BRIGITTE 01/2015_“Die Realität darf auch hier anklopfen
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BRIGITTE 01/2015_“Die Realität darf auch hier anklopfen
dossier Psychologie wie halten wir die welt noch aus? IS-Terror, Ukraine-Krise, Ebola-Tote und Millionen Menschen auf der Flucht – in diesem Jahr nahmen die Horrornachrichten kein Ende. Aber wie gehen wir damit um? Wir haben Menschen gefragt, die sich der Ohnmacht stellen. Jeder auf seine Weise Fotos Jens Boldt Br i g itt e .d e 1/2 0 15 95 dossier „Zu viel Ruhe w re zynisch“ Der Philosoph und Bestsellerautor WILHELM SCHMID rät zu Gelassenheit, aber nicht zu Ignoranz. Den Grat dazwischen zu finden ist die eigentliche Herausforderung K ann man gelassen sein angesichts der beunruhigenden Geschehnisse in der Welt? Diese Frage wird mir oft gestellt. Im Frühjahr 2014, als die Krisen in der Ukraine, in Westafrika, im Irak und in Syrien zu kulminieren begannen, publizierte ich ein Buch: „Gelassenheit – Was wir gewinnen, wenn wir älter werden“. Ein Überraschungserfolg. Nicht auszuschließen, dass das etwas mit den Weltläufen zu tun hat: Wäre es nicht schön, jetzt mehr Gelassenheit zu haben? Sie verspricht mehr Ruhe, wenigstens im eigenen Inneren – aber soll das auf Ignoranz und Untätigkeit gegenüber äußeren Verhältnissen hinauslaufen? Am besten, ich verstecke mich nicht hinter einem anonymen „Man“, also deutlicher: Kann ich gelassen sein? Bisher ja, aber ignorant und untätig will ich nicht sein. Das Gefahrenpotenzial ist zu groß, und zu viel Ruhe wäre zynisch angesichts des Leids, das viele Menschen erfahren. Auch eine so erstrebenswerte Haltung wie die Gelassenheit kann zum Problem werden, wenn sie totalisiert wird und zu einer Scheinruhe führt, wo Unruhe ratsamer wäre. Auch die Gelas- 96 B r i g i tte .de 1 / 2015 senheit muss atmen können: Mal ist sie da, einatmen, dann ist sie weg, ausatmen. Jetzt ist sie dabei, zu kippen, ich werde unruhig und beginne, mir Fragen zu stellen: Wie kann ich mich und die Meinen schützen? So weit ist es noch nicht. Noch. Und was kann ich in der jetzigen Situation tun, um zu helfen? Die ehrliche Antwort ist wohl: wenig. Aber wenig ist schon mehr als nichts. Und was genau kann ich tun? In Bezug auf Ebola kann ich erst einmal den Mut vieler Freiwilliger bewundern, die sich für einen Hilfseinsatz melden. Würde ich ebenfalls so viel Mut aufbringen, wenn ich für einen Einsatz qualifiziert wäre? Mit der Verantwortung für eine Familie zu Hause? Zweifelhaft. Was ich jedoch tun kann: aus den gelegentlichen Spenden für „Ärzte ohne Grenzen“, deren Arbeit mir schon lange imponiert und die auch in diesem Fall sehr früh vor Ort waren und die Lage richtig einschätzten, häufigere Überweisungen machen. Und was die Ukraine angeht, beeindruckt mich die Idee der deutschen Regierung, mit Lastwagenkonvois viele Heizöfen dorthin zu bringen, wo sie unabhängig vom russischen Gas funktionieren. So einen bezahle ich auch gern – wo kann ich mich dafür anmelden? Ein schlechtes Gewissen muss niemand haben. Es geht hier nicht um Moral, sondern um Klugheit, die Suche nach praktikablen Lösungen und einen angemessenen eigenen Beitrag dazu. Wenn jemand keinen Beitrag leisten kann oder will, dann ist das halt so. Die Schwelle zur Hilfsbereitschaft ist auch für mich nicht immer klar: Wäre ich bereit, mehr als nur ein bisschen Geld zu geben, beispielsweise meine eigene Wohnung für Flüchtlinge aus Syrien oder Asylsuchende aus Afrika zu öffnen? Jetzt noch nicht, aber wenn die Ströme weiter anschwellen . . . Ich denke darüber nach, wie das familienintern zu organisieren sein könnte. Und, als Staatsbürger, auch darüber, wie viele Bedürftige die Gesellschaft insgesamt verkraften kann, ohne auseinanderzubrechen, womit niemandem geholfen wäre. B eim Eigeninteresse anzusetzen ist klug. Es ist verpönt – aber heimlich macht das jede und jeder, denn dann sieht die Welt gleich etwas überschaubarer aus. Eigene Sorgen dürfen ernst genommen werden, die kleinen alltäglichen wie die größeren in Bezug auf das Weltgeschehen. Aus Eigeninteresse orientiere ich mich aber auch an der goldenen Regel, die leichter zu verstehen und einfacher zu handhaben ist als komplizierte moralische Erwägungen: Was würde ich mir wünschen, wenn ich selbst in eine missliche oder gar lebensbedrohliche Lage geriete? Dass andere sich nicht abwenden? Dann ist es eine gute Idee, das jetzt selbst ebenfalls nicht zu tun, denn wer weiß, wann ich meinerseits auf andere angewiesen bin. Das halten viele für undenkbar, aber die Lebenserfahrung und die Geschichte zeigen, dass es nicht unmöglich ist. wilhelm schmid, 62, lebt als freier Philosoph in Berlin (www.lebenskunst philosophie.de) und lehrt als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. 2012 erhielt er den deutschen Meckatzer-Philosophie-Preis für besondere Verdienste bei der Vermittlung dieser Wissenschaft, 2013 den schweizerischen Egnér-Preis für sein bisheriges Werk zur Lebenskunst. Sein aktuelles Buch ist ein Bestseller: „Gelassenheit – Was wir gewinnen, wenn wir älter werden“ (Insel Verlag,118 S., 8 Euro). dossier W er immer nur zufrieden sein will, kann keine Störung mehr verkraften, nicht im Privaten, nicht im Politischen. Dabei weiß doch jede und jeder, dass das Leben nie nur aus Zufriedenheit besteht, immer auch aus Unzufriedenheit, nie nur aus Glück, immer auch aus Unglücklichsein. Schon bei zweien kommt immer wieder „etwas dazwischen“, Ärger, Disharmonie, vielleicht Streit. Das Leben kennt nicht nur das Positive, nie nur Freude, Harmonie, 98 B r i g i tte .de 1 / 2015 Frieden. Es ist erfüllt von Polarität, daraus bezieht es seine Spannung. Menschen brauchen Herausforderungen, um sich und das Leben zu spüren, sich weiterzuentwickeln und nicht vorzeitig einzuschlafen. Herausforderungen zu bewältigen, das ist wahre Lebenskunst. Wie soll es nun weitergehen? Hilfreich wäre, sich vom Ideal des Ewigen Friedens zu verabschieden, sowohl zu Hause als auch in der Weltgesellschaft. Warum die hartnäckige Parallelisierung des Kleinen und Großen? Weil viele etwas von „der Welt“ erwarten, was sie zu Hause schon mit zwei, drei, fünf Das Glück muss auch immer mal wieder ausatmen Menschen nicht zustande bringen. Wie soll das mit sehr viel mehr und gegensätzlicheren Menschen funktionieren? Die universelle Harmonie wird unter menschlichen Bedingungen nie zu verwirklichen sein, denn so spielt das Leben nicht. Das ist kein Argument gegen Versuche zur Weltverbesserung. Aber eines gegen Illusionen eines künftigen Endsiegs gegen alles Negative dieser Welt. Depressiv werden jetzt vor allem diejenigen, deren Maßstab das gelingende Leben ist. Sie versuchen sich abzuschotten gegen alles Negative, das ein Misslingen herbeiführen könnte, und kommen doch nicht dagegen an. Der kleinste Einbruch des Negativen deprimiert sie, erst recht der größere. Eine kleine Änderung der Haltung würde alles ändern: Wer bereit ist, die Existenz des Negativen anzuerkennen, kann sich pragmatischer um die jeweiligen Probleme im Alltag oder in der Weltpolitik kümmern. Er oder sie muss nicht mehr verzweifeln, wenn der Lack der Zufriedenheit und Selbstzufriedenheit Kratzer abbekommt. Ist es aber wenigstens in Ordnung, angesichts der Überfülle schlechter Nachrichten gar keine Nachrichten mehr sehen, hören, lesen zu wollen? Ja, natürlich, es ist sinnvoll, Grenzen zu ziehen, vor allem dann, wenn Übeltäter uns bestialische Bilder ins Hirn brennen wollen. Hier ist es angebracht, die Augen zu verschließen. Aber, nein, es ist nicht sinnvoll, überhaupt nichts mehr wahrnehmen zu wollen. Den Kopf in den Sand zu stecken war noch nie eine Lösung. Was dann? Die immer neue Bereitschaft, für einen Moment innezuhalten und nachzudenken über die eigene Weltsicht, die vielleicht korrekturbedürftig ist. B eispielsweise darüber, dass viele von uns bis vor Kurzem von einer Armee nichts mehr wissen wollten. Wozu braucht man die noch, wenn man überall auf der Welt von Freunden umstellt ist? Nun aber entrüsten wir uns plötzlich sehr heftig über Rüstungsmängel. Wie bitte?! Seien wir ehrlich: Diese Mängel haben auch etwas mit dem eigenen Glauben an das Ende gewaltsamer Auseinandersetzungen zu tun. Aber nicht alle in dieser Welt träumen vom Weltfrieden. Wie wertvoll erscheint da doch klammheimlich das hochgerüstete Potenzial einer ansonsten verachteten Weltmacht: Gegen Ausbrüche von organisierter Bestialität helfen nun mal am besten Panzer und Bomben, diplomatische Depeschen eher nicht. Die Geschichte lehrt uns, dass es besser ist, gegen Eventualitäten gewappnet zu sein. Die persönliche Erfahrung zeigt, dass ein „Stinkstiefel“ in einer Gruppe ausreicht, um den Frieden zu stören – und dann? Gelassen bleibt derjenige, der Störfälle von vornherein miteinbezieht und Antworten darauf vorbereitet, selbstverständlich erst einmal mit friedlichen Mitteln. Er muss sich nicht lang damit herumschlagen, dass sein Weltbild aus den Fugen gerät, sein Glück in Gefahr ist. Er kann sich auf die Suche nach den gangbarsten Lösungen machen, sei es im alltäglichen Leben oder bei größeren Herausforderungen in der Welt. Kann sein, dass wir in der aktuellen Situation für eine Weile noch Zuschauer bleiben können. Aber hoffentlich welche, die menschliches Interesse zeigen und sich nicht angewidert abwenden. Was bedeutet das für mich? Das ist die entscheidende Frage. „natürlich frage ich Gott: Was soll das?“ Die Ordensschwester SILKE ANDREA MALLMANN hat viele Menschen sterben sehen. Für sie ist der Glaube eine ständige Suche, zu der auch der Zweifel gehört Z F oto G ert Egg enb e rg er Viele wenden sich dennoch ab. Kann das etwas damit zu tun haben, dass sie sich seit einiger Zeit nur noch für ihr Glück interessieren? Dass sie sich von allen möglichen Ratgebern einreden lassen, Glück sei das Wichtigste im Leben, ohne Glück lohne sich das Leben gar nicht mehr? Und was ist Glück? Es heißt, es sei in der Zufriedenheit zu finden. Ein neues Ereignis hat an Bedeutung gewonnen, das frühere Jahrzehnte und Jahrhunderte nicht kannten; Jahr für Jahr wird es von Medienrummel begleitet: Der sogenannte „Glücks-Atlas“ wird publiziert. Ihm kann das staunende Land den Pegelstand seiner Zufriedenheit entnehmen, ob das hohe Niveau noch ein Zehntelprozent höhergerutscht ist, ob die Münchner zufriedener sind als die Hamburger, die Schwaben weniger zufrieden als die Schleswig-Holsteiner, der Westen zufriedener als der Osten. Ach, Deutschland, sind das deine Sorgen? Es war lange schon zu befürchten: Dieses Glück ist asozial. Die Glückssuchenden sind nur noch um ihr Glück besorgt. Es ist ja schön, wenn es auch mal Wohlgefühl und Zufriedenheit im Leben gibt, jede und jeder soll das genießen können. Aber das ist nicht ohne Unterlass möglich, bestenfalls gibt es Teilzeitglückliche, da auch das Glück zwischendurch immer wieder ausatmen muss. Die um Vollzeit Bemühten stehen in Gefahr, den Sinn für soziale, ökologische und politische Probleme zu verlieren. Sogar dann, wenn ihnen im Freundeskreis jemand begegnet, der „nicht gut drauf ist“, bescheiden sie ihn gern: „Du ziehst mich runter“ – kein Gedanke daran, dass sie selbst übermorgen des Zuspruchs bedürftig sein könnten. Stellen wir uns so das Zusammenleben vor? um Höhepunkt der Aids-Epidemie arbeitete ich acht Jahre in Südafrika in einer Klinik. Wir hatten zu Anfang keinerlei HIV-Medikamente, medizinisch konnten wir für unsere Patienten fast nichts tun. Jeden Tag sind sieben, acht junge Leute gestorben. Das ist Leid, das man nicht verstehen kann. Jedes Wort ist zu viel. Man kann da nichts wegbeten. Ich finde, es ist ganz wichtig, dass man dann auch zweifeln darf. Glauben ist ja nicht Wissen, sondern Immer-WiederSuchen. Dazu gehören Zweifel. Davor darf man keine Angst haben. Denn der Zweifel führt nicht dazu, dass ich mich von der Gottsuche abwende, sondern eröffnet eine Auseinandersetzung mit ihm. Da sitzt plötzlich etwa eine Mutter in der Klosterküche, ihr Baby auf dem Arm, das auf der Flucht im libyschen Sand geboren wurde. Irgendwie sind sie auf ein Schiff nach Lampedusa gelangt. Dann frage ich Gott schon: „Was soll das? Was willst du uns damit sagen? Was willst du, dass wir jetzt tun?“ Mir ist klar, dass ich allein das Leid in Syrien nicht lindern kann. Aber ich kann das Leid ändern, das bei mir vor der Tür steht. Das fängt im Kleinen an: Unsere Kindergartenkinder haben entschieden, dass sie einmal in der Woche keinen Kakao trinken und das gesparte Geld einem betroffenen Kind spenden. Dabei kommen keine Riesensummen zusammen, aber das ist egal. Und es geht auch nicht an, dass man sagt: „Verzichtet doch jeden Tag auf euren Kakao!“ Diese Vierjährigen sind stolz. Und jeden Mittwoch, wenn es den Kakao nicht gibt, ist das Bewusstsein da, dass man selbst etwas beitragen kann, damit sich etwas bewegt. Ich glaube, das ist ein Prozess: Man gewöhnt sich daran, zu fragen, welche Folgen das eigene Verhalten für andere hat. Trotzdem sollte ich mich nicht nur verpflichtet fühlen, zu helfen. Das wäre mir zu wenig. Hilfe, die mit zusammengebissenen Zähnen gegeben wird, bringt nichts. Ich bin eingeladen, Stellung zu beziehen, zu helfen, und ein „Ja“ zu dieser Einladung wiegt viel mehr als eine Verpflichtung. Ich kann verstehen, wenn jemand diese Einladung ausschlägt, etwa weil er zu belastet ist durch private Sorgen. Dann muss derjenige sich erst um sich selbst kümmern. Das ist ganz wichtig. Wenn ich mir selbst nicht erlaube, dass es mir gut geht, kann ich es irgendwann auch anderen nicht mehr erlauben. Auch ich muss auftanken, damit ich geben kann. Stille tut mir gut. Und natürlich ziehe ich Kraft aus dem Glauben. Diese leidfreie Welt, von der wir alle träumen, die gibt es nicht. Leid gehört dazu. Energie darauf zu verschwenden, es auszugrenzen, ist kontraproduktiv. Wichtig ist, wie ich im Leid gut mit ihm umgehen kann, welche Bedeutung ich ihm gebe. Mir hilft der Gedanke, dass Christus auch im Leid ein Stück weit anwesend ist. Protokoll: Antje Kunstmann silke andrea mallmann, 46, ist Psychologin und Ordensfrau der Missionsschwestern vom Kostbaren Blut in Wernburg, Österreich. Sie leitet heute in Kärnten die TalithaBeratungsstelle für Prostituierte und Opfer von Menschenhandel. Br ig it t e. de 1/ 2 015 99 dossier „mir erscheint jedes alltagsproblem banal“ Die Freiburger Studentin DUNJA KHOURY reist regelmäßig an die syrisch-türkische Grenze, um in einem Krankenhaus zu helfen. Der Umgang mit dem Leid dort fällt ihr schwer. Die Rückkehr in ihre heile Studentenwelt fast noch mehr S eit Anfang 2013 war ich fünfmal im türkischen Reyhanı direkt an der syrischen Grenze, um dort in einem Krankenhaus zu helfen. Behandelt werden dort hauptsächlich die Opfer des syrischen Konflikts. Gelegentlich arbeite ich auch in einem Flüchtlingslager auf der anderen Seite der Grenze, aber meist bin ich in dem Krankenhaus. Meine Familie stammt aus Syrien, ich spreche Arabisch, ich habe in Damaskus Verwandte, die ich früher mit meinen Eltern oft besucht habe. Als der Konflikt ausbrach, wollte ich unbedingt helfen. Erst bewarb ich mich bei den großen Hilfsorganisationen als Freiwillige, bekam aber nur Absagen. Mein Vater hatte aber den Kontakt zu der Klinik, daher habe ich mich direkt dorthin gewandt. In dem Krankenhaus sind Kinder, die beim Spielen auf der Straße angeschossen worden sind, Frauen in Rollstühlen, Menschen, deren komplette Familien bei Luftangriffen umgekommen sind. Viele haben einen großen Drang, sich jemanden mitzuteilen, der von außen dazukommt und nicht seine eigene Leidensgeschichte mitbringt. Meist höre ich 100 B r i gitte .de 1 / 2015 einfach nur zu, male mit den Kindern Bilder. Hauptsächlich geht es darum, den Menschen zu zeigen, dass sie nicht allein sind in ihrem Schmerz. Es ist manchmal schwer für mich, diese ganzen Geschichten voller Traurigkeit und Wut aufzunehmen. Bei meinem ersten Aufenthalt habe ich viel geweint und wollte sofort wieder gehen, weil ich mich so hilflos und ohnmächtig fühlte. Ich bin auf meine Aufgabe von einem Dozenten ein bisschen vorbereitet worden, aber diese Professionalität eines fertigen Psychologen habe ich noch nicht. Vielleicht werde ich sie nie haben. Bei meinem letzten Aufenthalt hatte ich viel Kontakt zu einem jungen Paar, sie 19, er 25, deren zwei kleine Kinder vor ihren Augen getötet wurden. Ich weiß nicht, wie es möglich ist, das nicht zu sehr an mich heranzulassen. Mir ist klar, dass ich mich nicht für den ganzen Schmerz der Welt öffnen kann. Ich weiß, dass Abschottung manchmal nötig ist, auch ich mache das oft genug, ich habe beispielsweise aufgehört, Nachrichten aus Syrien zu lesen. Wenn ich nur auf das Leid schaue, dann fühle ich mich machtlos. Aber wenn ich mich dabei frage: „Wie kann ich helfen?“ bin ich nicht mehr ganz so machtlos. Ja, ich kann nichts an der Politik ändern, ich kann nicht das Regime stürzen, ich kann keinen Frieden schaffen. Aber als Mensch kann ich einem anderen Menschen helfen, materiell oder nichtmateriell. Das habe ich hier gelernt: Für den einzelnen Menschen macht es einen Unterschied, ob ich zu ihm hingehe oder nicht. Und das gilt immer und überall. Als ich nach meinen ersten Aufenthalten nach Deutschland zurückgekommen bin, konnte ich die Alltagsprobleme der anderen kaum anhören. „Die Uni ist so schwer“, „der Freund hat nicht angerufen“, „die Diät hat nicht angeschlagen“, das erschien mir alles so banal, und ich war immer kurz davor, zu sagen: „Du hast gar keinen Grund zu meckern, dir wurden nicht die Hände abgehackt, und du weißt, wo du heute schlafen kannst.“ I ch habe eine Zeit lang gebraucht, bis ich gemerkt habe, dass ich den anderen keinen Vorwurf machen kann. Jeder Mensch hat ein Recht auf seine Alltagsprobleme, und keiner hat das Recht, die Probleme anderer zu verurteilen. Ich kann nicht in den Kopf der anderen schauen und weiß nicht, was sie empfinden. Auch ich selber habe meine kleinen Sorgen, ich gestehe sie mir auch mittlerweile wieder zu. Aber ich bin insgesamt dankbarer geworden. Vor Kurzem musste ich viel für eine Prüfung lernen und jammerte sehr. Dann telefonierte ich mit einem Freund in Syrien, der seinen Abschluss nicht mehr machen kann, weil die Checkpoints auf dem Weg zur Uni ständig bombardiert werden – und ich wurde wieder daran erinnert, wie gut ich es habe. Ich habe Probleme wie andere auch. Aber ich wertschätze mehr, was ich habe. Protokoll: Sonja Niemann dunja khoury, 23, studiert Psychologie in Freiburg. Sie ist in Bayern geboren und aufgewachen, ihre Eltern stammen aus Syrien. Sie engagiert sich für die Barada Syrienhilfe e. V., einen von ihrem Vater gegründeten Verein, der u. a. humanitäre Hilfslieferungen nach Syrien organisiert und Schulen im Land aufbaut. dossier „haben wir angst – oder hat die Angst uns?“ Wenn man das Gefühl hat, dass selbst das friedliche Leben vor der eigenen Haustür bedroht ist, kann man nicht weglaufen. Psychologe und Therapeut OSKAR HOLZBERG über die Ratlosigkeit, wenn alte Sicherheiten nicht mehr gelten J oskar holzberg, 61, arbeitet als Psychotherapeut in eigener Praxis in Hamburg und schreibt regelmäßig als Kolumnist in BRIGITTE. a, wie halte ich die Welt noch aus, jetzt, wo plötzlich vieles, was so fern schien, so nahkommt? Meine Gewissheit, dass ich hier in Europa keine Gewehre und Panzer mehr fürchten muss, ist durch den Krieg in der Ukraine ins Wanken geraten. Endlose Flüchtlingsströme brauchen mehr als eine Matratze in der nächsten Turnhalle. Die gewaltsamen Konflikte erscheinen immer unlösbarer. Die Angst kriecht in mir hoch, der nächste Ebola-Kranke könnte in meiner U-Bahn fahren und die hirnlosen dschihadistischen Killer mitten in meiner Einkaufszone Attentate verüben. Noch erscheinen mir meine Ängste dumm und übertrieben, ich möchte sie wegschieben. Aber es gelingt mir nicht. Denn sicher fühle ich mich schon länger nicht mehr. Ich lebe zusehends in immer dunkler werdenden Schatten unbeherrschbarer Mächte. Die unheimliche, weil alles umspannende Finanzkrise, die fortschreitende Umweltzerstörung und die alles verändernde digitale Technologie umhüllen mich wie eine unberechenbare Aura. Ich fühle mich immer mehr wie die Nussschale auf dem Ozean, die ihren Kurs nicht selbst bestimmen kann. Die Vorstellung, dass selbst das friedliche Leben direkt vor meiner Haustür zerbröseln kann, macht mich ratlos. Ich bin verloren zwischen dem dringenden Gefühl, viel mehr tun zu müssen, und einer lähmendenden Sinnlosigkeit, weil mir alles, was ich tun kann, wie ein lächerlicher Tropfen auf den heißen Steinen der Weltkonflikte erscheint. Seitdem Enthauptungen live gepostet werden, bin ich in Echtzeit dabei. Und mein „unbeteiligtes Beteiligtsein“, wie es die Publizistin Carolin Emcke nennt, ist kaum auszuhalten. Die Augen jetzt zu verschließen, alle Nachrichtenkanäle abzuschalten und meine ganze Aufmerksamkeit auf meine Familie und die letzte Staffel von „How I Met Your Mother“ zu richten ist keine Lösung. Aber heißt das, dass ich mein gesamtes kleines Leben nicht mehr wichtig nehmen darf? Die Probleme mit dem Heizungsmonteur und die Angst um die Altersvorsorge sind vergleichsweise jämmerlich lächerlich. Aber Nöte fühlen sich nicht kleiner an, weil es irgendwo noch größere Nöte gibt. „Leiden auf hohem Niveau“ ist im- mer noch Leid. Schlechte Gefühle werden durch Vergleiche nicht besser. Ich kann und ich sollte auch nicht alle guten Momente in meinem Leben einfrieren, weil die Welt voller Schmerzen ist. Im Gegenteil. Ich brauche die Kraft, die ich daraus gewinnen kann. Aber was mache ich damit? Ich habe keine Antwort. Ich könnte sagen, dass jeder seine eigene finden muss. Aber das klingt so hohl, wie es ist. Doch es stimmt, dass jeder sich nur so weit einbringen kann, wie es seine Lebensumstände, Finanzen oder Fähigkeiten erlauben. Dennoch ist kaum anzunehmen, dass die Banker ihre Boni spenden. Eher wird die Rentnerin ihr Erspartes geben. Und meine Hilflosigkeit wächst in hilflose Wut. Die Psychologie der Angst sagt mir, dass es immer darum geht, ob wir die Angst haben oder die Angst uns hat. Angst kann uns lähmen und handlungsunfähig machen. Wir können sie niemals besiegen, wenn wir vor ihr weglaufen. Der wichtigste Schritt ist, sich der Angst zu stellen. Ihr und der Ratlosigkeit. W ir haben uns zu lange in unseren Wohlstand eingekuschelt und so getan, als wäre alles gut. Dabei gab es immer blutige Konflikte, es gab immer Hunderte Millionen Menschen, die tagtäglich hungerten und verhungerten, die gefoltert wurden oder in tiefster Unfreiheit lebten. Unsere friedliche Luxusoase existiert schon immer auf dem Rücken einer armen und entrechteten Welt. Nur haben wir das recht locker verdrängt, weil es in ein paar tausend Kilometern Entfernung geschah. Vorbei. Und das ist gut so. Sie können mir vorwerfen, das sei ja wieder der typische Psycho-Trick: Finde das Gute im Schlechten, und deute so alles um. Aber ich glaube, wir müssen aufwachen, politisch werden, handeln. Ich werde es nicht leicht finden, die bequeme Spurrille meines Lebens zu verlassen. Allein schaffe ich es nicht. B rig i t te. de 1 / 201 5 103 dossier „Die realität darf auch hier anklopfen“ Die Anwältin HENDRIKJE BLANDOW-SCHLEGEL engagiert sich für eine Flüchtlingsunterkunft, die in ihrer Nachbarschaft, einem wohlhabenden Viertel Hamburgs, eingerichtet werden soll. Andere Anwohner protestieren vehement dagegen A ls im vergangenen Jahr bekannt gemacht wurde, dass das ehemalige Kreiswehrersatzamt im Hamburger Stadtteil Harvestehude zu einer Flüchtlingsunterkunft umgebaut werden soll, war der Widerstand einiger weniger, aber dafür nahezu krakeelender Anwohner sehr laut. Ich hatte den Eindruck, dass die Angst vor einem möglichen Wertverlust eines Grundstücks bei diesem Protest eine große Rolle spielte. Harvestehude hat im Durchschnitt sehr hohe Mieten, gegenüber der geplanten Flüchtlingsunterkunft stehen Luxuswohnungen mit Quadratmeterpreisen zwischen 12 000 und 18 000 Euro. Aber dies hier ist keine Insel der Glückseligen, wo die Realität nicht anklopfen darf. Sie soll sogar anklopfen. In den Medien fanden sich zwar überwiegend die kritischen Kommentare der Anwohner zur Unterkunft wieder, aber mir war klar, dass mich bei der Gründung des Vereins viele Menschen unterstützen würden – das sind eben eher die leisen Stimmen. Ich hätte mich sonst auch für den Stadtteil geschämt. Wir sind jetzt 70 Vereinsmitglieder und mehr 104 B r i gitte .de 1 / 2015 als 95 Unterstützer, und täglich kommen neue Hilfsangebote dazu. Es gibt aktuell allerdings auch drei Anwohner, die gegen die Baugenehmigung klagen. Es macht mich betroffen, wenn nicht gesehen wird, dass man manchmal in einer großen Verantwortung für andere Menschen und auch für die Gemeinschaft steht – selbst wenn das eine persönliche Belastung für einen selbst bedeuten könnte. Ja, vielleicht empfinden es die Leute tatsächlich als nicht „gebietsverträglich“, wenn mehrere Kinder im Garten lauter spielen; das ist einer der Punkte, mit dem die Klage begründet wird. Aber ich glaube, dass der Grund vielmehr in unterbewussten Ängsten und Vorurteilen zu suchen ist. Es gibt Menschen, die nur in ihrer eigenen Welt leben und sich immer selbst aussuchen möchten, womit man sie konfrontieren darf. Darunter auch sehr gebildete Menschen, die mit ihren Kindern für viel Geld in die Ferne reisen, dort Tempel und mehr anschauen und sich durchaus als weltläufig betrachten. Aber wenn dann Syrer oder Afghanen vor ihrer Tür stehen, ist das eine nicht selbst gewählte Konfrontation mit einem Schicksal, mit dem sie nichts zu tun haben möchten. Ich denke, wir haben die Verantwortung, uns nicht abzuschotten. Und zwar nicht nur eine soziale Verantwortung, sondern auch eine moralische. Was oft vergessen wird: Wir leben in einer globalisierten Welt, und das, was wir tun, um unseren Wohlstand zu erhalten, hat woanders Konsequenzen. Nur ein kleines Beispiel von vielen: Wir züchten Hunderttausende Tonnen von Hühnern in Massentierhaltung, von denen wir nur die Brust essen. Der Rest wird oft nach Afrika exportiert und so günstig verkauft, dass die einheimischen Landwirte nicht mithalten können. Eine kaputte Wirtschaft ist, langfristig gesehen, ein Grund, aus einem Land zu flüchten. Wenn wir nicht anfangen, zu begreifen, dass wir mit unserem Handeln auch Fluchtursachen in anderen Teilen der Welt setzen, wird der Strom nicht abreißen. Und die Grenzen dichtzumachen angesichts von 51 Millionen Menschen, die auf der Flucht sind – das ist eine Illusion. Und ich halte es auch für falsch. M eine Eltern waren selbst Flüchtlinge, sie hatten alles verloren. Wir wohnten damals in Stuttgart in einem Viertel, das als „asozial“ beschimpft wurde. Meine Mutter hat alle Kleider für uns vier Kinder selbst genäht und Stühle mit Scheuerlappen bezogen, weil es der billigste Stoff war. Vielleicht ist es deshalb bis heute für mich keine Selbstverständlichkeit, wenn ich mich nicht darum sorgen muss, ob ich meine Miete bezahlen kann. Ich hoffe, dass ich dieses Bewusstsein auch meinen Kindern vermitteln konnte, die anders groß geworden sind. Ich halte es ja nicht für verwerflich, das Geld, das man verdient, für schöne Dinge auszugeben. Aber aus diesen individuellen Möglichkeiten erwächst eine Verantwortung auch für andere. Protokoll: Sonja Niemann Online-Tipp Wie gehen Sie mit den vielen bedrohlichen Nachrichten um? Stimmen Sie ab und diskutieren Sie: www.brigitte.de/nachrichten hendrikje blandowschlegel, 53, ist Anwältin aus Hamburg und Gründerin des Vereins „Flüchtlingshilfe Harvestehude“. Sie ist verheiratet und hat drei Kinder. Harvestehude ist eines der wohlhabendsten Viertel der Stadt, im nächsten Jahr soll hier an der Alster ein Heim für bis zu 220 Flüchtlinge entstehen.