materialmappe - Staatstheater Nürnberg
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TOSCA von Giacomo Puccini MATERIALMAPPE Staatstheater Nürnberg – Materialien „Tosca“ Liebe Lehrerinnen und Lehrer, liebes Publikum, für die gefeierte Sängerin Floria Tosca ist die Kunst alles, für sie lebt sie. Auch privat hat sie sich dafür entschieden, sie liebt den Maler Mario Cavaradossi. In die Welt der beiden Künstler dringt in der Gestalt des skrupellosen Polizeichefs Scarpia das Unheil ein. Tosca kämpft gegen ihn und für Cavaradossi. Doch letztlich, auch nach dem Mord an Scarpia, kann Tosca ihn und sich nicht retten. Während die Kritiker Puccinis Oper eher ablehnend gegenüber standen, begeisterte diese düstere Geschichte das Publikum sehr – und das tut sie bis heute. „Tosca“ ist einer der beliebtesten Opernwerke des Repertoires und eine der spannendsten Geschichten der Opernliteratur. Die Theaterpädagogik des Staatstheaters bietet zur Inszenierung von „Tosca“ sowohl vorstellungsvorbereitende als auch vorstellungsnachbereitende Workshops und Gespräche für Schülerinnen und Schüler an. Wenn Sie Fragen haben oder weitere Informationen sowie szenisch-musikalische Arbeitsmaterialien zur Unterrichtsgestaltung benötigen, können Sie sich gerne an mich wenden. Mit herzlichen Grüßen, Gudrun Bär Kontakt: Staatstheater Nürnberg u18 plus: junges publikum Theaterpädagogin Gudrun Bär Telefon: 0911-231-6866 E-Mail: [email protected] 2 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Tosca“ DIE UTOPIE DES SCHÖNEN Puccinis „Tosca“ zwischen Kunst und Wirklichkeit „In dieser Oper wird zu folgenden angenehmen Ereignissen Musik gemacht: zu einer Folterung, zu einem Morde, zur Aufbahrung des Ermordeten durch die Täterin, zu einer Hinrichtung mittels Erschießens, schließlich zum Todessprunge der Heldin in die Tiefe. Puccini hat diese Idylle von demselben Sardou bezogen, der Giordano ‚Fedora’ geliefert hat. ... Die Veristen stürzten sich mit ganz außerordentlichem Vergnügen auf das allerheikelste Milieu, auf die allergewagtesten Bühnenhandlungen. ... Es ist alles da: die schwärzeste Gruseltheatralik, die psychologische Ungereimtheit, der gewaltsame Kontrast. Nur ist ein gesteigertes Raffinement der szenischen Spannung hinzugetreten, die Aufpeitschung der Nerven.“ Dieses Zitat aus der Rezension zu „Tosca“ von Julius Korngold, dem seinerzeit renommierten österreichischen Kritiker und Vater des Komponisten Er ich Wolfgang Korngold, stammt aus dem Jahre 1907, also sieben Jahre nach der skandalumwitterten Uraufführung des Werkes am 14. Januar 1900 in Rom. Korngolds Einschätzung des Werkes gehört noch zu den sachdienlicheren und differenzierteren Kritiken, die bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges über Puccinis Melodramma urteilten. Alles, was in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Opern- und Musikwelt Rang und Namen hatte, war sich einig, dass das Werk zuviel Brutalität und zuwenig Poesie enthalte, immer wieder stellte man gar die Frage nach der Musiktauglichkeit und Musikwürdigkeit eines Stoffes wie der „Tosca“. Die Geschichte gehe dann doch zu weit in ihrem krassen Realismus, befand man. Musik zu einer mit widerwärtiger Breite ausgemalten Folterszene, Musik zu einer Hinrichtung! So heftig umstritten Giacomo Puccinis neue Oper bei den zeitgenössischen Kritikern auch war: Beim Publikum wurde „Tosca“ schnell populär und ist inzwischen zu einem der meistgespielten musikdramatischen Bühnenwerke der Gegenwart avanciert, aller vernichtender Urteile zum Trotz. Zum Trotz auch aller Geringschätzung der Fachwelt gegenüber dem Komponisten Puccini, denn lange Zeit war es, insbesondere in Spezialistenkreisen, üblich und gehörte sogar zum guten Ton, von dem italienische n Musikdramatiker nur mit Herablassung zu sprechen oder seine musikalischen Leistungen zumindest herunterzuspielen. Die Divergenz zwischen Publikumserfolg und dem Urteil der Fachwelt ist ein Phänomen, das erstmals mit der Premiere von „La Bohème“ auftrat und Puccini seitdem sein Leben lang verfolgen sollte. Inzwischen hat es sich durch die Dauerhaftigkeit relativiert, mit der seine Opern sich im Repertoire halten; längst herrscht Einigkeit darüber, dass Puccini die italienische Oper auf einen letzten Höhepu nkt geführt hat und dass die große künstlerische Kraft seiner musikdramatischen Werke anerkannt und gewürdigt werden muss. Dennoch – oder gerade deshalb – stellt sich die Frage, was die zeitgenössische Musikwelt an dem Phänomen „Tosca“ so verstörte. Puccini und der Verismo Puccinis wichtige Rolle als Komponist an der Schwelle zum 20. Jahrhundert ist heute unumstritten, auch wenn er kein bahnbrechender Wegbereiter der Avantgarde war und es auch niemals sein wollte. In den Jahren um 1900, während in den Oper nhäusern von Turin, Rom und Mailand Puccinis „La Bohème“, „Tosca“ und „Madame Butterfly“ auf die Bühne kamen, stieß Gustav Mahler längst an die Grenzen der harmonischen 3 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Tosca“ Tonalität, brach Claude Debussy in „Pelléas et Mélisande“ (1902) mittels freischwebender Klangschichtungen die Strukturen der harmonischen Funktionalität auf, entdeckte Igor Strawinsky neuartige rhythmische Dimensionen der Musik und erweiterte Richard Strauss die Klangwelt seiner „Salome“ (1905) mit fremdartigen Kadenzen, bitonaler Harmonik und exotisch-schillernden Orchesterfarben. Puccini dagegen wurde zum großen Melodiker; die Melodie musste für ihn immer Königin sein. Sein bis ins Äußerste gesteigerter dramatischer Melos ist vor allem in Opern wie „Tosca“, „Turandot“ und „Madame Butterfly“ zu finden. Als Komponist ist Puccini keiner stilistischen Schule eindeutig zuzuordnen; zu eigenständig und autonom ist seine musikalische Sprache. Jedoch wurde er immer wieder mit dem sogenannten „Verismo“ oder „Verismus“ (von „vero“ = „wahr“) in Verbindung gebracht. Diese gesteigerte Form des Realismus, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand und vom naturalistischen Drama beeinflusst ist, war ein zentrales Phänomen der modernen italienischen Kunst, das sich auch auf die italienische Literatur und den italienischen Film auswirkte. Als Opernstil kam der Verismo ab 1890 in Italien auf. Sein ästhetisches Ziel war die musikalisch ungeschminkte Wiedergabe der krassen, oft grausamen Alltagswirklichkeit sowie der charakterlichen Konturen und des soziale n Milieus der Titelhelden. Stilistisch sollte dies durch eine eruptive, emphatische und mit Dissonanzen arbeitende Tonsprache, mit weitgespannter Melodik und raffinierter Orchestration erreicht werden – einer illustrierenden, doch „ungeschönten“, unmittelbaren Klangsprache also, die der idealisierten Gestaltung und Theatralität der romantischen Oper eine zeitnahe, sozialkritische und menschlich-leidenschaftliche Bühnendramatik entgegenzustellen beanspruchte. Neben Ruggiero Leoncavallos „Bajazzo“ und Pietro Mascagnis „Cavalleria rusticana“, gilt „Tosca“ als eines der bedeutendsten Werke im veristischen Stil. Doch Puccini selbst hätte sich wohl eher nicht als reinen „Veristen“ bezeichnet. Er war stets in Berührung mit allen progressiven musikalischen Strömunge n seiner Ära, hat aber niemals einem bestimmten klanglichen Vorbild oder einer stilistischen Strömung nachgeeifert. Seine Tonsprache ist individuell, unverwechselbar und aus all seinen bedeutenden Bühnenwerken unmittelbar herauszuhören. Dass die Klangwelt der „Tosca“ eine grundsätzlich andere ist als etwa die der nur vier Jahre früher uraufgeführten „La Bohème“ oder der späteren „Madame Buttterfly“ (1904), hat einen einfachen Grund: Puccini ließ sich als Komponist immer bedingungslos auf die von ihm vertonten Stoffe ein, anstatt sich auf in der Vergangenheit bewährte und vom Erfolg gekrönte klangliche Ausdrucksmittel zu verlassen. „So was findet man im dramatischen Theater nicht“ Eine weitere „Bohème“ zu komponieren, kam nicht in Frage, sobald die Stoffwahl für Puccinis neue Oper auf Victorien Sardous Drama „La Tosca“ gefallen war – das von roher Gewalt gezeichnete Sujet verlangte einen völlig anderen musikalischen Grundduktus als das gefeierte Vorgängerwerk. Puccini hatte bereits 1899, nachdem er in Mailand eine Aufführung von Sardous Drama mit der gefeierten Schauspielerin Sarah Bernhardt in der Titelrolle gesehen hatte, betäubt und beeindruckt von diesem Theatererlebnis, an seinen Verleger Giulio Ricordi geschrieben und ihn gebeten, sich für die Vertonung des Stoffes starkzumachen: „Ich denke an Tosca. Ich beschwöre Sie, die notwendigen Schritte zu unternehmen, um die Einwilligung Sardous zu erwirken; es wäre für mich sehr schmerzlich, wenn wir auf diese Idee verzichten sollten, weil ich in dieser Tosca die Oper sehe, wie ich sie mir vorstelle ...“. „La Tosca“ war von Anfang an eine umstrittene Stoffwahl, die schon während der Entstehung der Komposition von den Verantwortlichen in Frage gestellt wurde. Davon zeugt der Briefwechsel zwischen Puccini, Ricordi und einem der beiden Puccini4 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Tosca“ Librettisten, Giuseppe Giacosa. Letzterer etwa teilte Ricordi im August 1896 unverblümt mit, er sei „fest davon überzeugt, dass ‚Tosca’ für das Melodrama nicht sehr geeignet ist. Die schnelle und klare dramatische Handlung kann zwar beim ersten Blick täuschen, vor allem dank der vortrefflichen Fassung des Illica. Aber je weiter man in die Handlung eindringt, die einzelnen Szenen miterlebt und lyrische und poetische Emotionen sucht, um so mehr überzeugt man sich, dass dieser Stoff für das Musiktheater absolut unpassend ist ... Im ersten Akt sind es nur Duette. Und auch im zweiten Akt nur Duette, mit Ausnahme der kurzen Folterszene, in der zeitweise ebenfalls nur zwei Personen vor dem Publikum stehen. Der dritte Akt ist ein einziges unendliches Duett. So was findet man im dramatischen Theater nicht. ... Das größte Übel liegt darin, dass der sozusagen mechanische Teil, nämlich die Gliederung der Ereignisse, die die Handlung bilden, ein zu starkes Übergewicht einnimmt, zum Schaden der Poesie.“ „Ich hoffe, dass es auf der Bühne herauskommt“ Während der Entstehung der Komposition zwischen 1898 und 1899 ließ auch das sonst so große Vertrauen des Verlegers in Puccinis musikdramatischen Instinkt beträchtlich nach. So fasste Giulio Ricordi sich im Oktober 1899 ein Herz und schrieb, nachdem er die Partitur gesichtet hatte, an Puccini: „Der dritte Akt von ‚Tosca’, so wie er steht, scheint mir in der Idee völlig verfehlt! ... So schwerwiegend verfehlt, dass er – wenn ich richtig urteile – den interessanten Eindruck des ersten Aktes löscht! ... Die Szene mit Cavaradossi, der Eintritt von Tosca sind schön und eindrucksvoll – ebenso eindrucksvoll sind die Erschießung und das Ende: wahrlich ein großer Einfall. Aber du lieber Gott! ... Wo liegt der wahre, leuchtende Mittelpunkt dieses Aktes? ... In dem Duett Tosca-Cavaradossi. Und was fand ich da? ... Ein fragmentarisches Duett, in kümmerlichen Linien, die die Personen verkleinern. ... So besteht der Kern dieses Stücks aus drei Bruchstellen, die zwar aufeinanderfolgen, gleichwohl aber abgebrochen und deshalb wirkungslos sind!!“ Puccini trat mit der in solchen Fällen für ihn typischen schroffen Erwiderung für seine Arbeit ein. Umgehend schrieb er an Ricordi zurück: „Es ist die Überzeugung, das Drama, das mir vorlag, nachgezeichnet zu haben, so gut es in meinen Kräften stand. ... Was die fragmentarische Form betrifft, so ist sie von mir beabsichtigt; dies kann nicht eine einheitliche und ruhige Szene sein wie in anderen Liebesduetten. Immer kehrt Toscas Besorgnis wieder, ob Mario auch sein Hinfallen gut spielen und vor den Leuten, die ihn erschießen sollen, sich richtig benehmen wird. Wegen des Duettschlusses (...) habe auch ich meine Zweifel – aber ich hoffe, dass es auf der Bühne herauskommt, und sogar gut.“ Mit dieser entschlossenen Antwort setzte Puccini durch, dass an seiner Partitur keine einzige Note mehr geändert wurde. Der immer wieder gemachte Vorwurf der für die Theaterbühne zu großen Brutalität des Stoffes erklärt die allgemeine Ablehnung jedoch nur zum Teil. Die Besonderheit von „Tosca“ liegt nicht in der krassen Darstellung von Gewalt und Grausamkeit allein, sondern vor allem in deren Kontrastrierung durch ihr genaues Gegenteil: der Utopie des Schönen. In „Tosca“ prallen zwei musikdramatische Welten aufeinander, die an der Schwelle zum 20. Jahrhundert um den Vorrang im Musiktheater kämpften: die des ungeschönten (und oft unschönen) Realismus und die der romantischen Oper, in der selbst Mord und Totschlag idealisiert und mit der für die Romantik typischen ästhetisch überhöhten Theatralität dargestellt werden. In „Tosca“ wird nicht nur beides gegenüber und gegeneinandergestellt, sondern die krasse Realität gewinnt am Ende die Oberhand. Wie Attila Csampai in seinem „Tosca“-Essay „Folterkammer und Wohllaut“ (1987) überzeugend belegt hat, dreht sich diese Oper im Wesentlichen nicht so sehr um das Schicksal der Sängerin Floria Tosca vor dem Hintergrund eines historischen Ereignisses, 5 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Tosca“ sondern vor allem darum, wie die idealisierte Welt zweier Künstler immer wieder gestört und schließlich zerstört wird, bis die hässliche Fratze der alltäglichen, politisch motivierten und legitimierten Gewalt zum Vorschein kommt. Puccini stellt dabei nicht nur die ungeschminkte Realität außerhalb des Theaters mit den stilistischen Mitteln des Verismus dar, sondern er stellt zugleich die Gültigkeit der romantischen Opernästhetik überhaupt in Frage, indem er minutiös nacherzählt, wie Toscas und Cavaradossis Welt der Kantaten und Liturgiegesänge, ihre sehnsüchtig-romantischen Träume und Utopien durch Scarpia und seine Schergen systematisch demontiert und vernichtet werden. Oscar Bies‘ Urteil, „Tosca“ sei eine „Schlächterarbeit im Kleide des Liebenswürdigen“, signalisiert, wie verstörend dieses Vorgehen auf die zeitgenössische Fachwelt gewirkt haben muss – schließlich ging es hier um nichts anderes als um die Bloßlegung der romantischen Oper und des romantischen Künstlerideals als solches. „Grosser Schmerz in kleinen Herzen“ Wie befürchtet, wurde „Tosca“ von den zeitgenössischen Kritikern gehörig ins Kreuzfeuer genommen. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts – einem Jahrhundert zweier Weltkriege, diktatorischer Terrorregimes und Progrome in unvorstellbarem Ausmaß – erkannte man allmählich an, dass nicht etwa die Lust am Sadistischen, Grausamen und Brutalen das Wesen des Werkes ausmacht, sondern vielmehr das innere Leid, der Schmerz und die Verzweiflung der Protagonisten. „Die Liebe und der Schmerz sind mit der Welt geboren“, soll Puccini einmal gesagt haben und sah es als seine Aufgabe an, „großen Schmerz in kleinen Herzen“ zu beschreiben. Seine Begabung, den Schmerz, die Verzweiflung und das Aufbegehren seiner Protagonisten gegen ihr Schicksal in herzzerreißende Musik zu kleiden, bringt der Puccini-Biograph Michael Klonovsky in seinem Buch „Der Schmerz der Schönheit“ auf den Punkt: „In dem spezifisch puccinesken Melos lebt und webt eine tiefe Schwermut. Von einem Takt auf den anderen vermag der Komponist eine Art Dynamik der Trauer zu entwickeln, die ganz einzigartig ist, dabei allerdings nichts Schwächlich-Kapitulantenhaftes oder Morbides hat, sondern mit dem berühmten Mut der Verzweiflung gegen jenes Ende aufbegehrt, das sie beschwört. ... Seine Melodien sehnen sich ... nach oben. Sie wollen fliegen, aber sie entkommen der Schwerkraft der Erde nicht. Das ist das ganze Geheimnis der typischen ‚nach unten’ führenden Bögen. Puccinis Protagonisten bäumen sich auf und vergehen singend.“ „Tosca“ erzählt von zwei Menschen in verzweifelter Bedrängnis, die, wehrlos und angsterfüllt, aus ihrem scheinbar sorglosen Leben gerissen und innerhalb weniger Stunden durch die komplette unbarmherzige Maschinerie eines unmenschlichen diktatorischen Regimes von Verhör, Folter, Selbstmord, versuchter Vergewaltigung, Hinrichtung und Mord geschliffen werden. In kaum einer anderen Oper hat Puccini seinen Figuren derart ungebändigte Ausbrüche von Leidenschaft, Wut und Raserei, derart schrille Aufschreie von Verzweiflung in die Seele seiner Figuren hineinkomponiert wie etwa Toscas „Ah! Cessate il martir!“, mit dem sie Scarpia im zweiten Akt anfleht, Marios Folter zu beenden. Kurz darauf wird sie ihn in Notwehr erstechen und damit ihrer Vergewaltigung entgehen. Scarpias Tod ist das Ende eines quälenden, von seelischer wie körperlicher Folter begleiteten Verhörs, im Laufe dessen Tosca erst klar wird, dass der skrupellose Polizeichef ihren Geliebten Cavaradossi töten würde, um den flüchtigen Staatsfeind Angelotti aufzuspüren. Etwas, das Tosca vorher höchstens aus dem Theater kannte und von dem sie dachte, dass es ihr selbst nie passieren würde, wird plötzlich zur Realität – verursacht durch eine ihrer alltäglichen Eifersuchtsszenen, die Scarpia geschickt genutzt hat, um sie zum Plaudern zu bringen. Erst als Tosca sich plötzlich im Verhör wiederfindet, während Cavaradossi im Nebenraum gefoltert wird, wird ihr klar: Dies ist nicht das Theater, und mit Schauspielerei kommt sie hier nicht mehr weiter. 6 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Tosca“ Stattdessen gerät sie zum ersten Mal in die Situation, für andere Menschen verantwortlich zu sein, deren Leben von ihr abhängt. Also entscheidet sie sich, auf Scarpias Forderung einzugehen und ihm ihren Körper herzugeben, um das Leben ihres Geliebten zu retten. Erst in dem Moment, als sie das Messer entdeckt, kommt ihr der Gedanke, Scarpia zu töten – etwas, das ihr außerhalb der Bühne niemals zuvor in den Sinn gekommen wäre – und sie tut, was zu tun ist. Illusion, Wahnsinn oder Freitod? Schwer traumatisiert von der vorangegangenen Kette brutalster Ereignisse und umzingelt von Wachposten, bleiben Tosca nach Scarpias Tötung aus Notwehr nur noch wenige Möglichkeiten: Die Flucht in die Illusion, der Wahnsinn oder der Freitod. Tosca, die Vollblutkünstlerin und gefeierte Operndiva, tut das, was sie immer getan hat: Sie sucht abermals den Ausweg in ihre Theaterwelt – die in diesem Moment aber bereits komplett zerstört ist. Verzweifelt versucht sie, ihre künstlerische Illusion wieder aufzubauen, um nicht an der Realität zu zerbrechen. Sie will, sie muss weiterspielen – um schließlich doch, von Scarpia betrogen, an ihrer eigenen Schauspielerei zugrundezugehen. Denn sie begeht den schwerwiegenden Fehler, zu glauben, dass ein skrupelloser und unbarmherziger Mensch wie er, der erklärtermaßen nicht das Geringste für Kunst übrig hat, sich an ihre Regeln halten würde. Nein, Scarpia hält sich nur an seine eigenen Regeln. Und nicht nur das: Er geht sogar noch darüber hinaus und schlägt sie in letzter Instanz mit ihren eigenen Waffen. Mit der Inszenierung von Cavaradossis scheinbarer Scheinhinrichtung, in der er Tosca die Hauptrolle spielen lässt, setzt er sie endgültig schachmatt. Als Tosca ihren Geliebten zum letzten Mal trifft, ist sie noch einmal ganz in ihrem Element, übernimmt noch einmal die Regie, zeichnet das romantisch verklärte Bild ihrer Flucht über das Meer, gibt Regieanweisungen für den vermeintlich gespielten Theatertod. Vielleicht ahnt sie, was kommen wird, vielleicht weiß sie es sogar. Zumindest ist zu vermuten, dass Cavaradossi ahnt, dass es für sie beide keine Rettung mehr gibt. Auf jeden Fall weiß er, dass er keine andere Möglichkeit hat, als an ihr halb wahnsinniges Theaterszenario zu glauben und es mitzuspielen. „The show must go on!“, bis zum bitteren Ende. Also spielen er und Tosca dieses Spiel, während im Hintergrund die Vorbereitungen für die Erschießung getroffen werden. Das letzte Aufbäumen der Operndiva Laut Libretto endet die Oper mit Toscas Sprung in die Tiefe. Der Gedanke des Freitodes am Schluss mag zunächst trostvoll erscheinen, als letzter Flug in die Freiheit eines metaphysischen Refugiums für Toscas Utopie der Kunst und der Liebe. Doch Puccinis Musik scheint an dieser Stelle etwas anderes sagen zu wollen: Nach Toscas letzten Worten „Scarpia, vor Gottes Thron!“ erklingt bezeichnenderweise noch einmal der Nachhall des verzweifelt sich aufbäumenden, sehnsüchtigen Motivs aus Cavaradossis letzter Arie, zu der der Todgeweihte kurz zuvor gesungen hatte: „Für immer ist mein Liebestraum verflogen und ich sterbe verzweifelt!“ Als Tosca springt, ist Cavaradossi bereits tot. Mit seinem Tod ist ihre romantische Illusion von Freiheit und Liebe bis auf den letzten Rest zerstört worden; Scarpia hat es innerhalb weniger Stunden fertiggebracht, Tosca als Künstlerin wie als Kunstfigur komplett zu demontieren. In ihrer Welt ist kein Stein mehr auf dem anderen. Angesichts dieses endgültigen Einbruchs der nackten, demaskierten und ungeschönten Realität in die Welt, für die sie gelebt hat – „Ich lebte für die Kunst, ich lebte für die Liebe“ – erscheinen ihre letzten Worte weniger als heroischer Freiheitsschlag denn vielmehr als ein letztes Aufbäumen der Operndiva Tosca, als letzte pathetische Theatergeste, mit der sie ihren eigenen Untergang einläutet. Am Ende muss auch sie, die gefeierte Künstlerin, sich einreihen in die Listen unzähliger anonymer Opfer 7 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Tosca“ aller Scarpias und aller Terrorregimes dieser Welt. Judith Debbeler (aus dem Programmheft zu „Tosca") „ES GIBT UNENDLICH VIEL GROSSARTIGES MUSIKTHEATER“ Ein Porträt des Regisseurs und zukünftigen Dortmunder Opernintendanten Jens-Daniel Herzog Jens-Daniel Herzog, der sich als Regisseur dem Nürnberger Opernpublikum 2009 durch seine Inszenierung von „Aida“ vorgestellt hat, wird am Staatstheater mit „Tosca“ die letzte Opernproduktion dieser Spielzeit auf die Bühne bringen. Um gleich darauf unter die Opern-Intendanten zu gehen und im August 2011 als neuer Leiter der Dortmunder Oper die Nachfolge von Christine Mielitz anzutreten. Jens-Daniel Herzog hat nicht nur als Schauspielregisseur zahlreiche Erfolge an den großen Theatern im deutschsprachigen Raum gefeiert, sondern er hat sich auch als Musiktheater-Regisseur einen Namen gemacht – insbesondere nach seiner Zeit als Schauspielchef in Mannheim von 2000 bis 2006. „Er ist ein ausgewiesen guter Mann für das Musiktheater“, begründete jüngst der Dortmunder Kulturdezernent Jörg Stüdemann die Entscheidung für den neuen Opern-Intendanten. Der gebürtige Berliner Jens-Daniel Herzog ist gewissermaßen ein „Schüler“ des Münchner Kammerspiel-Intendanten Dieter Dorn. Bei diesem assistierte er in den 90er Jahren in Schauspiel und Oper, bevor er 1997/98 damit begann, selbst Opern zu inszenieren. Die Musiktheaterregie musste er seitdem immer mit seiner anderen Liebe, nämlich dem Schauspiel, zusammenbringen. Während er sein Ensemble in Mannheim aufbaute, ließ er die Oper deshalb vorübergehend ruhen, doch seit den letzten Jahren widmet er sich ihr nahezu ausschließlich. „Seit 2003 bin ich fast nur noch am Musiktheater – und da wird mich auch keiner mehr wegkriegen“ sagt Jens-Daniel Herzog. Das hat mehrere Gründe: Erstens, weil Oper für ihn „intensiveres Schauspiel“ ist. Zweitens, weil er seit einigen Jahren bei den Sängern eine wachsende Lust, ein großes Bedürfnis und eine zunehmende Neugierde beobachtet, zu spielen und die Figuren psychologisch zu durchdringen. Der dritte Grund liegt für Herzog im Stellenwert des Chores: In der Oper, wo das Volk als Subjekt von Geschichte, als Druck der Massen auf die Eliten fungiert, reizt es ihn, als Regisseur auf der Bühne mit größeren Menschenmengen zu arbeiten und daraus Geschichten zu entwickeln. „Er ist ein ausgewiesen guter Mann für das Musiktheater“ Oper als „Volkskunst“ Das Interesse für das Schauspiel bedeutet für Jens-Daniel Herzog keinesfalls, dass er den Schwerpunkt seiner Inszenierungen weniger auf die Musik als auf die Dramaturgie und 8 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Tosca“ Psychologie legt. Für ihn bedingt sich beides gegenseitig, muss das Verhältnis von Wort und Ton im Musiktheater immer wieder bestimmt werden. Der zusätzliche Umgang mit der Musiksprache in der Oper fordert ihn immer aufs Neue heraus und hat ihn von jeher fasziniert. Es ist nicht zuletzt seine große Verehrung der Musik, die dazu geführt hat, dass er nun selbst ein Opernhaus leiten wird. In Dortmund wird Jens-Daniel Herzog als Intendant weiter selbst Regie führen. Seine Spielpläne versprechen vielseitig zu werden: „Es gibt unendlich viel großartiges Musiktheater, nicht nur die 20 Stücke, die jeder kennt“. Die gesamte Musikgeschichte will er durchleuchten. Szenische Oratorien sowie Alte Musik und Barock gehören für ihn ebenso dazu wie Werke aus dem Kernrepertoire. Denn er hatte schon immer große Lust auf neue, unbetretene Wege. Oper ist für ihn ganz ohne Frage ein Genre mit Zukunft – sofern es gelingt, das Image des Elitären und den Eindruck einer „ausgestorbenen Kunstform“ hinwegzufegen und die Oper als „Volkskunst“ zu etablieren, die „3- bis 333-Jährige“ aus allen Bevölkerungs- und Sozialschichten anspricht. JENS-DANIEL HERZOG war nach dem Studium der Philosophie zunächst Assistent und später Spielleiter an den Münchner Kammerspielen, wo er u.a. auch zahlreiche Uraufführungen inszenierte. Gastinszenierungen führten ihn darüber hinaus an das Schauspielhaus Zürich, das Hamburger Thalia Theater, das Wiener Burgtheater und das Schauspiel Frankfurt. Am Opernhaus Zürich führte er u.a. bei Wagners „Tannhäuser“, Tschaikowskis „Pique Dame“, Händels „Orlando“ und Mozarts „La finta semplice“ Regie. 2000 - 2006 war er Schauspieldirektor in Mannheim und setzte, neben zahlreichen Produktionen im Schauspiel, in der Oper „Cosí fan tutte“ und „Die Entführung aus dem Serail“ in Szene. Zu seinen jüngsten Inszenierungen gehören Händels „Giulio Cesare“ an der Semperoper Dresden (2009), „Lohengrin“ an der Oper Frankfurt (2009) sowie „Der ferne Klang“ (2010) und „Les pêcheurs de perles“ (2010) am Opernhaus Zürich. Ab der Spielzeit 2011/2012 wird Jens-Daniel Herzog Opern-Intendant in Dortmund. Judith Debbeler (aus: „Impuls“, monatliches Theatermagazin, Ausgabe Mai 2011) „MIT DREI JAHREN STAND ICH ZUM ERSTEN MAL AUF DER BÜHNE“ Die Sängerin Mardi Byers ist ab Juni als „Tosca“ auf der Bühne zu erleben – Ein Porträt Tosca – die Hauptfigur aus Puccinis gleichnamigem musikdramatischen Meisterwerk ist der Inbegriff der Operndiva. Große Interpretinnen wie Maria Callas haben der Sängerin Tosca, die mit ihrem Geliebten in die tödlichen Mühlen des Terrorregimes von Polizeichef Scarpia gerät, ihre besondere Prägung gegeben. Schon allein deshalb ist diese Partie für 9 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Tosca“ jede Sängerin eine Herausforderung. Mardi Byers hat sie bereits mehrfach gemeistert: 2003 debütierte die aus Boulder/Colorado gebürtige Sopranistin als Tosca am Theater Lübeck, wo sie von 2003 bis 2006 engagiert war, und lieferte damit gleichzeitig ihr Fachdebüt; nur wenig später war sie in dieser Rolle im schwedischen Lund zu erleben. Nach einem weiteren großen Erfolg im knapp 4000 Zuschauer fassenden Opernhaus von Grand Rapids/Michigan ist die Nürnberger Inszenierung von Jens-Daniel Herzog ihre vierte Tosca-Produktion. Gut gelaunt und energiegeladen wie immer, trifft Mardi Byers zu unserem Gespräch ein. Etwas müde allerdings auch, denn momentan ist sie ziemlich eingespannt: Seit Anfang Mai ist sie in Nürnberg wieder in der Titelrolle von „Ariadne auf Naxos“ zu erleben; daneben singt sie seit April 2011 am Stadttheater Bern Marietta/Marie in Gabriele Rechs gefeierter Inszenierung von Korngolds Oper „Die tote Stadt“, eine Koproduktion mit dem Schweizer Opernhaus, die bereits 2009 in Nürnberg ihre Premiere feierte. Momentan pendelt sie zu den Vorstellungen zwischen beiden Ländern hin und her; hinzu kommen die Proben zu „Tosca“. Die bisherige Saison war für sie nicht weniger ereignisreich: Bereits im September startete Mardi Byers an der Finnischen Nationaloper als Aida in die Spielzeit – eine weitere Fachpartie, in der sie 2009 und 2010 unter Jens-Daniel Herzogs Regie in Nürnberg zu erleben war und 2009 zudem ihr Debüt bei den Bregenzer Festspielen gab. Von Oktober bis Dezember sang sie die Aida auch am Theater Basel, während in Nürnberg die Wiederaufnahmen von „Ariadne“ und „Die tote Stadt“ liefen. Zwischendurch trat sie am Moskauer Bolschoi-Theater als Marie in „Wozzeck“ auf. In den letzten Jahren war sie zudem an internationalen Opernhäusern wie der New York City Opera, der Opera New Orleans, der Hamburgischen Staatsoper, dem Hessischen Staatstheater Wiesbaden und der Oper Graz zu Gast. Am Staatstheater Nürnberg feierte sie 2009 ihr Debüt als Elisabeth in „Tannhäuser“; zu ihrem Repertoire gehören weiterhin Partien wie Adriana Lecouvreur, Elisabetta („Don Carlos“), Marguerite („Faust“) und Donna Anna („Don Giovanni“). Als Konzertsängerin sang sie unter anderem 2010 bei den BBC-Proms zusammen mit dem BBC Orchestra Mahlers 8. Sinfonie. „Morgens ›Tosca‹, abends ›Ariadne auf Naxos‹ und am nächsten Tag ›Die tote Stadt‹“ 10 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Tosca“ „Ich wusste schon immer, dass ich Sängerin werden wollte“ Die US-Amerikanerin ist direkt nach ihrem Studienabschluss an der Arizona State University nach Europa gekommen. „Ich wusste schon immer, dass ich Sängerin werden wollte und dass mein Weg mich einmal nach Deutschland führen würde“, sagt sie. Der Gesang ist ihr in die Wiege gelegt worden: „Ich stamme aus einer musikalischen Familie; meine Eltern waren beide Sänger. Mit drei Jahren stand ich zum ersten Mal mit meiner Mutter auf der Bühne. Einmal international zu arbeiten, war immer mein Ziel.“ Das damit verbundene ständige Unterwegssein ist für Mardi Byers, die sich als „sehr häusliche Person“ bezeichnet, allerdings nicht immer einfach. „Ich brauche mein ‚Nest’, um mich wohlzufühlen. Paradoxerweise war es für mich in der Zeit, als ich Festengagements hatte, viel schwieriger als heute. Denn da wohnte ich zwar an festen Orten, aber jeweils nur für wenige Jahre. Heute lebe ich in Zürich und habe dort meinen festen Ruhepunkt, ein Zuhause, zu dem ich zwischendurch zurückkehren und von meiner Arbeit ausspannen kann. Und wenn ich unterwegs bin, genieße ich es umso mehr, überall neue Kollegen kennenzulernen und zu erleben, wie in den unterschiedlichen Ländern gearbeitet wird.“ Morgens „Tosca“, abends „Ariadne auf Naxos“ und am nächsten Tag „Die tote Stadt“ – wie schafft Mardi Byers es bei solch vielfältigen gesanglichen Verpflichtungen, sich und ihre Stimme gesund zu halten? „Viel Schlaf und viel Ruhe“, ist die klare Antwort. „Das führt zwar dazu, dass ich von den Städten, in denen ich arbeite, oft sehr wenig mitbekomme. Aber mir ist es wichtiger, mich zu schonen, weil singen körperlich sehr anstrengend ist.“ „Die Kunst ist Toscas Welt“ Das dramatische Sopranfach fordert einer Sängerin enorm viel Kraft, aber auch schauspielerische Fähigkeiten ab. Die Figur Floria Tosca selbst ist eine Vollblutkünstlerin, die im Grunde niemals aufhört zu spielen, bis sie, von Scarpia betrogen, an ihrer eigenen Schauspielerei zugrunde geht. Wie sieht Mardi Byers Tosca als Frau und Künstlerin? „Die Kunst ist ihre Welt; sie lebt für sie und alle lieben sie dafür. Als Waisenkind im Kloster aufgewachsen, ist sie jedoch nicht so naiv, wie viele glauben, sondern weiß sehr genau, was sie tut. Sie hat sich als Künstlerin Freiheiten erarbeitet, weiß, wie sie mit ihren Reizen spielen und damit ihre Ziele erreichen kann.“ Toscas schwerwiegender Irrtum, so Mardi Byers, besteht darin, dass sie glaubt, ihr könne in dieser Position nichts passieren und Politiker wie Scarpia würden sich an die Regeln ihrer Welt halten. Als ihr klar wird, dass Scarpia Cavaradossi töten würde, um Angelotti aufzuspüren, kommt sie zum ersten Mal in die Situation, für jemand anderen etwas tun zu müssen. In diesem Moment entdeckt sie ihre tiefe Liebe zu Cavaradossi; für ihn entscheidet sie sich sogar, auf Scarpias Forderung einzugehen und ihren Körper herzugeben. „Ich glaube, erst als sie das Messer entdeckt, kommt ihr überhaupt der Gedanke, Scarpia zu töten. Vorher wäre ihr das niemals in den Sinn gekommen, doch nun tut sie einfach, was zu tun ist. Hier wird sie zu jemand anderem.“ Für die Tosca-Interpretin Mardi Byers ergibt sich die Tragik der Sängerin daraus, dass sie verzweifelt versucht, ihre Künstlerwelt wieder aufzubauen, nachdem Scarpia sie längst zerstört hat, doch vergebens. Man kann in der Musik hören, dass sie und Cavaradossi in ihrem letzten Duett bereits den Halt unter den Füßen verloren haben. Womöglich wissen sie sogar, dass es für sie keine Rettung mehr gibt. Aber sie halten trotzdem daran fest, weil ihnen nichts anderes übrigbleibt, denn: ‚Vissi d’arte, vissi d‘amore’. Judith Debbeler (aus: „Impuls“, monatliches Theatermagazin, Ausgabe Juni 2011) 11 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Tosca“ PRESSESTIMMEN „Tosca" - Bayerischer Rundfunk - BR Klassik - 06.06.2011 Wie setzt man ein hochdramatisches Stück in Szene, bei dem am Ende zwar sämtliche Protagonisten eines gewaltsamen Todes sterben, das aber durch seine ständige Präsenz auf den Opernbühnen dieser Welt jeglichen Schrecken verloren hat? Regisseur Jens-Daniel Herzog findet in seiner Nürnberger Tosca-Inszenierung eine ganz eigene, eindrucksvolle Antwort darauf, wie das schöne Sterben mit seinem hohlen Pathos zu brechen ist. Er tut es, indem er Puccinis Verismo, also die gesteigerte, ungeschminkte Form des Realismus auf der Bühne, wieder ernst nimmt, und die eruptiven Gewaltausbrüche eines heutigen nicht näher konkretisierten Terrorregimes schonungslos in die Bühnenwelt einbrechen lässt. […] Diese splattermoviemäßige Überbetonung der Gewalt bewirkt, dass der Theaterbesucher erschreckt, betroffen und geläutert das Opernhaus verlässt. Katharsis im besten Sinne also, die sich auch dem Regie-Kniff verdankt, das Stück in die Gegenwart und ins Theater selbst zu verlegen, wo die Opernsänger, die die Floria Tosca und den Mario Cavaradossi darstellen, Opfer einer brutalen Diktatur werden. […] Auch musikalisch geht die Nürnberger Tosca unter die Haut. Der scheidende Chefdirigent Christof Prick packt in seiner letzten Premiere wie der Maler Cavaradossi noch einmal den reichhaltigen Farbkasten aus, und schwelgt mit seinen Philharmonikern mal in impressionistisch zarten, mal in expressionistisch grellen Puccini-Klangfarben. Mardi Byers als Tosca, die im ersten Akt noch die chargierende Primadonna mimen muss, gewinnt an Wahrhaftigkeit, als sie in ihrer Garderobe von Scarpia bedrängt ihre Perücke abnimmt und ihre Vissi-d’arte-Arie singt. […] Tenor David Yim gibt einen stimmlich wirklich eindrucksvollen Cavaradossi […] Mikolaj Zalasinski spielt Scarpia, die graue Eminenz der Diktatur, als gerissenen, gewissenlosen und zur Hybris neigenden Biedermann in grauem Businessanzug mit randloser Brille und sorgt mit seinem fulminanten Bariton für wahre Gänsehautmomente. Fazit: Die Nürnberger Tosca ist nichts für schwache Nerven, aber schaurig-schön. Dirk Kruse „Tosca" - Nürnberger Nachrichten - 06.06.2011 Vollständig lautet das Bonmot von Arthur Schnitzler: „Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug." Insofern war es tatsächlich ein kluger Gedanke der Regie, die vielgespielte Oper, die die eigene Gattung zum Thema macht, daraufhin zu befragen, was hier an Theaterdonner entlarvt werden kann. So vieles in dem Stück wirkt tatsächlich inszeniert und absichtsvoll überdeutlich in Szene gesetzt: […] Das machen sich Regisseur Jens-Daniel Herzog und sein Ausstatter Mathis Neidhardt zunutze, indem sie den ersten Akt als Theaterprobe ablaufen lassen. Im ersten Moment wirkt alles, als hätten Maria Callas, Giuseppe di Stefano und Titto Gobbi die von Franco Zeffirelli detailverliebt gestaltete Bühne gerade verlassen: Sant' Andrea della Valle wie aus dem Opernmuseum. Doch der Eindruck wird gebrochen: Der flüchtige Republikaner Angelotti kriecht unter dem Bühnenprospekt hervor. […] 12 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Tosca“ Vielen, die sich im 1. Akt noch über einen weitgehend konventionellen Ablauf gefreut hatten, wurden im 2. Akt die Augen geöffnet: Kein Polizeipalast, sondern Toscas Künstlergarderobe. In die hat sich der macht- wie sexgeile Scarpia eingeschlichen und berauscht sich an der eigenen Durchtriebenheit, indem er sogar in eines von Toscas Kostümen schlüpft. Mikolaj Zalasinki macht den dämonischen Lüstling zur dominierenden Figur, vokal wie darstellerisch. Sein Scarpia ist kein jähzorniger Despot, sondern einer, der mit gefährlich kleiner Gestik und Mimik operiert: Bürokrat der Infamie. […] Mardi Byers zeigt Tosca mit üppiger, mitunter leicht scharfer Sopranwucht als egozentrische Heroine, bereit zu großem Gefühl, aber erst einmal zu ihrem Nutzen. Ihre Wandlung in der Bekenntnis-Arie „Vissi d'arte", in der sie zur eigenen Opferbereitschaft findet, macht das glaubhaft. Ihren Geliebten Cavaradossi singt David Yim in der Manier alter Schule: Mit strahlkräftig-emphatischem, ausladend heldischem und dabei absolut sicherem Ton - ein echtes Kontrastprogramm zu Jonas Kaufmanns auch bei Puccini gepflegter Pianokultur. […] Beachtliche Leistungen auch in den Nebenrollen: Vladislac Solodyagin als Angelotti und Daeyoung Kim als Mesner holen das Optimum aus ihren Partien heraus. Christof Prick lässt das Orchester blühen, changieren und schillern, brachial und ruppig wo nötig, aber auch dann wieder ganz sensitiv der Intimität ergeben. Ein vollmundiger Sound, der aber nie fett und süffig wirkt. Jens Voskamp „Tosca" - Abendzeitung Nürnberg - 06.06.2011 Im ersten Moment sieht die Bühne von Mathis Neidhardt ganz traditionell aus, zeigt Kirchenschiff mit Marienstatue und den Maler Cavaradossi bei seinen Pinseln, die ihm die eifersüchtige Tosca alsbald hinterherwerfen wird. Aber im Hintergrund wackelt schon die Wand, ehe sie als Kulissenprospekt hochgezogen wird: alles bloß Theater. Das Liebespaar reckte die Arme hingebungsvoll pathetisch, und mancher Zuschauer hatte es sich schon gemütlich eingerichtet bei Opas Oper. Das war eine Falle, denn mit der realen Person des (macht-)geilen Scarpia bricht die andere Dimension herein. Zum zweiten Akt, der eigentlich im Amtszimmer des Tyrannen spielt, trifft man sich in Toscas Künstlergarderobe und am Ende sind wir auf leergefegter Szene in einer Zwischenwelt von Theater und Wirklichkeit angelangt, wo die Hinrichtung ein Verwaltungsakt und Brutalität zum Selbstläufer geworden ist. Den Opfern kann die Flucht zurück zu Posen und Perücken nicht mehr helfen. Man darf bezweifeln, dass ausgerechnet diese Thriller-Oper solche quer sausenden Gedanken braucht. Oder sich freuen, dass es mal einer damit versucht hat. Philharmoniker-Chef Christof Prick scheint bei seiner finalen Nürnberger Opern-Premiere eher inspiriert und findet hinter den scharfen Emotions-Attacken ungeahnte Mengen von spielerischen Lyrismen. [...] Absolut großartig Mikolaj Zalasinski, denn sein Scarpia verbindet alle Wucht der Stimme mit der eisigen Technokratie des Bösen, ist Darsteller und Sänger von gleichem Kaliber, das Zentrum des Dramas. [...] Nach dem letzten Aufschrei dieser bemerkenswert irritierenden Aufführung gibt es viele Fragen, auch intelligentere. Das dürfte bei „Tosca“ noch nicht oft passiert sein. Dieter Stoll 13 Staatstheater Nürnberg – Materialien „Tosca“ „Tosca" - Nürnberger Zeitung - 06.06.2011 Akt für Akt wird hier die Illusion dekonstruiert: von der fotorealistischen Wiedergabe der römischen Kirche Sant’ Andrea della Valle bis zur schwarzen nackten Bühne – statt der Engelsburg. Die Folterszenen des zweiten Akts finden nicht im Palazzo Farnese, sondern in Toscas Garderobe statt [...] Jens-Daniel Herzog, der als versierter Regisseur ab der nächsten Spielzeit Opernintendant in Dortmund ist, vollzieht in dieser Inszenierung den Sprung in die heutige Zeit leider nicht. Es reicht ihm, die Kulisse Schritt für Schritt zu demontieren, ansonsten verharren die Figuren in ihrer Rollentradition. [...] Die letzte Premiere vor seinem Abschied nutzte Chefdirigent Christof Prick zu einem eindrucksvollen Nachweis seiner musikalischen Sensibilität. Puccinis Partitur mit ihren Ohrwurmqualitäten und der schicksalhaft düsteren Unruhe des Scarpia-Motivs durfte sich nicht nur farbig und vital entfalten. Nein, Prick und die Philharmoniker dosierten geschickt die dramatische Potenz des Werks, bauten Steigerungen klug auf und hatten auch ein Ohr für die lyrischen Oasen des Werks, die nicht selten Keimzellen für die folgenden Eruptionen waren. Das Dienstende bedeutet diese „Tosca“ auch für Chorchef Edgar Hykel, der sein Gesangskollektiv nochmals in bewährter Weise sehr gut auf diese „Tosca“ vorbereitet hatte. Mardi Byers meisterte die großen Herausforderungen der Titelpartie, in der Sängerinnenlegenden wie die Callas Maßstäbe gesetzt haben, dank der hervorragenden Höhenqualitäten ihres Soprans. Und dank ihrer Erfahrungen in dieser Rolle, mit deren sie die vielen emotionalen Ausbrüche Toscas differenziert darstellen konnte. David Yim sang Cavaradossi mit kraftvollem, unerschütterlich forschem Tenor [...] Thomas Heinold 14