Notfallmedizin in der Zahnarztpraxis

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Notfallmedizin in der Zahnarztpraxis
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BZB April 14
Wissenschaft und Fortbildung
Notfallmedizin in der Zahnarztpraxis
Tag der Akademie in München
E i n K u r s b e r i c h t v o n D r. S e n k a G r ü n w a l d , M ü n c h e n
Der medizinische Notfall kann sich immer, überall
und völlig unvorhergesehen ereignen. Er tritt auch
vor, während oder nach komplikationslos verlaufenden zahnärztlichen Eingriffen auf. Der Notfall stellt
für den Zahnarzt und das gesamte Team eine besondere Herausforderung dar und erfordert sofortiges und zielgerichtetes Eingreifen. Die richtigen
Maßnahmen sind gerade in den ersten Minuten
eines Notfalls entscheidend für den Gesamtverlauf.
Fundierte Fachkenntnisse, die entsprechende organisatorische Vorbereitung im Team sowie eine adäquate Minimalausstattung an Geräten und Medikamenten sind Pflicht, um durch grundlegende Maßnahmen eine Notfallsituation entschärfen oder zumindest solange überbrücken zu können, bis professionelle Hilfe eintrifft, was selbst in rettungsdienstlich gut versorgten Gebieten sieben bis acht
Minuten dauern kann. Wie man Extremsituationen
frühzeitig erkennen kann, bei solchen den Überblick bewahrt und die richtigen Maßnahmen ergreift, veranschaulichten am Tag der Akademie
der eazf in München der Internist, Sport- und Ernährungsmediziner Dr. Marc Hünten und der Notfallmediziner Dr. Alexander Dorsch. In rechtlich
relevanten Aspekten wurden sie durch den Juristen
Prof. Dr. Dr. Klaus Ulsenheimer unterstützt.
„Die Verhinderung des Notfalls ist immer die wichtigste Maßnahme“, so Dr. Dorsch. Die Erhebung
einer ausführlichen und strukturierten Anamnese
stellt die effektivste Maßnahme zur Erkennung
von Risikofaktoren dar. Die Patienten werden immer älter und leiden häufig unter chronischen Erkrankungen wie etwa Herzinsuffizienz, Bluthochdruck, Rheuma oder Diabetes. Die vermehrt älteren und zum Teil multimorbiden Patienten mit
komplexen Krankheitsbildern und einer langen
Liste an regelmäßig eingenommenen Medikamenten unterziehen sich gleichzeitig zunehmend länger werdenden und komplizierteren Zahnbehandlungen. Und weil „an jedem zu behandelnden Zahn
auch ein ganzer Mensch hängt“, gilt es durch die
gezielte und regelmäßig aktualisierte Anamnese
Risikopatienten zu enttarnen, um aus der Art und
Schwere der Vorerkrankung Konsequenzen für die
Der Tag der Akademie fokussierte in diesem Jahr das Thema „Notfallmedizin in der Zahnarztpraxis”.
Zahnbehandlung ziehen zu können. Mögliche konkurrierende Vorerkrankungen sind:
· Kopf – Apoplexie, Epilepsie, psychiatrische Erkrankungen
· Hals – Erkrankung des Kehlkopfes oder der Schilddrüse, Zustand nach Tracheotomie, akute Infekte
· Thorax – Hypertonie, koronale Herzerkrankungen,
chronisch obstruktive Lungenerkrankung, Asthma,
idiopathische Lungenfibrose
· Abdomen – akute Infekte, chronische entzündliche
Darmerkrankungen, Zustand nach operativem
Eingriff
· Wirbelsäule – HWS- beziehungsweise BWS- oder
LWS-Bandscheibenprolaps, Osteoporose
· Untere Extremitäten – tiefe Venenthrombosen,
periphere arterielle Verschlusskrankheiten
· Systemische Vorerkrankungen – Rheuma, genetische Besonderheiten, Hämophilie, Thrombophilie,
Erkrankung der Leber
Diese Krankheitsbilder müssen dem Zahnarzt ebenso geläufig sein wie die für ihre Behandlung relevanten Medikamente, wie etwa blutverdünnende
Präparate, Antibiotika, Schmerzmittel oder Medikamente zur Behandlung des Diabetes. Ebenso müssen Unverträglichkeiten des Patienten zum Beispiel
auf Penizilline, Makrolide, Na-Kanalblocker wie
zahnärztliche Lokalanästhetika, nichtsteroidale
Antirheumatika oder Opioide bekannt sein.
Der Zahnarzt wird zudem ständig mit neuen Medikamenten zur Gerinnungshemmung, neuen Antibiotika, onkologischen Therapien, Schmerzmitteln
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und Herz-Kreislauf-Präparaten konfrontiert. Ein
Absetzen der Medikamente könnte den Patienten
gefährden, eine Fortführung eventuell die Behandlung. „Wechselwirkungen sind vielfältig und unsere Tätigkeitsfelder begegnen sich viel häufiger
als Sie denken“, erklärte Dr. Hünten. Zahnmedizinische Erkrankungen wirken sich auf internistische Krankheitsbilder aus und umgekehrt. Vom
Zahnarzt wird heutzutage zudem auch die wichtige Rolle der Früherkennung abverlangt, denn
„wer könnte den Hautkrebs, die am meisten zunehmende Tumorart, besser erkennen als der Zahnarzt
unter dem Neonlicht“, so Dr. Hünten weiter.
Schutz des Patienten als oberste Priorität
Dass von Zahnärzten inzwischen qualifizierte medizinische Ersthilfe weit über Laienhilfsmaßnahmen hinaus verlangt wird, verdeutlichte Prof. Dr.
Dr. Ulsenheimer. Obwohl Zahnärzte im Vergleich
zu anderen Humanmedizinern juristisch gesehen
„auf einer Insel der Glückseeligen leben“, ist eine
Haftpflichtversicherung enorm wichtig. Dies wird
schon daran ersichtlich, dass von über hundert
Versicherungen nur noch sieben bereit sind, Ärzte
zu versichern. Jeder zahnärztliche Eingriff kann vor
Gericht als Körperverletzung ausgelegt werden. Deswegen ist vor allem eine mündliche, rechtzeitige,
lückenlose und verständliche Aufklärung (schriftlich festhalten und Kopien an den Patienten ausgeben), die vom Arzt persönlich durchgeführt werden muss, besonders wichtig. Die Aufklärung muss
auch über alternative Behandlungen informieren.
Eine fehlende Aufklärung darüber ist laut Ulsenheimer der häufigste Gegenstand bei Streitfällen
vor Gericht.
Um einem Rechtsstreit zu entgehen, darf dem Zahnarzt in Notfallsituationen nicht die Hilfeleistungsund Sorgfaltsverletzungspflicht ausgelegt werden.
Die Notfallsituation muss aber vom Zahnarzt erkannt und erforderliche Maßnahmen müssen beherrscht werden (Fortbildungspflicht). Eine dem
aktuellen Stand entsprechende Notfallausrüstung
muss in der Praxis vorhanden sein.
Welche Art von Notfällen können einen Zahnarzt in
seiner Praxis überraschen? Nach Sönke Müller, dem
Autor des Buches „Notfallmanagement in der Zahnarztpraxis“, wird statistisch gesehen in unserem
Berufsleben siebenmal einer unserer Patienten in
irgendeiner Form das Lokalanästhetikum nicht
vertragen, eineinhalbmal wird ein Patient einen
epileptischen Grand-Mal-Anfall und einmal einen
Angina pectoris-Anfall erleiden. Eine Anaphylaxie
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auf das Lokalanästhetikum wird nur jeder sechzigste Zahnarzt in seiner Praxis erleben müssen,
eine Reanimation oder einen akuten Herzinfarkt
jeder dreizehnte, dafür einen Asthma-Anfall jeder
dritte und eine Hypoglykämie schon jeder zweite
Kollege. Das sind gute Gründe, um auf derartige
Zwischenfälle vorbereitet zu sein.
Das rasche Legen eines venösen Zugangs und die
Intubation des Patienten beherrschen die wenigsten Kollegen. Das wird auch nicht erwartet, der
Zahnarzt sollte aber in der Lage sein, die zur Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen (Atmung und
Kreislauf) erforderlichen Maßnahmen unverzüglich zu ergreifen, um die Zeit bis zum Eintreffen
des Notarztes überbrücken zu können. Kein Kollege sollte sich scheuen, den Notarzt ohne Zögern
anzufordern, denn „es ist immer noch besser, der
Notarztwagen steht vor Ihrer Praxis, als der Leichenwagen“, führte Dr. Dorsch weiter aus. Zu den
wichtigsten Basismaßnahmen gehören:
· Das Überprüfen der Vitalfunktionen (Bewusstsein,
Atmung, Puls und Pupillen)
· Die symptomabhängige Lagerung des Patienten
(aufrechtes Sitzen bei Atemnot, Thoraxschmerz
und Vena cava-Syndrom, Rückenlage auf fester
Unterlage bei Atem- und Kreislaufstillstand, Seitenlage bei Bewusstlosigkeit und Schocklage bei
Kreislaufschwäche)
· Das Freihalten der Atemwege (Überstrecken des
Kopfes, Esmarch-Griff)
· Gegebenenfalls das Freimachen der Atemwege
(Ausräumen von Mund- und Rachenraum und
Fremdkörperentfernung mit Absaugpumpe, Laryngoskop und Magillzange).
Bei einem Patienten mit suffizienter, aber schwerer
Spontanatmung sollte unterstützend eine Sauerstoffinhalation über Nasenbrille oder Maske und
Reservoir erfolgen. Aber nur mit Reservoir oder
Oxidemand-Ventil ist eine relevante Sauerstoffkonzentration zu erreichen. Beim insuffizient spontan atmenden Patient sollte hingegen eine Maskenatmung durchgeführt werden (überstreckte
Kopfhaltung des Patienten und Fixierung durch
den C-Griff, kniende Position des Behandlers hinter dem Patienten mit gleichzeitiger visueller Kontrolle der Thoraxexkursion). Eine langsame Insufflationszeit von etwa einer Sekunde („Warum gerade ich …“) und ein adäquates Beatmungsvolumen von circa 500 ml sollen eine versehentliche
Magenüberblähung, Regurgitation oder Aspiration verhindern.
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Als entscheidende Basismaßnahme bei einem HerzKreislauf-Stillstand wird die Herzdruckmassage
angesehen. Die Basisreanimation (Herzdruckmassage/Beatmung) hat höchste Priorität. Sie sollte
ohne Zeitverzug und kontinuierlich bei jedem bewusstlosen und nicht atmenden Erwachsenen 30/2
betragen, bei Neugeborenen 3/1 sowie bei Säuglingen und Kindern bis circa 12 bis 14 Jahre 15/2.
Bei sofortiger Verfügbarkeit eines Defibrillators
sollte dieser laut Dr. Dorsch noch vor Beginn der
Basisreanimation eingesetzt werden. Die Defibrillation ist die am häufigsten auftretende Reanimationsform und eine überlegene Maßnahme bei
Kammerflimmern und pulslosen beziehungsweise
tachycarden Herzrhythmusstörungen.
Die Anaphylaxie, der Super-GAU einer allergischen
Reaktion auf ein Lokalanästhetikum oder auf ein
vom Zahnarzt verabreichtes Antibiotikum, ist laut
Dr. Dorsch die einzige Situation, in der ein Zahnarzt einen venösen Zugang legen sollte, zumindest
sollte er es versuchen. Da der Schweregrad bei Beginn der Symptome nie abschätzbar ist, muss immer eine Vitalgefährdung unterstellt werden. Nur
durch sofortige Notarztalarmierung und konsequentes Handeln kann eine Vollausprägung verhindert werden. Die korrekte inhalative, intramus-
kuläre oder intravenöse/intraossäre Gabe von Adrenalin, die Volumensubstitution mit Infusionslösungen und die Gabe von Antihistaminika und Corticosteroiden bei Anaphylaxie sowie zahlreiche andere Maßnahmen und praktische Tipps können
anschaulich auf Dr. Dorschs Internetseite nachgelesen werden (www.trainmed.info, Benutzername:
qm2014, Kennwort: notfallmed).
Fazit
Notfälle in der zahnärztlichen Praxis sind zum
Glück selten. Sie stellen aber für das gesamte Praxisteam wegen des Mangels an Erfahrung und
Routine eine enorme Stresssituation dar. Die entsprechende organisatorische Vorbereitung und die
definierte Aufgabenverteilung im Team sowie eine
adäquate und allen vertraute Minimalausstattung
an Geräten und Medikamenten sind ebenso obligat wie notfallmedizinisches Basiswissen, das einmal erworben, stetig wiederholt und vor allem praktisch mit dem gesamten Praxisteam geübt werden
muss. Gelegenheit dazu bot der diesjährige Tag der
Akademie mit seinen drei kompetenten und sympathischen Referenten. Die Möglichkeit, das Praktische zu vertiefen und zu üben, offeriert die eazf
in weiteren notfallmedizinischen Kursen.
Der Angst die Zähne zeigen – Kampagne des VFwZ
Katharina ist Anfang 30, Mutter zweier Kinder, eine hüb-
Dr. Anton Euba, zweiter Vorsitzender des VFwZ. Der Ver-
sche, gepflegte Frau. Aber wenn sie lächelt, zeigt sie nie
ein widmet seine Sommerfortbildung am 18. und 19. Juli
ihre Zähne. Katharina hat ein Geheimnis, von dem nicht
2014 in Kloster Seeon unter dem Motto „Der ,besondere
einmal ihr Mann etwas weiß: Seit ihrer frühen Jugend war
Patient’ – Therapiekonzepte und -methoden zur Behand-
sie nicht mehr beim Zahnarzt. Katharina hat Zahnarzt-
lung von Patienten, die besonderer Aufmerksamkeit be-
angst – und ist mit ihrem Problem nicht alleine. Schätzun-
dürfen“ daher genau diesem Thema. „Damit diese Patien-
gen zufolge gehen bis zu 15 Prozent der Bevölkerung aus
ten wieder Vertrauen in unseren Berufsstand fassen kön-
Angst oft viele Jahre und Jahrzehnte nicht zum Zahnarzt.
nen, ist es wichtig, dass wir uns offen und konstruktiv mit
Viele von ihnen leben mit Schmerzen, optischen Beein-
der Problematik auseinandersetzen. Wir wollen den vielen
trächtigungen und mit großer Scham. Die Angst vor dem
Angstpatienten zeigen, dass sie beim Zahnarzt ihres Ver-
Zahnarzt ist meist mit einem traumatisch empfundenen
trauens sowohl eine schmerzfreie Behandlung als auch
Zahnarztbesuch, oft in der Kindheit, begründet. Mit jedem
Verständnis für ihre Situation erhalten“, erklärt Euba.
Jahr der Zahnarztabstinenz steigert sich die Angst.
Begleitend zum Thema erscheinen Flyer, die einerseits den
Der Verein zur Förderung der wissenschaftlichen Zahnheil-
betroffenen Patienten Mut machen wollen, und auf der
kunde in Bayern e.V. (VFwZ) will dieses Thema in den kom-
anderen Seite dem Praxispersonal im Umgang mit diesen
menden Monaten verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit
Menschen Hilfestellung bieten. Das „Prinzip ANGSTFREI“
und der Praxisteams rücken. „Wir wollen mit unserer Kam-
wurde von Angstpatienten mitentwickelt und lädt dazu
pagne nicht nur den Angstpatienten Mut machen, wieder
ein, durch kleine Schritte den Weg aus der Angst selbst
zum Zahnarzt zu gehen, wir wollen auch die Zahnärzte
zu gehen. Weitere Informationen unter www.vfwz.de
und das Praxispersonal für das Thema sensibilisieren“, sagt
Redaktion/Quelle: VFwZ