Die Hirnforschung entzaubert den Menschen nicht - Beatrix Sitter
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Die Hirnforschung entzaubert den Menschen nicht - Beatrix Sitter
Die Hirnforschung entzaubert den Menschen nicht Im Dezember 1999 von Norbert Lossau (Die Welt) gefragt, ob er denke, „dass die Gehirnforschung ... zu einer Entzauberung des Menschen“ beitrage, antwortete Wolf Singer, herausragender deutscher Hirnforscher, mit einem klaren „Nein“. Die Welten, die sich dem subjektiven Erleben bzw. der objektivierenden Wissenschaft erschliessen, „bleiben wunderbar getrennt“. Das aber gilt dann auch für die Bedingungen dieser Welten, darunter Werte, Normen und Regeln. Sie mögen in Wechselwirkung stehen, die einen durch die anderen zu ersetzen geht indes nicht an. Wenn wir im Folgenden nach Konsequenzen der Hirnforschung für die Ethik fragen, wollen wir weiter bedenken, was Singer fünf Jahre später (Frankfurter Rundschau, 2004) versicherte: „Natürlich gibt es Entscheidungen, die wir nicht tolerieren können.“ Darüber, wie Entscheidungen zustande kommen, sagt dieser Satz nichts. Sinnvoll wird er allerdings erst dann, wenn wir ein gemeinsames, diskursiv gewonnenes Wert- und Regelsystem voraussetzen, das uns erlaubt, Entscheidungen Dritter zu beurteilen, unter diesen mit Gründen zu wählen, nicht einfach von unbeeinflussbaren Antrieben gesteuert, sondern im Wissen um eigene Verantwortung. Denn dass neuronale Prozesse diesen Vorgang tragen, ändert nichts daran, dass Abwägungen erfolgen und schliesslich eine persönliche Entscheidung resultiert. Sind wir Menschen nun, oder sind wir nicht, sittliche Wesen? Personen also, die grundsätzlich fähig sind, autonom über ihr Tun und Lassen zu befinden, begabt mit einem freien Willen, „der sich unserem Urteil darüber fügt, was das jeweils Beste ist“ (Peter Bieri) ? Wesen, die in der Tat Verantwortung tragen, mithin zu Recht gelobt und gerügt, schuldig gesprochen und belohnt werden können? Es scheint, die derzeitigen Erkenntnisse der Hirnforschenden nötigten dazu, diese Fragen zu verneinen. Doch es scheint nur so. Diese Behauptung kann ich in einem kurzen Artikel nicht zureichend belegen; ich will mich auf einige Hinweise beschränken, gedacht als Anstösse zu weiterem Fragen. Auf zwei Voraussetzungen stelle ich ab: zunächst auf die Überzeugung, dass wir nicht darauf verzichten können, gemeinsam nach dem zu fragen, was wir für das Gute halten, um danach unser Handeln auszurichten (und auch zu richten). Wir sind moralische und, insofern wir unsere Moral kritisch reflektieren, ethische Wesen; sodann gilt es, sorgfältig auf unsere Sprache zu achten, d. h. darauf, ob und inwiefern sie der Sache, mit der wir uns befassen, angemessen ist. Ein erstes Beispiel liefern die diesen Abschnitt einleitenden Fragen. Hier bliebe, unter anderem, zu klären, was die Ausdrücke ‚Person‘, ‚autonom‘, ‚Verantwortung‘ bedeuten. Das zweite Beispiel entspringt der Frage, ob es angemessen sei, wenn Hirnforscher dem Gehirn - einem Organ komplexer Wesen, die wir als leibhafte, nicht allein vom Gehirn bestimmte Personen ansprechen – Entscheidungsfähigkeit zusprechen. Schliesslich: Was verstehen wir unter ‚Willensfreiheit‘ und was die Hirnforschenden, wenn sie diese als Illusion bezeichnen? Dass ‚Freiheit‘, auf unser Handeln bezogen, nicht völlige Ungebundenheit bedeutet, ist seit langem geläufig. Der Begriff kann ohne Bezug auf Begrenztheit und Gerichtetheit nicht sinnvoll gedacht werden. Als absolute Freiheit konzipiert, wird der Begriff leer, chaotisch, gleichbedeutend mit Zufall. Über die Unterscheidung zwischen Willens- und Handlungsfreiheit, über deren – äussere ebenso wie innere - Begrenzung unterrichtete uns bereits Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik (3. Buch). Von hier aus wird einsichtig, warum zum Beispiel J. Ph. Reemtsma (2006) kurz und bündig definiert: Willensfreiheit meint, „dass man handeln © Beat Sitter-Liver, Bern Seite 1 kann, wie man selbst handeln möchte“. Natürlich bleiben hier Fragen offen. Zu ergänzen wäre „im Rahmen des Möglichen“; was mit ‚selbst‘ gemeint ist, bleibt unklar; warum man zunächst etwas und dann dieses und nicht etwas anderes tun möchte, ist offen, gerade auch in der Perspektive der Hirnforschung. Grenzen und Bedingtheit sind jedoch immer schon mitgedacht. Wenn, wie oben zitiert, Peter Bieri schreibt, dass frei jener Wille ist, „der sich unserem Urteil darüber fügt, was das jeweils Beste ist“, dann liegt das jeweils Beste zwar durchaus innerhalb der Grenzen des Möglichen. Zu bedenken wäre immer noch, warum wir überhaupt etwas und dann gerade dieses und nicht ein Anderes als Bestes erküren. Die Perspektive der Hirnforschung vermag Grenzen und Bedingtheit zu klären, zu erläutern. Das ist wichtig. Grundsätzlich jedoch bringt sie nichts Neues. Ihre Erkenntnis, dass alle unsere kognitiven, auch die voluntativen Akte als neuronale Prozesse ablaufen, impliziert nicht zwingend, dass Selbstbestimmung überhaupt und in jeder Hinsicht unmöglich ist. Den Begriff ‚Verantwortung‘ verwenden wir sinnvoll nur dann, wenn wir ihn in sechsfacher Hinsicht füllen: Ein Subjekt (1) ist verantwortlich gegenüber einem Anderen (2) für eine Handlung samt Folgen (3). Dies im Rahmen eines Systems von Werten, Normen und Regeln (4), in einem definierten Bereich (5) und gegenüber einer Instanz, welche zu Sanktionen berechtigt ist (6). Fehlt eine dieser Bestimmungen, entleert sich der Verantwortungsbegriff. Wäre das Verhalten eines Akteurs bis ins Letzte determiniert, bliebe für Verantwortung kein Platz. Genau dies können Hirnforscher nicht meinen, solange sie auf Verantwortung als Bedingung sozialen, friedlichen Lebens Gewicht legen. Was der Fall ist. Dann aber ist nicht ohne weiteres verständlich, was genau Wolf Singer meint, wenn er sagt „Auch wenn man unterstellt, dass es keinen freien Willen gibt, bleibt die Person als Verursacher[in] für ihre Taten verantwortlich“ (2006). Zudem müssten Hirnforscher auch erklären, wie es geschehen kann, dass und warum in der Gemeinschaft einige an der Instutionalisierung von Verantwortung arbeiten und woher sie jeweils gerade diese und nicht andere Werte und Normen gewinnen, die sie hierzu benötigen. Diese metatheoretische Frage erneut mit der etablierten Theorie zu beantworten, machte diese zu einer Endlosschlaufe – oder, wissenschaftskritisch gesprochen, zu einer nicht kritisierbaren, also unwissenschaftlichen Theorie. Wie immer, Zurückhaltung wie Offenheit zeichnen Wolf Singer aus. Er unterstreicht die Möglichkeit, eine bestimmte Erfahrung auf verschiedene Weise und also in unterschiedlichen Sprachen zu beschreiben. Mir scheint wichtig, dass nicht nur alltägliche und wissenschaftliche Erfahrung auseinander gehalten werden können. Auch im Bereich der Naturwissenschaften selber eröffnen sich verschiedene Zugänge zu ein und demselben Thema bzw. Objekt. So lässt sich das Problem der Willensfreiheit auch aus der Sicht der Quantenphysik beleuchten, mit Hans Peter Dürr etwa. Deckt sich dessen Sprechweise auch oft mit jener von Singer, manifestieren sich doch erhebliche Differenzen. Dürr fasst Wirklichkeit als Potentialität auf, nicht als Realität. Der Welt liegt ein Prozess zugrunde, in dem Realität erst entsteht. Die ständige teilweise Umwandlung von Potentialität in Realität entspricht „einem ewigen Schöpfungsprozess im echten Sinne“, in welchem auch der „freie Wille“ seinen Platz findet. Allerdings: Die „Qualität des bewussten Handlungsspielraums bleibt hier zunächst noch ganz unbeschrieben. Der freie Wille steht noch ausserhalb der heute ausformulierten Quantenphysik. Er kann aber gedacht werden auf der Basis der Nicht-Festlegung, der Offenheit des Alles in Allem, eingebettet in Alles in Allem.“ (H.-P. Dürr/M. Oesterreicher 2001, 47) Zu beachten ist, dass Dürr nicht meint, anhand der Quantenphysik die Existenz eines absolut freien Willens bewiesen zu haben. Handeln ist ihm nicht beliebig, und „Freiheit verwirklicht sich ... innerhalb eines Korridors“ (ebd., 115). © Beat Sitter-Liver, Bern Seite 2 Ein praktischer Philosoph, der weder Neurobiologe noch Quantenphysiker ist, wird nichts entscheiden, wohl jedoch aufmerksam hinhören – auf die Beschreibungen, die verwendeten Sprachen, deren Klarheit und Konsistenz. Sein Interesse an der Ethik: am gemeinsam reflektierten Bestreben, die Idee des Guten praktisch zu konkretisieren, führt ihn angesichts der gegenwärtigen Diskussionslage zu folgenden Schlüssen: Dass unter anderem unser Vorstellen, Denken, Fühlen, damit auch die Richtungen, in denen sich unsere kognitiven Fähigkeiten entfalten, vorgeprägt sind, unterliegt keinem Zweifel, wird gerade in der Perspektive subjektiven Erlebens täglich greifbar. Vorgeprägt heisst aber nicht vollständig festgelegt. Verantwortung, also gemeinsame Werte und Regeln, deklarieren auch Hirnforschende als unverzichtbar. An der Notwendigkeit der zielgerichteten individuellen, sozial und geschichtlich bedingten Prägung, darunter Erziehung, wird hier, mit dem Hinweis auf die Evolutionstheorie, zumindest aus funktionalen Gründen (Selbsterhaltung von Individuen und Gemeinschaften) festgehalten. Damit findet, was der Diskurs-, besser: der Humanitätsethik (Jürgen Habermas) am Herzen liegt, seinen unbestrittenen Platz. Es besteht kein Anlass, das im abendländischen Kulturbereich favorisierte, etwa im Recht und in den christlichen Kirchen institutionell verankerte Menschenbild über Bord zu werfen. Dass dieses Bild – oder diese Bilderfamilie - laufender Festigung wie Berichtigung bedarf, lehrt seine bzw. ihre Geschichte. Wobei noch von den Lehrstücken, die andere Kulturen mit ihren Welt- und Menschenbildern anbieten, zu sprechen wäre. Im Übrigen: Der Streit um die richtige Ethik ist auch ohne Hirnforschung alles andere als entschieden. Ich wüsste nicht, wie Ethik anders denn als ständiger und durch Auseinandersetzungen voran getriebener Prozess richtig verstanden würde. Dogmatische Festlegungen sind nicht nur rerpressiv, sie zerstören Ethik. So ist auch die Debatte mit der gegenwärtigen Hirnforschung hilfreich. Die Behauptung, der freie Wille sei nur ein gutes Gefühl (Wolfgang Singer), regt dazu an, das, was mit diesem Willen angesprochen wird, nicht einfach als gegeben anzunehmen, sondern als Aufgabe zu begreifen. Der Diskurs mit den Hirnforschenden trägt bei zur Klärung und Entwicklung unserer sittlichen Selbstbestimmung, auch zur Einsicht in deren mögliche Gefährdung. „Man muss immer wieder neue Fragen stellen, die man nicht beantworten kann“ (Stefanie Carp), um endgültigen Antworten entgegen zu treten – um Einsichten zu festigen, um neue, ihrerseits vorläufige Erkenntnisse zu gewinnen und um so die Freiheit von Denken und Verantwortung zu bewahren. Denn „Etwas sehen heisst immer auch, etwas anderes nicht sehen. Über etwas reden heisst immer auch, etwas anderes verschweigen“ (Ernst P. Fischer, Physiker und Biologe). 060829/3 - BSL © Beat Sitter-Liver, Bern Seite 3