also auf den geprüften Zauber der Aura zu setzen und das Ganze mit ein paar spektakulären Bildern aus der ruhmreichen Vergangenheit und ein paar Aufnahmen aus dem privaten Leben zu garnieren. Den Rest erledigt der von Ruhm, Neugier und Verehrung geblendete Fan dann schon selbst. Herz fassen kann. Oder umgekehrt. Und dann ist natürlich doch alles, was einmal zwischen einem selbst und seinen Songs stand, völlig egal. Dann kann der Mann so pathetisch sein, wie er will. Also beinahe wenigstens. Oder vielmehr: Das Pathos ist nicht mehr dasselbe. Womit wir bei der Weisheit wären. Die Weisheit der Popkultur hat ja generell einen schweren Stand. Der Schriftsteller Will Self etwa hat im New Statesman kürzlich eine zornige Kolumne geschrieben, in der er seine Generation (der auch Nick Cave angehört, „Es scheint, als ob Cave es geschafft hätte, die eigenen Dämonen zu bändigen.“ Und so sind sogar die ambitionierteren Musik-Dokumentationen bestenfalls geschickte Montagen von ein paar guten Momenten und alten Geschichten (wie Malik Bendjellouls Searching For Sugar Man), schlimmstenfalls aber einfallslos aufgemotzte Konzertmitschnitte (wie Martin Scorseses Rolling-Stones-Doku Shine A Light). Der Magie des jeweiligen Künstlers ist man besser schon vorher verfallen. Und zwar idealerweise schon seit Jahrzehnten - denn dann verhelfen einem auch noch die verklärten Erinnerungen an die eigene Jugend zu einem wohligen kleinen Nostalgieschauer. Bei diesem Film ist das alles ausnahmsweise nicht nötig. Es könnte eher passieren, dass man Nick Cave hinterher verfallen ist. Diesem Sänger, der einem durch den Kopf direkt ins Self ist nur unwesentlich jünger) wortgewaltig für die herrschende „Bullshit-Kultur“ verantwortlich machte: „Wir Mittfünfziger sind schuld. Wir sind die tattooten, gepiercten, kurze Hosen tragenden, Joints rauchenden, neurotischen Deppen, die die kommerzielle Ausbeutung der Gegenkultur angeführt haben. Wir haben uns die Avantgarde geschnappt und sie zu einer Hilfseinheit des kapitalistischen Blitzkriegs gemacht. Wir sind die Vollidioten, die behaupteten, dass es keinen Unterschied gebe zwischen Hoch- und Populärkultur und dass Werbung Kunst sei.“ Nun, Werbung meistens vielleicht wirklich nicht. Aber wenn man bei Nick Cave ganz genau hinhört, dann scheint es, als ob er es geschafft hat, seine inneren Dämonen zu bändigen, in- dem er sie davon überzeugt hat, lieber erst mal nach ihren eigenen Dämonen zu suchen. Er ist nicht auf der Suche nach den bösen Geistern, um sie mit großer Geste auszutreiben. Er sucht sie, um mit ihnen so lange zu tanzen, bis sie sich auch vor ihm fürchten. Ein kleines bisschen wenigstens. Gerade so viel, dass es reicht für das merkwürdige Gleichgewicht des inneren Schreckens, das dieser Mann ausstrahlt. • Zuerst erschienen am 19. Oktober 2014 in der Süddeutschen Zeitung. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung. Iain Forsyth, Jane Pollard 20,000 Days on Earth (Großbritannien 2014) Regie Iain Forsyth, Jane Pollard Drehbuch Nick Cave, Iain Forsyth, Jane Pollard Darsteller Nick Cave, Warren Ellis, Kylie Minogue, Ray Winstone, u.a. Kamera Erik Wilson Schnitt Jonathan Amos Musik Warren Ellis Produktion Corniche Pictures, BFI, Film4, Pulse Films Verleih Stadtkino Filmverleih Format DCP / Farbe Länge 97 Min. Fassung OmU Auszeichnungen Sundance Film Festival: Beste Regie, Bester Schnitt Ab 6. Februar 2015 unter anderem im Stadtkino im Künstlerhaus. 10.06.14 12:10 Iain Forsyth & Jane Pollard, „20,000 Days on Earth“ StadtkinoZeitung 03 Nick Cave bei der Arbeit an der Metamorphose des Alltags in etwas Magisches: Eine Szene aus „20,000 Days on Earth“. Der Lebens-Lehrer Eine ganz persönliche Liebeserklärung an Nick Cave. CHRISTIAN FUCHS V ielleicht fange ich am besten mit einem unvergesslichen Nachmittag im Mai 1987 an. I’m waiting for my man, vor den verschlossenen Türen des Wiener Raimundtheaters. Eigentlich sind es zwei Männer, auf die ich als junges männliches Rock’n’Roll-Groupie warte. Der eine, Nick Cave, damals so etwas wie mein geistiger Ratgeber in Sachen Sex, Tod und kathartischem Krach, soll mit seiner Band The Bad Seeds jeden Moment zum Soundcheck eintreffen. Der andere, Werner Geier, Ausnahmemoderator der Ö3-„Musicbox“ und mein späterer beruflicher Mentor, hat versprochen, mich diskret in den Saal einzuschleusen. Tatsächlich sitze ich bald im menschenleeren Konzertraum, mit pochendem Herzen. Auf der Bühne wird der Blues geprobt, gedehnt, seziert. Abseits herrscht Unruhe, es gibt heftige Diskussionen um ungesunde Substanzen, die für den abendlichen Auftritt essentiell seien. Ich bin im siebenten Himmel. An den eigentlichen, furiosen Gig erinnere ich mich nur bruchstückhaft, ohne ausgiebigen Barbesuch vorher konnte man seinerzeit kein Konzert anschauen, it’s an eighties thing you wouldn’t understand. Nur Werner Geier, der viel zu früh verstorbene, blitzgescheite, leidenschaftliche Prophet aus dem Äther, blieb immer nüchtern. Mit seiner Gänsehautstimme dozierte er am nächsten Tag, zur Ö3-Primetime, über Mr. Nicholas Cave. Wir schwarzgekleideten Kinder der Nacht, die wir uns an Orten wie dem U4 oder der Blue Box um die Ohren schlugen, lauschten. Es ging in diesen Radioessays um fiebrige Obsessionen als zentrales künstlerisches Gut. Um den Kadaver des Rock’n’Roll, der dank Reanimatoren wie Nick Cave plötzlich wieder energetisch herumzuckte, beseelt vom Geist des späten, tragischen Elvis wie von dem der Schmerzens-Ikone Antonin Artaud. Schneller Vorlauf. September 1998. Obwohl ich noch einigen Soundchecks des Meisters beiwohne und noch viel mehr Konzerten von ihm, kommt es nie zu einer persönlichen Begegnung mit Nick Cave. Bis zu dem Moment, wo ich wegen ihm wieder die Schulbank drücke. Der spindeldürre Australier hat eine Einladung der Wiener Schule für Dichtung angenommen. Und zugesagt, eine kleine Schar von Auserwählten in der Kunst des Liebeslieds zu unterrichten. Es ist mucksmäuschenstill, als der Herr Lehrer mit Verspätung eintrifft. Nicht der irrlichternde Saint Nick der Drogenzeiten betritt unser Klassenzimmer, sondern ein bestimmt wirkender Gentleman, dessen rosa Socken sämtliche DandyKnöpfe in meinem Kopf drücken. Was uns in den nächsten Tagen eingehämmert wird: Dass jeder leidenschaftliche Song auch immer ein Lovesong ist und umgekehrt. Dass richtige Liebeslieder immer vom Irrationalen erzählen, zumindest ein Quäntchen Absurdität und Melancholie und Wahnsinn enthalten. Denn die Liebe, sagt Nick, ist irrational, absurd, verrückt. Wir erfahren auch schlichtere, handwerkliche Dinge und bekommen Hausaufgaben und Übungen. Noch erheblich prägender als alle Lektionen ist für mich aber der menschliche Eindruck, der von dem Seminar zurückbleibt. Trotz seinem Stock, den er scheinbar autoritär vor der Tafel herumschwingt, ist dieser Lehrer wohl der liebenswürdigste und unprätentiöste, den man sich vorstellen kann. Nick Cave umarmt und küsst uns alle zum Abschied, es fließen Tränen. Ich flüstere danach anderen Mitgliedern der Fangemeinde verschwiegen zu: Der angebliche Prinz der Finsternis versprüht Witz und Esprit und ist ein Pädagoge wie aus dem Bilderbuch. Schnitt in die Gegenwart. Die vielen, herrlich widersprüchlichen Facetten des Nick Cave sind kein Geheimnis mehr. Er hat sie, nach der Loslösung von den zerstörerischen Giften, durchaus öffentlich kultiviert. Die interessierte Popwelt weiß längst, dass enorme Produktivität und ein Rückzug ins Familien- leben den ruinösen Lifestyle ablösten. In der Spieldoku 20,000 Days On Earth lässt uns Cave sogar einen Blick in sein Büro werfen, wo all die Songtexte, Drehbücher und Romane regelmäßig entstehen. Mit diesem grandiosen Film auf der Kinoleinwand und zuvor einem Gänsehaut-Konzert beim Frequency Festival 2013 schließt sich, frei von billiger Nostalgie, ein privater Kreis für mich. Schließlich hatten sich in all den Jahren andere Musiker, Sounds, Werke stark in den Vordergrund gedrängt. Auf einmal wird mir die fundamentale Bedeutung von Nick Cave aber bewusst, nicht nur für meinen bescheidenen Teil. Hier haben wir einen besessenen Künstler, der aus dem dazugehörigen Klischee-Gefängnis ausbricht. Einen dunklen Rockstar, der die Mitgliedschaft im suizidären Klub 27 ebenso verweigerte wie eine Existenz als geriatrischer BackstageJunkie. Einen begnadeten Bühnen-Poseur, der dennoch auf würdiges Altern im erzlangweiligen Sinn verzichtet. Es geht bei Songs, Filmen und Literatur um Transformation, sagt Cave sinngemäß in 20,000 Days On Earth. Um die Metamorphose des Alltags in etwas Magisches, oft nur für einen glorreichen Augenblick. Mit einem Lehrer wie Nick Cave reihen sich ganz schön viele solcher Momente aneinander, ein ganzes Leben lang. • „Long Time Man“ - Nick Cave mit seinem Band-Kollegen Warren Ellis 04 Iain Forsyth & Jane Pollard, „20,000 Days on Earth“ StadtkinoZeitung Die Erforschung einer Ikone Iain Forsyth und Jane Pollard arbeiten bereits seit sieben Jahren an einer Vielzahl von Projekten mit Nick Cave zusammen. Jetzt haben sie einen Kinofilm über ihn gemacht. Gespielt oder gelebt? „Nick kann nicht schauspielern,“ sagt Pollard lächelnd, „aber er ist wundervoll darin, Nick Cave zu sein. Wir mussten also Szenarien kreieren, die für ihn zumindest irgendetwas Reelles oder Überraschendes enthielten, damit er wirklich unbefangen reagieren, frei denken und die Situation fühlen konnte.“ Um also den 20.000sten Tag, der in Nick Caves Wahlheimat Brighton, an der Südküste Englands spielt, darzustellen, erschufen Forsyth und Pollard eine intensive, hyper-realistische Welt. Ihr Ziel: All das, was an diesem „Tag“ passierte, sollte sich völlig echt anfühlen und – sobald eine Szene im Gange war – mit so wenig Input ihrerseits wie möglich auskommen. Der Tag wurde um zwei Schlüsselszenen konstruiert, die Nick Cave die Möglichkeit gaben, so über sich selbst und seine Ideen zu sprechen, dass darin etwas Sinnstiftendes und Bedeutsames zum Vorschein kommen konnte. In dem ersten Setting trifft Nick auf den berühmten Psychoanalytiker Darian Leader. Das zweite Szenario ist ein Besuch im Nick-CaveArchiv. „Wir bauten auf Darian und seine Art andere als die üblichen Journalistenfragen zu stellen“, erklärt Forsyth. „Es gab kein Script und wir stellten sicher, dass sich beide nicht trafen bevor die Kameras liefen. Nick wusste, dass Darian tatsächlich ein Psychoanalytiker ist. Letztendlich unterhielten sie sich zwei Tage lang für mehr als zehn Stunden.“ Viele von Nicks persönlichen Aufzeichnungen und Besitztümern werden in der Nick-Cave Collection in Melbourne aufbewahrt und gepflegt. Forsyth und Pollard bauten diesen Ort in einem Keller des Rathauses von Brighton nach und brachten Teile der tatsächlichen Sammlung dorthin. Der dritte wichtige Ort ist das Zuhause von Warren Ellis, Nick Caves stetiger Kollaborateur bei den Bad Seeds. „Die Szene ist in der Mitte des Films und wir sahen es als Chance, jemand anderes als Nick sprechen zu lassen. Warren ist ein großartiger Erzähler und Nick fühlt sich in seiner Gegenwart sehr wohl“, beschreibt Pollard den Tempowechsel zu diesem Zeitpunkt des 20.000sten Tages. Wie im Archiv und im Büro des Psychoanalytikers hatten Iain & Jane eine genaue Vorstellung davon, wie Ellis‘ erdachtes Zuhause aussehen sollte: „Warrens Haus zeugt von seinem Charakter und seiner Persönlichkeit, von dem Zustand, sich an der Grenze von etwas zu bewegen, losgelöst und den Elementen nahe“, beschreibt Forsyth die zugewachsene Hütte, die in Wirklichkeit ein historisches Haus der Küstenwache von Seaford ist, nahe Caves Heimat Brighton. Weggefährten als innerer Dialog Forsyth und Pollards frühere Werke setzen sich mit der Faszination des Konzepts veränderter Bewusstseinszustände, Tagträumen, Halluzinationen und den Momenten zwischen Traum und Wachsein auseinander. Vor diesem Hintergrund entstand auch die Idee zu den drei Szenen, die Caves tägliche Autofahrten repräsentieren. Im Auto tauchen die Stimmen dreier Menschen auf, die in Nicks früherem Leben eine Rolle spielten: Der britische Schauspieler Ray Winstone, der im von Cave verfassten und von John Hillcoat inszenierten Film The Proposition (2006) mitspielte, der deutsche Musiker Blixa Bargeld, der zwanzig Jahre lang in der Originalbesetzung von Nick Cave and the Bad Seeds Gitarre spielte, und die australische Sängerin und Schauspielerin Kylie Minogue, mit der Nick 1996 seine bisher erfolgreichste Single Where The Wild Roses Grow im Duett sang. Ist der Film am Ende so geworden, wie Cave es sich erhofft hat? „Ja. Obwohl er einerseits fiktional ist, ist er gleichzeitig sehr real. Das ist das Schöne darin. Wir sind dadurch Fiktion etwas näher gekommen, und genau darum geht es in dem Film, der die Bedeutung der realen Welt im Kontrast zur imaginären Welt hinterfragt. Oder besser: Der Film versucht dort zu leben, wo beide Ebenen zusammenfließen. Aus diesen Schöpfungen entstand etwas sehr Rohes und Enthüllendes.“ (Nick Cave) Nick Cave oder: Ein etwas anderer Blick auf die Welt … Filmpremiere „Dear John“ von Hans Scheugl DER ÖSTERREICHISCHE FILMEMACHER, AUTOR UND KULTURHISTORIKER IST AM 3. MÄRZ IM RAHMEN DER KÜNSTLERHAUS-REIHE „FREIES KINO“ IM STADTKINO ZU GAST D ear John“ ist die Anrede an einen amerikanischen Freund, mit dem sich vor 50 Jahren die Möglichkeit öffnete, aus meinem damaligen Leben auszusteigen und in Amerika ein anderes, neues Leben zu beginnen. Das entnehme ich mehr als meiner Erinnerung den Briefen, die er mir geschrieben hat und die ich vor einiger Zeit in einer Schachtel gefunden und gelesen habe. Sie zeichnen das Bild einer Konstellation in seinem wie meinem Leben, das mir mit den Jahren fremd geworden ist und mich nicht zuletzt deshalb neugierig machte. Bei den Briefen wäre es geblieben, hätte ich im Internet nicht jenes Haus entdeckt, in dem John jetzt wohnt und mit dem sich mir auf unerwartete Weise die imaginäre, da fast vergessene Person der Vergangenheit in ein reales Bild seines gegenwärtigen Lebens verwandelte. Diese Transformation bewegte mich dazu, den Film zu machen, allerdings ohne die Absicht, mit „Dear John“ real einen Dialog aufzunehmen. Der unvermutete Blick auf das Haus ließ plötzlich die vergangenen 50 Jahre als Leerstelle ins Bewusstsein treten, ohne das abhanden gekommene Leben – dessen Sinnbild dieses Haus ist – nachträglich mit Inhalten füllen zu können. Nicht dass ich das gewollt hätte, die zeitliche und räumliche Distanz ist real uneinholbar. Mit dem Film hingegen kann ich versuchen, der in den Briefen entworfenen Idee von einem anderen Leben in Amerika aus der Gegenwart und von dem Ort aus, in dem ich lebe, zu begegnen. Hans Scheugl 2015 Ein A, unscharf auf rosa Hintergrund – ein erster Buchstabe auf einer Reise, die nicht alphabetisch zum Z geht, auch wenn viele letters vorkommen: nicht Buchstaben, sondern Briefe. Der Briefwechsel verbindet zwei Welten: ein Leben in den USA und eines in Wien. Das Zeichen mit dem A markiert ein Haus irgendwo in Amerika, das der Filmema- Foto: sixpackfilm W ir kamen mit Nick schnell überein, was uns an Musik-Dokus nicht gefällt: dieser angeblich unaufdringliche, beobachtende Stil. Den ‚echten’ Nick Cave zu sehen, würde irgendwie mehr von Nick Cave offenbaren. Einem Rockstar dabei zuzusehen, wie er den Abwasch macht oder die Kinder zur Schule bringt, mag als eine stumpfsinnige Art von Promi-Verfolgung interessant sein, fesselt einen aber nicht intellektuell“, sagt Forsyth. Im Geiste visionärer Filme wie The Song Remains the Same (1976) über Led Zeppelin und Jean-Luc Godards One plus One/Sympathy for the Devil (1968) begannen Iain & Jane die visuelle und strukturelle Sprache zu entwerfen, die sie verwenden wollten. Beiden Regisseuren war klar, dass sie kein ehrfürchtiges Porträt des Künstlers anstrebten, ihn aber auch nicht demaskieren wollten, um Gewöhnliches aufzudecken. Vielmehr wollten Iain & Jane mit Rockmythologie spielen und betonen, was Nick Cave so herrlich außerordentlich macht. Mit 20,000 Days on Earth stemmen sie sich gegen den Teil unserer Kultur, der Genie und Talent durch Casting-Shows zu normalisieren versucht. Hans Scheugls neuer Film „Dear John“. cher Hans Scheugl mittels Google Street View gefunden hat, für ihn die unerwartete Wiederentdeckung eines fast vergessenen Freundes. Mit diesem Freund, er heißt John, hätte Scheugl vor 50 Jahren in den USA ein neues Leben anfangen können. „Dear John“, sagt Scheugls Stimme mit schön akzentbehaftetem Englisch zu ersten Wien-Bildern: Momentaufnahmen und Beginn einer Straßenbahnfahrt in Richtung Prater. Die Kamera gleitet durch Straßen, über die immer wieder Zeilen aus Johns Briefen treiben. Spiegelungen überall. Dear John ist ein verquerer Erinnerungsfilm, eine dokumentarische Reflexions-Fantasie über eine imaginäre Existenz. Johns Stimme hat er vergessen, seinen Körper erinnert er unscharf, erzählt Scheugls Voice-Over, so unscharf wie das A zu Beginn als Zeichen für Johns heutige Existenz. Die Idee des abhanden gekommenen Lebens rekonstruiert Scheugl poetisch mittels vielfäl- tiger Korrespondenzen, geschriebenen und visuellen: Beiläufige Beisl-Bilder von heute zur Erzählung von Abenden im Glück der Jugend, dazwischen Johns Einladungen und Berichte von brotloser Kunst, denkwürdigen Begegnungen und seinem Schrecken über die Einberufung zur Armee am Beginn des VietnamKrieges, leitmotivisch der Beefcake-Kurzfilm The Cyclist and the Werewolf als Traumbild-Gegenstück zu Geisterbahnen im Prater, wo der Film am Ende wieder ein A an der Basis des Riesenrades entdeckt. Dear John beschreibt einen Kreis, der sich nicht schließen kann, weil die Distanz zwischen den zwei Leben unüberbrückbar bleibt, egal wie aufmerksam man sich aufeinander zubewegt – in jeder Hinsicht ein bewegender Film. Christoph Huber Dear John und Hans Scheugls erster Kurzspielfilm Miliz in der Früh (1966) sind am 3. März im Stadtkino im Künstlerhaus zu sehen. StadtkinoZeitung Nuri Bilge Ceylan, „Winterschlaf“ 05 Grandiose Landschaftstableaus gegen wortreiche Beziehungsgemetzel: Nuri Bilge Ceylans Meisterwerk „Winterschlaf“. Diktatur der Güte Wenn alle schweigen, heißt es, haben die Schweigenden eine Stimme. In einem Film, in dem jeder beinahe andauernd spricht, kann vielleicht nur gehört werden, wer verzichtet. ALEXANDRA ZAWIA N uri Bilge Ceylans neuer Film Winterschlaf offenbart so eine bedeutende Entsagung gegen Ende hin. Zweifellos ist diese dann ein Sieg über Konstrukte, die vor allem auch durch Worte aufrechterhalten, gestärkt und weitergegeben werden - durch Reden, durch Phrasen, durch Floskeln, durch Täuschung. Es ist ein Sieg über eine Idee, sogar Ideologie, über eine Illusion, über ein System, in dem - schlicht formuliert - jemand diktiert. Aydin (Haluk Bilginer), ein gepflegter, attraktiver Mann Ende Fünfzig, Anfang Sechzig, verbringt vor allem die Winter gerne in dem kleinen Hotel, das er inmitten einer FelsenhausSiedlung in Kappadokien besitzt. Hierhin folgte ihm schon vor längerer Zeit, aus ihrer Heimatstadt Istanbul, seine Schwester Necla (Demet Akbag), nachdem sie sich scheiden ließ sowie seine beträchtlich jüngere Frau, die schöne Nihal (Melisa Sözen). Als ehemaliger Schauspieler schreibt Aydin nun ein Buch über das türkische Theater und regelmäßig moralische Kolumnen für eine Zeitung. Abseits seines Schreibtisches bleibt er aber konsequent tatenlos. Vor allem ergeht er sich gerne in Debatten über Politik, Religion und Literatur. Vorzugsweise mit wenigen Freunden oder - dann meist als Streitgespräch - mit seiner Schwester, die in Ansätzen immer wieder aufbegehrt. So gut wie nie allerdings setzt er sich ernsthaft mit seiner Frau auseinander, die er für ihr Engagement in Wohltätigkeits-Aktivitäten insgeheim belächelt. Seine Emotionen, so scheint es, hat Aydin unter einem Panzer von intellektueller Überlegenheit und einstudiertem Zynismus verborgen. „Ich wünschte meine Schwelle zur Selbsttäuschung wäre so niedrig wie deine“, sagt ihm Necla. Die Ruhe, die über Aydins gediegener Herberge liegt, in der vereinzelt, wie vom Weg abgekommene Touristen auf Zwischenstation immer nur ein paar Nächte bleiben, hat sich längst auch wie ein dämpfender Schleier auf die in weiter Ausdehnung umliegende Siedlung gelegt, in der ihm ebenfalls Wohnungen gehören, die er vermietet; in einer Gegend, in der es keine Arbeit gibt und kein Geld. Ein Steinwurf vertieft gleich zu Beginn des Films den unsichtbaren Graben, der zwischen Aydin, dem intellektuellen Hofherren und der Notgemeinschaft der anderen verläuft, als der kleine Ilyas (Emirhan Doruktutan) einen Felsbrocken gegen die Windschutzscheibe jenes Autos wirft, in dem sich Aydin von seinem treuen Assistenten (Ayberk Pekcan) täglich durch die Gegend chauffieren lässt, als würde er - immer gütig lächelnd - patrouillieren. Ilyas Vater Ismail (Nejat Isler) kann die Reparatur des Risses nicht bezahlen, Aydin besteht allerdings auf die Wiederherstellung der Oberfläche, gibt Ilyas - als Geste großer Güte - dafür aber vorerst alle Zeit, die er brauchen mag. Nicht das erste Mal nimmt Ceylan (der dieses Drehbuch mit seiner Frau Ebru schrieb) deutliche Anleihen bei Anton Tschechow; in Once upon a Time in Anatolia hatte er ganze Szenen aus dessen Kurzgeschichten adaptiert. Hier nun folgt er deutlich wieder einer von der russischen Literatur beeinflussten moralisch-philosophischen Dramaturgie und konzentriert die Dialoge auf die Gefühlslagen und Haltungen und das Verhältnis der Figuren zueinander, oftmals unterlegt mit Klängen aus Schuberts 20. Klaviersonate (und darin eine Anspielung auf Bressons Au hasard Balthazar). Wie als Spiegel der Dynamik eines jeden dieser großartigen, ausufernden, tiefreichenden und perfekt choreografierten Dialoge, in dem die Figuren jedes Mal in feinen Manövern gleich unmerklicher Schachzüge ins Taumeln gebracht werden, kreiert der Film im Schnitt oft den Kuleshov-Effekt, in dem sich die Bedeutung einer Szene erst durch zwei aufeinanderfolgende Einstellungen erschließt und nicht in einer Einstellung alleine. Es ist eine brodelnde Sprache, die jede der Figuren hier benutzt; aufgeladen mit Unterschwelligkeit, wie man sie in Gefühls-Kriegen abfeuert, also dann, wenn man rücksichtslos parieren will und Wörter wie Waffen einsetzt. Nach außen hin jedoch merkt man ihnen den Kampf nicht an, auch nicht dem Onkel von Ilyas zum Beispiel, Hamdi (Serhat Kiliç), einem Imam ohne Rückgrat, der Ilyas eines Tages zur Entschuldigung vor Aydin zwingen möchte. Ein sichtbares Schlachtfeld offenbart aber auch diese Szene nicht und nur einmal führt Ceylan erneut in diese Nähe, als er Aydin während eines seiner nächtlichen Spaziergänge Zeuge des Todeskampfes eines Pferdes werden lässt, das sich in Seilen in einem Fluss verheddert hat. Die subtile Ambiguität dieser Szene, in der Aydin wie ein Gnadenbringer fungieren wird, entsteht zu diesem Zeitpunkt bereits aus der Figur dieses Fädenziehers selbst. Die Machtund Hierarchieverhältnisse in diesem wie aus der Welt gefallenen Ort, der Aydin gewissermaßen als Bühne dient, sind nun in einer Dimension erahnbar, die ihren ganzen Abgrund noch entfalten wird. Wie greifen Mechanismen, erst unbemerkt und unterschwellig, die eine Diktatur entstehen lassen? Wie leicht tauscht man Widerstand gegen Wohlstand? Nahtlos fügt sich entlang dieser Gedanken eine der letzten Szenen in diesem Film ein: Auf einer ihrer Patrouillenfahrten durch die pittoreske Einöde kommen Aydin und sein Assistent eines frühen Morgens an einem bisher unentdeckten Ortsschild vorbei. Aydin lässt das Auto auf der Anhöhe zurückschieben und anhalten, und dann ist es, als täte sich ein Vorhang auf. Mit Aydin blickt die Kamera über dessen Schulter die Böschung hinab auf ein friedvoll schlummerndes Dorf, und der Hüter des Winterschlafs lächelt gütig. • Nuri Bilge Ceylan Winterschlaf (Deutschland, Frankreich, Türkei 2014) Regie Nuri Bilge Ceylan Drehbuch Ebru Ceylan, Nuri Bilge Ceylan Darsteller Haluk Bilginer, Melisa Sözen, Demet Akbag, Ayberk Pekcan, Serhat Mustafa Kiliç, Nejat Isler Kamera Gökhan Tiryaki Schnitt Nuri Bilge Ceylan, Bora Göksingöl Produktion Zeynofilm, Bredok Filmproduction, Memento Films Production Verleih Stadtkino Filmverleih Format DCP / Farbe Länge 196 Min. Fassung OmU Auszeichnungen Cannes Film Festival: Goldene Palme, FIPRESCI-Preis Ab 20. Februar 2014 im Stadtkino im Künstlerhaus. Daniel Glattauer Die Wunderübung ab 21. Jänner Regie Michael Kreihsl, Bühnenbild Conrad Reinhardt, Kostüme Erika Navas Mit Aglaia Szyszkowitz, Bernhard Schir und Jürgen Tarrach U URA FFÜH RU N G Trailer zu sehen auf www.josefstadt.org Karten und Info unter: T +43 1 42700-300 INSERAT_Die_Wunderuebung_fin.indd 1 13.01.15 10:41 06 Nuri Bilge Ceylan, „Winterschlaf“ StadtkinoZeitung Die Seele des Zuschauers mit Emotionen füllen „Winterschlaf“ gewann genau in dem Jahr die Goldene Palme, in dem sich der Geburtstag des türkischen Kinos zum hundertsten Mal jährte. W ie die meisten von Ceylans Filmen ist auch Winterschlaf inspiriert von den Werken Tschechows, außerdem finden sich Anleihen von Shakespeare und Molière. Tonal wird der Film von Schuberts Klaviersonate in A-Dur gerahmt. Das Drehbuch, das Ceylan mit seiner Frau Ebru verfasste, umfasst 183 Seiten und ähnelt in seinem Umfang laut Hauptdarsteller Haluk Bilginer dem New Yorker Telefonbuch. Der Name der Hauptfigur, Aydin, ist Türkisch für „Intellektueller“ und die Geschichte enthält laut Ceylan einige autobiographische Elemente, ist aber größtenteils inspiriert durch Erlebnisse von Freunden des Regisseurs, darunter auch viele ehemalige Schauspieler. Laut Ceylan befinden sich viele türkische Intellektuelle – besonders ehemalige Schauspieler – in einer Art Winterschlaf: „Denn sie haben ihr ganzes Leben lang in Shakespeare-Stücken gespielt. Sie leben ein sehr intellektuelles Leben in geschlossenen Kreisen zusammen mit anderen Schauspielern. In jedem Land gibt es solche Unterschiede, die Intellektuellen sind immer ein wenig von der Gesellschaft isoliert.Vielleicht kommt dieses Phänomen in der Türkei etwas mehr zum Tragen.“ Der Hauptdarsteller Haluk Bilginer spielte bereits in einigen internationalen Produktionen wie The International (2009) mit, während Melisa Sözen bisher vor allem in türkischen TV-Serien zu sehen war. Demet Akbag hingegen ist einem größeren Publikum durch ihre Mitwirkung in erfolgreichen türkischen Komödien wie Organize Isler (2005) und Eyyvah „Ein Mensch bleibt natürlich ein Mensch …“ Eyvah (2010) bekannt. Gedreht wurde Winterschlaf über zwei Monate in der spektakulären Landschaft des UNESCO Weltkultur- und Weltnaturerbes Kappadokien und weitere vier Wochen in einem Istanbuler Studio. Nachdem sie verschiedene Kameras getestet hatten, entschieden sich Ceylan und sein Kameramann Gökhan Tiryaki für eine Sony F65. Seit Iklimer – Jahreszeiten dreht Ceylan ausschließlich digital: „Ich mag am digitalen Filmen, dass ich alles kontrollieren kann. Für mich bedeutet Film, durch künstliche Elemente Wahrheiten zu erzählen. Alles ist künstlich, aber das Ergebnis sollte etwas über Wahrheit erzählen. Mithilfe des Digitalen kann ich all die künstlichen Elemente kontrollieren. Ich kann sie so verändern, wie ich die Wahrheit herausarbeiten möchte.“ Auf der Suche nach einem literarischen Kino: Der türkische Palmen-Gewinner in Cannes 2014, Nuri Bilge Ceylan (re.). Ceylan verfügte nach den Dreharbeiten über 200 Stunden Material, das er auf ursprünglich 4 ½ Stunden verkürzte. Nuri Bilge Ceylan ist kein offen politischer Filmemacher. Wenn, dann äußert er sich in seinen Dankesreden, wie auch dieses Jahr in Cannes, wo er seine Goldene Palme „den jungen Menschen in der Türkei und denjenigen, die im vergangenen Jahr ihr Leben verloren haben“ widmete und sich dabei indirekt auf die Proteste in der Türkei gegen die Regierung Erdoğan bezog. Zudem riefen er und sein Ensemble auf dem roten Teppich mit Zetteln zum Gedenken an die Opfer des Grubenunglücks in dem türkischen Ort Soma auf. In einem seiner seltenen Interviews lässt der Regisseur kleine Einblicke in seine Arbeitsweise zu. „Winterschlaf“ ist sehr dialoggetrieben, was im Gegensatz zu früheren Filmen einen neuen Ansatz darstellt.Wie kommt das? Ich mag Dialoge sehr gerne und zufälligerweise gab es auch sehr viele davon in meinem Spielfilmdebut Kasaba; da wir aber keine Live-Tonaufnahmen gemacht haben, gab es einige Probleme. Seitdem war ich Dialogen gegenüber etwas ängstlich eingestellt. Aber mir gefällt Theater ebenfalls sehr. Diesmal habe ich also nicht nur viel mehr Dialoge im Film als sonst, er ist auch sehr literarisch. Es handelt sich um eine Sprache, die im Theater und in der Literatur weit verbreitet, aber im Kino sehr riskant ist, weil sie in diesem Medium vielleicht nicht funktioniert. In meinen frühen Filmen war ich sehr gewissenhaft darin, natürliche und realistische Dinge zu tun und zu zeigen. Ich habe eingesehen, dass das heutzutage gang und gäbe ist, sogar in der Fernsehwerbung, wo zum Beispiel oft schon Umgangssprache benutzt wird. Deshalb habe ich mich hin zu einer literarischen Form des Dialogs gearbeitet, um herauszufinden, ob Shakespeare oder Dostojewski heute noch im Kino funktionieren würden. Da die Dialoge ziemlich elaboriert sind, brauchte ich professionelle Schauspieler, da Laien mit diesen Texten Schwierigkeiten hätten. Der Film berührt eine Vielzahl von Themen: Ehe, Politik, soziale Probleme. Ist er eine Bestandsaufnahme der Ereignisse, die derzeit die Türkei bewegen? In meinem Film gibt es keine Verweise auf die aktuelle Situation in der Türkei. Ich bin der Meinung, ein Regisseur sollte nicht auf gegenwärtige Vorkommnisse in seinem Land anspielen, denn er oder sie hat die Pflicht, Dinge mit einem größeren Blick zu untersuchen. Denn alles, was auf dieser Erde passiert, kann erklärt werden, indem man über die Natur des Menschen nachdenkt. Ein Filmemacher ist kein Journalist. Natürlich kann er oder sie die Arbeit wie ein Journalist auffassen, aber darüber hinaus glaube ich, dass er oder sie auch die Seele des Zuschauers ansprechen, sie mit Emotionen füllen soll. Wenn das Publikum sich dann ein bisschen für bestimmte Dinge schämt, bedeutet das, der Film hat in gewisser Weise Erfolg. Die Seele des Menschen zu verstehen ist stets meine Motivation Filme zu machen. Weshalb haben Sie einen derartig außergewöhnlichen Drehort ausgesucht? Eigentlich wollte ich dort nicht drehen, aber nach einiger Recherche hatte ich keine andere Wahl. Die Landschaft sollte einfach sein, gleichzeitig aber auch touristisch. Nur in Kappadokien gab es im Winter noch Touristen im Winter. Der Ort durfte zudem nicht in der Nähe großer Städte sein, somit war das die einzige Möglichkeit. Ich hatte etwas Angst vor dem Dreh dort, denn es handelt sich um eine wunderschöne Region, schöner, als ich sie mir je erträumen hätte können, und ich hoffe, der Film wird ihr gerecht. Was war der Ausgangspunkt für den Film? Er basiert auf drei Kurzgeschichten von Tschechow, die auch Teile der Dialoge inspirierten. Uns begegnen ähnliche Situationen wie in diesen Geschichten in unserem täglichen Leben und ich hatte den Eindruck, diese wären wie für die Türkei geschrieben worden. Wo immer man hingeht, ein Mensch bleibt natürlich ein Mensch, aber ich würde nicht sagen, dass ich einen Film über einen ganz bestimmten Menschen gemacht hätte. Mir gefällt es, mehrdeutige Filme zu machen, die einen mit gemischten Gefühlen zurück lassen. Manchmal werde ich gefragt, wie ich meine Filme mit einem Wort oder Satz beschreiben würde und ich schaffe es nicht. Verkörpern Ihre Figuren einen pessimistischen Blick auf die Welt? In meinen Charakteren findet sich so viel Hoffnung wie im Leben selbst. Manche Regisseure tendieren dazu, am Ende eines Films noch eine optimistische Note einzuführen – ich nicht. Ich bin ziemlich realistisch und manchmal muss man eben wissen, wie man ein Pessimist sein kann. Zuerst hielt ich den Schluss des Films sogar für etwas zu optimistisch, deshalb habe ich Aydins Passage etwas undeutlicher gemacht, damit seine Last auch etwas von seiner Ehefrau getragen werden kann. Es gefällt mir nicht, wenn wir im Film sofort verstehen, worauf Personen hinaus wollen, und am Ende hätte Aydin was er sagt auch sagen können um sich selbst zu befreien. Damit wäre er aber nicht ehrlich, und so habe ich das etwas verschleiert. Nuri Bilge Ceylan über „Winterschlaf“: „Ich liebe es Filme zu machen, die einen mit gemischten Gefühlen zurück lassen." StadtkinoZeitung Festivalzeit im Filmhaus Kino 07 FrauenFilmTage 2015 Ab dem 27. Februar 2015 im Filmhaus Kino am Spittelberg. ist, gerade dann, wenn es um kritische gesellschafts- oder frauenpolitische Themen geht. So hatte Difret die Unterstützung von Angelina Jolie als Co-Produzentin und erlangte damit hohe Aufmerksamkeit. Diverse Preise wie der Sundance Audience Award zeigen, dass das Publikum diese Zielsetzung honoriert. Auch andere Filmschaffende engagieren sich in dieser Weise, so Tom Tykwer und Marie Steinmann mit One Fine Day Films. 2011 entstand Something Necessary von Judy Kibinge über die Folgen der Unruhen nach der Präsidentschaftswahl in Kenia 2007. Wie bereits zuvor der vielfach ausgezeichnete Nairobi Half Life - entstand Something Necessary im Rahmen eines Workshops in Nairobi als gemeinsame Initiative von One Fine Day Films, Deutsche Welle Akademie und der kenianischen Produktionsfirma Ginger Ink. Das Ziel dieser Kooperation ist, die Entwicklung des modernen afrikanischen Films zu unterstützen und talentierten FilmemacherInnen die Möglichkeit zu geben, ihre Geschichten einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Die FrauenFilmTage sehen es folgerichtig auch als ihre Aufgabe, diese Filme ins Programm aufzunehmen. Weder Difret noch Something Necessary werden aus heutiger Sicht regulär in österreichischen Kinos laufen. Dass gesellschaftspolitische Themen auch in humorvollen Filmen aufgearbeitet werden, ist selten der Fall. Der große Erfolg von Filmemacherinnen wie Nadine Labaki (Caramel) bestätigt allerdings, dass gerade die Kombination aus Humor und Gesellschaftspolitik nicht nur bei den JurorInnen gut ankommt. Die kommenden FrauenFilmTage werden der Frage nachgehen, was für einen gesellschaftspolitischen und humorvollen Film notwendig ist. • Engagiertes Kino von Frauen aus aller Welt Fotos: Alamode Film D … „Difret“ aus Äthiopien Opre Roma Film-Festival Das vollständige Programm gibt es ab 5. März auf www.frauenfilmtage.at. 17. FEBRUAR – 12. MAI 2015 Foto: www.cure-film.com ie kommenden FrauenFilmTage starten mit Cure – Das Leben einer anderen von Andrea Štaka. Nach acht Jahren und ihrem großen Erfolg Das Fräulein (u.a. Goldener Leopard in Locarno 2006) widmet sich die Regisseurin abermals dem Thema Fremdsein und der Suche nach Geborgenheit. Kamera führte Martin Gschlacht, Ko-Drehbuchautorin war Marie Kreutzer. Seit 2010 bildet die Personale zu einer Filmschaffenden ein Highlight im Programm der FrauenFilmTage. Die kommende ist Katharina Wöppermann und dem Thema Szenebild gewidmet. Im Rahmen der Personale werden Amour Fou von Jessica Hausner und der humorvolle Film Im Kreise der Lieben von Hermine Huntgeburth gezeigt. Beide Regisseurinnen haben sich zu einem Gespräch angekündigt. Außerdem ist Teil der Personale Women Without Men von Shirin Neshat mit Kameramann Martin Gschlacht, der für das Publikumsgespräch seine aktuellen Dreharbeiten unterbrechen wird. Kämpferische Frauen bilden einen weiteren Programmschwerpunkt. Ganz bewusst stehen Aktivistinnen im Vordergrund, die für ihre Rechte, ihre Selbstbestimmung und ihre Visionen einstehen. Der vielfach prämierte Spielfilm Difret (Das Mädchen Hirut) nach einer wahren Geschichte über die mutige Anwältin Meaza Ashenafi ist ein Beispiel. In Äthiopien erlangte sie Bekanntheit, weil sie mit ihrer Organisation für die Rechte von Frauen und Kindern kämpft. Ashenafi vertrat mit Erfolg den Fall der 14-jährigen Hirut, die verschleppt und vergewaltigt wurde, und daraufhin ihren Peiniger tötete. Aufgrund der Hilfe der Anwältin wurde das Mädchen nicht zum Tode verurteilt. Der Film arbeitet Ashenafis und Hiruts Kampf auf. Diese Produktion ist ein Beispiel dafür, dass in vielen Ländern Filmschaffen ohne ausländische Hilfe kaum möglich ... Andrea Štakas aufwühlendes Coming-of-Age-Drama „Cure“ Impressum Telefonische Reservierungen von Mo. bis Do. 8.30-17 Uhr, Fr, 8.30-14 Uhr unter 522 48 14 – während der Kassaöffnungszeiten: Stadtkino im Künstlerhaus Akademiestraße 13, 1010 Wien, Tel. 712 62 76 / Filmhaus Kino am Spittelberg Spittelberggasse 3, 1070 Tel. 522 48 16. Online www.stadtkinowien.at Herausgeber, Medieninhaber Stadtkino Filmverleih und Kinobetriebsgesellschaft m.b.H., Spittelberggasse 3/3, 1070 Wien Graphisches Konzept Markus Raffetseder Redaktion Claus Philipp Druck Druck Styria GmbH & Co KG, Styriastraße 20, 8042 Graz Offenlegung gemäß Mediengesetz 1. Jänner 1982 Nach § 25 (2) Stadtkino Filmverleih und Kinobetriebsgesellschaft m.b.H. Unternehmungsgegenstand Kino, Verleih, Videothek Nach § 25 (4) Vermittlung von Informationen auf dem Sektor Film und Kino-Kultur. Ankündigung von Veranstaltungen des Stadtkinos. Preis pro Nummer 7 Cent / Zulassungsnummer GZ 02Z031555 Verlagspostamt 1150 Wien / P.b.b. „Geronimo“ – Der neue Film von Tony Gatlif E rstmals widmet sich ein Filmfestival dem Leben der Roma, ihrem Kampf um ein würdiges Leben und ihrem Recht auf Bildung und Anerkennung. Das Festival möchte ein neues, differenziertes Bild und vor allem eine neue Perspektive auf dieses Thema ermöglichen. Besondere Einflüsse wie das Cinéma Vérité oder Direct Cinema haben die Arbeit und Sichtweisen der jungen Roma-FilmemacherInnen dahingehend geprägt, dass sie ihre filmischen Geschichten mutig und mit geschärftem Blick auf die oft mehr als triste Realität erzählen. Das Filmfestival läuft parallel zur Ausstellung Romane Thana. Orte der Roma und Sinti (12. Februar – 17. Mai) im Wien Museum am Karlsplatz und ergänzt so den historischen Blick auf dieses Thema durch eine aktuelle Schwerpunktsetzung im Opre Roma FilmFestival Programm. Weitere Programmpunkte des Festivals stellen wir in unserer kommenden Ausgabe vor. DI., 17.2.15 19:30 UHR ERÖFFNUNG – STADTKINO IM KÜNSTLERHAUS Eröffnungsfilm GERONIMO Regie:Tony Gatlif, 2014, 104 min., frz. OmeU Eine Braut läuft durch die menschenleeren Straßen eines Vorortes in Südfrankreich. Nil (Nailia Harzoune) flieht vor der Zwangsheirat mit einem älteren Mann. Mit schmutzigem Kleid und fliegendem Spitzenschleier ist Nil auf dem Weg zu jenem Mann, den sie liebt. Als Lucky (David Murgia) seine Geliebte am Hochzeitstag befreit, entfacht er den Zorn der Familie der jungen Frau. Die Familie setzt alles daran, ihre Ehre zu retten und die Liebenden zu töten. Geronimo (Céline Sallette) ist eine junge und engagierte Sozialarbeiterin, die versucht alles daran zu setzen, ein Blutvergießen zu verhindern. IM ANSCHLUSS LIVE PERFORMANCE: Mindj Panter (Sandra Selimovic, Simonida Selimovic und Saša Barbul), Musik:Trio Pilerovi MEMENTO FILMS PRÄSENTIERT EIN ATEMBERAUBENDER FILM. THE GUARDIAN WINTERSCHLAF EIN FILM VON NURI BILGE CEYLAN PRODUZIERT VON ZEYNEP ÖZBATUR ATAKAN KOPRODUZIERT VON ALEXANDRE MALLET-GUY MUSTAFA DOK MIT HALUK BİLGİNER MELİSA SÖZEN DEMET AKBAĞ AYBERK PEKCAN SERHAT KILIÇ TAMER LEVENT NADİR SARIBACAK MEHMET ALİ NUROĞLU UND NEJAT İŞLER DREHBUCH EBRU CEYLAN NURİ BİLGE CEYLAN FREI NACH DREI ERZÄHLUNGEN VON ANTON TCHEKHOV KAMERA GÖKHAN TİRYAKİ REGIE-ASSISTENZ ÖZGÜR SEVİMLİ AUSSTATTUNG GAMZE KUŞ SCHNITT NURİ BİLGE CEYLAN BORA GÖKŞİNGÖL TON ANDREAS MÜCKE NIESYTKA THOMAS ROBERT BENOIT GARGONNE LARS GINZEL AUSFÜHRENDER PRODUZENT SEZGİ ÜSTÜN NATIONAL NATIONALE KOPRODUZENTEN MUZAFFER YILDIRIM MÜGE KOLAT OLIVIER PÈRE RÉMİ BURAH NURİ BİLGE CEYLAN EIN ZEYNO FILM - MEMENTO FILMS PRODUCTION - BREDOK FILM PRODUCTION KOPRODUKTION IN ZUSAMMENARBEIT MIT ARTE FRANCE CINÉMA - MARS ENTERTAINMENT GROUP - IMAJ GEFÖRDERT VON EURIMAGES - KULTUR- UND TURISMUSMINISTERIUM – TÜRKISCHE REPUBLIK - ARTE FRANCE - MEDIENBOARD BERLIN BRADENBURG - WORLD CINEMA SUPPORT - CENTRE NATIONAL DU CINÉMA ET DE L’IMAGE ANIMÉE - MINISTERY OF FOREIGN AFFAIRS (FRANCE) - INSTITUT FRANÇAIS - POST REPUBLIC - SONY - WELTVERTRIEB MEMENTO FILMS INTERNATIONAL BREDOK FILM AB 20. FEBRUAR 2015 IM STADTKINO IM KÜNSTLERHAUS