Mondphasen und Ereignishäufigkeiten
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Mondphasen und Ereignishäufigkeiten
Mondphasen und Ereignishäufigkeiten: Astronomische Bemerkungen zu einem Scheinphänomen Prof. Dr. med. Axel W. Bauer Fachgebiet Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg Ludolf-Krehl-Straße 7-11 D-68167 Mannheim E-mail: [email protected] Veröffentlicht im Jahr 2000 Bauer, Axel W.: Mondphasen und Ereignishäufigkeiten: Astronomische Bemerkungen zu einem Scheinphänomen. Skeptiker 13 (2000), S. 94-95. 1. Forschungsstand In den vergangenen Jahren sind zahlreiche empirische Arbeiten über den vom Volksglauben sowie von Astrologen und anderen Parawissenschaftlern immer wieder behaupteten Zusammenhang zwischen den Mondphasen und der Häufung bestimmter Ereignisse vorgelegt worden. Im SKEPTIKER hat Edgar Wunder im Jahre 1995 den angeblichen "Geburtshelfer Mond" und das paranormale Überzeugungssystem des Lunatismus einer gründlichen Überprüfung anhand der wissenschaftlichen Literatur unterzogen, auf die auch im Folgenden Bezug genommen wird (5, 6). Anfang 1999 erschien in Österreich eine weitere empirische Studie von Smolle et al. (4), die mit Hilfe der Analyse von mehr als 14.000 Fällen zeigen konnte, dass eine Korrelation zwischen den Mondphasen und Operationskomplikationen nicht besteht. Aus den genannten Arbeiten und aus vielen weiteren dort zitierten Studien geht überzeugend und zweifelsfrei hervor, dass ein tatsächlicher, geschweige denn ein kausaler Zusammenhang zwischen einzelnen Mondphasen - insbesondere dem Vollmond - und der Häufung bestimmter irdischer Ereignisse wie Geburten, Operationskomplikationen, Verkehrsunfälle, Depressionen, Devisenkurssprüngen usw. nicht existiert. Um so erstaunlicher ist es, dass alle diese statistisch abgesicherten Erkenntnisse so gut wie keine läuternden Wirkungen nicht nur auf die professionellen Anhänger des Lunatismus haben, sondern ebenso wenig auf durchaus wissenschaftlich gebildete Zeitgenossen wie etwa praktizierende Gynäkologen. So legte eine von Benski geleitete Forschergruppe den Ärz- 2 ten einer Geburtsstation in Grenoble eine statistische Analyse der Geburtenverteilung in ihrer eigenen Klinik vor, die eindeutig ergab, dass kein Zusammenhang mit den Mondphasen bestand (1). Dennoch akzeptierten 6 von 7 befragten Ärzten das Resultat nicht, sondern vertrauten weiterhin auf ihre subjektiven Erfahrungen (6). In Übereinstimmung mit Kelly et al. (2) nennt Wunder (6) drei wesentliche Gründe für die hartnäckige Persistenz des Glaubens an geheimnisvolle lunare Einflüsse: 1. Fehlerhafte Vorstellungen bei Laien über die vom Mond ausgehenden, tatsächlich sehr kleinen Gravitationskräfte, 2. selektive Berichterstattung durch die Medien und 3. selektive Wahrnehmung bzw. Erinnerung auf Seiten "mondgläubiger" Beobachter. 2. Die Lichtgestalt des Mondes im Verlauf des synodischen Mondzyklus Ein weiterer, offenbar bislang wenig beachteter astronomischer Grund soll nun vorgestellt werden. Es geht dabei um den Wandel der Lichtgestalt des Mondes im Verlauf des synodischen Mondzyklus - der Zeitspanne zwischen zwei Vollmonden - von durchschnittlich 29,53 Tagen. Nach spontan geäußerter Meinung wohl der meisten Laien folgt dieser Phasenwandel einer linearen Funktion: Wenn man davon ausgeht, dass bei Neumond 0%, bei Halbmond 50% und bei Vollmond 100% der erdzugewandten Mondoberfläche sichtbar sind, dann würde diese Vermutung also bedeuten, dass die tägliche Zu- bzw. Abnahme der Mondsichel etwa 6,77% ihrer maximalen Größe betragen sollte. Ebenso herrscht die kaum hinterfragte Auffassung vor, dass beliebige Ereignisse, die bei Vollmond stattfinden, offenbar an einem von insgesamt 29,53 Tagen pro synodischem Zyklus eintreten sollten. Der "Erwartungswert" für solche Ereignisse läge demnach bei 1/29,53 entsprechend etwa 3,4%. Sofern sich Geburten, Operationskomplikationen, Verkehrsunfälle, Depressionen, Devisenkurssprünge usw. also zu einem wesentlich höheren Anteil als 3,4% bei Vollmond ereignen würden, hätte der Beobachter einen subjektiv plausiblen Grund für die Annahme der Hypothese eines Kausalzusammenhangs. Sowohl die Vermutung einer linearen Veränderung der Lichtgestalt des Mondes als auch die Idee, dass "eigentlich" nur rund 3,4% aller Ereignisse bei Vollmond stattfinden sollten, sind jedoch unzutreffend. Wie die Abbildung zeigt, folgt die tatsächliche Kurve der Zu- und Abnahme der Mondsichel nämlich annähernd einer Sinuskurve. Minimale 3 Schwankungen können durch die elliptische Bahn des Mondes um die Erde (Perigäum 356.400 km, Apogäum 406.700 km) erklärt werden. Da jedoch in Folge der kürzeren Dauer des anomalistischen Mondzyklus von nur 27,55 Tagen das Perigäum bzw. das Apogäum innerhalb der synodischen Mondzyklen scheinbar fortlaufend retrograd wandert, also von einem synodischen Zyklus zum nächsten rund 1,98 Tage früher eintritt, gleichen sich diese Schwankungen im Lauf eines Jahres aus. Die Besonderheit der Sinuskurve liegt nun aber darin, dass entgegen der oben formulierten Erwartung die Mondsichel gerade nicht regelmäßig um je rund 6,8% pro Tag anwächst oder schwindet, sondern dass die Veränderungen bei Halbmond maximal (10-11% pro Tag), bei Neumond und Vollmond jedoch minimal (0-1% pro Tag) sind. Entsprechende Tabellen stellt z.B. das Astronomical Applications Department des U.S. Naval Observatory in Washington, DC, auch online zur Verfügung; diese können im Internet unter der URL http://aa.usno.navy.mil/data/docs/MoonFraction.php abgerufen werden. Wenn wir nun - was einigermaßen realistisch ist und von jedem Leser nachgeprüft werden kann - davon ausgehen, dass mit bloßem Auge bereits/noch eine sichtbare Mondscheibe von 97% der erdzugewandten Mondoberfläche als kreisrund und insoweit als bereits/noch "voll" erkannt wird, so dehnt sich die Phase des visuell wahrgenommenen "Vollmondes" unter Berücksichtigung der beschriebenen Sinusfunktion auf insgesamt 3,27 Tage je synodischem Mondzyklus von 29,53 Tagen aus. In diesen Zeitraum fallen aber statistisch gesehen nicht lediglich 3,4% aller Ereignisse, sondern immerhin 11,1%. Analoges gilt für die Neumondphase. In der Abbildung markieren entsprechend die vertikalen Linien A und D die Dauer eines synodischen Mondzyklus, die Linien B und C begrenzen jene Phase, in der mindestens 97% der erdzugewandten Mondoberfläche sichtbar sind. 3. Zwei Einwände Nun könnte man zweifellos die Frage stellen, ob der am Himmel sichtbare Mond und seine Lichtgestalt für diejenigen Menschen, die an einen Einfluss des Erdtrabanten auf irdische Ereignishäufigkeiten glauben, tatsächlich eine Rolle spielt oder ob es sich nicht vielmehr so verhält, dass die meisten Zeitgenossen die Mondphasen heute aus entsprechenden Kalendern entnehmen. Insbesondere für den „harten Kern“ der astrologisch 4 orientierten Gemeinde mag dieser Einwand zutreffen; seit einigen Jahren sind vor allem die im Gefolge der Publikationen von Paungger/Poppe (3) erscheinenden Mondkalender recht populäre Bestseller geworden. Indessen besteht die feste Überzeugung vom Einfluss des Mondes nicht erst seit dieser neuesten Serie von Veröffentlichungen. Sie ist vielmehr uralt. Die Mehrheit der Menschen richtet sich nicht explizit nach astrologischen Kalendern und informiert sich auch nicht speziell in handelsüblichen Taschenkalendarien über die Mondphasen. In den heute gängigen Büro-Wochenkalendern werden die Angaben über Neumond, Halbmond oder Vollmond zudem überhaupt nicht mehr abgedruckt. Fragt man spontan im Bekannten- oder Freundeskreis nach, wann im laufenden Monat der Termin des Vollmondes sei, so löst man mit dieser Frage höchstens Verwunderung aus, erhält aber keine zutreffende Antwort. Die diffuse Überzeugung von der Wirkmächtigkeit der Monkräfte geht gerade nicht mit einer präzisen Sachkenntnis des synodischen Monats einher. Aus diesem Grund dürfte der eher zufälligen visuellen Beobachtung der Lichtgestalt des Mondes eine keineswegs unbeachtliche Bedeutung zukommen. Ein weiteres Gegenargument könnte lauten: Sind solche Wahrscheinlichkeitsüberlegungen, wie sie hier angestellt wurden, tatsächlich in der alltäglichen Wahrnehmung ausschlaggebend? Der naive Umgang mit Wahrscheinlichkeiten ist notorisch unzuverlässig, und man könnte vermuten, dass die meisten Menschen als Bestätigung für ihren „Mondglauben“ gar keine statistischen Berechnungen ausführen, sondern einfach ein oder zwei Fälle aus ihrem Bekanntenkreis bereits als Bestätigung ansehen. Auch dieser Einwand, der auf das bekannte Phänomen der „selektiven Wahrnehmung“ abhebt, trifft insbesondere für leicht zu überzeugende naive Zeitgenossen wohl zu. Gerade im Falle von kritischeren Personen, deren Einstellung nicht a priori als abergläubisch, para- oder gar antiwissenschaftlich einzuschätzen ist, dürften die Verhältnisse jedoch anders liegen. Die von ihnen immer wieder vorgetragene subjektiv sichere Überzeugung beruht auf einem durchaus „objektiven“ Kern, nämlich der mangelhaften geometrischen Durchdringung der astronomischen Gesetze des synodischen Mondumlaufs. Diese Tatsache lässt sich empirisch von jedem Leser leicht selber testen: Man frage einen durchschnittlich bis überdurchschnittlich gebildeten Menschen beim Anblick einer schmalen Mondsichel am Morgenhimmel, ob dies ein „zunehmender“ oder ein „abnehmender“ Mond sei. Die We- 5 nigsten sind dann auf Anhieb zu der richtigen Antwort in der Lage, dass dies nur ein „abnehmender“ Mond sein kann. 4. Resümee Tatsächlich entfallen auf den "Vollmond" des durchschnittlichen Nichtastronomen - und dazu zählen in der Regel Hebammen, Ärzte, Verkehrspolizisten usw. - bei vollkommen gleich verteilter Ereignishäufigkeit mehr als dreimal so viele Ereignisse als es der spontanen Erwartung entsprechen würde: Nicht 3,4%, sondern 11,1% aller Geschehnisse finden statt, wenn am Himmel "Vollmond" herrscht. Auf die in Folge der Sinuskurve recht spärlichen Stunden des zunehmenden oder abnehmenden "Halbmondes" entfallen demgegenüber sehr viel weniger irdische Begebenheiten. Die im Grunde einfachen astronomischen und geometrischen Verhältnisse am Himmel sind deshalb durchaus dazu geeignet, nicht nur Mystiker in ihrem Irrglauben zu bestärken, sondern auch halbwegs rational denkende Betrachter zumindest eine Weile zu verwirren. 6 Literatur: 1. Benski, C.: A Pedagogical Project of Paranormal Research in an Engineering School. Skeptische Notities 8: Science or Pseudo? The Mars Effect and Other Claims. Proceedings of the Third EuroSkeptics Congress. Amsterdam, 77, 1992. 2. Kelly, I.W., Rotton, J., Culver, R.: The Moon was full and nothing happened: A Review of Studies on the Moon and Human Behavior and Lunar Beliefs. Skeptical Inquirer 10, No. 2, 129, 1986. 3. Paungger, J., Poppe, T.: Vom richtigen Zeitpunkt. Die Anwendung des Mondkalenders im täglichen Leben. Aktualisierte Ausgabe mit neuen Kalendern bis 2004. Wilhelm Heyne Verlag, München 1999. 4. Smolle, J. et al.: Mondphasen und Operationskomplikationen - eine Analyse von mehr als 14.000 Fällen. Acta Chir. Austriaca 31, 36-40, 1999. 5. Wunder, E.: Geburtshelfer Mond? Zum paranormalen Überzeugungssystem des Lunatismus und seiner empirischen Überprüfung. Teil 1: Die Forschungsgeschichte von 1829 bis heute. Skeptiker 8, 7-14, 1995. 6. Wunder, E.: Geburtshelfer Mond? Zum paranormalen Überzeugungssystem des Lunatismus und seiner empirischen Überprüfung. Teil 2: Weitere schlechte Nachrichten für Mondgläubige. Skeptiker 8, 51-57, 1995.