Frontieres et reconciliation_Titelei
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Frontieres et reconciliation_Titelei
Bernard LUDWIG, Andreas LINSENMANN (éd.) Frontières et réconciliation L'Allemagne et ses voisins depuis 1945 Collection « L'Allemagne dans les relations internationales » vol.° 1 5 page titre.p65 5 28/07/2011, 15:56 Atelier international de jeunes chercheurs organisé par l’UMR Identités, relations internationales et civilisations de l’Europe - Irice (Universités Panthéon-Sorbonne & Paris-Sorbonne, CNRS) et la Johannes Gutenberg-Universität Mainz (Historisches Seminar, Arbeitsbereich Zeitgeschichte) les 12 et 13 février 2010 à Paris avec le soutien du Centre interdisciplianire d’études et de recherches sur l’Allemagne - CIERA (Programme de formation-recherche 2008-2010 « Traces de guerre, mémoires et réconciliation. L’Allemagne et l’Europe depuis 1945 ») et de l’Université franco-allemande. Aides à la publication : Université franco-allemande (UFA/DFH), Zentrum für Interkulturelle Studien (ZIS) de la Johannes Gutenberg-Universität Mainz, UMR Irice (Paris 1, Paris 4, CNRS). Couverture : Destruction des barrières douanières et manifestation pro-européenne de jeunes au poste frontière entre St. Germanshof et Weiler près de Wissembourg en Alsace, le 7 août 1950. Photo : Süddeutsche Zeitung © Le 27 janvier 1951, la délégation polonaise traverse le pont-frontière à Francfort sur l’Oder après la signature de l’accord définitif établissant la « frontière de paix » entre la Pologne et la RDA sur l’Oder-Neisse. Photo : Bundesarchiv © Toute représentation ou reproduction intégrale ou partielle faite par quelque procédé que ce soit, sans le consentement de l’éditeur ou de ses ayants droit, est illicite. Tous droits réservés. © P.I.E. PETER LANG S.A. Éditions scientifiques internationales Bruxelles, 2011 1 avenue Maurice, B-1050 Bruxelles, Belgique www.peterlang.com ; [email protected] ISSN 2034-4929 ISBN 978-90-5201-719-8 D/2011/5678/ Ouvrage imprimé en Allemagne Information bibliographique publiée par « Die Deutsche Nationalbibliothek » « Die Deutsche Nationalbibliothek » répertorie cette publication dans la « Deutsche Nationalbibliografie » ; les données bibliographiques détaillées sont disponibles sur le site http://dnb.d-nb.de. 6 page titre.p65 6 28/07/2011, 15:56 Table des matières / Inhalt Remerciements ................................................................................................ 9 Danksagung.................................................................................................... 11 Introduction ................................................................................................... 13 Bernard Ludwig, Andreas Linsenmann Einleitung ....................................................................................................... 27 Bernard Ludwig, Andreas Linsenmann La frontière germano-polonaise : entre Guerre froide et réconciliation / Die deutsch-polnische Grenze: zwischen Kaltem Krieg und Aussöhnung Front – Frontière – Tansfrontalité. Allemands et Polonais sur l’Oder et la Neisse depuis 1945 ............................................................ 45 Pierre-Frédéric Weber „Eine Grenze, die es nicht gab“ – Die Grenzfrage im Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland und Polen in den 1970er Jahren ................................................................. 63 Dominik Pick Minorités, frontières et micro-histoire / Minderheiten, Grenzen und Mikrohistorie Die Wahrnehmung der deutsch-polnischen Grenze in der Europastadt Görlitz/Zgorzelec 1945-2007 ................................... 85 El bieta Opi owska Les associations politiques d’expulsés dans les relations entre l’Allemagne et la République tchèque : obstacles ou passeurs ? .......... 103 Ségolène Plyer Guerre, frontière et rapprochement / Krieg, Grenze und Annäherung Mémoire civile de la Seconde Guerre mondiale dans l’espace frontalier germano-néerlandais ......................................... 129 Christine Gundermann Le rôle de l’espace frontalier dans le rapprochement belgo-allemand après 1945 ............................... 159 Christoph Brüll L’épuration de 1945 en Alsace, un vecteur de réconciliation entre la France et l’Allemagne ? ................................................................ 179 Christiane Kohser-Spohn Vivre aux frontières / An der Grenze leben Grenznah – ganz nah? Subjektive Theorien von Grundschülerinnen und Grundschülern zu Frankreich und Franzosen in der deutschen Grenzstadt Kehl ................................ 201 Julia Putsche Vom Verschwinden der Grenze. Zur Situation der deutschen Minderheit in Dänemark ........................ 217 Nina Jebsen Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland. Essay zu nationaler Identität im transmemorialen Zeitalter ................ 239 Anne Dippel Les auteurs / die Autoren .......................................................................... 263 Index des noms de lieux / Ortsregister ................................................... 271 Index des noms de personnes / Personenregister ................................. 273 Cartes et illustrations /Karten und Bilder ............................................... 275 Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland Essay zu nationaler Identität im transmemorialen Zeitalter Anne DIPPEL I. Wohl kaum eine Grenze der heutigen Bundesrepublik Deutschland kündet von merkwürdigeren Beziehungen, als die zur Bundesrepublik Österreich. Unter dem Mantel scheinbarer Eintracht finden Auseinandersetzungen statt, die nicht als Versöhnung, sondern als Entsöhnung bezeichnet werden könnten; Dialoge der Verständigung gemahnen mehr an Mißverständigungen; Verbrüderungen ließen sich hier genauso gut als Zerschwisterungen deuten. Der Standpunkt des Betrachters bestimmt die Bewertung der Phänomene. Diesem Paradox spüre ich im Rahmen einer kulturanthropologischen Feldforschung nach. Am Beispiel österreichischer Schriftsteller innerhalb des deutschsprachigen literarischen Feldes untersuche ich das Verhältnis von deutscher Sprache und österreichischer Nation im globalen, von digitalen Medien dominierten Zeitalter. In der Ära informationellen Überflusses und globaler Vernetzung entwickeln sich für die Erinnerungs- und Identitätsdiskurse von Gesellschaften neue Strukturen der Identitätsbildung, die eine Ausdehnung historischer Raum-Zeit-Wahrnehmung und damit einhergehend eine Aufwertung von Erinnerung und Gedächtnis für die kulturelle Identitätsbildung mit sich bringen. Um dieses Phänomen zu definieren, verwen- 240 Anne Dippel de ich im Nachfolgenden den Begriff transmemorial. Österreicher sprechen Deutsch, sie sind aber keine Deutschen. Sie teilen Sprache, Kultur und historische Ereignisse mit ihrem größten Nachbarn. Anhand von Interviews und Teilnehmender Beobachtung soll der symbolischen Qualität von Grenzen aus österreichischer Perspektive nachgegangen werden. II. Zunächst werden einige Essentialia und anerkannte Erklärungsansätze zur Problematik der Grenze zwischen Österreich und Deutschland in Erinnerung gerufen werden. Die etablierten Deutungsmuster, interpretatorische Wechselspiele von Kontinuitäten und Brüchen im spannungsreichen Verhältnis der beiden Nationalstaaten, gründen auf dem Ende des Zweiten Weltkriegs, und somit dem endgültigen Abschied von monarchistischen Staatsformen und dem Bekenntnis zu einer vom Volk aus konstituierten Verfassung in Mitteleuropa. Sie sind ohne das Erlebnis alliierter Besatzung und dem langfristig erfolgreichen Versuch der Demokratisierung des ehemaligen Gebietes des Deutschen Reichs in den Grenzen vom 15. März 1938 nicht zu denken. Sie erst ermöglichen, dass Österreich und Deutschland heute als eigenständige, abgegrenzte, ergo diskrete Nationalstaaten unabhängig von der geteilten Geschichte in einem geeinten Europa friedlich koexistieren. Und das, obwohl sich beide Länder mit Fug und Recht als Haupterben des durch den Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803 neu geordneten und mit der Gründung des Deutschen Rheinbundes, sowie der Niederlegung der Römisch-Deutschen Kaiserkrone durch Franz II. am 6. August 1806 zerfallenen Heiligen Römisches Reichs Deutscher Nation betrachten können. Die Zertrennung des ehemaligen Reichsgebietes, von napoleonischen Interessen vorangetrieben, zeitigte die von einer Möglichkeit zur heutigen Wirklichkeit gewordenen geteilten Entwicklung Österreichs und Deutschlands. Helmut Rumpler konstatiert: „Für das Deutschtum in Österreich hatte diese Trennung zunächst gar nicht so sehr im Hinblick auf seine politische und ökonomische Herrschaft im Habsburgerstaat, sehr wohl aber für seine kulturelle Identität schwerwiegende und nie mehr bewältig- Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland 241 te mentale Folgen.“1 Über 150 Jahre waren immer wieder Einigungsversuche angestrebt worden, die jedoch allesamt scheiterten – vom Deutschen Bund als erfolgreichem Verhandlungshöhepunkt der europäischen Neuordnung des Wiener Kongresses am 8. Juni 1815, über die Versammlungen in der Paulskirche mit dem am 27. Oktober 1848 verabschiedeten Programm, das die Vereinigung keines Teils des Deutschen Reiches mit einem nichtdeutschen Land konstatierte, den Friedensverhandlungen zwischen Preußen und Österreich im Schloss Nikolsburg am 6. August 1866, den durch alliierten Beschluss nicht umsetzbaren Einigungsbestrebungen der deutschen Territorien jener zerfallenen Imperien Mitteleuropas nach dem 1. Weltkrieg, bis hin zur katastrophalen Vereinigung unter den totalitären Auspizien des Dritten Reichs von 1938. An der Grenze zwischen Österreich und Deutschland offenbart sich die Konstruierbarkeit von kollektivem Gedächtnis: Fragmente einer Ereignisgeschichte können je nach aktueller politischer Situation neu gruppiert werden und ergeben jeweils ein kohärentes Mosaik. Aus diesem Grund dient sich eine Definition dieses Phänomens als transmemorial an. Transmemorialität zeichnet aus: 1. Gedächtnis und Erinnerung bekommen im Rahmen kollektiver sozial-kultureller Kontinuen eine außergewöhnliche Wichtigkeit. 2. Erinnerung dehnt sich als zeitliche Wahrnehmung in die Erfahrung von Dauer aus: Bewegte Bilder, Fotografie und Tondokumente ziehen die Vergangenheit in das Jetzt der Gegenwart auf bis zu diesem Zeitpunkt ungeahnte Weise sinnlich erfahrbar herein. Internet und Computertechnologie speichern eine Vielzahl von Informationen und Wissen ohne sichtbare Spuren zeitlichen Verfalls. Die digital-elektronischen Speichermedien simulieren Aktualität von längst Vergangenem, genauso wie sie Lebendigkeit von Unbelebtem simulieren. Das Erzählen des Ereigneten via Schrift erfährt eine andere Qualität, die über das Darstellen und Erinnern hinaus geht und ihre medialen Bedingungen und Begrenzungen offenbart. Somit ergibt sich 3. Er-zählen ist im transmemorialen Zeitalter Sache der Maschinen. 4. Er-innern bleibt dem Menschen wesenhaft. 5. So genannte Identitäten, ob kollektive oder individuelle, eigenen sich aus dem selben historischen Ereignispool 1 Helmut RUMPLER, Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, in: Wolfram VON HERWIG (Hg.), Österreichische Geschichte 1804-1914, Wien 1997, S. 68. 242 Anne Dippel die jeweils für sie notwendigen Identitätsmarker an und deuten sie sich zu ihrem eigenen identitären Codierungssystem um, das von Anderen, besonders Nahestehenden gedeutet und en detail dekodiert werden kann. 6. Die klassischen Grenzen und Regelwerke der Verwandtschaftssysteme, der Religionen, des Rechts, erfahren durch mediale Interkonnektion eine Umwertung: Einerseits finden wir eine Verstärkung und Rückbesinnung auf traditionelle Werte, andererseits eine Suche nach neuen Regelsystemen, die der heutigen Umwelt eines in komplexen von Rechenmaschinen und Technik abhängigen Gesellschaftssystemen entspricht. 7. Das Leben im Jetzt der Vernetzung verstärkt die Kollektivsehnsucht des Einzelnen und fördert die Sehnsucht nach Individuation in der Masse. Durch die im 19. und 20. Jahrhundert entwickelten medialen Speichermöglichkeiten erscheinen Vergangenheiten, selbst wenn sie über zwei oder drei Generationen zurückreichen, ungeheuer nah. Sie fügen sich in das kulturelle Mosaik der Gegenwart. Erst bei genauer historiographischer Betrachtung treten Inkonsistenzen in der jeweiligen Darstellung offen zu Tage. Je näher man an das vorgestellte Geschichtsbild im transmemorialen Zeitalter herantritt, desto ungenauer erscheint die rückwirkende Darstellung der Ereignisse, desto fiktionaler, gegenwartsbezogener wirkt der Charakter der wissenschaftlichen Erzählung. Die Bundesrepublik Österreich erfuhr ihren heutigen territorialen Ursprung im Vertrag von Saint-Germain, am 2. September 1919 unterzeichnet, der die Friedensordnung Kronländer der ehemaligen habsburgischen k.u.k.-Monarchie Österreich-Ungarn regelte. Die Erste Republik Österreich war nur von kurzer Dauer. Sie mündete am 1. Mai 1934 im austrofaschistischen Ständestaat und endete am 12. März 1938 mit dem Einmarsch von Hitlers Truppen und dem so genannten „Anschluss“ an das Deutsche Reich als „Ostmark“. Der Kapitulation des Deutschen Reichs am 8. Mai 1945 schloss sich die Konstitution des österreichischen Staates auf der Basis des Mythos, Österreich sei das „erste Opfer des Faschismus“ an. Dieser Diktion bedienten sich die Großmächte auf der Moskauer Konferenz von 1943. Die Moskauer Deklaration vom 30. Oktober/1. November 1943 wurde durch „die politische Tradition“ zu einem „Gründungsdokument der 2. Republik hochstilisiert.“2 Seither ist die Teilung der 2 Zum Opfermythos siehe Ernst HANISCH, 1890 – 1990, Der lange Schatten des Staates : österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, in: Wolfgang Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland 243 ehemaligen Kernlande des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation endgültig und wird von der überwiegenden Mehrheit der österreichischen Bevölkerung auch nicht mehr, so wie nach dem Ersten Weltkrieg noch, in Frage gestellt. Ernst Hanisch resümiert, die Großstaatssehnsucht der Österreicher sei erloschen. Der kleine Staat sei nun als jene Insel erschienen, auf die man sich vor dem deutschen Zusammenbruch retten habe können. Alles Deutsche sei verpönt gewesen. Die Verantwortung für die Verbrechen des NSRegimes sei allein den Deutschen angelastet worden. Von oben habe die Propaganda eines enthusiastisch-verkrampften österreichischen Patriotismus begonnen, die sich um die historischen Fakten wenig gekümmert und bei der Konservative und Kommunisten einträglich zusammengearbeitet haben; nur die Sozialisten hätten sich dabei als etwas störrisch erwiesen3. So wie Auschwitz in diesem Spektrum als „negativer Pol der österreichischen Geschichte“4 fungiert, bildet das scheinbar einträchtige, multikulturelle Miteinander unter der Herrschaft des Hauses Habsburg heute den positiven Pol innerhalb gedächtniskultureller Diskurse. Wohl nirgendwo ist letztere Erinnerung verdichtet wie im lebendigen Mythos des Wiener Kaffeehauses. Hier sitzen Menschen aller Zughörigkeiten einträchtig beieinander. Die Zwietracht der Menschen hat Kaffeepause. Aus dieser komplexen Konstellation generieren sich alle heute üblichen Narrative: 1. Das politikgeschichtliche Narrativ, besonders prominent von Langewiesche, Frevert und Smith beschrieben, zusammenzufassen in der Abwandlung eines Heraklit’schen Diktums: „Krieg ist der Vater der Nation“5. Für den Verlauf der österreichischen nationalstaatlichen Ent- 3 4 5 HERWIG (Hg.), Österreichische Geschichte Band 11, Wien 1994. S. 399. Sowie Siegfried MATTL, Karl STUHLPFARRER, Abwehr und Inszenierung im Labyrinth der Zweiten Republik, in: Emmerich VON TÁLOS, Ernst HANISCH, Wolfgang NEUGEBAUER, Reinhard SIEDER (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich, Wien 2000, S. 902-934. HANISCH, Der lange Schatten (Anm. 2), S. 398. Ernst HANISCH, Der Ort es Nationalsozialismus in der österreichischen Geschichte, in: VON TÁLOS, HANISCH, NEUGEBAUER, SIEDER (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich (Anm. 2), S. 11-25, 11. Dieter LANGEWIESCHE, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, besonders S. 26-31, sowie die Kapitel 8 und 9: Deutschland und Österreich: Nationswerdung und Staatsbildung in Mitteleuropa im 19. Jahrhundert, sowie Reich, Nation und Staat in der jüngeren deutschen Geschichte, S. 172-216. Ute FREVERT, Gründungs-Legenden 1948: Die Geburt zweier Staaten aus dem Geist einer Revolution, in: Aleida ASSMANN, Ute FREVERT (Hg.), Ge- 244 Anne Dippel wicklung sind hier vor allem also der Vertrag von Saint-Germain, sowie die von den Alliierten Mächten im Sommer 1945 auf der Potsdamer Konferenz konstatierte Mitschuld am Zweiten Weltkrieg entscheidend6. Soziokulturelle Kontinua wie sie Nationalstaaten darstellen werden durch kriegerische Auseinandersetzungen und den darauf folgenden Friedensordnungen konstruiert. 2. Das ethnolinguistische Narrativ, zuletzt durch Mirow in den Geschichtswissenschaften, in der Germanistik von Schlaffer behandelt, stellt den historischen, sprachlich-kulturellen Zusammenhang der heutigen Staaten Österreich, Schweiz und Deutschland ins Zentrum und verfolgt in einer transnationalen Geschichtsschreibung Kontinuitäten und Brüche eines mehr oder weniger einheitlich begriffenen soziokulturellen Raums7. 3. Das sozialgeschichtliche Nationalstaatsmodell, geboren aus Hegelschem Idealismus, für Österreich von Hanisch und Reiterer umfassend beschrieben8. Das Dispositiv des Nationalstaates produziere Bürger, das Recht setze Grenzen, die Idee der Nation verselbständige und verfestige sich zugleich. 4. Das geographische Narrativ, vor allem von Geiss dargelegt, erörtert die exponierte Lage Österreichs zwischen Alpen und Adria für die 6 7 8 schichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999, S. 151-172. Anthony D. SMITH, National Identity, London 1991, besonders S. 30-33. Vgl. Proklamation vom 27. April 1945, veröffentlicht als Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich, Jg. 1945, 1. Stück, ausgegeben am 1. Mai 1945, in: Österreicher und der Zweite Weltkrieg. Hg. vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes und Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Sport. Wien 1989, S. 148-149. Heinz SCHLAFFER, Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, München 2002. Jürgen MIROW, Deutsche Geschichte - (k)eine Nationalgeschichte. Staatliche Einheit und Mehrstaatlichkeit, Volkszugehörigkeit und Nation in der deutschen Geschichte, Gernsbach 2002. Mit anderem ideologischem Hintergrund, doch in ähnlicher Weise argumentiert auch: Lothar HÖBELT, Österreichisch= deutsch bundesrepublikanisch, in: Gerhard BOTZ, Gerald SPRENGNAGEL (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte: Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker, Frankfurt am Main 1994, S. 338-345. Eine kritische Auseinandersetzung mit volks- und nationenorientierten Argumentationsstrategien zur Konstruktion von Identität findet sich bei: Wolfgang KASCHUBA, Volk und Nation: Ethnozentrismus in Geschichte und Gegenwart, in: Heinrich A. WINKLER, Hartmut KAELBLE (Hg.), Nationalismus – Nationalitäten – Supranationalität, Stuttgart 1993, S. 56-81. HANISCH, Der lange Schatten (Anm. 2); Albert F. REITERER, Die unvermeidbare Nation. Ethnizität, Nationalität und nachnationale Gesellscchaft, Frankfurt am Main 1988. Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland 245 Entwicklung einer eigenständigen Nationalgeschichte Österreichs9. 5. Im dynastisch-religiösen Narrativ, prominent von Johnston ausgearbeitet, ist freilich das Erbe der habsburgischen, katholischen Vielvölkermonarchie Österreich von besonderer Bedeutung10. Vom Fortwursteln bis zum Vernadern, vom morbiden Humor bis zum barocken Sprechen, von der Höflichkeit bis zur Grantigkeit finden sich hier Kontinuitäten erörtert, die bis in die Zeit der josephinischen Reformen zurückreichten. 6. Das Trauma-Modell, zuletzt von Langewiesche und Birbaumer pointiert zur Diskussion gestellt, hebt den unterschiedlichen Umgang an der Beteiligung der Verbrechen unter dem Nationalsozialismus und deren Verarbeitung für die divergierende Entwicklung des Nationalbewusstseins in Deutschland und Österreich hervor. Die Kriegsniederlage wurde in Letzterem nicht in positives Lernen umgesetzt, es seien keine Ängste durch Massenmord und Entrechtungspolitik entstanden, die Vergangenheit sei verdrängt worden und als Folge leide Österreich unter einem kollektiven posttraumatischen Stresssyndrom11. Aus den bisher aufgezählten Narrativen speist sich die Erklärung, dass das spannungsreiche Verhältnis von Deutschland und Österreich bis heute aus der Nähe heraus geboren ist. Die jeweilige Nationalgeschichte resultiert aus gleichen Ereignissen aber unterschiedlichen Perspektiven. Die Sprache ist nicht bloß die gleiche, geschrieben ist sie dieselbe Sprache. Die kulturellen Mythen sind eins: Schauplätze der Nibelungensaga liegen in Österreich, das Deutsch der Wiener Kanzleien ist für die Entwicklung der Hochsprache von nahezu ähnlicher Bedeutung wie die Übersetzung der Bibel durch Luther und seine Mitstreiter; die Gebrüder Grimm sammelten ihre Märchen auch in dieser Region, die Gegenreformation war hier so gnadenlos und umfassend, weil der Protestantismus 9 10 11 Imanuel GEISS, Geschichte griffbereit. Band 5: Staaten. Die nationale Dimension der Weltgeschichte, München 2002, S. 155. William M. JOHNSTON, A Nation without Qualities: Austria and ist quest for a national Identity, in: Peter BOERNER, Concepts of National Identity. An Interdisciplinary Dialogue, Baden-Baden 1986, S. 177-186. Derselbe, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848-1938, Wien 1972, ebenso in Neuübersetzung: Der österreichische Mensch. Kulturgeschichte der Eigenart Österreichs, Wien 2009. Niels BIRBAUMER, Dieter LANGEWIESCHE, Neuropsychologie und Historie Versuch einer empirischen Annäherung. Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) und Soziopathie in Österreich nach 1945, in: Geschichte und Gesellschaft, 32 (2006) 2, S. 153-175. 246 Anne Dippel so erfolgreich war. Dann: Szepter und Reichsapfel des Heiligen Römischen Reichs liegen in Wien – der Thron Karls des Großen in Aachen. Und nicht zuletzt: Beethoven kam aus Bonn, Hitler kam aus Braunau am Inn. Letzterem wurde die Ehrenbürgerwürde seiner Geburtsstadt erst am 8. Juli 2011 aberkannt. Religion und Herrschaftssysteme zeitigten ähnliche hierarchische Machtstrukturen, obwohl der Anteil der Katholiken im Deutschen Reich unter Preußen gerade ein Drittel betrug, der Anteil der Protestanten unter der deutschen Bevölkerung der transleithanischen Reichshälfte Österreich-Ungarns unter zehn Prozent lag. Und doch: Die Kraft des Nationendispositivs stellt eigenständige Staaten her. Sie formt die Perspektive auf historische Ereignisse aus der Vergangenheit für die Bedürfnisse der jeweiligen Gegenwart um. Die vorgestellten Narrative möchte ich im Folgenden um Thesen zur gegenwärtigen medialen Verschränkung Österreichs und Deutschlands erweitern, und beispielhaft deren Auswirkungen auf nationale Identität darlegen. Österreich und Deutschland bilden heute einen Kommunikationsraum – korrekt formuliert formieren sich hier Akteure und Strukturen, Diskurse und Dispositive zu einer netzartigen Struktur, die als ein kontingentes Kommunikationsraumzeitkontinuum bezeichnet werden können. Dies schließt neben der Zirkulation von Berechenbarem, wie Geld und Waren, Arbeitskraft und technologischem Wissen auch die Zirkulation von Unberechenbarem, nämlich Wörtern und Schrift, Sprache und Denken mit ein. Geschichte und Gedächtnis, Dichten und Denken bilden hier Schichten der Zeit in denen sich und durch die sich Identität bildet. Dies ist eines der zentralen Merkmale von Transmemorialität. Dabei wirkt das Nationaldispositiv im Rahmen transmemorialer Prozesses als eine Falte, eine „Zone der Subjektivierung“12, in der sich ein jeweiliges Innen, das wir heute als „Identität“ bezeichnen, bildet. Vor allem Fernsehen, Radio und Internet bestimmen heute den Alltag der Mehrheit von Österreichern und Deutschen. Elektronische Medien heben traditionelle Grenzen auf, stellen aber freilich andere Begrenzungen her, ausgelöst durch die technische Abhängigkeit und die ästhetische Strukturierung der jeweiligen Medien, sei es durch Bild-, Ton-, Schriftund/oder Zahlenübertragung. Die Grenzen des Nationalstaates verschieben sich durch ständige Verbindung, trotzdem nimmt das jeweilige Bewusstsein für nationale Identität eher zu als ab. So wie die 12 Vgl. Gilles DELEUZE, Foucault, Frankfurt am Main 1997, S. 169. Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland 247 Schlagbäume zwischen Österreich und Deutschland vom Inkrafttreten des Schengener Abkommens am 26. März 1995 aufgehoben wurden, verschleifen sich ehemals klare Grenzen des Dialekts, der kulturellen Erlebnisse, der lokalen Identifikation durch die vernetzte Welt der digitaler Medien. Das Bedürfnis nach Abgrenzung und Identitätsbildung erfährt im Rahmen dieser Neuerungen indes Verstärkung. Identitäre Differenzmarker lassen sich im Alltag über Stereotype ausfindig machen, sie bleiben bei genauerem Nachfragen oft im Vagen emotionaler Befindlichkeiten. Beispielhaft dafür sind die Ausführungen eines deutschen „NC-Flüchtlings“13, einem Biologiestudenten auf einer kleinen Party in Wien, bei einem Gespräch über das Leben als „Piefke“14 in Österreich heute: „Klar, alle paar Wochen hört man im Radio etwas über Deutschland. Und ich fühle mich hier nicht so, als ob ich in Deutschland wäre, es ist irgendwie anders, obwohl sie Deutsch sprechen. Aber worin der Unterschied besteht, es ist bloß ein Gefühl, ich kann nicht genau sagen, worin der Unterschied liegt. Aber Deutschenfeindlichkeit, nein, das ist mir bis jetzt nur ganz selten passiert.“15 Die mediale Präsenz historischer Ereignisse bestimmt heute mehr denn je, das Bild, das wir von uns und unseren Nachbarn 13 14 15 NC-Flüchtling umschreibt lakonisch einen in Österreich studierenden Bürger der Bundesrepublik Deutschland, der in seinem Geburtsland sein Wunschstudium nicht aufnehmen konnte, da seine Abitursnote weit unter des in Deutschland Studienzugänge reglementierenden Numerus Clausus liegt. In Österreich existiert kein Numerus Clausus. „Piefke (Pifkineser): der Deutsche, besonders in lautstark urlaubender Form (nach dem deutschen Militärmarschkomponisten“, in: Astrid WINTERSBERGER, Hans C. ARTMANN, Österreichisch-Deutsches Wörterbuch, Wien 1995, S. 64. Piefke ist ein Ethnophaulismus, d.h. eine abwertende, umgangssprachliche Bezeichnung für deutschsprachige Bürger der Bundesrepublik Deutschland, vor allem aus Regionen mit nicht-bajuvarischen Dialekten. Der Begriff ist in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, vermutlich auf der preußischen Siegesfeier anlässlich der Schlacht bei Königgrätz entstanden und karikiert ursprünglich den militärischen, überkorrekten, in harter Aussprache sprechenden Preußen. Ab 1850 war der Begriff Piefke, ein ostdeutscher Name, Bezeichnung einer Berliner Witzfigur „Piefke“ ähnelt der im Bayerischen verbreiteten Bezeichnung „Preiß“ für Norddeutsche. (Vgl. Ulrich VON AMMON (Hg.), Variantenwörterbuch des Deutschen, u.a. Berlin 2004, S. 574. Schon Gregor VON REZZORI beschreibt in „Denkwürdigkeiten eines Antisemiten“ die vorherrschenden Ressentiments gegen „die Piefke“. In den frühen 1990er Jahren erlebte der Begriff durch Felix Mitterers Fernsehserie „Die Piefke-Saga“ enorme Popularität. Heute wird der Begriff teils abwertend, teils wertneutral verwendet. Aufzeichnungen aus dem Feldtagebuch, A.D., 7.11.2009. 248 Anne Dippel gewinnen. So wurden die bundesrepublikanischen Feierlichkeiten anlässlich der zwanzigjährigen Wiederkehr des Mauerfalls vom 9. November 1989 im Jahr 2009 in ganz Österreich ebenso ausgestrahlt, wie in der Bundesrepublik Deutschland. Es kann daher nicht verwundern, dass ich um den 9. November Wiener Kinder beim Spielen rufen höre: „Komm, wir fliehen über die Mauer.“ „Wir müssen so schnell wie möglich in den Osten rüber, sonst kriegen sie uns.“ „In den Osten, Du Trottel, in den Westen müssen wir.“ Und fünf Minuten später sagt einer der Väter: „Ich war einer der ersten, die im Osten waren.“16 Alltägliche Verhandlungspraxen zur Konstitution nationaler Identität sind heute durch globale Vernetzung und mediale Kongruenz bedingt. Diese These möchte ich nachfolgend vertiefen. III. Paradox geschrieben: Wenn ich nicht fort bin, bin ich im Feld. Ich brauche ja nicht darzulegen, dass es weder das militärische – noch das physikalische Feld ist, schließlich bin ich weder ein Soldat, noch ein Teilchen. Es ist aber auch nicht das soziologische Feld rein empirischer Beobachtung, sondern das weiche Feld der Kulturanthropologie, das ich, mit der harten Ausbildung einer Historikerin gewappnet, vor acht Monaten betreten habe. Seither lebe ich im liebreizenden Wien und fühle mich von meiner gewählten Heimat Berlin zumeist weit entfernt, so, als ob ich ein existentielles Kletterabenteuer am Cerro Torre in Patagonien erlebte. Um den Schritt einer Feldforschung zu wagen, haben thematische und systematische Gründe den Ausschlag gegeben: Einerseits ist das Thema der österreichischen Nationalität seit den 1980er Jahren ausgiebig und ganz hervorragend bearbeitet worden, detailgetreu von Mikrostudien zahlreicher Magistranten und Dissertanten bis hin zu weitblickenden Entwürfen arrivierter Historiker wie Ernst Hanisch, Dieter Langewiesche oder William M. Johnston. Andererseits darf ich bei einer kulturanthropologischen Feldforschung sowohl Vergangenheit als auch Gegenwart in Betracht ziehen, vielerlei subjektive Methoden anwenden, mich in hermeneutischer Quellenkritik genauso üben, wie in qualitativem Interview oder Teilnehmender Beobachtung. Mein Feldtagebuch – ob elektronisch oder analog, oral oder literal – 16 Aufzeichnungen aus dem Feldtagebuch, A.D., 7.11.2009. Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland 249 ist Gedankenraum und oft auch Blitzableiter für Erlebtes in einem mir fremden soziokulturellen historischen Kontinuum. Alles in allem beschreibe ich, was ich sehe und lese, und höre und spreche, fühle und erfahre: Und was ich dann erlebt und analytisch geordnet habe, ordne ich zuletzt schriftlich; gegliedert in einen Mix aus kasualer Erörterung an herausragenden Beispielen und prinzipieller Treue zu grundsätzlicher Problemstellung. So entsteht eine Systematik, die den Gesetzen wissenschaftlicher Objektivität und Nachprüfbarkeit trotz all dieser dubiosen Mischungen gerecht wird. Wie Mythen des Alltags erscheinen manche Autoren im literarischen Feld – und an ihnen lassen sich die Mythen einer noch sehr jungen Nation und einer alterslosen Sprache, dem Deutschen, erörtern. Aber nicht bloß Schriftsteller, sondern auch Wissenschaftler stiften Einsichten zu meinem Thema – und das in ganz alltäglichen Situationen, wie ich anhand der nachfolgenden Dichten Beschreibung, einer wahrhaft Teilhabenden Beobachtung, demonstrieren möchte. Konkret beschäftige ich mich mit Interferenzen zwischen zwei verschiedenen Kräften: Nation und Sprache. Beide wirken völlig unterschiedlich, oder wollen wir sagen, weil wir über „das Deutsche“ und „die Österreicher“ sprechen, Deutsch sprechen und – Österreichisch sein wirken im Diskursiven völlig gegensätzlich. Und ich bin der Überzeugung, dass diese dialektischen Interferenzen zweier außerordentlich wirkmächtiger Dispositive zu ganz merkwürdigen Produktionen des Geistes und zu ganz außerordentlichen Beobachtungen von Gesellschaft führen können. Wie Elfriede Jelinek es exemplarisch zum Fall Fritzl auf den Punkt brachte: „Österreich ist eine kleine Welt in der die große ihre Probe hält.“17 In so einem Feld lernt man daher nicht bloß über die Frage, wie sich Nation, Schreibwerkzeuge und Sprache als kollektivierende Kräfte im Zeitalter globaler Marktwirtschaft auf Beruf und Berufung des einzelnen Schriftstellers auswirken. Eine Studie unter Intellektuellen und Künstlern in einer komplexen postindustriellen Gesellschaft, lehrt noch allerlei anderes. Zum Beispiel Interessantes zur Frage des Wie-zu-Gehör-Bringens eines Themas in globalen Zeiten. So geschah es mir am Abend des 9. November, als ich nach einem aufschlussreichen Vortrag zur Praxis genealogischer Forschung zu Beginn des 21. Jahrhunderts im Kreis der üblichen akademischen 17 Elfriede JELINEK, Im Verlassenen, 2008. Auf: www.elfriedejelinek.com (Stand April 2010). 250 Anne Dippel Szene aus Mittelbau, Professoren, interessierten Laien und Studenten kurz vor oder nach Einreichen ihrer Magisterarbeit um einen Stehtisch stand, ein Glas G’spritzten (vin blanc-soda) in der Hand, in ein lebhaftes Gespräch mit einer Romanistik-Professorin der Wiener Universität verwickelt. Noch ganz erfüllt von einem Interview mit dem österreichischen Autor Peter Rosei18, Träger des Österreichischen Staatspreises, stürzten wir in ein Gespräch zu meinem Thema. Ich fragte sie, ob sie das nicht auch kenne, in einer Sprache ein ganz anderer Mensch zu sein, als einer anderen. Ich sagte: „Im Englischen halte ich mich für viel witziger, viel kürzer angebunden und schlagfertiger als im Deutschen – und im Französischen darf ich meiner Liebe zur subtilen Ironie, zum erzählenden Esprit – mehr nachgehen.“ Sie sagte: „Natürlich kenne ich das, zum Beispiel ist es für mich so, wenn ich in Italien einen Vortrag halte oder in Frankreich oder in Deutschland. Es ist immer anders. In Deutschland fühle ich mich ja oft fremd. Wenn man dann die Einzige ist, die kein Hochdeutsch spricht. In Italien beginnt man am besten immer mit einer kleinen Geschichte. Und in Frankreich, da darf man auf keinen Fall mit den Termini Technici ankommen. Das mögen die gar nicht. Während man in Deutschland sofort mit Begriffen um sich schmeißen muss. Und es ist so: Wenn ich das nicht mache, dann verstehen die mich einfach gar nicht. Ich habe mich inzwischen damit abgefunden, dass ich in jeder Sprache anders schreibe und dass ich nicht übersetzen kann, sondern immer gleich in dieser Sprache schreiben muss.“19 Georges-Arthur Goldschmidt beschrieb jenes Phänomen, er konstatierte, dass jede Sprache dem Menschen ein anderes Gesicht verleiht: „Ich, der die Sprache spricht, bleibe hinter der Sprache, dafür ist sie da.“20 Aber zurück zum Feld: Es war der 9. November und dieser Abend endete ganz dionysisch, bald war die ältere Romanistin gegangen, nach und nach leerte sich der Raum und es blieb der harte Kern – beseelt von Wein und bespielt von Musik aus Mac-Boxen, angekabelt an die Youtube-Welt des globalen Zeitalters. Wir hätten ja, wie üblich, gemeinsam ins Café Bendl gehen 18 19 20 Peter Rosei, geboren am 17. Juni 1946, ist ein einflussreicher österreichischer Schriftsteller Wiener Herkunft. Früh schon mit der lautmalerischen Dialektdichtung H.C. Artmanns in Kontakt gekommen, konzentrierte sich seine Prosa indes auf die Darstellung von Landschaften. Sein in Österreich vielfach ausgezeichnetes Werk durchzieht ein pessimistisch bis melancholischer Ton. Aufzeichnungen aus dem Feldtagebuch, A.D., 10.11.2009. Georges-Arthur GOLDSCHMIDT, Freud wartet auf das Wort, Zürich 2006, S. 11. Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland 251 können, dem Beisel hinter dem Rathaus, das bis zum frühen Morgen offen hat. Dort warteten schon die Anderen. Aber ein ostdeutscher junger Professor hatte seinen Erinnerungsblues, er wollte partout nicht über den 9. November sprechen – so kam es, dass wir natürlich nur über den 9. November sprachen und ein wenig in der Zeit vor 1989 lebten. Aus dem Feldtagebuch: „Irgendwann waren wir dann nur noch drei: Ein österreichischer Doktorand mit internationalistischer Vergangenheit lacht gemeinsam mit dem stolzen Karl-MarxStädter über mich, sie haben mit mir als einziger Westdeutschen einen Heidenspaß. Zu später Stunde verkündet der hochgeschossene und sehr eloquente ehemalige protestantische Pfarrersanwärter: „Wenn ich in Wien bin, habe ich das Gefühl, endlich wieder zu Hause zu sein.“ Der österreichische Ex-Stalinist fragt durch seine dicken Brillengläser hindurch: „Ach ja? Wie das?“ Der junge Professor sagt „Zum Beispiel, wenn ich bei der Post bin. Dann brauchen die dort so lange, ich stehe dort so lange an, die Postangestellten hinter dem Schalter sind so unfreundlich – es ist genau so wie früher.“ Ich sage: „Das ist mir auch schon aufgefallen. Die sind hier extrem langsam.“ Ich erinnerte mich an das erste Mal in einer Wiener Post im frühen Sommer, eigentlich wollte ich nur schnell einen Brief aufgeben. Die Frau hinter dem Schalter war so bräsig, ich hätte sie am liebsten am Kragen gepackt und geschüttelt. „Du bist ja sowieso total anders. Du bist die einzige, die hier nicht wirklich dazu gehört, Du Wessi.“ Das verkündet der junge Professor von seiner inneren Kanzel und der marxistische Österreicher pflichtet ihm mit erhobener Faust freudig bei. Glücklich kichern der Ösi und der Ossi vor mir herum. Ich widerspreche vehement: „Moment, ich bin gelernte Ostlerin, das bin ich, jawohl, ich habe zehn Jahre in Berlin gelebt, ich weiß um die zwei Bedeutungen von Freiheit, und – „mir wurde bewusst, dass es um diese Zeit keinen Zweck mehr hatte über Freiheit der Warenwelt versus Freiheit von Warenwelt zu diskutieren, „Und ich bin, ach, okay, ich bin Euch heute die Wessi.“ Der Abend endete mit einer Parade von FDJ-Liedern bis hin zur Internationale. Die konnten wir übrigens alle singen – meine politischen Westlieder, bezogen auf die prekäre Gegenwart im postindustriellen globalen Zeitalter interessierten niemanden. Alles in allem war es wohl der un-1938igste 9. November meines Lebens – und sicher auch der Lustigste. Vermutlich genau deshalb.“21 Der Zufall 21 Aufzeichnungen aus dem Feldtagebuch, A.D., 10.11.2009. 252 Anne Dippel will es übrigens, dass ich eine Woche später im Essayband Mein liebster Feind von Robert Schindel über den „ähnlichen Blick“ lese, den DDR und Österreich auf die Bundesrepublik geteilt hätten und dem es nachzugehen gelte22. Wir drei indes hatten viel Freude; und auch einen großen Kater am nächsten Tag. Und ich kann eine seltsame Geschichte über relative nationale Identität aufzeichnen. Nun übe ich mich auch in diesem Aufsatz den Rheingraben im Zickzack zu überspringen und weder mit Termini Technici um mich zu schleudern, noch zu sehr dem Fluss des Erzählens, dem Diskurs im Essay zu folgen. Denn ich halte den deutsch-französischen Dialog des Denkens und Erzählens nicht bloß für außerordentlich befruchtend, sondern für die jeweiligen Traditionen notwendig und unumgänglich. Wie es mit Deutschland und seinen Nachbarn nun steht, ist anhand dieses Eintrags aus meinem Feldtagebuch offensichtlich schwieriger als wir heute, über zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer, wahrhaben wollen. Wir sehen da ein Deutschland und denken vom Jetztpunkt aus die Vergangenheit zurück, so wie Österreich als ein Nachbar Deutschlands erscheint und nicht als ehemaliger Teil desselben, über mehrere Jahrhunderte sogar Herrschaftszentrum dessen, was Nährboden des heutigen Deutschlands vor Preußens Prägung war und auch nach ihr blieb: den Sprechenden dieser Sprache, denen, die, im Sinne der Saussure’schen langue, Deutscher Zunge sind. Franz Grillparzer schrieb schließlich nicht ohne Grund zur Reichsgründung unter Bismarck 1871: „Ihr glaubt, ihr habt ein Reich geboren, und habt doch nur ein Volk zerstört“23. Erst später, in den 1920er Jahren, gelang der irrtümlich Karl Kraus zugeschriebene Aphorismus: „Der Österreicher unterscheidet sich vom Deutschen durch die gemeinsame Sprache“24. Es sei hier an den Gemeinplatz erinnert, dass die Deutschen das einzige Volk Europas sind, das von all seinen Nachbarn einen anderen Namen verliehen bekommt. Von dieser Sicht aus könnte man sagen, dass wohl niemand genauer weiß, was Deutschland sei, als Österreich – vor allem, seit22 23 24 Robert SCHINDEL, Mein liebster Feind. Essays, Reden, Miniaturen, Frankfurt am Main 2004, S. 60. Zitiert bei Jörg KIRCHHOFF, Die Deutschen in der österreichisch-ungarischen Monarchie. Ihr Verhältnis zum Staat, zur deutschen Nation und ihr kollektives Selbstverständnis. 1866/67-1918, Berlin 2001, S. 53. Robert SEDLACEK, Entlarvt: Der falsche Karl Kraus, in: Wiener Zeitung vom 10. Januar 2007. http://www.wienerzeitung.at/DesktopDefault.aspx?TabID=4103 &Alias=wzo&cob=264760 (Stand April 2010). Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland 253 dem es eine eigene Nation geworden ist, also nach 1945 – wenn man möchte, natürlich nach 1919 schon, mit dem Vertrag von SaintGermain. Oder besser: Dass von keinem Standpunkt aus Deutschland „deutschländischer“ ist als von Österreich aus, dort nämlich, wo man Deutschland besonders genau beobachtet und tagtäglich im Fernsehen mitverfolgt; denn außer den Werbeprogrammen, zwei öffentlich-rechtlichen Kanälen und einem Privatkanal ist das österreichische Fernsehen das gleiche Fernsehen wie das Deutsche Fernsehen, und die Österreicher haben das schwere Schicksal – oder das große Glück – nicht bloß einmal das Spektakel „Deutschland sucht den Superstar“ in ihrer Muttersprache präsentiert zu bekommen, sondern auch noch einmal das gleiche auf gut Deutsch, aber eben als „Starmania“ im ORF 1 zu verfolgen. Und so kommen nicht umsonst die scharfsinnigsten Fernsehkritiken aus Österreich, etwa aus der Feder des Essayisten Franz Schuh25. Es ist der randständige Blick im großen Strom der Nachrichtenübertragung, der hier die strukturellen und diskursiven Beschaffenheiten eines massenmedialen Kommunikationsraums kritisch zu erhellen vermag. IV. „Wir haben die Entwicklungen in Deutschland immer sehr genau beobachtet“ sagte ein kluger österreichischer Kulturwissenschaftler im Gespräch. „Österreich hat sich in der Ära Kreisky geöffnet. Der Opfermythos begann mit dem Ende der Selbstprovintialisierung zu bröckeln. Popkultur und eine andere Konsumlandschaft veränderten das Bild des Alltags. Wir haben den französischen Film gesehen, die US-amerikanische Wissenschaft verfolgt, die britische Literatur und auch ganz genau die politische Entwicklung von 1968 beobachtet, das Entstehen der RAF und das Auskühlen einer linken Jugendbewegung.“26 Er stockt kurz und sieht ins Leere. Und ich höre unwillkürlich die Nachrichten von Krone Hit, dem Sender des MedienTycoons Dichand. Wie er mich beim Einkaufen an der Kassa im Zielpunkt – dem österreichischen Plus – belehrt: „Österreich ist heuer im Vergleich zu Deutschland […] Schon seit drei Jahren geht es Österreich besser als Deutschland. […] Deutschland und Österreich haben sich seit Jänner […] Österreich liegt vorn im Europa25 26 Vgl. Franz SCHUH, Narrenkappe und PizzaHut, in: Schreibkräfte. Über Literatur, Glück und Unglück, Köln 2000, S. 7-23. Interview mit Priv. Doz. Dr. habil. L. M. vom 10.12.2009, Wien. 254 Anne Dippel Vergleich. “Ich kehre aus den Erinnerungsfluchten wieder in den Moment zurück und höre wie der Kulturwissenschafter noch einmal bekräftigt: – „Wir haben die Entwicklungen in Deutschland immer sehr genau beobachtet“27. Im Feld zeigt sich die ironische Seite der Kybernetik zweiter Ordnung: Der Beobachter beobachtet den Beobachter. Welche Auswirkungen hat der Blick des Anderen? Wer ist dieser Beobachter der Deutschen am südlichen Rand? Es ist ja nicht irgend ein Beobachter, sondern einer der selbsternannten Erben des Heiligen Römischen Reichs, die Insignien liegen heute noch in Wien – und den Stephansdom zieren Schiefern aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, die immer noch von der Herrschaft über alle Deutschen stolz künden. Und an der Ringstraße in Wien findet sich nur einer als steinerne Statue entspannt auf dem Dichterthron sitzend verkörpert: Das ist der Dichter Goethe. Erhaben steht ihm Schiller vis-à-vis. Österreich als Begriff bedeutete bis 1918 nicht viel mehr, als was wir heute unter Europa verstehen: Es beschrieb einen supranationalen Verbund. Die österreichischen Deutschen fühlten sich im Sinne des mitteleuropäischen kulturnationalen Verständnisses als Teil der deutschen Nation. Aber dann kam der sogenannte „Anschluss“, über den bis heute die Meinungen auseinandergehen – war es ein Überfall oder ein selbstgewollter Beitritt, eine Heimsuchung oder eine Heimholung? Bis heute ist die Definition dieses Ereignisses nicht geklärt. Adolf Hitler erklärte in seinem Propagandawerk „Mein Kampf“ die „Rückkehr“ seiner „Heimat“ ins Großdeutsche Reich zum ersten Anliegen seiner Politik. Ein österreichischer Staatsbürger blieb „deutscher Nation“. Hitler, dieser österreichische Deutsche, war auch hier Sprachrohr der Mehrheit der Deutschen in Österreich und Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg28. Erst in den 1960er 27 28 Gedächtnisnotiz zum Interview mit L.M. im Feldtagebuch, A.D., 10.12.2009. Hitlers erste Gedanken in Mein Kampf muten in diesem Sinne symbolträchtig an „Als glückliche Bestimmung gilt es mir heute, daß das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies. Liegt doch dieses Städtchen an der Grenze jener zwei deutschen Staaten, deren Wiedervereinigung mindestens uns Jüngeren als eine mit allen Mitteln durchzuführende Lebensaufgabe erscheint! Deutschösterreich muß wieder zurück zum großen deutschen Mutterlande, und zwar nicht aus Gründen irgendwelcher wirtschaftlichen Erwägungen heraus. Nein, nein: Auch wenn diese Vereinigung, wirtschaftlich gedacht, gleichgültig, ja selbst wenn sie schädlich wäre, sie müßte dennoch stattfinden. Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich. Das deutsche Volk besitzt solange kein moralisches Recht zu kolonialpolitischer Tätigkeit, solange es nicht einmal seine eigenen Söhne in einen gemeinsamen Staat zu fassen vermag“ (Adolf HITLER, Mein Kampf. Zwei Bände in Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland 255 Jahren bildete sich ein konsistentes Österreichbewusstsein heraus, das als „allmählich als Nationalbewusstsein interpretiert werden konnte.“29 Freilich ist die fast schon argwöhnische, immer sehr genaue Beobachtung des großen Nachbarn Deutschland bloß zum einen aus der geteilten Vergangenheit gespeist. Mitten im 21. Jahrhundert können wir gerade in einem Land, was über Jahrzehnte den Mythos vom „ersten Opfer des Faschismus“ ins kollektive Gedächtnis und damit das Verdrängen und Vergessen anstelle des Verdrängens und Erinnerns eingeschrieben hat, nicht mehr alles mit den Ereignissen innerhalb der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erklären. Zur Entsöhnung und Zerschwisterung tragen noch andere Phänomene, als die geteilte Geschichte und der unterschiedliche Umgang mit ihr, oder die ähnliche föderale Struktur des modernen, marktwirtschaftlich ausgerichteten Sozialstaates mit bei. Von besonderer Relevanz sind die unterschiedlichen Rollen der drei Länder im Rahmen des Kalten Krieges, DDR und BRD mit ihrer Ost- bzw. Westanbindung und Österreich, wobei Letzteres seinen Status der Neutralität immer auch dazu genutzt hat, während dieser Zeit eine Drehscheibe zwischen den verhärteten ideologischen Fronten zu sein. Und nach dem Ende des Kalten Krieges ist Deutschland größer geworden – Österreich aber klein geblieben. So verwundert nicht, dass Jörg Haider im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten zur Deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 von einer „Wiedervereinigung in der kleinen Version“ sprach30. Wir beobachten in Zeiten der Europäischen Union schon seit Längerem eine Zunahme mit lokaler Identifikation, was das Stich- 29 30 einem Band. Ungekürzte Ausgabe. Erster Band: Eine Abrechnung. Zweiter Band: Die nationalsozialistische Bewegung. 583-587. Auflage. München 1941). Ernst BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreich-Bewußtseins, in: http://iiss210.joanneum.at/demokratiezentrum2/media/pdf/bruckmueller.pdf (Stand Mai 2010), S. 15. Vgl. Zitatensammlung Haiders: http://www.deochandorais.de/misc/haie.htm (Stand April 2010). Zu den politischen Ursprüngen der FPÖ und ihren pangermanischen Bestrebungen siehe auch: Peter EPPEL, Heinrich LOTTER (Hg.), Dokumentation zur österreichischen Zeitgeschichte. 1955-1980, München 1982, S. 86-94. Sowie: Lothar PROBST, Jörg Haider und die FPÖ: Anmerkungen zum Rechtspopulismus in Österreich, in: Nikolaus WERZ (Hg.), Populismus - Populisten in Übersee und Europa, Opladen 2003, S. 113-127. 256 Anne Dippel wort Glokalisierung ja auch beschreibt31. Und dies lässt sich besonders an einem kleinen Land wie Österreich aufzeigen, das mit seinen 7 Millionen Einwohnern gegenüber den 80 Millionen Deutschen von dessen medialen Produktionen und kulturellen Konventionen fast schon kolonisiert wird. Hier ist das Ziel eines jeden ambitionierten Schriftstellers, bei einem deutschen Verlag unterzukommen, eines guten Journalisten, auch für eine deutsche Zeitung zu schreiben. Und doch trägt noch eine weitere Besonderheit zur übermäßigen Identifikation mit Deutschland bei – das, was die avantgardistische Schriftstellerin Michaela Falkner im Gespräch schlicht als „Phantasielosigkeit“ bezeichnet32. Eben weil die Österreicher Deutsch sprechen, schauen sie vor allem darauf, was ihre deutschen Nachbarn machen. Mit der Schweiz fühlt man sich allenfalls aufgrund der Größe gleich. Mit Deutschland aber teilt man 30 Fernsehkanäle und unzählige Netzseiten. Via terrestrischer Frequenzen und Satelliten wird ein massenmedialer Kommunikationsraum geschaffen, der die deutschsprachigen Länder über ihre gemeinsame Sprache zusammenschließt. Auch dieses Phänomen ist Teil von Transmemorialität. In einer Stellungnahme des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland heißt es: „Der deutsch-österreichische Kultur- und Wissenschaftsaustausch ist so intensiv und vielfältig wie mit keinem anderen Land. Zahlreiche deutsche Dirigenten, Orchester, Musiker, Sänger, Regisseure, Theaterdirektoren und Schauspieler arbeiten häufig in Österreich und umgekehrt. Gleiches gilt für Gastprofessuren und Vortragende. Berufungen erfolgen oft grenzüberschreitend. Kaum ein Tag vergeht, an dem im deutschen Fernsehen keine deutsch-österreichische Co-Produktion zu sehen ist. Im Sektor Kino sind die Erfolge der deutsch-österreichischen Zusammenarbeit offensichtlich. Beste Beispiele aus jüngerer Zeit: „Die Fälscher“ (2007) oder „Das weiße Band“ (2009).“33 31 32 33 Roland ROBERTSON, Glocalization: Time-Space and Homogeneity - Heterogeneity, in: Mike FEATHERSTONE, Scott M. LASH, Roland ROBERTSON (Hg.), Global Modernities, London 1992, S. 25-44. Interview mit der Schriftstellerin Michaela Falkner 12.12.2009. Informationen des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland 2008: http://www.auswaertigesamt.de/diplo/de/Laenderinformationen/Oesterreich/Bil ateral.html (Stand April 2010). Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland 257 V. Nun habe ich sehr wenig von Schriftstellern berichtet, aber doch einen Einblick in den Feldforschungsalltag gegeben, auch einen Einblick in die Problematik nationaler Identitätsbildung, die sich für ein kleines Land ergibt, das in der globalen Gesellschaft von der Unterhaltungsindustrie des Nachbarlandes abhängig ist, das schon vor dem Eintritt in die Europäische Union mit Deutschland wirtschaftliche überaus eng verbunden war34, und dessen Intellektuelle sagen „Es gibt keine österreichisches Feuilleton, das ich noch lesen kann. Ich muss Die Zeit, die FAZ, die Süddeutsche lesen,“ – und die einem im selben Gespräch, so wie die Jelinek-Spezialistin der Wiener Universität es tat, mir mit offener Deutschenfeindlichkeit erklären können „Also, die Deutschen Studenten an den Universitäten, die sind unerträglich. Sie sind immer laut, und melden sich immer, sie reden immer rein und überfüllen die Hörsäle. Und die Deutschen, 34 Zur aktuellen Situation vgl. den Bericht des Auswärtigen Amtes 2008: „ Deutschland war auch 2008 mit Abstand wichtigster Wirtschaftspartner Österreichs mit einem Handelsvolumen von 82,9 Mrd. Euro (österr. Einfuhr: 48,1 Mrd., + 1,5%; österr. Ausfuhr: 34,8 Mrd., + 1,2% ggü. Vorjahr; 2007: Volumen 82 Mrd.) (...) Insgesamt gingen 2008 32% aller österreichischen Exporte nach Deutschland (so viel wie in die nächsten sechs Exportdestinationen zusammen), während deutsche Lieferungen ca. 40% des österreichischen Gesamtimportvolumens ausmachten.“ http://www.auswae rtiges-amt.de /diplo/ de/Laenderinformationen/Oesterr eich/Bilater al.html (Stand April 2010). Sowie: Beziehungen zwischen Deutschland und Österreich, in: Österreich News. Das österreichische Magazin in Deutschland (18. September 2005). http://www.oesterreichnews.de/30-beziehungen-zwischen-deutschland-und-oeste rreich/ (Stand April 2010). Zur Entwicklung Österreichs bis zum Eintritt in die Europäische Union siehe: Wolfgang MEDERER, Österreich und die europäische Integration aus staatsrechtlicher Perspektive 1945-1992 – unter Berücksichtigung des EWR-Abkommens, in: Michael GEHLER, Rolf STEININGER, Österreich und die europäische Integration 1945-1993. Aspekte einer wechselvollen Entwicklung, Wien 1993, S. 109-148. Schon zur Zeit des 3. Reiches war Österreich mit Deutschland aufs Engste wirtschaftlich verbunden, die Regelungen der Potsdamer Konferenz durchtrennten jedoch die bis dahin unauflösbaren wirtschaftlichen Verbindungen, wie die Erörterungen Ernst Hanischs offenbaren: „Verstaatlichung im Gesetz und Verstaatlichung in der historische Realität klafften bis 1955 auseinander. Den Wettstreit um das Deutsche Eigentum hatte das österreichische Parlament verloren, trotz des mutigen Übergehens des sowjetischen Protestes. Die Großmächte hatten in der Potsdamer Konferenz (Sommer 1945) festgelegt, dass Österreich keine Reparationen zahlen müsse, dass aber das Deutsche Eigentum in den jeweiligen Zonen den Besatzungsmächten zufalle. Das sah zunächst harmlos aus. Doch die Dimension wird sichtbar, wenn man erkennt, dass 62 Prozent des gesamteuropäischen Deutsche Eigentums in Österreich situiert war.“, HANISCH, Der lange Schatten (Anm. 2), S. 412. 258 Anne Dippel die haben überhaupt keinen Humor. Die verstehen uns einfach nicht. Neben den Deutschen fühlt sich ein Österreicher immer unterlegen. Warum? Ja, die sind so klar und so direkt und so unglaublich laut […]So erlebe ich es eben bei den Seminaren.“35 Auslöser für die Studentenproteste in Österreich waren dann auch wenige Wochen nach dem Interview die vielen Deutschen Studierenden und die Ausgleichszahlungen die vom Rektor der Innsbrucker Universität, Karlheinz Töchterle, am 13. Oktober 2009 gefordert wurden36. Aber diesen Vorwurf der lauten Deutschen an der Uni kenne ich auch aus meiner Schulzeit in Frankreich. So wie mich am Lycée in Lyon erschütterte, dass man in Frankreich fünfzig Minuten lang ausschließlich den Reden des Professors lauschte, hatten französische Gäste an unserem humanistischen Gymnasium in Frankfurt am Main den Eindruck gewonnen, Schule in der Bundesrepublik sei ein freundlicher, dauernd anhaltender Kaffeeplausch. Und meine Nachfrage bei der österreichischen Germanistin klärte schnell auf: In Österreich erleben Schüler eine frontal ausgerichtete Lehre. So können kleine kulturelle Unterschiede in der Erziehung später große kulturelle Missverständnisse zeitigen und Klischees kreieren; Missverständnisse und Klischees, die noch größer sind, je geringer die kulturelle Distanz zu sein scheint. Die in Österreich verbreiteten Ressentiments gegen Deutsche37, die Abneigung gegen und versteckte Angst vor den Piefke ist nicht zuletzt aus der Nähe zum großen Geschwister heraus zu verstehen, ein Geschwister, das lange Zeit mehr als das gewesen war. Österreich und Deutschland sind aus dem gleichen Ei entsprungen – und gleichen sich doch nicht wie ein Ei dem Anderen. In einer Studie zum Nationalbewusstsein von 2006 waren die Deutschen auf dem letzten Platz – die Österreicher aber, teilten sich mit den Vereinigten Staaten von Amerika, Venezuela und Australien die ersten Ränge38. Die in Deutschland weit verbrei35 36 37 38 Interview mit Prof. Dr. a.o. Mag. P.J. vom 6.10.2009. Uni-Rektor: Deutschland soll für seine Studenten zahlen, in: Die Presse (13. Oktober 2009). http://diepresse.com/home/bildung/universitaet/514618/ index.do (Stand April 2010). Christopher WURMDOBLER, Ihr könnt uns mal gerne haben: Deutsche in Wien, in: Integration? Nee danke!, in: Falter (2009) 12, S. 34-35. Tom W. SMITH, Kim SEOKHO, National Pride in Cross-national and Temporal Perspective, in: International Journal of Public Opinion Research (2006) 18, S. 127136. http://wwwnews.uchicago.edu/releases/06/060301.nationalpride.pdf (Stand April 2010). Zur rasanten historischen Entwicklung dieses Nationalstolzes vgl. auch die von der Lazarsfeldgesellschaft vorgenommene Repräsentativerhebung über verschiedene Bereiche politischen Bewusstseins der Österreicher im Jahre 1980. Im Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland 259 tete These vom Minderwertigkeitskomplex der Österreicher39 sollte schon längst in Frage gestellt und durch einen Größenwahnkomplexes ersetzt worden sein. In Österreich lernt man mindestens zwei Sprachen, den Dialekt in der Familie, die Erstsprache und die Varietät des Schriftdeutschen in der Schule, durch Internet und Printmedien. So wie sich hier viele Möglichkeiten von kreativem Spiel mit Sprache ergeben können, wächst auch die Notwendigkeit, die kleine, eigene Kultur, geboren aus den Grenzen eines Nationalstaates durch verstärkte Abgrenzung, durch scharfe Wörter im Rahmen der großen und entgrenzenden Kraft der Sprache zu konstruieren, der eigenen Identität ein unvergessliches, erinnerbares Profil zu geben. Offizielle Konzepte von Identität haben zumeist virtuelle Qualitäten. Echte, gebundene Kollektividentitäten haben über keinen längeren Zeitraum bestanden40. Sie sind ein Phantasma, so wie die Identität des einzelnen Ichs aus dem Phantasma des Spiegelstadiums geboren sind41. Die Vernetztheit kultureller und sozialer Formen werden durch Radio, Fernsehen, deren Satellitenübertragung und den virtuellen Erfahrungsraum des Internet allgegenwärtig und unmittelbar. Wie gezeigt werden konnte, setzen sich bei genauerer Beobachtung Stereotype nationaler Besonderheiten aus diffusen Gefühlen und Erinnerungsfragmenten des Alltags und vagen Vorstellungen von Differenz zusammen. Diese Identitätsbildung erfährt ihre Verstärkung im globalen, von elektronischen Massenmedien dominierten Gesellschaften wie Österreich durch den Gegensatz von lokal erfahrenen Alltags innerhalb eines Nationalstaates einerseits und die ständige Auseinandersetzung mit den medialen Produkten eines strukturell dominanten Nachbarn in einem geteilten Kommunikationsraum andererseits. Sowie das Medium selbst Nachricht ist, stellt es den Rezipienten einen Zeichenvorrat zur Verfü- 39 40 41 Jahre 1956 vertraten 46% der Befragten die Überzeugung, Österreich sei keine Nation. Noch 1964 waren lediglich 47% aller Österreicher der Überzeugung, Österreich sei eine Nation, 1980 67%, EPPEL, LOTTER (Anm. 30), S. 560-561. Vgl. zum Beispiel Petra STUIBER, Der Minderwertigkeitskomplex des KleinstaatenBewohners, in: Die Welt (2. Mai 2001). http://www.welt.de/print-welt/arti cle448510/Der_Minderwertig keitskomplex_des_Kleinstaaten_ Bewohners.html (Stand April 2010). Vgl. Michael HERZFELD, Anthropology. Theoretical Practice in Culture and Society, Oxford 2001, S. 137. Jacques LACAN, Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je, in: Ecrits I, Paris (1966) 1999, S. 92-99. 260 Anne Dippel gung, der im spezifischen Fall von nationaler Identität zu einem bewusstseinsanordnenden, kohärent erscheinenden Ganzen umstrukturiert wird – gleichgültig wie polyvok die Nachrichten selbst sind. Auch das Unbewusste kollektiver Identitäten ist polyvok, erscheint jedoch im Augenblick der Zurschaustellung ein-eindeutig. Individuen sind eingebunden in Öffentlichkeiten sozialen Miteinanders. Nationale Identitäten dienen sich diesem politischen Geltungswillen des Einzelnen an, ohne dass sie vom jeweiligen Menschen großes Engagement verlangten. Sie verweisen – wie sich am Beispiel des hier dicht beschriebenen Abends vom 9. November 2009 genauso verdeutlichen lässt, wie anhand internationaler Fußballturniere – auf die Affekt-Ebene kollektiven Geltungswillens in jedem Individuum. Nationalbewusstsein kann ungeheure und ungeheuerliche Gefühle und Handlungen einzelner Menschen und kollektiver Gruppen auslösen. In einer säkularen Gesellschaft spielt nationales Denken mit seinen transzendierenden Effekten dem Bedürfnis der Menschen Teil eines größeren Ganzen, einer NichtImmanenz zu sein, entgegen. Jeder kann, schon im Hier und Jetzt, Teil von etwas „Göttlichem“, etwas Größerem sein. Dies ist auch ein Effekt der transnational wirkenden Medien. Der Affekt des Nationalismus ist, wie der österreichische Schriftsteller Franz Werfel in seinem Essay über den Glauben klar darlegte, „kostenlos“42. Er hängt nur vom Geborenwerden ab. Biologische oder staatliche Zuständigkeit wird zu einem moralischen Wert, der es dem Individuum ermöglicht, Teil eines höheren Wesens, eben eines nationalen Kollektivs zu sein. Daran ist keine menschheitserlösende Gerechtigkeit geknüpft, keine Aufgabe, außer das zwecklose Existieren, um Teil des Kollektivs sein zu können. Jeder Einzelne ist notwendig, um das Kollektiv zu bilden. Werfel schreibt nicht ohne Ironie dem Nationalismus paganische Gesinnung zu. Denn „als Sendbote urtümlicher Daseinsgewalten verschmäht er es, zu argumentieren, er orakelt.“43 Dieser Verweis ist weniger esoterisch, als er auf den ersten Blick zu sein scheint. Hingegen spricht hieraus eines der Symptome oral-auraler, zumeist polytheistischer Kulturen, nämlich der Hang, alles zu beseelen und den Zusammenhängen und Bedingtheiten von Welt einen einigenden Sinn zu unterstellen. An dieser Stelle setzt die Kraft des Nationalismus ein. Nationalismus 42 43 Franz WERFEl, Können wir ohne Gottesglauben leben?, in: Zwischen Oben und Unten, Stockholm 1946, S. 67-126, 94. Ebd., S. 95. Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland 261 spielt symptomatisch den Wirkmechanismen oral-auraler Medien des transmemorialen Zeitalters zu. Ong beobachtete schon 1967, dass elektronische Medien zu Effekten führten, die bis dato einzig in oral-auralen, paganischen Kulturen aufgetreten sind – besonders hinsichtlich der mythologischen und stereotypen Funktionsweise von Erinnern, Gedächtnis, Gemeinschaftswesen und Identitätsbildung44. Printmedien indes, gepaart mit Alphabetisierung aller Bürger durch ein einheitliches, staatlich koordiniertes Bildungswesen, fördern linear-teleologisches, kategorisierendes Denken und die Vorstellung einer geeinten kollektiven Identität45. So verschränken sich in der Transmemorialität digitale Oralität, deren Basis Schriftlichkeit bleibt, elektronische und analoge Medien zu einem Identitätsdispositiv, das nationale Identität und Nationalstaatlichkeit aktiv herstellt und den einzelnen Bürger dazu auffordert, sich selbst als Subjekt, das Fremde aber objektivierend zu betrachten. Trotz der Aufhebung realer Grenzmarken führt die digitale Vernetzung der Gesellschaften und ihrer Individuen somit zu einer Verstärkung der inneren Grenzen und dem Aufbau der eigenen Identität durch die Stereotypisierung des Anderen. Dies geschieht um so mehr, je enger Gesellschaften miteinander vermascht, verwoben oder vernetzt sind, wie es bei Österreich und Deutschland der Fall ist. Von diesem Standpunkt aus lässt sich mit Recht resümieren: Keine Grenze Deutschlands hat weniger reale und zugleich größere symbolische Qualität, als die zu seinem im wahrsten Sinne des Wortes eigen-tümlichen Nachbarn Österreich. 44 45 Walter J. ONG, The Presence of the Word. Some Prolegomena for Cultural and Religious History, New Haven 1967, S. 76-92. Ebd., S. 35-53. 262 Anne Dippel Résumé Anne Dippel : L'Allemagne et l'Autriche : concurrence et réconciliation entre frères et sœurs. Essai d’études culturelles sur l’identité nationale à l’ère transmémorielle d’un point de vue historiographique et selon une méthode ethnographique. En se fondant sur l’exemple la frontière entre l’Allemagne et l’Autriche contemporaine, l’essai introduit le terme de transmémorialité afin de décrire le phénomène de la mémoire collective d’une société électrifiée et digitalisée. Les modalités d’enregistrement, du magnétophone jusqu’à l’ordinateur, transforment les rapports humains à l’expérience du raconter – qui dérive étymologique du racompter – et du rappeler : le souvenir des événements devenu historiques change. Les « frontières » traditionnelles entre les éléments structurant l’organisation des sociétés – comme la famille, le peuple ou la nation – deviennent fluides. La signification de la langue et de la parole se modifie. Ces changements n’ont pas seulement des répercussions sur l’organisation des communautés, mais également sur la perception de l’individu lui-même. Au temps de la mondialisation et de la transnationalité, les anciennes entités de l’ordre du discours de la mémoire se transforment sans s’annuler. Les phénomènes dans le passé, même s’ils paraissent éloignés dans les limites d’un temps mesuré par le chronographe, restent actuels. Sans disparaître, ils suscitent des stéréotypes, car ils renvoient ainsi à une expérience spatiotemporelle qui n’est pas calculable, mais présente dans la mémoire.