Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel

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Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel
FORTBILDUNG
Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel
Frühzeitige Therapie ist sinnvoll
Der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel (BPLS) stellt
das häufigste Krankheitsbild des peripher-vestibulären Systems dar. In etwa 80% der Fälle ist der posteriore, in 20% der
horizontale Bogengang betroffen. Ein BPLS des superioren Bogengangs ist äusserst selten. Der BPLS tritt im Kindesalter sehr
selten auf, nimmt mit jeder Lebensdekade an Häufigkeit zu
und hat seine grösste Inzidenz im Alter von 60 bis70 Jahren.
Dr. med. Marcel Gärtner
Luzern
D
er BPLS wurde bereits 1897 von Adler erstmals beschrieben.
Das erste wissenschaftlich fundierte, pathophysiologische Konzept stammt aus dem Jahr 1969. Schuknecht (1) konnte erstmals an
betroffenen Patienten histopathologisch basophile Kalzitkristalle an
der Cupula des posterioren Bogenganges nachweisen. Zur Erklärung der Symptome entwarf er die so genannte «CupulolithiasisTheorie». 1990 konnten Parnes und McClure (2) im Rahmen einer
Bogengangsokklusion bei einem Patienten mit BPLS frei schwimmende Partikel im Innern des Bogenganges nachweisen. Sie entwickelten die «Canalolithiasis-Theorie» (Abb. 1).
ten Lagerungsnystagmus nicht kompatibel, sondern müsste nach
physikalischen Gesetzen zu einem persistierenden Lagenystagmus
führen, wie er etwa beim alkoholinduzierten Lagenystagmus beobachtet wird. Das pathophysiologische Konzept der Cupulolithiasis
ist mittlerweile nur noch für die ageotrope Form des BPLS des horizontalen Bogenganges plausibel.
Die Grundlage des BPLS ist die Ablösung der als Otokonien
bezeichneten Calciumcarbonatkristalle von Utriculus und Sacculus des Innenohrs. Die dislozierten Partikel (Otolithen, Canalithen)
konnten elektronenmikroskopisch eindeutig als Otokonien identifiziert werden. Nach der Theorie der Canalolithiasis gelangen die
losgelösten, frei schwimmenden Otolithen in einen Bogengang
des Labyrinths. Da die Otolithen schwerer sind als die Endolymphe, sinken sie aufgrund der Schwerkraft stets zum tiefst gelegenen
Punkt im Bogengang. Diese Lageveränderung induzieren unphysiologische Endolympheströme und damit Reizungen des Sinnesepithels durch eine Auslenkung der Cupula. Dadurch wird über den
vestibulo-okulären Reflex (VOR) eine Augenbewegung, die in der
Ebene des entsprechenden Bogenganges liegt ausgelöst. Eine Reizung des posterioren Bogenganges führt zu einem rotatorischen
Nystagmus mit zusätzlicher Upbeat-Komponente, die Reizung des
horizontalen Bogenganges zu einem horizontalen Nystagmus.
Pathogenese
Schuknecht vermutete, dass sich die von den Otolithenorganen
(Utriculus/Sacculus) stammenden Kristalle (Otokonien) an die
Cupula des posterioren Bogenganges anhaften und so die Dichte der Cupula erhöhen. Dies führt dazu, dass die Cupula aufgrund
ihrer nun höheren Dichte gegenüber der Endolymphe vom Winkelbeschleunigungssensor zum Linearbeschleunigungssensor umfunktioniert wird. Dieses Konzept würde jedoch implizieren, dass
die Symptome der Patienten auch durch horizontale oder vertikale
Linearbeschleunigung induziert werden könnten, was de facto nicht
der Fall ist. Die Cupulolithiasis-Theorie ist auch mit dem patho­
gnomonischen, durch rasche Änderung der Kopfposition ausgelös-
ABB. 1
Ätiologie
Elektronenmikroskopisch konnten degenerative Veränderungen
im Bereich der Otokonien respektive der Macula nachgewiesen
werden (3). Diese Veränderungen nehmen im Alter kontinuierlich zu und erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass sich Otokonien
spontan ablösen und einen BPLS verursachen können. 50–70% der
BPLS-Fälle sind von degenerativer Ätiologie. In dieser Gruppe sind
Frauen häufiger als Männer betroffen (Verhältnis ca. 3:2). Die restlichen 30–50% treten nach Schädeltraumen, Neuronitis vestibularis,
Ohroperationen (Stapedotomie) und längerer Bettruhe auf.
Canalolithiasis und Cupulolithiasis
nach Parnes LS et al., 2003
Symptome
Patienten mit BPLS leiden unter Sekunden andauernden Drehschwindelattacken, welche durch bestimmte Körper- und Kopfbewegungen ausgelöst werden. In Ruhe besteht kein Schwindel,
manchmal wird eine leichte Gangunsicherheit angegeben. Der
Schwindel ist meist begleitet von vegetativen Symptomen wie
Schweissausbruch, Übelkeit und gelegentlichem Erbrechen.
_ 2013 _ der informierte arzt
2611 FORTBILDUNG
Diagnostik
Bei Verdacht auf einen BPLS wird eine Lagerungsprüfung durchgeführt. Der posteriore Bogengang wird mit dem Dix-Hallpike
Test (Kopfhängelage), der horizontale Bogengang mit dem Pagnini-McClure’s Test untersucht. Nach Möglichkeit sollte eine Frenzel-Brille verwendet werden, um die visuelle Fixationssuppression
auszuschalten. Ist ein Spontan-oder Kopfschüttelnystagmus nachweisbar, liegt kein BPLS vor.
Therapie
Abb. 2: Kopfhängelage links
ABB. 3
Befunde in Kopfhängelage
Posteriorer Bogengang
Horizontaler Bogengang
Beim BPLS des horizontalen Bogenganges werden die Drehschwindelattacken in der Regel durch Wenden im Bett nach beiden Seiten hin ausgelöst. Beim Abliegen, Aufstehen, Vornüberbeugen und
Kopfreklinieren können leichte Schwindelbeschwerden ausgelöst
werden.
der informierte arzt _ 11 _ 2013
A: BPLS des posterioren Bogenganges
rechts: im Gegenuhrzeigersinn rotierender Nystagmus mit Upbeat-Komponente
ABB. 4
B: BPLS des posterioren Bogenganges links:
im Uhrzeigersinn rotierender
Nystagmus mit Upbeat-Komponente
Epley-Manöver für die rechte Seite
nach Roseli B. 2011
Ist der posteriore Bogengang betroffen, treten die Drehschwindelattacken typischerweise beim Abliegen und Drehen im Bett zur Seite des betroffenen Bogenganges auf. Auch andere Bewegungen wie
Aufsitzen, Kopf-Reklination (Wäscheaufhängen) und Vornüberbeugen (Schuhe binden) können den Schwindel auslösen.
In der klinischen Untersuchung kann der BPLS in der Lagerungsprüfung nach Dix-Hallpike nachgewiesen werden. Dabei
wird der Patient mit ca. 45° zur Seite gedrehtem Kopf rasch in die
Kopfhängelage (Abb. 2) gebracht. Der Oberkörper wird dabei nach
hinten 30° über die Horizontale gebracht.
In Kopfhängelage zeigt sich ein rotatorischer, geotroper Nystagmus mit Upbeat-Komponente. Die schnelle Komponente des
Nystagmus dreht zum Boden hin (geotrop), d.h. bei Kopfdrehung
nach rechts im Gegenuhrzeigersinn, bei Kopfdrehung nach links im
Uhrzeigersinn (Abb. 3). Der Nystagmus tritt nach einer Latenz von
wenigen Sekunden auf und dauert etwa dreissig Sekunden. Er hat
Crescendo-Decrescendo-Charakter. Nach schnellem Aufrichten
zeigt sich ein etwas schwächerer gegenläufiger Nystagmus.
Der BPLS des posterioren Bogenganges wird in erster Linie mit
dem Epleymanöver (Abb. 4) behandelt (4). Hierbei wird der Patient zuerst in die Kopfhängelage der betroffenen Seite gebracht. Anschliessend erfolgt eine Drehung zur Gegenseite, schlussendlich
wird der Patient seitlich aufgerichtet. Als weitere Möglichkeit kann
das Befreiungsmanöver nach Semont (5) durchgeführt werden. In
seltenen, therapieresistenten Fällen ist es notwendig, den posterioren Bogengang operativ zu verschliessen (Okklusion). Von einzelnen Autoren wird eine selektive Neurektomie des posterioren
Bogengangnerves (Nervus singularis) durchgeführt.
nach Fife TD, 1998
In vielen Fällen heilt der BPLS innert Wochen spontan aus. Da die
Patienten durch die heftigen Drehschwindelattacken subjektiv stark
beeinträchtigt und teilweise verängstigt (Gefahr der Entwicklung
eines zusätzlichen phobischen Schwindels) sind, ist eine frühzeitige Therapie mit einfach durchzuführenden Canalithen-Repositionsmanövern (Befreiungsmanövern) sinnvoll. Wichtig ist bei allen
Manövern, dass man sich genug Zeit nimmt und in den einzelnen
Positionen genügend lange verharrt. In der Regel sollten 2 Minuten
gewartet werden. In seltenen, ausgewählten Fällen ist es notwendig,
den BPLS operativ anzugehen (Okklusion des Bogenganges, selektive Neurektomie).
Klinisch wird der horizontale Bogengang mit dem so genannten
Pagnini-McClure’s-Test untersucht. Dabei liegt der Patient mit 30°
angehobenem Oberkörper auf der Untersuchungsliege. Der Kopf
wird nun rasch nach links und anschliessend nach rechts rotiert.
Diese raschen Kopfdrehungen müssen bei initial fehlenden Nystagmen mehrmals durchgeführt werden, da sie in einigen Fällen erst
nach mehreren raschen Kopfdrehungen nachweisbar sind.
Die Lagerungsprüfung muss mindestens dreimal wiederholt
werden, bevor sie als negativ gilt.
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FORTBILDUNG
ABB. 5
BPLS horizontaler Bogengang, geotrope Variante
A: Bei Kopfrotation nach rechts zeigt
sich ein geotroper Nystagmus nach
rechts.
ABB. 6
B: Bei Kopfrotation nach links wird ein geotroper Nystagmus nach links detektiert.
Erkrankt ist jene Seite, die stärker reagiert
Gufoni-Manöver für die rechte Seite
Hierbei wird der Patient aus sitzender Position auf die gesunde Seite gelegt, anschliessend erfolgt eine 45°Kopfrotation, so dass der
Patient zum Boden schaut . Alternativ kann das von Baloh und
Lempert entwickelte Barbecue-Manöver (8) (Abb. 7) angewendet
werden. Dabei wird der Patient in liegender Position 360° um die
eigene Achse gedreht. Gute Resultate werden auch mit der von Vannucchi beschriebenen Forced prolonged position (FPP) erzielt. Dabei muss der Patient während mehreren Stunden auf der gesunden
Seite liegen. In dieser Position können die Canalithen aufgrund der
Schwerkraft aus dem hinteren Schenkel des horizontalen Bogengangs ins Vestibulum fallen.
Dr. med. Marcel Gärtner
Facharzt FMH für HNO-Krankheiten
Haldenstrasse 11, 6006 Luzern
[email protected]
Literatur:
1. Schuknecht HF, Ruby RR. Cupulolithiasis. Adv Otorhinolaryngol. 1973; 20: 434–43
2. Parnes LS, Agrawal SK, Atlas J. Diagnosis and management of benign paroxysmal
positional vertigo (BPPV). CMAJ. 2003;169: 681-93
nach Casani A.P. 2011
3. Lim DJ. Otoconia in health and disease. Ann Otol Rhinol Laryngol Suppl.
1984;112:17-24
4. Epley JM. The canalith repositioning procedure: for treatment of benign paroxysmal positional vertigo. Otolaryngol Head Neck Surg. 1992;107: 399-404
5. Semont A, Freyss G, Vitte E. Curing the BPPV with a liberatory maneuver. Adv
Otorhinolaryngol. 1988; 42: 290-3
6. Fife TD. Recognition and management of horizontal canal benign positional vertigo. Am J Otol. 1998;19: 345-51
7. Appiani GC, Catania G, Gagliardi M. A liberatory maneuver for the treatment of
horizontal canal paroxysmal positional vertigo. Otol Neurotol. 2001; 22: 66-9
ABB. 7
Barbecue-Manöver für die rechte Seite
8. Tirelli G, Russolo M. 360-Degree canalith repositioning procedure for the horizontal canal. Otolaryngol Head Neck Surg. 2004;131: 740-6
Take-Home Message
nach Roseli B. 2011
◆Beim BPLS handelt es sich um die häufigste Erkrankung des peripher
vestibulären Systems. Die Patienten leiden unter Sekunden dauernden Drehschwindelattacken, welche bei typischen Bewegungen wie
Abliegen, Drehen im Bett, Kopfre- und inklination auftreten. Die Diagnose wird klinisch mittels Lagerungsprüfung gestellt. Therapiert wird
der BPLS mit sog. Canalitherepositionsmanövern
Beim BPLS des horizontalen Bogenganges (hBPLS) existieren 2
Varianten. Mit ca. 80% tritt die geotrope Form deutlich häufiger auf
als die ageotrope Form. Auf diese sehr komplexe Variante wird hier
nicht eingegangen.
In der Lagerungsprüfung nach Pagnini-McClure zeigen sich
mit kurzer Latenz von wenigen Sekunden geotrope Nystagmen bei
Kopf­rotation nach beiden Seiten (Abb. 5). Bei Rotation zur erkrankten Seite ist die Intensität des Nystagmus und Schwindels stärker. Es
zeigt sich ein Crescendo-Decrescendo-Charakter. Die geotrope Variante kann mit verschiedenen Manövern behandelt werden. Am
einfachsten durch zuführen ist das Gufoni-Manöver (6, 7) (Abb. 6).
_ 2013 _ der informierte arzt
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