Das Orakel
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Das Orakel
Chantal Schreiber · Susanne Wechdorn Das Orakel Ein Kumpel kommt selten allein Chantal Schreiber mit Illustrationen von Susanne Wechdorn Das Orakel Ein Kumpel kommt selten allein Obelisk-Verlag Vor der Höhle wuchsen Himbeeren und Heidelbeeren, und an einem nahen Baum hatten wilde Bienen ihren Honigstock, aus dem der Bär sich ab und zu eine Tatze voll Honig holte. Er hatte also ein richtig schönes Bärenleben. Eines Tages aber wachte er auf und fand, dass irgendetwas fehlte. „Ich brauche einen besten Freund!“, dachte der Bär. „Einen, mit dem ich die Himbeeren teilen kann und den Honig. Einen, der mich aufheitert, 6 wenn ich grummelig bin. Einen, zu dem ich am Abend vor dem Schlafengehen sagen kann: Bis morgen, Kumpel!“ Aber wo sollte der Bär so einen Freund finden? Er beschloss, die Eule zu fragen, denn die Eule war im ganzen Wald als besonders klug bekannt. Als der Bär an den Baum der Eule klopfte, war es früh am Morgen. Die Eule war gerade erst schlafen gegangen. 7 Sie war also vom Besuch des Bären gar nicht begeistert. „Woher soll ich wissen, wo du einen Freund findest?“, schnaubte sie ärgerlich, „Ich bin doch kein Orakel!“ „Was ist denn das, ein Orakel?“, fragte der Bär neugierig. „Mehr so was wie ein Ohr? Oder mehr so was wie ein Onkel?“ „Ein Orakel sagt dir etwas über die Zukunft! Und jetzt lass mich schlafen!“ Der Bär trabte durch den Wald und dachte, dass so ein Ding, das einem etwas über die Zukunft sagen konnte, richtig praktisch wäre. Nur dummerweise hatte er schon wieder vergessen, wie dieses Ding hieß. 9 „Wie war das noch?“, murmelte er. „Mehr wie ‚Ohr’ oder mehr wie ‚Onkel’?“ 2. „Pass doch auf, du dicker Tollpatsch!“, riss ihn eine ärgerliche Stimme aus seinen Gedanken. Der Bär sah nach unten und bemerkte einen komischen Vogel mit langem Hals und dünnen Beinen. Hinten dran an dem Vogel waren eine Menge langer Schwanzfedern und auf der alleräußersten Spitze der allerlängsten Feder stand eine Pfote des Bären. 11 „Tschuldigung!“, sagte der Bär. „Ich hab nicht aufgepasst. Weißt du, ich suche einen Ohronkel!“ „Deinen Uronkel? Ja, weißt du denn nicht, wo er wohnt?“ Der Vogel schien ziemlich verblüfft. „Vielleicht ist das, was ich suche, ja doch mehr ein Ohrwackel!“, sagte der Bär verunsichert. „Auf jeden Fall soll es mir etwas über die Zukunft sagen!“ „Du meinst wohl ein ‚Orakel’!“, meinte der komische Vogel etwas herablassend. „Ich bin gerade unterwegs dorthin. Meinetwegen kannst du ruhig mitkommen!“ 13 Der Bär freute sich. „Oh ja, sehr gerne! Können wir gleich los?“ „Nein, können wir nicht!“ „Warum denn nicht?“ „Weil du noch immer auf meiner Schwanzfeder stehst! Pfote weg, aber dalli!“ Hastig hob der Bär seine Pfote. „Ziemlich unfreundlich, der komische Vogel“, dachte er. „Aber wenn er mich zu dem Ohr-Dings bringt, will ich mal nicht so sein!“ 14 „So was von tollpatschig, dieser Bär!“, dachte der Vogel. „Aber spätestens beim Orakel bin ich ihn ja wieder los!“ Er warf dem Bären einen hochmütigen Blick zu und stellte dann mit einem Ruck seine Schwanzfedern auf, sodass sie wie ein mächtiger Fächer in der Sonne wippten, in allen Farben schimmernd. „Wahnsinn!“, sagte der Bär bewundernd. „Du kannst ja Sachen!“ 15 „Weil ich ein Pfau bin!“, sprach der Vogel stolz. “Nur ein Pfau kann so ein Rad schlagen! Also pass auf, dass du nicht wieder auf meine kostbaren Schwanzfedern trittst!“ Er nahm zwei Schritte Anlauf und schlug einen wunderhübschen Purzelbaum. Dann schaute er sich erwartungsvoll nach dem Pfau um. Doch der würdigte ihn keines Blickes. Mit diesen Worten klappte der Pfau die Federn ein, wandte sich erhobenen Hauptes ab und ging voraus. „Komischer Vogel!“, brummte der Bär gekränkt, „Gar nicht lustig mit dem!“ Und er trottete ein wenig missmutig hinter dem Pfau drein. Der Bär lief ihm eifrig hinterher. „Ich kann aber auch was!“, rief er. „Schau!“ 16 3. Wenig später erreichten die beiden eine Felswand. „Da ist es!“, rief der Pfau und deutete auf ein dunkles Loch in der Wand. „Guten Tag, Orakel!“, rief der Pfau in das schwarze Loch hinein. „Kannst du mir vielleicht helfen? Ich suche dringend einen besten Freund!“ „Was, du auch?“, fragte der Bär überrascht und rief dann in das Loch: „Ich suche auch einen besten Freund!“ „Einen, mit dem man Spaß haben kann!“, rief der Pfau, ohne auf den Bären zu achten. „Genau!“, rief der Bär und fuhr gleich voll Eifer fort: „Einen, mit dem man seine Himbeeren teilen kann, einen, zu dem man am Abend vor dem Schlafengehen ...“ Da musste der Bär Luft holen, aber der Pfau setzte fort: „… zu dem man vor dem Schlafengehen sagen kann: ‚Bis Morgen, Kumpel’! „Genau!“, sagte der Bär und nickte ganz fest. Der Pfau hielt den Atem an und starrte erwartungsvoll in das dunkle Loch. Der Bär fand, das sei der richtige Augenblick für eine kleine Zwischenmahlzeit und öffnete seinen Rucksack. Plötzlich ertönte eine unheimliche Stimme aus dem Loch in der Felswand. „Ich will euch gerne helfen...“, dröhnte es aus der Tiefe, „… aber wollt ihr mir nicht erst euer Geschenk geben?“ Ein paar Sekunden lang war es still. 20 21 „Geschenk?“, fragte der Pfau verblüfft. „Den Honig und die Himbeeren, die ihr mitgebracht habt!“, erklang wieder die Stimme des Orakels. Der Bär erstarrte. Er wollte gerade mit der linken Pfote eine Handvoll Himbeeren ins Maul zu stopfen und in der rechten hielt er eine Honigwabe als Nachspeise bereit. „Äh, also eigentlich ...“, sagte der Bär zögernd 22 und betrachtete liebevoll abwechselnd die Himbeeren und die Honigwabe. „Willst du nun einen besten Freund finden oder nicht?“, zischte der Pfau.