Hans J. Wulff Unter Einfluß
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Hans J. Wulff Unter Einfluß
Hans J. Wulff Unter Einfluß Eine erste Fassung dieses Artikels erschien als „Bringt sie zur Vernunft!“ in: Dr. med. Mabuse 28,142, 2003, S. 49-50. Bibliographische Angabe der Online-Fassung: http://www.derwulff.de/9-30. A Woman under the Influence (Eine Frau unter Einfluß). USA 1974. Regie, Buch: John Cassavetes; Kamera: Mitch Breit. Darsteller: Peter Falk (Nick Longhetti), Gena Rowlands (Mabel Longhetti), Matthew Cassel (Tony Longhetti), Matthew Laborteaux (Angelo Longhetti), Cristina Grisanti (Maria Longhetti), Katherine Cassavetes (Mama Longhetti), Lady Rowlands (Martha Mortensen). OscarNominierung 1975; Golden Globe für die beste Darstellerin 1975; Preis des NBR für die beste weibliche Hauptrolle 1974. Farbig. 146 Minuten. FSK ab 16. Irr blickende Augen, verzerrte Gesichtszüge, höchste Körperspannung: Das Bild des Psychopathen in den Bildern des Films ist stereotyp, zeigt ein menschliches Monster außerhalb jeder Kontrolle. Von ihm geht die größte Gefahr aus, es ist unberechenbar, seine Wut und seine Mordlust kennen kein Maß. Der Film-Psychopath scheint das Böse schlechthin zu verkörpern, er kennt keine Grenzen, gerade das macht ihn dramaturgisch interessant. Und doch gibt es Filme, die das Sujet anders behandeln. Einer kommt neu ins Kino, der schon 1974, als er zuerst lief, tief beeindruckte und dessen Titel in den allgemeinen Sprachgebrauch einwanderte. Eine Frau unter Einfluß näherte sich ebenso fasziniert wie geduldig dem an, was in einer normalen Familie passiert, wenn einer aus ihrer Mitte „unter Einfluß“ gerät. Was die Beteiligten tun, um die Normalität oder wenigstens ihren Anschein aufrecht zu erhalten. Es geht dem Film weniger darum, was mit der Frau geschieht, die unter Einfluß gerät, als vielmehr darum, wie hilflos die anderen sind, mit ihr umzugehen. Die Rede ist von John Cassavetes‘ komplexem und wunderbarem Film A Woman under the Influence (USA 1974), den der kleine Berliner FSK-Verleih wieder ins Kino gebracht hat (Bundesstart: 2.1.2003). Es geht um die von Gena Rowlands gespielte Mabel geht, Mitte dreißig, Mutter von drei Kindern, Hausfrau. Sie ist verheiratet mit Nick, einem italienischen Arbeiter (Peter Falk). Sie gilt gemeinhin als „nicht ganz normal“, und sie schreckt ihre Mitmenschen auf durch heftige Gefühlsausbrüche, sprunghafte, schwer verständliche Handlungen und Reden. Sie wirkt schwach, passiv und einem Kinde ähnlich. So ist es für sie schwierig, dem Ehemann, den Eltern, den Freunden Widerstand entgegenzusetzen - allen jenen, die versuchen, sie in Übereinstimmung mit ihren Erwartungen zu bringen. Allerdings hat ihre kindliche Natur auch ihre positive Seite; sie ist vital und kreativ im Kontrast zu den förmlich und steif wirkenden anderen, die sie oder ihr Verhalten ablehnen und verurteilen. Mabels Kreativität ist allerdings beschränkt auf die Erfindung von Spielen, und sie sucht in keinem Moment nach anderen Ausdrucksmöglichkeiten für ihre Talente. Sie identifiziert sich mit ihren Kindern, die sie lieben und die sie, in der Auseinandersetzung am Schluß, gegen die Welt der Erwachsenen zu verteidigen suchen. Aber die Kinder sind, wie ihre Mutter, machtlos. Ein anderer Zug an ihr, der immer wieder zu Irritationen und Verstörungen führt, ist ihre Unfähigkeit, ihre sexuellen Bedürfnisse in den familiären Kontext einzubringen. Einsam und ruhelos nach Intimität suchend, nimmt sie eine Beziehung zu einem Fremden in einer Bar auf, obwohl sie ihren Mann wirklich liebt. Aber seine Arbeit und seine Freunde beschäftigen ihn ganz - und Mabels Bedürfnisse sind groß. Sogar im Kontakt mit den Freunden ihres Ehemanns begeht sie unschuldige Fehler, weil sie die Grenzen nicht versteht, die physischer Nähe gezogen sind. Schließlich, und dies ist der eigentliche Punkt, zeichnet der Film das Bild einer autoritären und von Männern kontrollierten sozialen Situation, in der die Frau unmerklich zum Opfer wird, wenn sie ihre Bedürfnisse einzubringen versucht. Die Männer, die in Mabels Geschichte eine Rolle spielen, sind zwar alle freundlich und liebevoll (insbesondere: ihr Mann, ihr Arzt, ihr Vater), doch sorgen sie unbewußt dafür, daß Mabel in die Krankheit abgleitet - indem sie dafür sorgen, daß die Regeln des Anstandes und die Autorität des Mannes gewahrt bleiben. Eine Frau unter Einfluß illustriert Thesen, die in der Psychiatrie einmal intensiv diskutiert worden sind und die die psychische Krise mit den Profilen der Macht zusammengebracht haben, in denen sich Alltagsleben abspielt und nach denen sich die Strategi- en ausrichten, Normalität herzustellen. Nach dieser Sicht entspringt psychische Krankheit nicht der Schwäche und der Weichheit von einzelnen, sondern entsteht in der Psychodynamik der sozialen Gruppe, ihrer Widersprüche und double-bind-Situationen. Ihr Zentrum ist die Beharrlichkeit, mit der soziale Kontrolle ausgeübt wird, um die Normen instand zu halten. In diesem Sinne produziert eine Gesellschaft den Wahnsinn, indem sie ihn definiert. Mabels exzentrisches Verhalten wird als „verrückt“ definiert und dementsprechend wird sie abgestraft. Sie ist in einen Zirkel geraten, in dem die Abweichlerin immer wieder als Andersartige bestätigt wird. Die gleichermaßen extremen Verhaltensweisen ihres Mannes, der sie einzuschüchtern versucht, oder ihres Arztes, der sie gelegentlich - in einem Versuch, Mabel unter Kontrolle zu bringen - quer durch den Raum und über die Möbel hinweg jagt, werden dagegen nicht als pathologisch ausgewiesen. Unmerklich entwickelt sich Mabel immer mehr aus den Standards, unter die sie auch ihr Mann zwingen will, heraus. Der Familienalltag wird durch die schleichende Auseinandersetzung Mabels mit ihrem Mann, der zu verbalen Mitteln kein Verhältnis hat und ab und an gewalttätig versucht, sie „zur Vernunft“ zu bringen, immer unruhiger, die Ordnung der Familie ist gestört. Nick, Mabels Mann, kann sich im Grunde nicht vorstellen, dass es möglich wäre, auf Mabel anders einzugehen als mit Mitteln der Gewalt und der Unterdrückung. Für ihn stehen das Image, das er in seinem Freundeskreis als Vater in einer funktionierenden, „normalen“ Familie genießt, die Durchsetzung der von ihm als „normal“ angesehenen Formen des Zusammenlebens und der Rollenverteilung und damit die Wahrung seiner Selbstachtung im Vordergrund. Die Geschichte des Films ist schnell erzählt und tritt im Grunde gegen die Details der Situationen, in denen sie entfaltet wird, in den Hintergrund: Nach diversen Irritationen, die von Mabel ausgehen, versucht Nick, mit Gewalt geordnete Verhältnisse durchzusetzen. Mabel flüchtet sich in bizarres und merkwürdiges Verhalten. Nick läßt sie in die Anstalt einweisen. Nach einem halben Jahr verläßt Mabel die Klinik wieder, zu Hause erwartet sie der Familienclan wie zu einer Prüfung (als wollten die Anwe- senden kontrollieren, ob die Delinquentin sich nun „wie ein gesitteter Mensch“ aufführen werde). Man merkt Mabel an, daß sie Angst hat und daß sie dem Druck der Situation nicht lange standhalten können wird; sie führt sich auf wie ein dressiertes kleines Äffchen, ist unterwürfig-freundlich zu allen, beachtet alle Höflichkeitskonventionen - während die Augen aller auf ihr liegen. Auch Nick begreift, daß Mabel in dieser Lage Gefahr läuft, erneut zusammenzubrechen, und schickt die Familie nach Hause. Wieder kommt es zwischen den beiden zu einer großen Auseinandersetzung, Mabel scheint sich nicht verändert zu haben, sie ist immer noch sensibel, nervös und zu extremer Auseinandersetzung bereit. Vor den Augen der Kinder, in der Küche - die Gäste sind gegangen -, schneidet sie sich die Pulsadern auf. Nick schlägt sie nieder; die Kinder wollen sie beschützen und stellen sich gegen Nick. Er verbindet Mabel die Handgelenke. Gemeinsam bringen sie die Kinder zu Bett, räumen auf und machen für die Nacht ihr Ehebett zurecht. Mit dem Abklingen des Streits endet so der Film, Lösungen bietet er nicht. Im Untergrund der vordergründigen Geschichte spielen die stillschweigenden Erwartungen, die die Personen sich gegenseitig unterstellen (und über die sie nicht sprechen, ja auch nicht sprechen können), die eigentliche Hauptrolle. Diese Erwartungen determinieren, was als das „Normale“ angesehen wird. Das „Normale“ - das ist das Alltagsleben, wie es sein sollte, ein Wunschtraum, eine Schimäre; gleichwohl ist es der Maßstab, an dem sich die Abweichung bemißt, und die Instanz, vor der die Abweichler zur Rechenschaft gezogen und „normalisiert“ werden. Weder Mabel noch Nick sind diesem Gefüge von Sollzuständen innerlich gewachsen, das zu erreichen in jenem Strudel von „Tagesablauf, Tagschicht, Nachtschicht, Uhrzeit, Organisation, Programm, Normen, Befehlsformen“ fast unmöglich erscheint. Der Widerspruch zwischen einem alltäglichen Leben, wie es für das Bewußtsein der Beteiligten als Wunschvorstellung wichtig ist, und den tatsächlichen Bedingungen, unter denen sie das gewünschte alltägliche Leben nicht realisieren können - Eine Frau unter Einfluß übt implizite Kritik an einer Vorstellungswelt, die einen Alltag festschreibt, und sei es um den Preis der in ihr Lebenden.