staaten im Zeitalter der Globalisierung

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staaten im Zeitalter der Globalisierung
Neue Folge 27
Frankfurter
MontagsVorlesungen
Politische Streitfragen
in zeitgeschichtlicher Perspektive
Die wundersame Vermehrung der Nationalstaaten im Zeitalter der Globalisierung
(Teil 1 einer dreiteiligen Serie über Nationalstaatsbildung und Nationalismus)
Egbert Jahn
28. April 2014
Adresse des Autors:
Prof. em. Dr. Egbert Jahn
Goethe-Universität Frankfurt am Main
Fachbereich 03 Gesellschaftswissenschaften
Institut für Politikwissenschaft
Grüneburgplatz 1
D-60323 Frankfurt
Tel.: +49-69-798 36653 (Sekretariat)
E-mail-Adresse: [email protected]
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Zusammenfassung
Weithin herrscht heute die Auffassung, daß der Nationalstaat im Zeitalter der Europäisierung
und Globalisierung unzeitgemäß geworden sei. Dennoch sind noch kurz vor Ende des 20.
Jahrhunderts in Europa mehr Staaten mit nationaler Begründung entstanden als je zuvor in
einem kurzen Zeitabschnitt der Geschichte. Seit der Vereinigung zahlreicher kleiner Staaten
in der Schweiz, Italien und Deutschland und dem Berliner Kongreß 1878 ist die Zahl der
Staaten in Europa und in der Welt ständig gestiegen, von 1900 bis heute in Europa von 22
Staaten auf 50 und weltweit von 50 auf 195 Staaten. Im 20. Jahrhundert entstand alle neun
Monate ein neuer Staat. Auch im 21. Jahrhundert dauert das Verlangen nach einem eigenen
Nationalstaat an und setzt sich die Staatenvermehrung fort, wenn auch verlangsamt.
Das Phänomen der Staatenvermehrung läßt sich nur erklären, wenn man die Begriffe Nation
und Staat unterscheidet und damit die Unterschiede zwischen Nationalstaat und nichtnationalem Staat sowie zwischen staatlicher Nation und staatsloser Nation wahrnimmt. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hat sich der Nationalismus, d. h. der Nationalstaatsgedanke, schrittweise weltweit ausgebreitet. Er beruht auf der Legitimation des modernen Staates durch die
Volkssouveränität, die historisch die Fürstensouveränität abgelöst und damit auch die von den
Fürsten geschaffene Staatenordnung in Frage gestellt hat. Der Wille der Bürger, die sich zu
einer Nation assoziiert haben, hat das Gottesgnadentum in der Herrschaftslegitimation ersetzt.
Damit wurde der Nationalstaat der einzig legitime Staat in der modernen Gesellschaft.
Seit der Amerikanischen Revolution konstituierten sich zahlreiche Nationen innerhalb von
Imperien und errangen ihren eigenen Staat. Ursprünglich war der Nationalismus liberal, demokratisch und republikanisch. Jedoch entstanden schon seit Napoleon auch Formen des bloß
demotisch-autokratischen, vom Volk getragenen Nationalismus, der durch Haß, Gewalt,
Kriegsneigung, Intoleranz und nationale Überheblichkeit gekennzeichnet ist. Der demokratische Nationalismus spielt aber bis heute eine große Rolle bei der Entstehung neuer Staaten.
In der gängigen Nationalismus-Literatur werden zwei Nationsbegriffe gegenübergestellt, ein
staatsrechtlicher (etatistischer) und ein sprachlich-kulturell-ethnischer (ethnizistischer). In
beiden Fällen wird die Zugehörigkeit zu einer Nation objektivierend fremdbestimmt, entweder durch die meist von Geburt an festgelegte Staatsangehörigkeit oder durch die Muttersprache bzw. die ethnische Herkunft. Ein politischer (voluntaristischer) Begriff der Willensnation
versteht unter Nation eine Gruppe von Menschen, die einen gemeinsamen Staat will, sei es
einen bestehenden, einen wiederherzustellenden oder einen neu zu errichtenden.
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1
Das oftmals beschworene Ende des Nationalstaats
im Zeitalter der Globalisierung
In den letzten Jahrzehnten haben viele Autoren immer wieder den Anachronismus des Nationalstaats und sein historisches Ende beschworen.1 Manche sprechen gar vom postnationalen
Zeitalter oder von einer Denationalisierung.2 Die Internationalisierung und Globalisierung der
Gesellschaft mache den Nationalstaat unzeitgemäß. Dies gelte vor allem in Europa, wo eine
weltweit einzigartig intensive Form der kontinentalen bzw. großregionalen Integration vor
sich geht. Wieder andere erklärten den Nationalstaat gar zu einer fürchterlichen Fehlentwicklung der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts3 und trauerten dem Untergang der Vielvölkerreiche und selbst der Kolonialimperien angesichts der barbarischen Greuel nationaler
Unabhängigkeits- und Verteilungskriege nach.
Zentrales Argument für die These vom Anachronismus des Nationalstaats ist die Globalisierung der ökonomischen, gesellschaftlichen und teilweise auch der politischen Beziehungen,
allgemein ausgedrückt die wachsende internationale Kommunikation, Mobilität und Interdependenz. Die rasante Entwicklung der globalen Vernetzung von Informationen und Finanztransaktionen, des Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehrs und der transnationalen
Migration ist unbestreitbar, auch wenn oftmals übersehen wird, daß die Globalisierung4
höchst asymmetrisch erfolgt und noch immer große Teile der Menschheit nicht oder nur sehr
indirekt von der Globalisierung betroffen werden, z. B. durch den industriell bewirkten Klimawandel oder durch Pandemien.
Die These vom unzeitgemäßen Charakter des Nationalstaats hat vor allem in Europa viele
Anhänger, weit weniger in den USA, in China oder anderen Ländern außerhalb Europas. In
Europa wird die Integration des Kontinents vielfach als Überwindung des Nationalstaats interpretiert und gefeiert. Erhebliche Teile der Gesellschaft fordern ihre weitere Vertiefung.
Allerdings ist die Bereitschaft zur historischen Verabschiedung des Nationalstaats höchst unterschiedlich stark ausgeprägt; in Polen und Großbritannien beispielsweise weit weniger als in
Deutschland und Italien. Aber selbst wenn man es für denkbar hält, daß die Vertiefung der
europäischen Integration in den kommenden Jahrzehnten in zahlreichen weiteren Schritten
wie bisher seit den 1950er Jahren fortgesetzt und eines Tages ein europäischer Bundesstaat
aus allen oder zumindest mehreren europäischen Staaten gebildet wird, so wären die Vereinigten Staaten Europas nichts anderes als ein größerer Nationalstaat.
Die Auffassung, daß die Vereinigung Europas die Nationalstaaten überwinden werde, hat mit
einem uneingestandenen sprachlich-ethnischen Verständnis von Nationalstaat zu tun, das dem
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vorherrschenden Sprachgebrauch der Vereinten Nationen widerspricht, nach dem jeder souveräne, unabhängige und international anerkannte Staat, unabhängig von seiner Verfassungsordnung, von seiner territorialen und Bevölkerungsgröße, von dem politischen Willen und
von der ethnisch-sprachlichen Zusammensetzung seiner Bürger als Nationalstaat gilt. Die
Staaten haben Nationalflaggen, Nationalhymnen und entsenden Nationalmannschaften zu
Sportwettkämpfen. Die zwischenstaatlichen nennt man internationale Beziehungen, die
Staatsangehörigkeit Nationalität. Dementsprechend ist Indien mit seinen 28 Gliedstaaten und
24 Amtssprachen nichts anderes als ein Nationalstaat, nicht ein supranationales Staatsgebilde.
Bei der Integration Europas geht es nach dem VN-Sprachgebrauch lediglich um die Ablösung
vieler kleinerer Nationalstaaten durch einen großen Nationalstaat.
Die Vorstellung von der unaufhaltsamen, wenn auch langwierigen Integration Europas und
der Welt bedarf der Korrektur durch einen Blick auf die gleichzeitig mit der Globalisierung
und Europäisierung einhergehenden, ja sogar durch sie geförderten Desintegrationstendenzen.
Denn trotz und zum Teil auch wegen der starken Europäisierungs- und Globalisierungsprozesse hält das Bestreben nach einem eigenen Staat in vielen Teilen der Welt an. In Europa
sind sogar am Ende des 20. Jahrhunderts, in den Jahren 1991-1993, 17 unabhängige, national
begründete Staaten entstanden, mehr als je zuvor in einem engeren Zeitabschnitt der europäischen Geschichte, bald danach noch 2 weitere.5 Schauen wir zunächst auf die Empirie der
bislang unaufhaltsamen Staatenvermehrung seit zweihundert Jahren.6, erörtern dann das Verhältnis von Staat und Nation, was eine Klärung des Nationsbegriffs erfordert, und versuchen
dann das merkwürdige Bedürfnis nach Nationalstaatlichkeit zu erklären, um abschließend die
Zukunft des Nationalstaats in der europäischen und globalen Integration zu diskutieren.
2
Entwicklungstendenzen der Staatenvermehrung seit 1815
Die Turbulenzen der Französischen Revolution und die Eroberungspolitik des Kaiserreichs
Napoleons wälzten nicht nur die soziale und innenpolitische, sondern auch die Staatenordnung Europas rasch mehrmals um und um. Über 260 deutsche Kleinststaaten und Herrschaftsgebilde, ebenso wie das sie und die übrigbleibenden deutschen Staaten nur noch kraftlos überwölbende Heilige Römische Reich, ein seit tausend Jahren bestehendes Reich, das
lange beanspruchte, die ganze Christenheit und Welt in einer Friedensordnung zu vereinigen,
wurden von der Landkarte getilgt. Auf dem Wiener Kongreß 1815 wurde eine neue imperiale
Staatenordnung geschaffen, die in ihren Grundzügen bis 1914 stabil blieb, aber zunehmend
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durch nationale Bewegungen und die Gründung von Nationalstaaten transformiert wurde. Im
Jahre 1815 gab es in Europa zehn Staaten, die bis heute in mehr oder weniger drastisch reduziertem räumlichem Umfang existieren, und drei pränationale Staatenkomplexe mit 71 Staaten. Aus diesen gingen von 1848 bis 1871 die drei Nationalstaaten Schweiz, Italien und
Deutschland hervor, außerdem Österreich, Luxemburg und Liechtenstein. Von den anderen
68 pränationalen Staaten wurden 47 Bundesgliedstaaten, die übrigen 21 schwanden gänzlich. 7
Insofern wirkte der Nationalismus in der Frühzeit der Nationalstaatsbildung vorwiegend staatenintegrierend. Lediglich zwei Nationalstaaten entstanden durch Sezession neu: Griechenland 1830 und Belgien 1831 mit Unterstützung interessierter Imperialmächte. Sie sorgten
dann auch dafür, daß nationaler Sezessionismus vor dem Ende des Jahrhunderts drei weitere
Staaten hervorbringen konnte: Serbien, Montenegro, Rumänien. Auf dem Berliner Kongreß
1878 wurde der Prozeß der Staatenvermehrung im Namen des nationalen Prinzips eingeleitet,
der sich 1917/18 beschleunigen sollte und bis zum heutigen Tage anhält.
Die Staaten Europas von 1815 bis 2013
am 1. Januar
1820
1830
1840
1850
1860
1870
1880
1890
1900
1910
1920
1930
1940
1950
1960
1970
1980
1990
2000
2010
Staaten8
13
13
15
15
15
19
22
22
22
24
36
33
29
32
32
34
34
34
48
50
Komplexstaaten9
71
68
69
43
42
25
Staaten gesamt
81
78
81
56
55
43
22
22
22
24
36
33
29
32
32
34
34
34
48
50
Zu- und Abgänge
im Jahrzehnt danach
-3
+3
+ 1 - 26
-1
+ 5 - 17
+ 4 - 25
+2
+ 13
+2
+7
-1
-5
-4
-4
+ 2
+ 15
+2
-1
Im Jahre 1900 gab es in Europa, das nur sieben Prozent der Landoberfläche der Erde ausmacht, 22 Staaten, also fast die Hälfte sämtlicher 50 Staaten auf der ganzen Erde. Im Verlaufe
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der folgenden hundert Jahre, also bis 2000, stiegen diese Zahlen auf 48 bzw. bzw. 192. Mit
anderen Worten: die Zahl der Staaten der Welt hat sich im 20. Jahrhundert fast vervierfacht,
in Europa mehr als verdoppelt. Auf diesem kleinen Kontinent gab es also zu Beginn des 21.
Jahrhunderts fast so viele Staaten wie hundert Jahre zuvor auf der ganzen Welt. (Dabei werden hier zu Europa auch Zypern, die Türkei und der Südkaukasus gezählt.) Durchschnittlich
alle neun Monate entstand im 20. Jahrhundert ein neuer Staat auf der Erde.
Allerdings vollzog sich die Genese neuer Staaten höchst unregelmäßig. Schaut man nur auf
die Staaten, die seit 1815 unabhängig blieben, so verdoppelte sich ihre Zahl bis 1914 lediglich
von 13 (einschließlich der drei Staatenkomplexe) auf 25. Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden dann innerhalb weniger Monate mit zwölf Staaten genauso viele Staaten wie im ganzen
Jahrhundert zuvor. In einer neoimperialen Phase von 1922 bis 1945 annektierten Sowjetrußland bzw. später die Sowjetunion und das Deutsche Reich dann allerdings 13 Staaten. Sie
wurden aber alle nach wenigen Jahren (1944/45) oder erst nach Jahrzehnten (1991/92) wieder
unabhängig. Hinzu kamen noch einige neue Staaten. Alle Nationalstaaten, die jemals in Europa entstanden, existieren auch heute noch, wenn auch manchmal mit veränderten Grenzen.
Der Blick auf die ganze Welt ergibt ein anderes Bild. Im Jahre 1775 schienen die wenigen
europäischen Kolonialmächte noch auf dem Wege zu sein, sämtliche Länder und Völker außerhalb Europas ihrer Herrschaft zu entwerfen. Aber noch im 19. Jahrhundert bestanden in
erheblichen Teilen der Erde vorstaatliche Herrschaftsformen, so daß eine Staatenstatistik nur
bedingt möglich wäre. Schon lange vor der vollständigen Aufteilung der Landoberfläche der
Erde (mit Ausnahme der Antarktis und des Inneren der arabischen Halbinsel) unter staatliche,
großenteils europäisch-koloniale Herrschaft gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann bereits
der Prozeß der Dekolonisation, zunächst in den europäischen Siedlerkolonien in Amerika.
Hier entstanden zunächst auf dem Kontinent (noch nicht auf den Inseln mit Ausnahme Haitis)
von 1783 bis zum Jahre 1900 zwanzig unabhängige Staaten, ausnahmslos Republiken, in denen vier europäische Sprachen Staatssprachen wurden: Englisch, Spanisch, Portugiesisch und
Französisch. In Afrika gab es 1900 zwei, in Asien und Ozeanien lediglich sieben Staaten.10
Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden vor allem in Europa viele (zwölf) neue Staaten. Ein
umfangreicher Staatenbildungsprozeß in Asien wurde erst durch den Zweiten Weltkrieg ausgelöst. In Afrika begann er massiv erst von 1960 an mit der Dekolonisation und Aufteilung
des britischen und des französischen, zuletzt auch des portugiesischen Kolonialreichs. Innerhalb eines Jahrzehnts entstanden 46 neue Staaten, im Jahrzehnt danach nochmals 25, darunter
nun auch viele Inselstaaten in der Karibik. Die Staatenbildung in den Jahren nach 1991 kon© 2014 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle
7
zentrierte sich wiederum stark auf Europa, wo allerdings von 17 neuen Staaten neun bzw.
elf11 bereits früher existiert hatten. Im 21. Jahrhundert hat sich der Prozeß der Staatenbildung
vorerst beträchtlich verlangsamt. Bis zum heutigen Tage entstanden drei weitere Staaten, die
sogleich in die VN aufgenommen wurden: Osttimor, Montenegro, Südsudan.
Die Staaten der Erde 1900 bis 201312
am 1. Januar
1900
1910
1920
1930
1940
1950
1960
1970
1980
1990
2000
2010
2013
Staaten
50
57
72
71
67
84
94
140
164
168
192
194
195
mit Zu- und Abgängen
im Jahrzehnt danach
+ 7
+ 16, – 1
+ 4, – 5
+ 1, – 5
+ 20, – 3
+ 11, – 1
+ 46
+ 25. – 1
+ 5, – 1
+ 25, – 1
+ 2
+ 1
Die heute noch zahlreichen nationalen Sezessionsbewegungen beanspruchen meist nur noch,
recht kleine Völker zu vertreten, aber immerhin auch noch einige größere Völker von bis zu
über zehn Millionen Menschen. Einige nationale Bewegungen werden recht wahrscheinlich
noch irgendwann in die Lage kommen, einen eigenen Staat zu bilden. Die internationale Politik eröffnet nur den Palästinensern und den Sahruis in der Westsahara zumindest vage Hoffnungen auf einen eigenen Staat. Ansonsten beharren die VN auf dem Prinzip der territorialen
Integrität der bestehenden, international anerkannten Staaten. Insofern sind die Erfolgsaussichten der nationalen Bewegungen der Kurden, der Kaschmiris, der Tibeter, um nur drei der
prominentesten Aspiranten auf einen eigenen Nationalstaat zu nennen, wohl noch auf sehr
lange Zeit hin recht gering. Ungewiß bleibt auch, ob die De-facto-Staaten wie die Republik
China, Somaliland, Nordzypern, Abchasien, Bergkarabach und Transnistrien eines Tages die
international anerkannte Unabhängigkeit erlangen werden wie voraussichtlich bald Kosovo,
oder ob sie eines Tages wieder in den Staat eingegliedert werden, zu dem sie nach internationaler Rechtsauffassung gehören. Die Liste der De-facto-Staaten, die infolge militärischer Eroberung untergingen, ist ziemlich lang. Tibet (1913-1951) ist ein Beispiel für einen langlebigen, Azawad (April 2012 bis Januar 2013) gehört zu den vielen kurzlebigen De-facto-Staaten.
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8
3
Die Epoche des Nationalismus, d. h. des Nationalstaatsgedankens
Die heute in der gängigen Literatur übliche Praxis, nur den unabhängigen, international anerkannten Staat als Nationalstaat zu bezeichnen, ist nicht überzeugend. Es hat nur Sinn von nationalen Staaten zu sprechen, wenn es auch nichtnationale Staaten gibt oder zumindest historisch gegeben hat. Auf die Schwierigkeit, einen Staat von einem vorstaatlichen Herrschaftsverband zu unterscheiden13 braucht hier nicht eingegangen zu werden. Auch die spezielle
Problematik international nicht anerkannter De-facto-Staaten wird hier nicht berücksichtigt.14
Mit nichtnationalen Staaten sind dabei nicht die Gliedstaaten von Bundesstaaten (wie die states in den USA, die Bundesländer in Deutschland oder die Kantone in der Schweiz) und auch
nicht die wenigen, international nicht anerkannten De-facto-Staaten gemeint, sondern unabhängige, souveräne und international anerkannte Staaten. Die Unterscheidung von Nationalstaaten und Nicht-Nationalstaaten ist nicht nur aus logischen Gründen geboten, sondern unerläßlich, um erklären zu können, weshalb es zu einer scheinbar unaufhaltsamen Vermehrung
der Staaten seit 1871 gekommen ist, die sich mit großer Wahrscheinlichkeit noch in den
kommenden Jahrzehnten fortsetzen wird, die aber auch eines Tages beendet werden kann.
Nicht-Nationalstaaten haben in der modernen Gesellschaft nur geringe Überlebenschancen. Je
mehr die Globalisierung, die wirtschaftliche Entwicklung und vor allem die Alphabetisierung
der Gesellschaft voranschreiten, desto stärker werden nationale Bewegungen, die auf einen
eigenen Nationalstaat dringen. Nationalstaaten sind eine verhältnismäßig junge historische
Erscheinung und erst entstanden, nachdem es Nicht-Nationalstaaten schon über Jahrhunderte
gegeben hatte. Im Völkerrecht, das eigentlich Staatenrecht heißen müßte, sind alle Staaten
rechtlich gleich, aber im Bewußtsein von immer mehr Menschen in der sich seit dem Ende
des 18. Jahrhunderts modernisierenden Gesellschaft sind nur noch die Nationalstaaten legitim.
Um die Vermehrung der Staaten erklären zu können, muß man also den Nationsbegriff vom
Begriff des Staatsvolkes (alle Staatsangehörigen) trennen. Systematisch und vereinfachend
betrachtet, gibt es damit Staatsvölker, die Nationen sind und andere, die es nicht sind, weil sie
nur Teil einer Nation sind oder aus mehreren Nationen bestehen. Umgekehrt gibt es Nationen,
die ein Staatsvolk sind, und andere, die es nicht sind, aber es werden wollen. Die Wirklichkeit
ist natürlich viel komplexer als das Schema unten suggeriert, insbesondere, weil es nicht immer klar ist, welche Staatsangehörigen zu einer Nation gehören, welche nicht, und vor allem,
weil es zahllose Abstufungen zwischen einer vollständigen Übereinstimmung von Staatsvolk
und Nation und einem Staatsvolk gibt, von dem nur ein kleiner Teil zur staatsbejahenden und
staatstragenden Nation und die anderen Teile zu staatslosen Nationen oder nationalen Grup© 2014 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle
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pen gehören. Während die Staatsangehörigkeit der meisten Menschen recht eindeutig geklärt
und unstrittig ist, ist die Nationszugehörigkeit oft sehr unbestimmt und strittig, weshalb ausführlicher auf den Begriff der Nation eingegangen werden muß.
Das Verhältnis von Staat und Nation
nationaler Staat
nichtnationaler Staat
staatliche Nation
staatslose Nation
Der vormoderne Staat war ein Fürstenstaat, ein monarchisch-adeliger Ständestaat, der sich auf
göttliche Legitimation berief, und in seltenen Fällen auch eine Patrizierrepublik. Er hat historisch wiederum vorstaatliche Herrschaftsverbände abgelöst, die es außerhalb Europas noch
teilweise bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gegeben hat. Beide beruhten auf der Herrschaft
einer gesellschaftlichen Minderheit. Nur wenigen Fürsten gelang es, ihre Herrschaft auf größere, protonationale Reiche oder gar auf riesige Imperien mit einer polyethnischen Bevölkerung auszudehnen. Einige Imperien erhielten sich und dehnten sich sogar noch weit bis ins 20.
Jahrhundert hinein aus. Die Geschichte des Imperialismus überlagert sich also mit der Nationalstaatsbildung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, die auf der Idee beruht, daß nur ein nationaler Staat legitim ist, also kein imperialer, auf Fremdherrschaft beruhender Staat.
Die politisch-geistige Kraft, die das vormoderne dynastische und imperiale Staatensystem
durch das moderne System der Nationalstaaten abgelöst hat, ist der Nationalismus, d. h. der
Nationalstaatsgedanke, die Idee, daß jede Nation ihren eigenen Staat haben solle. Das Wort
Nationalismus wurde 1774 durch Johann Gottfried Herder in die Welt gesetzt (Alter 1985:
12). Dort wo das Staatsvolk (die Gesamtheit aller Staatsangehörigen) mit einer Nation übereinstimmt, soll sich die Nation den bestehenden Staat durch seine soziale und politische
Transformation aneignen (Staatsaffirmation). Dort, wo eine Nation aus mehreren Staatsvölkern besteht, soll die Nation bestehende Staaten vereinigen. Und dort, wo eine Nation nur
einen Teil eines Staatsvolkes ausmacht, soll sie den bestehenden Staat teilen. Die Nichtübereinstimmung von Nation und Staatsvolk erzeugte die (nur sehr selten) staatenvereinigende
und die (überwiegend) staatensprengende Dynamik des Nationalstaatsgedankens.
3.1
Die ersten Nationalstaaten USA und Frankreich
Die Entstehung und der Untergang vieler kleiner Fürstenstaaten sowie der wenigen Imperien
sowie die Bildung der vielen Nationalstaaten haben selbstverständlich vielfältige, in jedem
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10
einzelnen Fall unterschiedliche Kombinationen eingehende innerstaatliche, ökonomische,
soziale, militärische, geistige und internationale Ursachen. Kriege waren dabei zweifellos ein
wesentlicher Katalysator der Staatenvermehrung wie zuvor des Wachstums der Imperien. Die
Geschichte des modernen Nationalismus15 und der Zertrümmerung der Imperien beginnt mit
der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika 1776 und mit der Bildung der beiden Nationalstaaten USA und Frankreich am 4. März 1789 und am 3. September
1791, als Verfassungen in Kraft traten, die die Souveränität des Volkes16 proklamierten.
Das Wort Nationalstaat entstand zwar erst viel später, im Deutschen wohl erst 1871;17 aber in
der Sache wurzelt der Nationalstaat in der Neubegründung und Legitimation des Staates
durch die Volkssouveränität. Vor 1789 identifizierten in Frankreich meist der Adel, manchmal auch der König allein, die Rechte und die Interessen der Nation mit den seinigen.18 Im
Januar 1789, wenige Wochen vor der Französischen Revolution stellte der Priester und politische Aufklärer Emmanuel Joseph Sieyès die Frage, was der Dritte Stand sei und beantwortete
sie u. a. mit „eine vollständige Nation“,19 das heißt eine Nation, die der beiden ersten Stände
Adel und Klerus nicht zur Reproduktion der Gesellschaft bedarf. Und auf die Frage, was eine
Nation sei, antwortete er: „Eine Gesellschaft, welche unter einem gemeinschaftlichen Gesetz
lebt und durch ein und dieselbe gesetzgebende Versammlung vertreten wird.“20
Die Ablösung der Fürstensouveränität durch die Volkssouveränität hieß, daß nunmehr das
Volk, der demos, die suprema potestas, die oberste Rechtsetzungs-, Rechtsprechungs- und
Regierungsgewalt durch seine Repräsentanten beanspruchte. Indem sich die Untertanen des
Fürsten zu Bürgern (citoyens) erhoben, die ihr politisches Schicksal selbst bestimmen wollten,
proklamierten sie sich als der Dritte Stand (tiers état) oder als das Volk (peuple)21 zur (Bürger-)Nation und beanspruchten die Herrschaft im Staat. Dementsprechend ersetzten sie die
Ständeversammlung durch eine Volksvertretung, die sie Nationalversammlung (assemblée
nationale) nannten. Nation ist also der politisch stärker besetzte Begriff als Volk. Deshalb
fand auch das Wort Nationalstaat größere Verbreitung als das Wort Volksstaat, bei dessen
Verwendung die soziale Bedeutung vorherrschend blieb. Lange gehörte zum sich selbst regierenden Staatsvolk (demos) nur ein kleiner Teil der Bevölkerung, jahrzehntelang nur Männer
und meist nur die Besitzbürger, aber nicht die Sklaven, in den USA nicht die Indianer und
auch nicht die Bevölkerung der Kolonien. Aber bis ins 20. Jahrhundert hinein dehnte sich der
demos in mehreren Etappen auf die große Mehrheit der mündigen Staatsangehörigen aus.
Der Gedanke der Selbstbestimmung des Volkes oder der Volkssouveränität22 mußte die Frage
aufwerfen, welche Menschen ein Volk bilden, das sich zur Nation erheben kann und soll.
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11
Denn mit der Beseitigung der Fürstensouveränität war nicht nur die innerstaatliche Ordnung
illegitim geworden sondern auch die zwischenstaatliche, die durch die Kriege, Heiraten, Erbschaften, Käufe, Tausch und Verträge der Fürsten geschaffen worden war. In Frankreich mit
einer sehr langen Staatstradition setzte sich die Auffassung durch, daß das Volk Frankreichs
den Staat des Königs übernehmen solle. So gesehen, beruhte der Übergang vom Fürsten- zum
Nationalstaat in Frankreich „lediglich“ auf einer sozialen und politischen Transformation des
Staates und seiner internen Reorganisation durch die Bildung von einheitlichen Verwaltungsgebieten (départements) statt der historischen Provinzen mit unterschiedlichem Rechtsstatus.
Eine Veränderung der Staatsgrenzen, eine Teilung des Staates oder seine Vereinigung mit
anderen Staaten war in diesem Nationsverständnis (zunächst) nicht vorgesehen.
Wenige Jahre zuvor zeichnete die Amerikanische Revolution einen anderen Weg als den der
nationalen Affirmation des bestehenden Staates vor, nämlich den des nationalen Separatismus. In der Unabhängigkeitsbewegung konstituierte sich der größte Teil der Bevölkerung in
13 britischen Kolonien zu 13 Völkern, die 1783 ihre eigenen unabhängigen Staaten errangen.
Die Herauslösung der 13 neuen Staaten und Völker aus dem britischen Imperium wurde vornehmlich mit verfassungspolitischen Motiven, aber auch mit regionalen Interessen begründet.23 Sechs Jahre später vereinigten sich die neuen Völker zum Volk der Vereinigten Staaten
von Amerika. Damit wurden die USA auch zum Vorreiter des staatenvereinigenden und bundesstaatlichen Nationalismus. Aus den meisten Neuengländern und Briten waren Amerikaner
geworden. Diejenigen Briten, die der britischen Krone gegenüber loyal bleiben wollten, flohen in den Norden, das spätere Kanada. Die Selbstbestimmung der Bürger der Kolonien führte also zur Selbstkonstitution von Völkern, wenn auch zunächst innerhalb von Grenzen, die
die Administrativen des Britischen Imperiums vorgegeben hatte. Sowohl die USamerikanische als auch die französische Nation gingen aber sogleich nach ihrer Selbstkonstitution zur Expansion über, teils mit missionarischem (anderen Menschen die Freiheit bringendem), teils mit schlicht imperialem (andere Menschen beherrschenden) Anspruch.
Die revolutionäre Idee der Nation war keineswegs, wie gern behauptet, eine rein politischstaatsrechtliche, sondern gründete in Frankreich auch auf dem Gedanken, daß die Bürger
überwiegend einen mit der französischen Hochsprache eng verwandten Dialekt sprechen oder
es zumindest sprechen sollten.24 Insofern hatte die Demokratie von vorneherein auch ethnokratische oder – genauer gesagt – phonokratische Züge. Nur eine Sprache konnte Nationalsprache sein, die französische. Cuius regio, eius lingua ist ein Grundprinzip des Nationalismus: Das Sprachvolk, das im Staate herrscht, bestimmt die Staatssprache. Die schon unter den
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12
Königen Frankreichs eingeleitete Homogenisierung der galloromanisch-fränkischen Mundarten in der französischen Hochsprache für die Staatsverwaltung wurde nun auf die gesamte
Bevölkerung ausgedehnt und bezog auch die Randbevölkerung mit Minderheitensprachen
(Bretonisch, Baskisch, Elsässisch), die wie die galloromanisch-fränkischen Mundarten gleichfalls als patois galten, in die sprachliche Französisierung Frankreichs ein. Die USamerikanische Nation verstand sich gleicherweise als anglophone und anglisierende Nation,
die zwar vergeblich um das französischsprachige Québec warb und es sich im revolutionären
Expansionskrieg einzuverleiben trachtete, aber gar nicht in Betracht zog, das spanisch- und
portugiesischsprachige Amerika in Vereinigte Staaten von ganz Amerika mit mehreren Nationalsprachen aufzunehmen.
Die Auswirkungen der Französischen Revolution blieben nicht auf Europa beschränkt. Die
französische Okkupation der iberischen Halbinsel und Erschütterung der Königsherrschaft
löste in den südamerikanischen Kolonien der beiden Reiche eine teils liberal-republikanische,
teils autokratische regionalnationale Revolution aus. Während aus der portugiesischen Kolonie ein einziger Staat hervorging, teilten sich die vier spanischen Vizekönigreiche im Verlaufe
von blutigen Kämpfen in 17 Republiken, deren Vereinigung zu einem gemeinsamen HispanoAmerika analog zu der des republikanischen Anglo-Amerika (USA) nicht gelang. Die nationalstaatliche Parzellierung Amerikas schritt also weitaus rascher als die Europas voran.
3.2
Vom demokratischen zum demotisch-autokratischen Nationalstaat
Demokratie und Nationalismus sind ursprünglich zwei Seiten derselben Medaille Volkssouveränität. Demokratie als Selbstregierung des Volkes ist eine Staatsform und ein universales
Herrschaftsprinzip, das nach heute bereits weit verbreiteter Ansicht dem Freiheitsbedürfnis
aller Menschen entspricht, nach Ansicht der ersten Demokraten jedoch nur der zivilisierten
Menschen, also nicht der Sklaven und der Wilden (Indianer) oder Barbaren. Bereits 1792
meinte Anacharsis Cloots, daß die ganze Menschheit der demos einer universalen Republik,
also das Weltvolk eines Weltstaates sein solle, fand allerdings als orateur du genre humain
keine große Anhängerschaft und mußte unter der Guillotine sterben. Aus immanenten demokratischen Überlegungen läßt sich nicht begründen, weshalb es mehrere demoi geben und vor
allem, wodurch sie sich unterscheiden sollen. Nur für Demokratien, in denen das Volk selbst
seine Entscheidungen auf Volksversammlungen trifft, forderte Jean-Jacques Rousseau möglichst kleine Republiken, etwa von der Größe Korsikas,25 keine Monsterstaaten von der Größe
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13
Frankreichs oder Polens. Für repräsentative Demokratien, in denen Volksvertreter über Gesetze und Regierungen entscheiden, gibt es keine theoretisch schlüssig begründbare Mindestoder Höchstgrößen. Empirisch besteht der demos Liechtensteins aus 24.000 und der Indiens
aus 1,2 Milliarden Bürgern. Die Prinzipien der Demokratie oder des von einigen Autoren beschworenen Verfassungspatriotismus, basierend auf der Gleichheit der Bürger und Menschen,
sind gleichgültig gegenüber den Grenzen eines demos und eines Staates. Man kann Staaten
und demoi beliebig zusammenfassen oder teilen, ohne daß an den demokratischen Verfassungsprinzipien irgend etwas zu ändern ist. Die meisten Menschen wollen jedoch nicht Angehörige eines beliebig zusammengesetzten demos in einem beliebigen Land sein, sondern eines
bestimmten Volkes, das in einem bestimmten Land lebt. Das ist in aller Regel das Volk und
das Land, in das man hineingeboren wird, kann aber auch ein anderes sein, in das man freiwillig oder gezwungen wechselt. Das Ideengebäude, das ein Volk von einem anderen scheidet,
sollte in der Französischen Revolution der Nationalismus liefern, d. h. der Nationalstaatsgedanke. Nationalismus liefert die Begründung dafür, wodurch sich ein Volk von einem anderen
Volk unterscheidet.
Die in der Französischen Revolution entstandene enge Verknüpfung von Nationalismus mit
Demokratie und Republik blieb nicht von Dauer. Letztere wichen rasch einer modernen diktatorischen Monarchie. Frankreich hörte aber nicht auf, Nationalstaat zu sein, als die Franzosen
in einem Plebiszit 1804 das „Volkskaisertum“26 Napoleons billigten und 1814 die Wiedereinführung der Monarchie der Bourbonen, später explizit mit einem „Bürgerkönig“, duldeten.
Volksgnadentum, nicht mehr Gottesgnadentum, war nunmehr die geistige Grundlage der
Herrschaftslegitimation und damit des autokratischen Nationalstaats. Moderne Autokratien
legitimieren sich nicht mehr durch Gottes Willen, sondern durch den Willen des Volkes, verkleiden sich deshalb auch gern als Demokratien.
Faktisch wurde aus dem demokratischen ein nur noch demotischer, d. h. vom Volk getragener
Nationalismus, der manchmal wie in Frankreich plebiszitär untermauert oder gar nur von einer Minderheit getragen wurde, die im Namen eines Volkes (Substitutionalismus) auftrat. Der
autokratische, später auch integral genannte Nationalismus genannt, gab den ursprünglichen
Bezug des demokratischen Nationalismus auf den Humanismus, die Freiheit des Bürgers und
des Individuums sowie die Einheit der gesamten Menschheit, also auf die fraternité, die Verbrüderung bzw. die Verschwisterung der Menschen und Nationen, auf. Dadurch ist die pejorative Besetzung des Wortes Nationalismus in vielen Sprachen und Ländern entstanden, die mit
ihm Überheblichkeit und Herrschsucht über andere Nationen, Gewaltkult und Kriegsneigung,
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Aggressivität und Intoleranz, Verachtung des Humanismus und Kosmopolitismus verknüpft.
Der Übergang vom demokratischen zum autokratischen Nationalstaat unter Napoleon stellte
nicht nur eine innerstaatliche, verfassungspolitische Veränderung dar, sondern war essentiell
mit einem radikalen Wandel des Verständnisses der internationalen Beziehungen verknüpft.
Ging es in der Frühzeit des revolutionären Krieges seit 1792 noch um die Stimulierung von
gleichgesinnten Revolutionen der Nachbarnationen und die Gründung von vornehmlich
selbstregierten, wenn auch von Frankreich kontrollierten Schwesterrepubliken, so wurde aus
der geschwisterlichen Vormundschaft der französischen Revolutionstruppen bald eine imperiale Fremdherrschaft über die benachbarten Völker in Spanien, Portugal, den österreichischen und den nördlichen Niederlanden sowie in vielen deutschen Staaten. Außerdem annektierte Frankreich vor allem Gebiet mit französischsprachiger Bevölkerung in seiner Nachbarschaft, aber auch deutsch- und italienischsprachiges. Nationalismus ging damit erstmals eine
enge Verbindung mit einem neuartigen, nunmehr nicht nur dynastischen, sondern nationalen
Imperialismus ein. Und als Reaktion darauf entwickelte sich in den unterworfenen Ländern
ein Nationalismus, der sich vornehmlich gegen die imperiale Fremdherrschaft einer anderen
Nation richtete, wobei auch hier mehr und mehr die ursprüngliche sozialrevolutionäre und
liberale verfassungspolitische Intention des Nationalstaatsgedankens in den Hintergrund trat.
Nationalismus wurde immer mehr zu einem geistigen und emotionalen Ideengebäude, durch
das sich eine Nation von einer anderen Nation im Kampf und im Krieg um einen eigenen
Staat abgrenzte. Aus der Erfahrung des Grauens und Leidens im Krieg und im Massenmord
entstanden die nationalen Selbstbilder des Heroismus, des Stolzes und der moralischen Überlegenheit und die mit Haß, Verachtung, Intoleranz und Herabwürdigung verknüpften nationalen Fremdbilder, die den heute weit verbreiteten pejorativen Nationalismusbegriff erzeugten.
Der liberale und demokratische Nationalismus, der oftmals auch Risorgimento-Nationalismus
genannt wird,27 ging seit Napoleons moderner Autokratie nicht völlig unter, sondern blieb bis
heute in ständiger Auseinandersetzung mit vielen Spielarten des autokratischen und despotischen, gleichwohl von einer Mehrheit des Volkes getragenen Nationalismus. Infolge von dessen Vorherrschaft seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ersetzten viele liberale Demokraten das Wort Nationalismus durch „normales“, „gesundes“ Nationalbewußtsein und Nationalgefühl oder durch einen nunmehr positiv besetzten Begriff des Patriotismus. Patriotismus
(Vaterlandsliebe) drückte ursprünglich die emotionale Bindung an einen Fürstenstaat mit einem Landesvater (pater) aus, und war im 19. Jahrhundert ein weitverbreiteter konservativer,
militärisch-bellizistischer Gegenbegriff zum demokratischen und liberalen Nationalismus, ehe
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er nach 1945 im Sprachgebrauch vieler Länder die ursprüngliche Bedeutung eines liberaldemokratischen, verfassungsstaatlichen Nationalbewußtseins angenommen hat. Patriotismus
und Nationalismus haben also ihre ursprünglichen Wertbesetzungen in der Alltagssprache
vieler Länder gewechselt. Aber beide sind Gegenstände der Nationalismusforschung, nicht
von zwei voneinander getrennten oder auch nur trennbaren Nationalismus- und Patriotismusforschungen, in der die eine nur den „bösen“ Nationalismus und die andere den „guten“ Patriotismus ins Auge fassen würde. Sie hat sich mit allen Schattierungen und Ambivalenzen
des Nationalstaatsgedankens, seinen barbarischen wie seinen humanen, freiheitlichen und
demokratischen Ausdrucksweisen auseinanderzusetzen.
Würde man dem ursprünglichen demokratischen Nationsbegriff der Bürgernation folgen,
dann hätte es spätestens seit 1804 jahrzehntelang bis zur dauerhaften Etablierung einer französischen Demokratie keine französische Nation mehr gegeben. Dann gab es z. B. unter
kommunistischer Parteidiktatur von 1944 bis 1989 wie schon zuvor unter preußischösterreichisch-russischer Herrschaft von 1795 bis 1918 auch keine polnische Nation. Und von
den heutigen Staaten könnten nur die Demokratien als Nationalstaaten gelten. Das waren
2012, folgt man der großzügigen Definition von Demokratie laut Freedom House als Wahldemokratie, 118 oder 61 Prozent aller Länder. Nimmt man dessen engere Definition von freien Staaten, so waren nur 90 Staaten, in denen 43 Prozent aller Menschen leben, Nationalstaaten im Sinne von demokratischen Bürgerstaaten. Fügt man die in der Definition dieses Instituts 58 teils freien Staaten, in denen 23 Prozent der Menschen leben, hinzu, kommt man auf
eine höhere Zahl von nationalen Staaten. Eindeutige Nicht-Nationalstaaten wären dann nur
die 47 als unfrei klassifizierten Staaten, in denen 34 Prozent der Menschen wohnen.28
3.3
Der lange Streit um den Nationsbegriff
Wäre die Nationsbildung nach dem Vorbild Frankreichs überall auf der Welt nur ein innerstaatlicher revolutionärer oder reformerischer Transformationsprozeß vom Staatsvolk zur Nation geblieben, so hätte sich das Staatensystem nicht geändert. Nordöstlich von Frankreich lag
das Heilige Römische Reich, das faktisch in über 300 unabhängige Staaten und Staatsgebilde
gegliedert war. Dort bildeten sich aber weder eine kohärente Reichsnation noch über 300 kleine Staatsnationen. Auch als die meisten dieser kleinen Staaten von 1803 bis 1815 in größere
Staaten einverleibt wurden, verblieben immer noch 37 Fürstenstaaten und vier Patrizierrepu-
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bliken, die Mitglieder des Deutschen Bundes wurden. Nur in manchen von ihnen entstand
ansatzweise ein eigenständiges Nationalbewußtsein.
Auch aus der Bevölkerung des französischen, britischen, spanischen, portugiesischen, niederländischen, österreichischen, russischen, osmanischen Imperiums entstanden keine Staatsnationen, die die Grenzen der Provinzen mit unterschiedlichem Rechtsstatus im imperialen
Staatsgebäude niederrissen und durch eine gemeinsame nationale, sei es zentrale oder föderative Staatsordnung ersetzten. Vielmehr bildete sich eine große Zahl von Partikular-Nationen,
die im Laufe der Zeit ihre eigenen Staaten schufen. Wenn nicht generell ein Volk bzw. eine
Nation durch die Unterwerfung unter ein gemeinsames Gesetz, d. h. eine staatliche Rechtsordnung, konstituiert war, so mußte es durch andere Faktoren bestimmt werden. Dies hat zu
einer schier endlos scheinenden politischen und wissenschaftlichen Debatte über das Wesen,
die Charakteristiken und die Definition eines Volkes und einer Nation geführt.
Heute werden gemeinhin zwei Nationsbegriffe als unvereinbar entgegengesetzt, die mit unterschiedlichen Attributsbezeichnungen wie subjektiv, objektiv, politisch, bürgerlich, zivil, kulturell, ethnisch, natürlich, primordial bezeichnet werden, von denen der eine politisch oftmals
positiv, der andere negativ bewertet wird. Der eine ist der staatsrechtliche oder etatistische
(„französische“ oder „westliche“), der andere der kulturelle oder ethnizistische („deutsche“
oder „östliche“) Nationsbegriff: „Staatsnation“ und „Kulturnation“ nach F. Meinecke.29
Staatsangehörigkeit wird jedem Menschen bei der Geburt zugeteilt, ist also noch eindeutiger
angeboren als die Muttersprache, die sich jeder Mensch erst einige Monate nach seiner Geburt
aneignet, ebenfalls nicht nach freier Wahl. Im Prinzip kann zwar jeder mit unterschiedlicher
Schwierigkeit seine Staatsangehörigkeit oder seine bevorzugte Sprache im Unterschied zu
seiner Abstammung und Verwandtschaft selbst wählen, aber die meisten Menschen sind dazu
entweder nicht in der Lage oder nicht willens. Beide Nationsbegriffe, der etatistische wie der
ethnizistische, nehmen eine objektivierende Fremdbestimmung der Nationszugehörigkeit vor.
Du gehörst zu dieser oder jener Nation, weil Du Angehöriger dieses oder jenen Staates bist
oder weil Du diese oder jene Sprache sprichst bzw. von dieser oder jener Abstammung30 bist.
Eine duale Begrifflichkeit (ein Wort für zwei unterschiedliche Begriffe) ist wissenschaftlich
unbefriedigend und widerspricht dem denkökonomischen Bedürfnis nach begrifflicher Eindeutigkeit. Staatsnation und Kulturnation haben nichts gemein außer den irreführenden Namen Nation. Deshalb sprechen viele Autoren lieber von Nation (für Staatsnation) einerseits
und Ethnie, Volk oder Nationalität (für Kulturnation) anderseits. Als Ausweg aus der dualen
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Begriffskonfrontation bietet sich ein für die Sozial- und Geschichtswissenschaften geeigneter
voluntaristischer Nationsbegriff an, der für alle Weltgegenden anwendbar ist.
Der ursprüngliche, revolutionäre Sinn des Nationsbegriffs lag in der Selbstbestimmung der
Bürger. Sie gehören zu einer Nation, weil sie in einem gemeinsamen Staat sich selbst durch
ihre Volksvertreter regieren wollen (Willensnation). Nach diesem politischen, subjektiven
oder voluntaristischen Nationsbegriff läßt sich als Nation eine Anzahl von Menschen, eine
Großgruppe verstehen, die einen eigenen, gemeinsamen Staat will, sei es einen schon bestehenden (z. B. Frankreich 1789), einen erstmals zu errichtenden (z. B. Belgien 1830) oder einen wiederherzustellenden (z. B. Polen 1918). Der politische Wille, in einem gemeinsamen
Staat leben zu wollen, kann gesellschaftlich und historisch ganz unterschiedlich motiviert und
verursacht sein und sich an ganz unterschiedlichen politischen, ökonomischen, militärischen,
kulturellen, geistigen Sachverhalten dogmatisch oder opportunistisch orientieren, so daß diese
Nation die Gemeinsamkeit der aktuell fortgeführten oder der wiederherzustellenden staatlichen Tradition, das Bedürfnis nach einer liberalen (USA, Schweiz) oder einer rätesozialistischen und parteikommunistischen Verfassung (Sowjetunion), eine andere die Religion (Pakistan) oder die gesellschaftlich und staatlich dominante Sprache und Sprachkultur in den Mittelpunkt der Nationsbildung stellt. Nationalismus als Nationalstaatsgedanke ist ursprünglich
untrennbar von Demokratie als Herrschaft des Volkes, sie sind Zwillingskinder der Volkssouveränität und keineswegs unvereinbare Gegensätze, wie es der geläufige politische Sprachgebrauch behauptet. Empirisch betrachtet ist aber Volkeswille, der Wille des demos oder der
demotische Wille, nicht notwendig demokratischer Wille. Er kann durch und durch autokratisch sein und nach einem Volkstribunen und einem Diktator rufen, die Freiheit und das Menschenrecht des Individuums und demokratische Verfahren der durch das Recht eingeschränkten Machtausübung verachten. Es macht wenig Sinn, von einer französischen Nation nur zu
sprechen, solange die Franzosen der Führung von La Fayette, Mirabeau, Danton folgten, aber
nicht mehr, als sie der Herrschaft von Robespierre, Napoleon, Louis Philippe zustimmten oder
sie duldeten. Insofern ist ein demokratischer Nationsbegriff für die sozial- und geschichtswissenschaftliche Analyse unbrauchbar eng.
Somit läßt sich Nationalismus als die Idee begreifen, daß die Menschen, die zusammen in
einem Staat, gleichgültig mit welcher Verfassung, leben wollen, eine Nation bilden, sowie das
Bestreben, diese Idee in die Wirklichkeit umzusetzen. Insofern ist es richtig, wenn in der modernen Nationalismusforschung gesagt wird, daß ein Nationalismus eine Nation hervorbringt,
nicht umgekehrt eine Nation einen Nationalismus.
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Anmerkungen:
1
Albrow, David 1998: Abschied vom Nationalstaat. Staat und Gesellschaft im Globalen Zeitalter, Frankfurt;
Rosecrance, Richard 2001: Das globale Dorf. New Economy und das Ende des Nationalstaats, Darmstadt.
2
Zürn, Michael: Regieren jenseits des Nationalstaates. Globalisierung und Denationalisierung als Chance,
Frankfurt 1998. Zürn spricht allerdings nicht vom Ende des Nationalstaats (S. 12), sondern nur vom ökonomischen und gesellschaftlichen Regieren und ist blind für dessen sprachliche und ethnisch-kulturelle Dimensionen.
Der Ausdruck „Denationalisierung“ ist unpassend für die von ihm dargelegten Sachverhalte und Prozesse.
3
Glotz, Peter 1990: Der Irrweg des Nationalstaats. Europäische Reden für ein deutsches Publikum, Stuttgart.
Glotz bleibt allerdings nicht beim Bedauern des Untergangs der Vielvölkerreiche stehen, sondern propagiert
inhaltlich genau das, was am Ende dieser drei Vorlesungen vorgeschlagen wird: „Also müssen wir unsere
Staatsorganisation zum zweidimensionalen System einer Föderation von Territorien und Personenverbänden
verfeinern“ (S. 123). Inhaltlich erkennt er das sprachlich-nationale Anliegen an, ohne dessen Zusammenhang mit
dem Gedanken des Nationalstaats zu erkennen, gegen dessen gewaltsame und imperiale Erscheinungsformen er
argumentiert.
4
Zum „schillernden Begriff“ der Globalisierung siehe Brunkhorst, Hauke - Kettner, Matthias (Hg.) 2000: Globalisierung und Demokratie. Wirtschaft, Recht, Medien. Frankfurt, S. 21, 59. Zu den Dimensionen von Globalisierung siehe Beck, Ulrich 2007: Was ist Globalisierung? Frankfurt, S. 29 f., 42; Kreff, Ferdinand - Knoll, EvaMaria - Gingrich, Andre (Hg.) 2011: Lexikon der Globalisierung, Darmstadt, S. 126-129. Zum Verhältnis von
Globalisierung und Selbstbestimmungsrecht der Völker siehe Höffe, Otfried 1999: Demokratie im Zeitalter der
Globalisierung, München, S. 376-398.
5
Siehe die Aufstellung der Nationalstaatsbildung in: Jahn, Egbert (Hg.) 2008: Nationalismus im spät- und postkommunistischen Europa, Band 1, Baden-Baden, S. 54.
6
Da im Jahre 1815 größere Teile der Welt noch unter vorstaatlichen Herrschaftsformen standen, wäre jede Nennung einer Gesamtzahl der Staaten vor dem 19. Jahrhundert irreführend. Die Anzahl der unabhängigen Staaten
war jedenfalls noch äußerst gering im Vergleich zum Jahre 1900 oder gar zu 2000. Sämtliche Zahlen wurden
vom Autor aus zahlreichen Quellen ermittelt.
7
Zehn verloren ihre Existenz durch das Aussterben von Fürstenhäusern, vier wurden von Preußen annektiert und
sechs in das Königreich Italien eingefügt. Nur drei existieren bis heute als unabhängige Staaten. Von den 71
Komplexstaaten waren 26 Republiken, die alle bis auf Frankfurt zu den später föderierten Gliedstaaten gehörten.
Außer Lübeck existieren sie als solche bis heute, überwiegend in der Schweiz.
8
1820 zehn Staaten und drei Staatenkomplexe (Deutscher Bund, Schweizer Eidgenossenschaft, Italien).
9
Die Einzelstaaten der drei Staatenkomplexe, die später in der Schweiz, Italien oder Deutschland aufgingen oder
völlig unabhängig (Österreich, Luxemburg, Liechtenstein) wurden.
10
Von europäischer Kolonialherrschaft blieben lediglich das Innere Arabiens, Afghanistan, Siam (Thailand),
Japan und halbwegs Liberia, China, Nepal, Persien (Iran) und Abessinien (Äthiopien) bis zu seiner kurzen Okkupation durch Italien von 1936-1941 verschont.
11
Sofern man die Slowakei und Kroatien mitzählt, die bereits unter nationalsozialistischer Oberherrschaft formal
selbständig waren.
12
Ohne Berücksichtigung von Korea (1895-1910), Tibet (1913-1951), Hedschas (1916-1924), Tannu Tuwa
(1921-1944), Mandschukuo (1932-1945), Slowakei (1939-1945), Kroatien (1941-1945) sowie von zahlreichen
anderen De-facto-Staaten wie Kosovo, Nordzypern, Abchasien, es sei denn sie waren von den Großmächten
anerkannt oder zeitweise nach 1945 VN-Mitglieder wie die BRD, die DDR, die Republik China, die VR China
usw. Die ersten 15 untergegangenen Staaten sind alle später wieder entstanden. Die letzten drei der untergegangenen Staaten waren sozialsystemare und durch den Kalten Krieg bedingte Staaten von Teilnationen (Südvietnam, Südjemen, DDR). Syrien war 1958-1961 Teil der Vereinigten Arabischen Republik (mit Ägypten).
Der Staat Sansibar existierte nur 1963-1964.
13
Vgl. hierzu Breuer, Stefan 1998: Der Staat. Entstehung, Typen, Organisationsstadien, Reinbek, S. 18, 26-37.
14
Nach traditioneller Staatslehre ist ein Staat durch die effektive Ausübung einer Staatsgewalt über ein Territorium und ein Volk (im Sinne von Staatsangehörigen) charakterisiert, unabhängig davon, ob andere Staaten ihn
anerkennen. Manchmal wird den faktisch existierenden Staaten wie Republik China, Nordzypern und Abchasien
wegen fehlender internationaler Anerkennung die Staatlichkeit abgesprochen; sie werden nur noch De-factoRegime (J. A. Frowein) genannt. Danach gab es von 1949 bis 1973 auch keine Staaten Bundesrepublik Deutschland und DDR, von 1949 bis 1971 keinen Staat Volksrepublik China.
15
So die vorherrschende Auffassung nach dem Standardwerk Kohn, Hans 1950: Die Idee des Nationalismus.
Ursprung und Geschichte bis zur Französischen Revolution, Heidelberg. Auf die vormodernen Formen des Nationalbewußtseins und des Patriotismus, die zweifellos schon hier und da wichtigen Einfluß auf das Entstehen
und Vergehen von Staaten und vorstaatlichen Herrschaftsgebilden hatten, kann hier nicht eingegangen werden.
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19
16
In den USA spielte das Wort nation allerdings zunächst fast gar keine Rolle neben dem Wort people.
Moser, Hugo 1974: Neuere und Neueste Zeit. Von den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts zur Gegenwart, in:
Maurer, Friedrich/ Rupp, Heinz: Deutsche Wortgeschichte, Teil 2, Berlin, S. 552.
18
Fehrenbach, Elisabeth 1986: Nation, in: Reichardt, Rolf/ Schmitt, Eberhard (Hg.): Handbuch politisch-sozialer
Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820, München, S. 86.
19
Le Tiers-État est une Nation complette, in: Sieyès, Abbé Emmanuel Joseph 1989: Qu’est-ce que le Tiers-État?
(1789) in: Œuvres de Sieyès, Paris, S. 2 (Der Dritte Stand ist eine vollständige Nation in: Was ist der Dritte
Stand? Essen 1988, S. 30).
20
Was ist der Dritte Stand? Essen 1988, S. 34 (Qu’est ce qu’une Nation? un corps d’Associés vivant sous uni loi
commune, et représentés par la même legislature, in: Œuvres de Sieyès 1989, Paris, S. 8).
21
Volk war anfangs als soziale Kategorie gedacht, zu der die beiden ersten Stände, der Adel und der Klerus,
nicht gehörten. Nach ihrer Akzeptanz der neuen Ordnung wurden sie jedoch später in den Volksbegriff integriert
und erhielten auch das Wahlrecht.
22
In der französischen Verfassung vom 24. Juni 1793 hieß es in Art. 25: „La souveraineté réside dans de peuple,
elle est une et indivisible, imprescriptible et inaliénable“, in: Godechot, Jacques (Hg.) 1970: Les constitutions de
la France depuis 1789, Paris, S. 82.
23
Dazu gehörten die Beschränkung des Handels mit anderen Ländern sowie der Zuwanderung und Einbürgerung
von Ausländern, in: The Declaration of Independence, in: http://www.archives.gov/exhibits/charters/
declaration_transcript.html (21.2.2014).
24
Zum Mißtrauen unter den Revolutionären gegenüber dem Bewohner des Elsaß, „der dieselbe Sprache spricht
wie unsere Feinde“ siehe Hobsbawm, Eric J. 1991: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780,
Frankfurt/ New York: 32.
25
In der Schweiz gibt es noch eine kantonale Landsgemeinde in Glarus (39.000 Einwohner) und AppenzellInnerroden (16.000 Einwohner).
26
Fehrenbach 1986 (Anm. 18), S. 104.
27
Alter, Peter: Nationalismus, Frankfurt 1985, S. 33.
28
Freedom in the world 2013, in: http://www.freedomhouse.org/sites/default/files/
FIW%202013%20Charts%20and%20Graphs%20for%20Web_0.pdf (21.2.2014).
29
Meinecke, Friedrich 1962: Weltbürgertum und Nationalstaat, München. Zur Diskussion des Nationsbegriffs
siehe auch Alter (Anm. 27), S. 19-24; Heckmann, Friedrich 1992: Ethnische Minderheiten, Volk und Nation.
Soziologie inter-ethnischer Beziehungen, Stuttgart, S. 46-58; Gellner, Ernest 1991: Nationalismus und Moderne,
Berlin, S. 8-17; Lemberg, Eugen 1964: Nationalismus. Band I. Psychologie und Geschichte, S. 86-195; Langewiesche, Dieter 2000: Nation, Nationalismus und Nationalstaat in Deutschland und Europa, München, S. 14-34..
30
Die Abstammung wird vor allem dann betont, wenn die Sprache eine vor wenigen Generationen politisch
aufoktroyierte ist, also das Bewußtsein von einer ehemals anderen Sprache (z. B. des Irischen) vorhanden ist.
Auf die beachtlichen Unterschiede zwischen Sprach- und Abstammungsnationalismus kann hier nicht eingegangen werden.
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