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ZEITSCHRIFTENARCHIV Sabine M. Kistner Die Zeit zwischen Tod und Bestattung als Prozess. Wie leite ich Trauernde und mich selbst in diesem Zeit-Raum? Themenzentrierte Interaktion Tausche Ohnmacht gegen partielle Macht 26. Jahrgang, 2/2012, Seite 70–80 Psychosozial-Verlag 28162 T hemenzentrierte Interaktion Bericht aus der Praxis Sabine M. Kistner Die Zeit zwischen Tod und Bestattung als Prozess Wie leite ich Trauernde und mich selbst in diesem Zeit-Raum? Zur Autorin Sabine M. Kistner, Jg. 1958, Dipl.-Soz.- und Rel.-Pädagogin, 10 Jahre Klinikseelsorgerin, jetzt selbstständige Bestatterin, TZIDiplom. [email protected] Mit der vorliegenden Arbeit begeben wir uns in einen Raum, der als Gestaltungsspielraum unbekannt ist oder ungewohnt – die Zeit zwischen Tod und Bestattung. Erhard Weiher nennt diese Zeit „Schleusenzeit“, eine Zeit, in der sowohl Verstorbene wie auch Angehörige sich in einem eigenen geschützten Zeitraum befinden. Die Schleusentore sind am Anfang durch den Tod und am Ende dieser Zeit durch die Bestattung gegeben (vgl. Weiher, 1999) Was in diesem Zeitraum geschieht, sehe ich als einen Prozess an, einen Gruppenprozess. In meinem Beruf als Bestatterin treffe ich auf Menschen in der Schleusenzeit und gestalte diesen Weg vom Tod zur Bestattung mit ihnen. Die Themenzentrierte Interaktion (TZI) erscheint mir dabei als ein geeignetes Instrument der Handlungsleitung und Prozessanalyse. Was heißt z. B. Chairpersonship angesichts von Sterben oder Tod? Oder wie ist mehr Transparenz in diesem weitgehend undurchsichtigen Prozess möglich? With the present study we are entering a sphere which practically no one has ever thought to manage or cope with in this way: the period of time between death and burial. Erhard Weiher calls it the “Sluice Gate Period”, a phase during which the dead and their family are within their own protected period of time. The sluices are represented by death at the beginning and burial at the end (cf. Weiher 1999). I regard what happens during this time as a process, and it is a group process. In my work as an undertaker I meet with people during this sluice gate period and help them plan this path leading from death to burial. Theme-Centered Interaction seems to me to be an appropriate instrument to guide actions and analyze processes. For example, what does the concept of the “chairperson” mean when we are confronted with dying or death? Or, how can more transparency be introduced into this largely non-transparent process? 70 Kistner, Die Zeit zwischen Tod und Bestattung als Prozess 26. Jahrgang Heft 2 Herbst 2012 Gründung unseres Bestattungshauses Nirgends ist so viel Wissen um hilfreiche Rituale verloren gegangen wie nach dem Eintreten des Todes eines geliebten Menschen. Nie wird uns so viel aus der Hand genommen wie zu dieser Zeit – vor allem der/die Tote selbst. Sterben und Tod wurde immer mehr zum unerwünschten Randthema. Zusammen mit einer Freundin habe ich in Frankfurt ein Bestattungshaus gegründet, ein Haus, in dem Menschen, die vom Tod betroffen sind und sich in der Schleusenzeit befinden, Raum und Zeit bekommen. Unser Konzept sieht vor, dass die betroffenen Menschen – Verstorbene wie Hinterbliebene – sich in dieser Zeit bei uns wie zu Hause und aufgehoben fühlen. Dafür haben wir wohnliche, farblich ansprechende und lichtdurchflutete Räume gestaltet und sind selbst während des Begleitungsprozesses jederzeit präsent und ansprechbar. Für die Verstorbenen gibt es einen gekühlten Raum, in dem sie verweilen, wenn sie nicht besucht werden. Unser Haus ist ein Ort, an dem der massiven Störung durch den Tod „Vorrang“ gegeben wird. Menschen, die Wenn der Tod als gerade, vielleicht überraschend, jemanden verloren haben, Störung kommt, kommen zu uns – oft völlig „verstört“, einerseits von nimmt er sich wildem Schmerz ergriffen, andererseits vor der Aufgabe, Vorrang „Dinge zu regeln“, mit denen sie sich nicht auskennen. Wenn der Tod als Störung ins Leben kommt, nimmt er sich in der Regel den Vorrang. Die Störung besteht – neben vielen alltäglichen Veränderungen, weil jemand, der uns vertraut ist, nicht mehr da ist, vor allem darin, dass der Austausch, die Kommunikation mit dem verstorbenen Menschen für immer – und man mag sich noch nicht vorstellen, was das heißt – abgebrochen ist. Der Tod macht uns zu Peers?! – Die Mischung aus persönlicher Betroffenheit und dem Privileg, „an der Quelle“ zu arbeiten Ich habe mich gefragt, wie ich meinen täglichen Umgang mit Trauer und Tod sowie der Gestaltung von Abschieden im Blick auf meine eigenen Trauer- und Abschiedsprozesse einordne. Wichtig erscheint mir vor allem die Einordnung der Gefühle: Wenn bis dahin fremde Menschen sterben und betrauert werden, handelt es sich nicht um meine Trauer. Ich kann die Trauer, den Schmerz wahrnehmen, mitfühlen, aber ich leide nicht mit. Diese Unterscheidung habe ich einüben können und müssen. Ich erlebe andere Menschen in ihrer Trauer: Meine wichtigste Erfahrung dabei ist zu sehen, dass sie „überleben“. Ich habe ge71 T hemenzentrierte Interaktion Bericht aus der Praxis lernt, mit betroffenen Menschen Wege zu finden, so etwas zu überleben. Im schrittweisen Zulassen der Gefühle, Auffinden von hilfreichen Ritualen, Anleitung und Ermutigung zum eigenen Handeln, konnte ich erleben, wie sie ihren eigenen „Überlebensweg“ finden. Dies empfinde ich hinsichtlich meiner eigenen Trauerprozesse – gewesener, aktueller wie kommender – als hilfreich, ja privilegierend. Der Weg durch die ersten Tage der Trauer – welche TZI-Prinzipien helfen bei der Leitung? Definition der Bestatterin als Leiterin Ich definiere meine Arbeit als Bestatterin auch als TZI-Gruppenarbeit, wobei die kleine Runde von Menschen, die sich um einen Verstorbenen sammelt und die ersten Tage nach dem Tod gestaltet, die Gruppe ist, die ich leite. Es handelt sich in jedem Fall um eine teilnehmende Leitung, denn ich beIch definiere gebe mich mit und durch meine eigene Betroffenheit mit meine Arbeit als der Gruppe auf diesen ersten Trauerweg. „Ich möchte uns Bestatterin als TZI-Gruppenarbeit als Gruppe einen Lebens- und Entwicklungsraum öffnen, auch wenn Inhalte und Strukturen vorgegeben sind“ (vgl. Stollberg 2010, 58). Dabei öffne ich einen in der Situation für die Angehörigen unerwarteten Lebens- und Gestaltungsraum mit teilweise festen Strukturen, z. B. was den zeitlichen Rahmen angeht – in Frankfurt maximal zehn Tage. Vertrauen wird mir teilweise schon als Vorschuss (durch Empfehlung) mitgebracht, es entsteht aber in der Regel durch ein erstes anteilnehmendes ausführliches Beratungsgespräch. Es entsteht auch dadurch, dass Angehörige spüren, dass ich sicher in der Leitung eines solchen Prozesses bin. Einführung der Chairpersonship im Trauerprozess Ohne explizit TZI-Vokabular zu verwenden, führe ich im ersten Gespräch die Chairperson ein. Auch das ist ungewohnt, viele Trauernde kommen „in die Pietät“, weil sie hier gesagt kriegen, was sie jetzt zu tun haben, mit entsprechenden Fragen, die mit „was müssen wir …“ beginnen. Indem ich nicht direkt darauf antworte, sondern meinerseits beginne zu fragen: „Wie sind Sie hier angekommen?“, „Wie waren Ihre letzten Tage und Stunden miteinander?“, „Was brauchen Sie jetzt?“, „Was denken Sie, was Ihr … jetzt braucht?“ eröffne ich einen Raum, in dem sie anfangen, ihre Gefühle mit dem, was jetzt vor ihnen liegt, in Verbindung 72 Kistner, Die Zeit zwischen Tod und Bestattung als Prozess 26. Jahrgang Heft 2 Herbst 2012 zu bringen. Sie entdecken, dass sie „Regie“ führen dürfen in den Tagen, die vor ihnen liegen, dass es ihr Abschied ist, den sie gestalten dürfen, dass es ihr bzw. des Verstorbenen „letztes Fest“ ist, das wir miteinander planen. Im ersten Gespräch liegt mir vor allem am Herzen, Angehörige nicht sofort auf eine bestimmte Entscheidung, einen bestimmten Plan festzulegen. Das schafft viel Vertrauen, denn durch Zeitdruck wird die Chairperson sehr eingeschränkt. Eine meiner nachdrücklichsten Erklärungen ist deshalb: „Wir/Sie haben jetzt Zeit! Mit dem Tod kommt ein Stück der Ewigkeit zu Ihnen und nichts und niemand darf Sie jetzt drängen.“ So öffne ich einen Zeitraum, in dem sich Angehörige erlauben, auf ihre eigenen Gefühle zu hören und Verantwortung für sich zu übernehmen. In unserem Bestattungshaus schaffe ich im Sinne der TZI einen unerwarteten Globe: Das Eröffnen eines Zeit-Raums in Verbindung mit dem bewusst gestalteten Raumangebot in unserem Bestattungshaus wird von Menschen, die zu uns kommen, als überraschend erlebt. Mit unserem „äußeren“ Globe Mit unserem nehmen wir ihren „inneren“ Globe auf und bringen sie „äußeren“ Globe damit in Kontakt. „Wer den Globe nicht kennt, den frisst nehmen wir ihren er“ (vgl. Cohn/Farau 1993, 355) – diese Worte von Ruth „inneren“ Globe auf Cohn veranlassen uns, viel Aufmerksamkeit darauf zu verwenden, dass Angehörige einen Raum bekommen, in dem sie sich aufgehoben fühlen. „Ein bisschen wie zu Hause“ soll es sein und das nimmt vielen in einem Zustand innerer Verstörung die Beklemmung, mit der sie sich zunächst der „Pietät“ genähert hatten. Wie lautet das Thema und wie leitet es? Im Weiteren nenne ich die Menschen, die sich um eine/n Verstorbenen versammeln und immer wieder in wechselnden Konstellationen bei uns zusammentreffen, eine Gruppe. In der Regel sind es drei bis fünf Personen, meistens die engsten Angehörigen. Mit ihnen führen wir ein bis drei längere Gespräche, außerdem gehen sie ein- oder mehrmals zu Abschiednahmen von ihrem/r Verstorbenen bei uns ein und aus. Wie lautet nun das Thema dieser kleinen Gruppe? „Ein Thema zu finden und es so zu formulieren, dass das persönliche Lernen, die Kommunikation und die produktive Zusammenarbeit der Teilnehmenden angeregt wird, ist eine Herausforderung und eine Kunst zugleich …“ (Rubner, 2009, 80). Ruth Cohn sagt: „Im TZI-System ist das Thema das formulierte Anliegen. In einer Gruppe ist es der zentrierte, meist verbal formulierte Focus der Aufmerksamkeit“ (Cohn/Farau 1993, 364). 73 T hemenzentrierte Interaktion Bericht aus der Praxis Um den von Eike Rubner vorgeschlagenen Dreischritt zum Thema anzuwenden, lässt sich als 1. Schritt der Satz nennen: „Wir gestalten die Bestattung von N. N.“ Im 2. Schritt dürfen Assoziationen benannt werden – alles, was für diese Handlung als notwendig, zugehörig betrachtet wird: Was braucht der/die Verstorbene z. B. an Versorgung, Lagerung, Kleidung? Was soll mit in den Sarg gegeben werden? Was brauchen die Hinterbliebenen, um sich verabschieden zu können? Mithelfen bei der Versorgung, Besuche, Rituale für sich oder bei dem Verstorbenen, Planung der Trauerfeier, Gestaltung von Anzeigen, Suche nach einem guten Platz für das Grab …, sodass nachher 3. das „aufbereitete“ Thema heißt: „Wir gestalten die Bestattung von N. N., was kann ich, was will ich selber dafür tun, was brauche ich an Unterstützung und Begleitung von der Bestatterin“ (vgl. Rubner, ebd.)? Manchmal werbe ich regelrecht dafür, nicht alles auf einmal erledigen zu wollen, sondern täglich neu zu schauen, wie es ihnen mit der Situation „N. N. ist tot“ geht und was sie jeweils für Bedürfnisse in Blick auf den Abschied in sich spüren. Schau in dich, schau um dich und entscheide dann – so bleibt die Chairperson im Spiel. Struktur – Vertrauen – Prozess: Gelungene und misslungene Balanceakte Es kann sein, dass sich in diesem Prozess ganz andere Themen entwickeln. Hierbei spielt der Globe der jeweiligen Familie oder der direkten sozialen Umgebung eines/r Verstorbenen eine große Rolle. Auch wenn nicht alle erscheinen, haben wir es mit dem System der ganzen Familie zu tun und manchmal erweist sich die Macht der Abwesenden, einschließlich der Verstorbenen, als sehr wirksam. Im Falle des Suizides eines 25-jährigen Mannes kurz vor Weihnachten gab es in der Familie erhebliche Vorbelastungen. Der junge Mann hatte den Kontakt zu seiner Mutter vor mehr als einem Jahr gänzlich abgebrochen, sie kannte auch seine Freunde nicht. Die Eltern waren seit Jahren getrennt. Zum Vater hatte ein guter Kontakt bestanden, er war auch mit dem Freundeskreis vertraut. Alle waren vom Tod des Sohnes und Freundes überrascht und standen nun vor der schweren Aufgabe (einer von vielen), miteinander eine Trauerfeier zu gestalten. Zu Beginn war unklar, ob es überhaupt eine geben sollte. Die Mutter, eine sehr spirituelle Frau, hatte genaue Vorstellungen, was alles zu geschehen hätte. Die FreundInnen und der Vater lehnten dies im Sinne des Verstorbenen rundweg ab. Aller Schmerz, gegenseitiges Unver74 Kistner, Die Zeit zwischen Tod und Bestattung als Prozess 26. Jahrgang Heft 2 Herbst 2012 ständnis, Enttäuschung und Vorwürfe schwelten im Raum. Der Prozess drohte zum Stillstand zukommen. Immer wieder saßen die Angehörigen und FreundInnen einzeln oder miteinander am Sarg. Endlich zeichnete sich bei allen eine Bereitschaft ab, sich zusammenzusetzen und miteinander eine Trauerfeier zu planen, die in ihrem Ablauf ganz eigenwillig sein sollte und Raum für alle Ideen und Äußerungen geben sollte. Diese Versammlungen fanden in unseren Räumen statt und wir konnten beobachten, wie langsam und zunächst sehr misstrauisch, später beinahe unbefangen, die Eltern und die FreundInnen sich fanden und tatsächlich ein Abschiedsfest vorbereiteten, das der Brüchigkeit des Lebens des Verstorbenen und Trauer um seinen Tod einen starken Ausdruck gab. Wenn die Trauer ungehindert fließen kann, lässt sich leicht ein guter Weg finden, wie die ersten Tage der Trauer einschließlich der Trauerfeier gestaltet werden können. Es gibt allerdings Faktoren, die den Fluss der Trauer empfindlich stören oder gar ganz zum Stagnieren bringen können. Genannt seien hier nur: ➢ Wut auf den Verstorbenen, z. B. bei Suizid, ➢ Schuldgefühle und Schuldzuweisungen, ➢ Traumatisierung durch qualvolles Miterleben des Todes z.B. bei einem Unfall oder gar bei einem Mord. Indem ich den Raum zwischen Tod und Bestattung öffne, ermögliche ich auch die unterschiedlichsten Formen, den eigenen Befindlichkeiten Ausdruck zu verleihen. In manchen Fällen ist es nicht möglich, dass alle Angehörigen sich gemeinsam auf die gleiche Weise verabschieden. Hier schaue ich, dass jede und jeder den passenden Weg findet, z. B. ➢ den/die Verstorbene/n noch einmal liebevoll versorgen, waschen, cremen, ankleiden, Aus einer Störung ➢ den Sarg individuell gestalten mit Farben, (Hand)wird ein Weg, Abdrücken, Fotos der scheinbar ➢ Musik zusammen zu hören, unpassenden ➢ eine Nachtwache halten – alleine oder gemeinsam Gefühlen einen mit Angehörigen, Ausdruck erlaubt ➢ Sarg- oder Grabbeigaben zu überlegen und zu gestalten, z.B. einen Brief zu schreiben, der mitgegeben wird und vieles andere. Solche Formen werden oft erst umgesetzt, wenn ich den Angehörigen zusichere, dass sie „in Ordnung“ sind. D.h. aus einer vermeintlichen Störung – ich bin so wütend, ich kann gar nicht über eine Trauerfeier nachdenken – wird ein Weg, ein Trauerweg, der gerade den scheinbar unpassenden, aber so massiv ihr Recht fordernden Gefühlen einen Ausdruck erlaubt. 75 T hemenzentrierte Interaktion Bericht aus der Praxis Wo viel Licht ist, ist auch Schatten – Schattenseiten im geschäftlichen Alltag Neben äußeren Faktoren wie dem Konkurrenzdruck, dem heiklen Umgang mit Geld, der strategischen Leitung unseres Unternehmens sowie dem Umgang mit Spannungen und Konflikten gibt es zusätzlich Herausforderungen. Oft findet unsere Arbeit zwischen zwei sehr gegensätzlichen Polen statt: Überforderung und Stress, weil viele Anfragen gleichzeitig auf uns zukommen und bald darauf wieder Unterforderung gepaart mit wirtschaftlichen Engpässen, weil es zu wenige Aufträge gibt. Kommen dann die lohnenden und befriedigenden Aufträge, wollen wir natürlich unser Bestes geben: Groß ist jetzt die Versuchung, über die Grenzen der eigenen Kraft hinauszugehen und der „Gefahr durch die überschäumende Antriebskraft des unbewussten Ehrgeizes und Helferwillens“ (Brönnimann 2008) nicht zu widerstehen. Hier spielt regelmäßige Supervision eine wichtige und entlastende Rolle. Welche Rolle spielt meine persönliche Trauer in der Begleitung Angehöriger? Nach dem Tod meines Partners konnte ich mir zunächst nicht vorstellen, Menschen in ähnlichen Situationen gut zu begleiten, d.h. meine Arbeit so zu tun, dass sie meinen eigenen Ansprüchen genügen würde. Zu sehr habe ich die Überschwemmung durch eigene Gefühle befürchtet. Dabei war mein Anspruch, „berührbar“ zu sein und mit Empathie zu begleiten, maßgeblich. Vielleicht wäre ich imstande gewesen, Strukturen zu setzen, Formalitäten zu erledigen, aber es war mir unvorstellbar, mich selbst auf einen Prozess einzulassen, in dem Trauernde ähnliches durchleben wie ich. In meiner Vorstellung hätte ich dauernd mitweinen müssen und wäre nicht fähig gewesen zu leiten. Um wieder arbeitsfähig zu werden, war die Entscheidung, eine Auszeit zu nehmen, ein wichtiger Schritt meiner Selbstleitung – für mich hieß das, in dieser Zeit ganz bewusst und mit allen Sinnen meine erste Trauerzeit zu gestalten. Es war sehr wichtig, diesen Prozess alleine zu durchleben, um hinterher sehr genau erkennen und unterscheiden zu können, was meine Gefühlsanteile sind und welche die der anderen. „Das wichtigste Instrument deiner Arbeit bist du selbst“ (Cohn nach Schulz von Thun 2010, 20) und „es geht ums Anteilnehmen“ (Cohn 1989). Diese beiden Sätze von Ruth Cohn ermahnen und ermutigen mich, meine Wahrnehmungsfähigkeit, meine Berührbarkeit auch oder gerade nach dieser Auszeit zur Verfügung zu stellen. 76 Kistner, Die Zeit zwischen Tod und Bestattung als Prozess 26. Jahrgang Heft 2 Herbst 2012 Wenn die persönliche Betroffenheit zur Störung wird – Wie leite ich bei starker eigener Betroffenheit? Was, wenn sich in der Empathie das Mitfühlen mit dem eigenen Gefühl vermischt? Bestimmte Schilderungen können Assoziationen wecken. Der erste Schritt ist, diese Vermischung wahrzunehmen und sie zuzulassen. Je nachdem, wie stark ich selbst emotional reagiere, benenne ich es „laut“ oder nur für mich selbst. Tränen sind immer eigene Tränen! Wenn ich sie für den Gruppenprozess nutzen will, sollte ich sie benennen, um Fantasien bei den Angehörigen vorzubeugen. Ich muss aber damit rechnen, dass sich gruppendynamisch eine Bewegung in meine Richtung ergeben wird. Was passiert, wenn Angehörige sich genötigt fühlen, der Bestatterin zu kondolieren …? Ich halte es durchaus für möglich, solche „passionate involvements“ für den Gruppenprozess mit den Angehörigen nutzbar zu machen. Kroeger nennt diese Formulierung eine „Kostbarkeit, weil sie das ‚Störende‘ aus dem negativen Lichtkegel in eine positive Beleuchtung rückt und sie so zu betrachten anleitet“ (Cohn 1989, 11). Durch diesen Umgang mit meiner „Störung“ sorge ich unter Umständen auch für eine bessere Balance zwischen den Faktoren, indem ich modellhaft zu „ein wenig mehr Die Lebenden wie Persönlichem, ein wenig mehr Ich-Beteiligung und per- die Verstorbenen sönlichem Erleben des Themas“ im Prozess ermutige. bringen uns die Dies geschieht möglicherweise auch dann, wenn AngeDimensionen der hörige wie versteinert Entsetzliches, was sie erlebt haben, Transzendenz schildern, um dann zur ihrer Meinung nach notwendigen ins Haus Tagesordnung überzugehen. Hier lasse ich mich bewusst berühren und stelle meine Emotionalität, eventuell auch Tränen, zur Verfügung. Dadurch habe ich die Versteinerung in manchen Fällen lösen können und Emotionen über das Schreckliche durften frei werden. Die Beziehung zum Transzendenten in der Trauerbegleitung Sowohl die Lebenden als auch die Verstorbenen bringen uns die Dimensionen der Transzendenz ins Haus: Die Verstorbenen dadurch, dass sie die Grenze vom Leben in den Tod überschritten haben und uns mit dem teilweise überraschenden Ausdruck in ihrem Gesicht Auskunft geben von der Welt, in die sie eingehen. Die Lebenden dagegen, die zurückbleiben müssen, bewegen sich häufig und intensiv mit ihren Gefühlen und Fragen entlang dieser Grenze, besonders intensiv, wenn der Leib des Verstorbenen den Blicken und damit auch dem Begreifen entzogen wird. Die 77 T hemenzentrierte Interaktion Bericht aus der Praxis innere Verbindung zum geliebten Menschen suggeriert einen Anspruch auf Antwort nach Fragen der Transzendenz. Trauer heißt anzunehmen, dass ich diese Antwort nicht oder nur vollkommen vage oder bruchstückhaft bekomme. Es ist fast unerträglich, dies auszuhalten und doch führt eben die Unerträglichkeit in die Suchbewegung. Und Suche ist immer auch Prozess, ist lebendig und kann Gegenstand von Kommunikation sein. Indem ich frage: „Was glaubst du/glauben Sie, wo er oder sie ist?“ eröffne ich neue Räume, lasse Bilder zu, rege zum Träumen an. Leben „geschieht innerhalb bedingender innerer oder äußerer Grenzen – Erweiterung der Grenzen ist möglich“ (Cohn 1975, 120) – dieses 3. Axiom der themenzentrierten Interaktion beziehe ich ganz bewusst auf den Trauerprozess und den sich öffnenden transzendenten Raum. Dieser Dimension auf dem Trauerweg der ersten Tage bei Gesprächen und Ritualen einen festen Platz zu geben, scheint mir eine Erweiterung der Grenzen nicht nur möglich zu machen, sondern an sich zu sein. Ich bringe die Menschen mit dem in Kontakt, was sie jenseits der Grenze für möglich halten (und sollte selbst damit in Kontakt sein) und ermögliche ihnen dadurch einen Zugang zu ihren spirituellen Kräften unabhängig davon, welcher Konfession oder Religion sie angehören. Am Ende der Schleusenzeit – Die Trauerfeier als Abschlussplenum In der Regel steht am Ende der ersten Zeit nach dem Tod die Trauerfeier. Ob kirchlich oder weltlich, sie soll ein stimmiges Ritual sein, das allen Betroffenen die Gelegenheit gibt, den Leib oder die Asche ihres/ihrer Verstorbenen endgültig zu verabschieden und das Leben des verstorbenen Menschen noch einmal zu beleuchten, ja zu feiern. Die der Person angemessene Form der Gestaltung in Worten, Musik, Farben und Ritualen unterstützt dies. Ich halte den Vergleich der Trauerfeier mit einem Abschlussplenum nach vielfältiger vorhergehender Kleingruppenarbeit in verschiedenen Konstellationen für möglich. Häufig geht auch die Angst davor mit ihr einher, war es doch in den „Kleingruppen“ so kuschelig und jetzt weht den engen Angehörigen in der großen Feier der Wind der „Öffentlichkeit“ um die Nase. Trägt es jetzt, was wir erarbeitet haben, was uns untereinander so stark verbunden hat? Und wie begegne ich diesen Ängsten? Sowohl für das Gespräch mit PfarrerIn oder TrauerrednerIn als auch für die organisatorische Vorbereitung des Ablaufs weise ich Angehörige auf das Prinzip der selektiven Authentizität hin: Nicht alles, was in den ersten Tagen gesagt oder erlebt wurde, muss auch in der Trauerfeier vorkommen, sie müssen und dürfen selbst entscheiden, was in der Öffentlichkeit der Trauerfeier Platz haben soll. 78 26. Jahrgang Heft 2 Herbst 2012 Kistner, Die Zeit zwischen Tod und Bestattung als Prozess Am Ende der Schleusenzeit – Zwischen Autonomie und Interdependenz Während in der Zeit zwischen Tod und Bestattung die Zeit gelegentlich still zu stehen scheint, beginnt nach der Beisetzung so etwas wie eine neue Zeitrechnung. War eben noch die Rede von spürbarer Ewigkeit verbunden mit einer hohen Intensität an Begegnungen im sozialen Netz im Zusammenhang mit Abschiednahmen und Bestattung, so lichtet sich diese Dichte mehr und mehr. Die schwere Zeit der Erinnerung beginnt. Lebensräume müssen aufgelöst, verändert oder neu eingerichtet werden. Wie lange diese Trauerzeit dauern wird, ist offen. Elisabeth Kübler Ross (2009) sagt: „Die Wahrheit ist, dass sie für immer trauern werden. Man kann über den Verlust eines geliebten Menschen nicht hinwegkommen, sondern lernt lediglich, damit zu leben.“ Im existenziell-anthropologische Axiom der TZI zeigt Ruth Cohn die beiden Pole auf, zwischen denen sich Menschen permanent bewegen: die Eigenständigkeit und die Abhängigkeit. Der Tod einer Person, zu der ich eine innige Bindung lebe, bringt meine Balance zwischen Autonomie und Interdependenz aus dem Gleichgewicht. „Mein Zurückbleiben wirft mich auf mich selbst zurück. Plötzlich muss ich ganz vieles, was wir vorher gemeinsam gelebt haben, wieder ganz alleine tun oder lassen. Trauer wird so zur Umkehr dessen, was ich in einer Verliebtheit eingehe. Dort verschiebe ich meine individuelle Balance von der Autonomie hin zur Interdependenz. In der Trauer geht es also darum, meine Autonomie zu stärken und die Beziehung in eine innere, universale Verbundenheit umzuwandeln.“ Die Autonomie wächst, je mehr ich mir meiner Interdependenz bewusst bin. „Trauer ist darum Beziehungsarbeit zur Stärkung meiner selbst“ (vgl. Brönnimann, 2008)! Meine Abwehr gegen das „Sie müssen jetzt loslassen“ hat hier ihre deutliche Berechtigung. Ich muss die Interdependenz nicht auflösen, sondern im Gegenteil sie stärken, um wieder in meine Mitte zu kommen! Trauer ist Beziehungsarbeit zur Stärkung meiner selbst Fazit: Vom Schatten zum Licht Ich sehe in dem von Dietrich Stollberg entwickelten „Schattendreieck“ als Gegenstück oder Ergänzung des „Dreiecks aus Struktur – Vertrauen – Prozess“ ein Grundmodell für die Befindlichkeit Angehöriger nach einem Todesfall. Misstrauen – genährt durch Vorurteile gegenüber der BestatterZunft, 79 T hemenzentrierte Interaktion Bericht aus der Praxis Stagnation – teilweise noch vom Schock des Todes wie gelähmt, Sätze wie „Jetzt ist alles aus.“, „Eigentlich möchte ich auch lieber sterben.“ machen es fast unmöglich, an nächste Schritte zu denken und Chaos – angesichts dessen, was emotional und praktisch an Aufgaben und Forderungen vor den Menschen steht wie ein unüberschaubarer Berg, das sind die Eckpunkte dessen, was am Anfang der Schleusenzeit steht. So begegnen uns die Menschen beim ersten Kontakt. Dass sie dann am Ende dieser Zeit unser Haus verlassen mit Sätzen wie „Schade, dass wir jetzt nicht mehr jeden Tag zu Ihnen kommen können“, hat vermutlich auch damit zu tun, dass es gelungen ist, mit ihnen in einen Prozess einzutreten, in dem sie sich unserer Professionalität und Solidarität versichern und anvertrauen können und ihre eigene Handlungskompetenz (wieder)entdecken, getragen von einer Struktur, einem Setting für diese Tage, das eben diesen Prozess fördert. Es ist wahr, dass es kurz nach dem Tod eines geliebten Menschen auch euphorische lichtvolle Momente gibt, ich habe es selber erlebt. Und es ist eine schöne und erfüllende Aufgabe, dieses Licht frei zu legen und für den weiteren Trauerprozess in Kraft zu setzen. Literatur Brönnimann, Sabine: Plötzlich und unerwartet. Praxis gelebter Frauenkultur im Umgang mit Abschied, Tod und Trauer. Vortrag, Gießen 2008. Cohn, Ruth C.: Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion. Stuttgart 1975. Cohn, Ruth C.: Es geht ums Anteilnehmen. Freiburg 1989. Cohn, Ruth C.; A. Farau: Gelebte Geschichte der Psychotherapie. Zwei Perspektiven. Stuttgart 1993. Kübler-Ross, Elisabeth; David Kessler: Dem Leben vertrauen. Freiburg 2009. Rubner, Eike: Themen formulieren und einführen. In: Themenzentrierte Interaktion 2/2009, 80–89. Schulz von Thun, Friedemann: Nachruf auf Ruth Cohn. In: Themenzentrierte Interaktion 2/2010, 18–21. Stollberg, Heidrun: TZI in meiner Familie – Rückblick aus Kind- und Jugendlichen-Perspektive. In: Themenzentrierte Interaktion 2/2010, 58. Weiher, Erhard: Die Religion, die Trauer und der Trost. Mainz 1999. 80 0SYCHOSOZIAL6ERLAG Svenja Taubner Einsicht in Gewalt Reflexive Kompetenz adoleszenter Straftäter beim Täter-Opfer-Ausgleich 2008 · 349 Seiten · Broschur ISBN 978-3-89806-878-9 Das Thema Jugendkriminalität führt oft zu hitzigen Diskussionen, in denen jedoch das Verständnis für die individuellen Schicksale der Betroffenen verloren geht. An der Schnittstelle von Kriminalwissenschaften und Psychologie stellt dieses Buch Einzelfallanalysen von gewalttätigen Jugendlichen mit einer oftmals traumatischen Geschichte ins Zentrum der Untersuchung. Am Beispiel des Täter-Opfer-Ausgleichs wird mit Methoden der psychoanalytischen Psychotherapieforschung und Bindungsforschung die Auseinandersetzung junger Männer mit ihren Gewaltstraftaten beschrieben. Svenja Taubner arbeitet heraus, dass einseitige Täterzuschreibungen einem Lernprozess entgegenwirken, und stellt Vorschläge für Entwicklungsmöglichkeiten dar. Michael B. Buchholz, Franziska Lamott, Kathrin Mörtl Tat-Sachen Narrative von Sexualstraftätern 2. Aufl. 2011 · 525 Seiten · Broschur ISBN 978-3-89806-881-9 Sexualstraftaten erwecken im Beobachter Angst und Unverständnis zugleich. Genauso erschreckend ist der Mangel an hochwertigen Auseinandersetzungen mit dem Thema. Noch nie sind therapeutische Prozesse mit Sexualstraftätern so genau analysiert worden wie in diesem Buch. Die Autoren gehen das Thema mit modernsten sozialwissenschaftlichen und psychologischen Methoden an. Gruppentherapiesitzungen wurden nach einer neuartigen Kombination von Konversations- und Metaphernanalyse vor dem Hintergrund eines psychoanalytischen Grundverständnisses ausgewertet. Die Leser erhalten Einblicke in Biografiemuster, Täuschungsstrategien und Aufdeckungshilfen, Zweifel und Rechtfertigungen, die Mühen der Einsicht und die mühsame Arbeit am Sinn. Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de 0SYCHOSOZIAL6ERLAG Matthias Franz, Beate West-Leuer (Hg.) Annelinde Eggert-Schmid Noerr, Urte Finger-Trescher, Ursula Pforr (Hg.) Bindung – Trauma – Frühe Prävention Beziehungserfahrungen 2008 · 334 Seiten · Broschur ISBN 978-3-89806-768-3 Der erste Teil des Buches fokussiert die frühen Bindungsprozesse. Ausgewiesene Experten fassen hier den Kenntnisstand zu den Themen Bindung, Trauma und Prävention zusammen. Sie vermitteln neurowissenschaftliche Aspekte der Affekt- und Empathieentwicklung und zeigen die Folgen traumatischer Früherfahrungen und sozialer Ungleichheit auf. Die Autoren verdeutlichen so, wie wichtig eine Frühprävention im familiären Beziehungsfeld ist. Der zweite Teil des Buches stellt konkrete Modelle vor. Diese kommen dem Anspruch einer bindungsorientierten Prävention entgegen und orientieren sich an Bindungs- und Entwicklungsbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen in schwierigen Lebenslagen. 2007 · 311 Seiten · Broschur ISBN 978-3-89806-846-8 Die Säuglings- und Kleinkindforschung hat das Bild des »kompetenten Säuglings« entworfen, der vergleichsweise unabhängig von den Bedingungen seiner Umwelt über erstaunliche Fähigkeiten verfügt. Dem stehen Ergebnisse der Bindungsforschung, der Psychoanalytischen Pädagogik und der Erziehungswissenschaften gegenüber, die die außerordentliche Bedeutung der Interaktion zwischen Säugling oder Kleinkind und seinen frühen Bindungspersonen für die psychophysische Entwicklung hervorheben. Auch neueste neurobiologische Forschungen belegen den Zusammenhang zwischen frühkindlichen Beziehungserfahrungen und der Entwicklung des Kindes im Hinblick auf die Risiken und Förderungsmöglichkeiten. Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de 0SYCHOSOZIAL6ERLAG 2. Aufl. 2012 • 344 Seiten • Broschur € 22,90 (D) • ISBN 978-3-8379-2214-1 2. Aufl. 2012 • 247 Seiten • Broschur € 22,90 (D) • ISBN 978-3-8379-2213-4 5. Aufl. 2012 • 315 Seiten • Broschur € 22,90 (D) • ISBN 978-3-8379-2212-7 1998 • 568 Seiten • Broschur € 19,90 (D) • ISBN 978-3-932133-39-8 Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de