PDF - Hajo Friederich
Transcrição
PDF - Hajo Friederich
InPut 84 Berichte, Informationen und Kritik bitte an [email protected] Volodin / Golovchenko / Yurkin Nur keine Angst 19 Seillängen führt die Route „Bruderliebe“ durch die 800 Meter hohe Südwand der Marmolada. Fotos: levati / The North Face W e r m a c h t wa s ? ALPIN Chronik Neutouren I Ideen I Meilensteine I Abenteuer I Szene I Meinungen Hansjörg und Vitus Auer Bruderliebe Hansjörg Auer erkundet Neuland an seinem Lieblingsort: die Marmolada in den Dolomiten. Dass Hansjörg Auer eine besondere Beziehung zur Marmolada pflegt, weiß man spätestens seit seiner Solobegehung des „Wegs durch den Fisch“ im April 2007. Vier Jahre später hinterließ der Tiroler – zusammen mit seinem Bruder Vitus – seine erste eigene Kreation an der Südwand. Z um ersten Mal stieg Hansjörg Auer im Sommer 2003 (Porträt ALPIN 11/11) zur Südwand der Marmolada (3343 m) auf. Bereits damals fielen ihm zwei markante Pfeiler im rechten Teil der gut drei Kilometer breiten Wand auf. Mit ihrem überhängenden, grauen, löchrigen Fels „brannten sie sich in mein Gedächtnis ein“. Acht Jahre später ist es so weit: Nachdem Auer in etlichen Marmolada-Routen – alleine, in Seilschaft, immer frei kletternd – viel Erfahrung sammeln konnte, widmet er sich erneut seinem alten Projekt: „Diese Linie beschäftigte mich seit Wochen. Beim Autofahren, vor dem Einschlafen, beim Betrachten der Fotos und bei der Vorstellung, wie die nächste Seillänge aussehen wird.“ Auers Neugier wird im August 2011 befriedigt. Insgesamt fünf Tage verbringt er, gesichert von seinem jüngeren Bruder Vitus, am Pilastro Dorso d’Elefante, bevor er ein Band in der Wandmitte erreicht. Die klettertechnisch größten Schwierigkeiten hat er damit – zum Teil mit Bohrhaken, zum Teil mit mobilen Sicherungsmitteln unterstützt – bewältigt. Die komplette Route jedoch noch nicht: „Der obere Teil bis zum Gipfelgrat sieht leichter aus. Die Wand lehnt sich zurück. Der schwierigste Teil liegt hinter uns; doch das Schwierigste zugleich noch vor uns. Denn ich möchte die Route nun frei klettern und den oberen Teil zum Gipfelgrat gleich im ,Alpinstil‘ anhängen.“ Gesagt, getan. Am 21. August 2011 steigen die beiden Auers erneut in ihr Projekt ein. Die ersten Seillängen bewältigt Hansjörg ohne größere Probleme, dann folgt die Schlüsselstelle. Nach zwei vergeblichen Versuchen rastet der Kletterer eine Stunde, bevor er es ein letztes Mal probiert. „Ich mag eigentlich nicht mehr. Ich fühle mich müde und kann diese Wand nicht mehr sehen. Doch dann, völlig unerwartet, stehe ich am Stand. Aller guten Dinge sind drei. Das gibt es doch nicht! Ich beginne zu weinen, kann es nicht glauben.“ Die verbleibenden 600 Meter zum 12/11 Leidens-Faktor Wie groß sind die Strapazen? Vorbild-Faktor Stil der Begehung? Sichere Route oder Harakiri? Es gibt auch schöne leichtere Routen dort … Wehe dem, der seinen Bruder sichern muss. Cool, die Durchsteigung an einem Tag. Leidenschaft zahlt sich eben aus. Exklusiv in ALPIN „Haltungsnoten“ für jede Tour Nachmach-Faktor Lohnt es sich, für diese Tour zu trainieren? Gipfel klettert das Brüderpaar ohne größere Probleme, obschon sich der obere, noch unberührte Wandteil wild und alpin zeigt. Nach insgesamt zwölf Stunden Kletterei stehen Hansjörg und Vitus am Gipfelgrat. Seine Route widmet der Ältere dem Jüngeren: „Vitus schafft es, mich immer wieder zu motivieren. Auch wenn seine Füße vom dauernden Hängen am Standplatz schmerzen. Er ist der geduldigste Mensch, den ich kenne, nimmt alles sehr gelassen. Es ist so gut, ihn dabeizuhaben.“ So kommt in dem Routennamen Hansjörgs Dankbarkeit zum Ausdruck: „Bruderliebe“ (X/X+, 19 Seillängen, 800 m). Seine sommerliche Liaison mit der Marmolada ist für Hansjörg Auer allerdings noch nicht beendet. Nur drei Tage nach seiner erfolgreichen Erstbegehung gelingt ihm mit Gerhard Fiegl die erste freie Begehung der von Altmeister Maurizio Giordani 2006 erstbegangenen Route „Colpo di Coda“ (IX–, 28 Seillängen, 900 m). Und am 29. August 2011 eröffnen die beiden Kletterer zusammen eine direkte Ausstiegsvariante zum „Schwalbenschwanz“ an der Punta Ombretta: „Coco Jambo“ (VII+, 4 neue Seillängen, 750 m). Man darf gespannt sein, wie sich die Beziehung zwischen Hansjörg Auer und „seiner“ Wand im kommenden Sommer entwickeln wird. Image-Faktor Kann man in der Szene damit punkten? E in russisches Drei-Mann-Team eröffnete im August 2011 eine neue Route in der Nordwestwand des Great Trango Tower (6251 m) im pakistanischen Karakorum-Gebirge. „No Fear“ (VII, A3, 1120 m), erstbegangen von Viktor Volodin, Dimitry Golovchenko und Alexander Yurkin, ist die erste eigenständige Linie, die seit über einem Jahrzehnt an diesem Gipfel gefunden wurde. In der Nordwestwand gab es bis dato nur eine weitere Route: „Insumisioa“ (VI, A3+), 1995 von den Basken Antonio Aqueretta, Fermin Izco und Mikel Zabalza erstbegangen. Die russischen Bergsteiger begannen mit ihrer Arbeit am 2. August, als sie fünf Fixseile anbrachten. Am 5. August stiegen sie endgültig in die Wand ein, wobei sie sich im sogenannten „Capsule Style“ fortbewegten. Dabei verlängern die Kletterer ihre Route so lange von einem fixen Portaledge-Camp nach oben, bis sie das gesamte Camp in der Wand ein Stück höher verlegen. Volodin, Golovchenko und Yurkin etablierten drei Lager in der Wand. Ihre Route folgt einem prominenten Verschneidungssystem, kreuzt „Insumisioa“ auf drei Seillängen und erobert dann den linken Teil des Gipfelturms. Den Großteil der Schwierigkeiten bewältigten die Russen in technischer Kletterei. Volodin, Golovchenko und Yurkin verbrachten acht Tage in der Wand. Nachdem ihnen das Wetter zunächst wohlgesinnt war, verschlechterte es sich während der letzten drei Tage zusehends. Am 12. August stieg das Team bei Schneefall am Gipfel aus. Way to go, boys. Das sitzen die Russen aus. Ein sehr schöner Erfolg. Mit so einer Route kannst du punkten. 12/11 85 ALPIN Chronik Neutouren I Ideen I Meilensteine I Abenteuer I Szene I Meinungen Im Sperrgebiet D en Amerikanern Mark Richey, Steve Swenson und Freddie Wilkinson gelang am 24. August 2011 die Erstbesteigung des Saser Kangri II im östlichen Karakorum. Mit 7518 Metern war dies bis dato der zweithöchste unbestiegene Gipfel der Welt. Der höchste, der Gangkhar Puensum (7570 m), liegt in Bhutan – da das Bergsteigen über 6000 Meter Höhe dort verboten ist, wird er noch einige Zeit der höchste bleiben. Ausgangspunkt war der Südliche Shupka-Kunchang-Gletscher, die Route „The Old Breed“ (WI4, M3, 1700 m) führt durch die Südwestwand. Bis April 2010 war ein Großteil des östlichen Karakorums aufgrund des Grenzkonflikts zwischen Indien und Pakistan unzugänglich. Das Sperrgebiet hatte wenig bergsteigerische Aktivität gesehen, obwohl sich dort mehr als 100 unbestiegene Gipfel befinden. Bereits in den frühen 80er-Jahren war der Westgipfel des Saser Kangri II von einer japanischen Expedition erreicht worden; der höhere Ostgipfel blieb unberührt. Schon 2001 hatte Richey – während einer Expedition unter Leitung von Chris Bonington und Harish Kapadia – ein Auge auf den Saser Kangri II geworfen. 2009 stellte er ein Team für eine Besteigung zusammen, +++ Den Neuseeländerinnen Pat Deavoll (zuletzt ALPIN-Chronik 2/2011) und Christine Byrch gelang eine Neuroute am 6515 Meter hohen Koh-e-Baba im afghanischen Wakhan-Korridor. Dies war zugleich die zweite Besteigung des Berges seit seiner Erstbesteigung durch eine italienische Expedition 1963. Auf ins Unbekannte! Die Biwaks sind hart. So schön puristisch. Jetzt geht’s fast nur noch niedriger. +++ Zwei prominent besetzte Expeditionen waren im September 2011 im pakistanischen Charakusa-Tal unterwegs. Den Amerikanern Doug Chabot, Bruce Miller und Steve Su gelang die Erstbesteigung des 6400 Meter hohen Hispar Sar. Fast zeitgleich waren ihre Landsleute Kyle Dempster (zuletzt ALPIN-Chronik 8/2011) und Hayden Kennedy erfolgreich. Sie standen als erste Menschen auf dem Hassan Peak (6300 m). das jedoch auf 6500 Meter in schlechtem Wetter umkehren musste. Für Richey war klar, dass er zurückkehren würde. Nach etlichen Akklimatisationstouren stiegen Richey, Swenson und Wilkinson am 21. August zu einem Biwakplatz auf, den sie in den Wochen zuvor bereits hergerichtet hatten. Dafür verwendeten sie ein von Richey ausgeklügeltes System, indem sie eine Art Hängematte aufspannten, sie mit Schnee füllten und so die Biwakplattform vergrößern konnten. Am folgenden Tag überwanden die Bergsteiger ein Eiscouloir sowie ein Felsband, das eine der Schlüsselstellen der Route darstellt. Am dritten Tag erreichten sie eine Höhe von etwa 7000 Meter. Zwischen ihnen und dem Gipfel lagen nur noch drei schwierige Seillängen, dann Gehgelände. Am 24. August stand das Trio auf dem höchsten Punkt des Saser Kangri II. Hajo Friederich Der Edelmann S Foto: Swenson Drei Freunde auf dem Gipfel des Saser Kangri: Mark Richey, Steve Swenson und Freddie Wilkinson (v. l.). caramouche, der galante Marquis“ – 1952 verfilmte Regisseur George Sidney diesen Mantelund-Degen-Film mit dem Schauspieler Stewart Granger. Welche Szenen des Films Alexander und Thomas Huber zur Namensgebung inspirierten, ist nicht bekannt. Sicher dagegen ist, dass sie ihre Route am Westwandpfeiler des Hohen Göll in den Berchtesgadener Alpen schon 1989 erstbegingen (X–, 8 Seillängen, 320 m) und dass diese Kreation gut 20 Jahre auf ihre dritte Rotpunktbegehung warten musste. „Scaramouche“ gilt heute als eine der alpenweit ersten Routen im X. Schwierigkeitsgrad. Erst 2009 konnte Reinhard Hones die vermutlich zweite vollständige Rotpunktbegehung für sich verbuchen. Die Route bietet steile Plattenkletterei mit unterschiedlichem Charakter. Von kleinsten Griffen Marcic / Strazar Gut gemacht, Jungs! A m 3. September 2007 gelang dem All-Star-Team Vince Anderson, Steve House und Marko Prezelj die erste Besteigung des K 7-Westgipfels (ALPIN-Chronik 12/2007). Nicht erst seit diesem Erfolg gilt das Charakusa-Tal im pakistanischen Karakorum als einer der Hot Spots der internationalen Alpinistenszene. Im Sommer 2011 warfen die jungen Slowenen Nejc Marcic (26) und Luka Strazar (22) ein Auge auf den steilen Südwestpfeiler des K 7 West. Für dessen Durchsteigung benötigten die beiden Karakorum-Novizen vier Tage. Während der untere Teil viel Eiskletterei bot, zeigten sich die größeren Schwierigkeiten in der Fels- und MixedKletterei des oberen Wandteils. Um vor einsturzbereiten Séracs geschützt zu sein, hielten sich Marcic und Strazar fast immer Fotos: Archiv Marcic / Strazar +++ Telegramm +++ Die beiden Slowenen kletterten immer an der Kante lang, um vor den einsturzbereiten Séracs sicher zu sein. an die Gratschneide, mussten sich im oberen Wandteil aber dennoch stark exponieren. Ihre Route nannten sie „Dreamers of Golden Caves“ (V, M5, A2, 1600 m). Und ihr großes Vorbild, ihr Landsmann Marko Prezelj, urteilte: „Ich gratuliere den Jungs! Eine neue Route am K 7 West ist eine exzellente Leistung – zumal es erst die zweite an diesem Berg ist.“ Das Charakusa ist die Reise wert. Saugefährlich war das. Veni, vidi, vici. Wenn sogar Marko begeistert ist … Erst mal gescheit auftrainieren. Die Griffe sind schon arg klein. Vor allem die Langzeitausdauer! Respekt. Old guys rule. über Boulderstellen mit Fingerlöchern bis hin zu steiler, athletischer Wandkletterei weit über dem letzten Sicherungspunkt ist alles geboten. Zwei Jahre nach der Erstbegehung hatte sich der Berchtesgadener Hajo Friederich an einen Versuch gewagt. Ein sehr weiter Sturz, der auf einem Band endete, bescherte ihm jedoch eine Beckenprellung. Im August 2011, zwei Jahrzehnte älter geworden, wagte er sich an einen neuen Versuch. Am 16. September 2011 gelang ihm mit seinem Bergführerkollegen Hansi Stöckl als Sicherungspartner schließlich die vermutlich dritte vollständige Rotpunktbegehung von „Scaramouche“. Dabei kletterte Friederich alle Seillängen im Vorstieg und rotpunkt. „So ging ein Traum in Erfüllung, den ich schon lange in mir getragen hatte.“ Foto: archiv Friederich Richey / Swenson / Wilkinson Hajo Friederich gelingt zwanzig Jahre nach seinem ersten Versuch die dritte Rotpunktbegehung der „Scaramouche“. Exklusiv in ALPIN „Haltungsnoten“ für jede Tour Nachmach-Faktor Lohnt es sich, für diese Tour zu trainieren? Leidens-Faktor Wie groß sind die Strapazen? Vorbild-Faktor Stil? Sichere Route oder Harakiri? Image-Faktor Kann man in der Szene damit punkten? 12/11 87