Der Sozialstaat wirkt, kann aber das steigende Armutsrisiko nicht

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Der Sozialstaat wirkt, kann aber das steigende Armutsrisiko nicht
Der Sozialstaat wirkt, kann aber das steigende Armutsrisiko nicht verhindern
Verteilung der Haushaltseinkommen vor und nach sozialstaalicher Umverteilung 1993 - 2013
Nettoäquivalenzeinkommen in Prozent
NETTO = NACH Steuern, Sozialabgaben, Transfers
BRUTTO = VOR Steuern, Sozialabgaben, Transfers
100
Oberschicht
90
6,3
6,1
6,2
6,0
7,0
7,2
7,9
7,6
7,6
8,0
13,5 13,6 14,8 15,7 15,1
16,7 17,7 17,1 17,0 17,1 17,2
80
70
6,1
26,1 26,2 26,2
24,8 25,8 24,3
24,3 23,8 24,0 25,0 24,0
obere
Mittelschicht
26,8 26,8 26,4 27,7 27,3 26,7 26,8
26,8 26,7 26,8 26,5
60
mittlere
Mittelschicht
50
20,9 19,3 18,3 18,7 18,2 17,4 15,9 16,8 17,5 16,9 16,6
40
9,0
8,4
8,3
8,4
7,8
7,0
6,7
5,8
6,7
6,3
7,4
30
20
36,6 36,7 39,0
33,9 34,2 33,6
37,8 38,4 36,3 35,5 34,8
untere
Mittelschicht
18,1 17,4
34,6 35,4 36,5 34,8 34,8 34,7
30,5 32,4 32,4 32,5 33,1
10
Unterschicht
17,8 17,9 16,8
17,2 17,1 17,7
17,0 16,5 16,5
12,5 12,9 10,7 10,3 11,5 13,0 14,0 14,0 14,6 14,3 14,2
0
1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013
1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013
Einkommensschichtung in % des Median: Unterschicht (60%), untere Mitte (60-80%),mittlere Mitte (80-120%),obere Mitte (120-200%)
Oberschicht (>200% Median)
Quelle: Bosch/Kalina (2015): Das Ende der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft", IAQ Forschung 1/2015.- Datenbasis: SOEP.
abbIII30_Grafik_Monat_12_2015
Kommentierung und methodische Hinweise > Seite 2 - 5
Der Sozialstaat wirkt, kann aber das steigende Armutsrisiko nicht verhindern: Haushaltseinkommen vor und nach Abgaben und Transfers
Kurz gefasst:
-
Im Jahr 2013 lag die Armutsgefährdungsquote in Deutschland bei 14,2 %: Jeder siebte Einwohner lebte in einem Haushalt mit einem
verfügbaren Einkommen (Nettoäquivalenzeinkommen) von weniger als 60 % des Durchschnittseinkommens (Median) und kann der Unterschicht zugeordnet werden.
-
Betrachtet man allerdings die Bruttoeinkommen, dann lag das Armutsrisiko sogar bei 34,7 %.
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Diese großen Unterschiede zwischen Brutto und Netto sind Folge der (sozial)staatlichen Aktivitäten: Durch Einkommenssteuern und Sozialbeiträge werden einerseits die Bruttoeinkommen verringert, durch Sozialtransfers (u.a. Geldleistungen der Sozialversicherung, Kindergeld, ALGII) werden andererseits die Bruttoeinkommen aufgestockt.
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Der Sozialstaat wirkt also: Die sozialstaatliche Umverteilung begrenzt die Ungleichheit der Einkommensverteilung; kann aber das Armutsrisiko nicht vermeiden.
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In den vergangenen zwei Dekaden ist die Einkommensungleichheit in Deutschland stark angestiegen. Die Betrachtung nach Einkommensschichten macht sichtbar, dass sowohl auf der Brutto- wie auf der Nettoebene der Anteil der Unterschicht und damit der Bevölkerung,
die vom Armutsrisiko betroffen ist, steigt.
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Da gleichzeitig auch der Anteil der Oberschicht zugenommen hat, d.h. der Bevölkerung, die der höchsten Einkommensgruppe (mehr als
200 % des Durchschnittseinkommens) zuzuordnen ist, schrumpft die Mittelschicht. Im Jahr 2013 ließen sich nach sozialstaatlicher Umverteilung 48 % aller Haushalte der Mittelschicht zuordnen, im Jahr 1993 war die Mittelschicht mit 56 % noch deutlich größer.
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Diese Zunahme der Oberschicht und der Rückgang der Mittelschicht fallen bei der Betrachtung der Bruttoeinkommen noch deutlich stärker
aus. Auch hier gilt, dass durch Wirkung von Abgaben einerseits und Transfers andererseits der Prozess der Einkommensspreizung abgebremst, aber nicht verhindert worden ist.
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Wie die Befunde zeigen, ist die Ausgleichsfunktion des Sozialstaates in den zurückliegenden Jahren unter Druck geraten. Denn
wenn die Ungleichheit der Bruttoeinkommen nahezu kontinuierlich ansteigt, wird es immer aufwändiger, einen nachträglichen Ausgleich zu erreichen.
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Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen
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In der rein monetären Betrachtung sozialstaatlicher Umverteilungselemente bleiben nicht-monetäre Aspekte (wie beispielsweise die kostenlose Bereitstellung sozialer und gesundheitlicher Dienstleistungen) unberücksichtigt. Das liegt daran, dass sie sich weder quantifizieren
noch sinnvoll individuell zurechnen lassen. Damit muss jede Betrachtung der Netto-Schichtzugehörigkeit unvollständig bleiben, da ein Teil
der sozialstaatlichen Transfers nicht mit abgebildet werden kann.
Hintergrund:
Die nach Einkommensschichten gemessene Einkommensumverteilung durch den Staat beruht auf komplexen Regelungen: Zu berücksichtigen sind auf der einen Seite das Steuersystem mit dem Hauptelement der progressiven Einkommensteuer sowie die Arbeitnehmerbeiträge zu den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung, die einen linearen Tarifverlauf aufweisen (bis zur Beitragsbemessungsgrenze)
(vgl. Abbildung III.21a). Diese Abzüge vermindern das verfügbare Einkommen der Haushalte bzw. der Haushaltsmitglieder. Auf der anderen
Seite fließen den Haushalten monetäre staatliche Transfers zu. Hier handelt es sich nicht nur um die lohn- und beitragsbemessenen Sozialversicherungsleistungen wie Renten, Arbeitslosengeld und Krankengeld, sondern auch um die bedarfs- und bedürftigkeitsbemessenen
Leistungen wie Arbeitslosengeld II, Sozialgeld, Wohngeld, Ausbildungsförderung, Kinderzuschlag sowie um die Leistungen des Familienleistungsausgleichs (Kinderfreibeträge, Kindergeld, Elterngeld).
Bei den Steuern ist zu berücksichtigen, dass bei ihnen keine Zweckbindung vorliegt. Sie fließen in die Haushalte von Bund, Ländern und
Gemeinden und werden nur zu einem Teil für soziale Geldleistungen verwendet. Deutlich größer sind bei den Gebietskörperschaften die
Ausgaben für allgemeine Dienste, die öffentliche Verwaltung, innere und äußere Sicherheit, Bildung, Verkehr usw. (vgl. Abbildung II.13).
Und die Ausgaben für die soziale Infrastruktur und Daseinsvorsorge erfolgen als Sachleistungen, die von Bevölkerung je nach Bedarfslage
(weitgehend) kostenfrei in Anspruch genommen, aber nicht einzelnen Einkommensschichten zugerechnet werden können.
Die Sozialversicherungsbeiträge werden als fester Prozentsatz vom Bruttoeinkommen der Versicherten erhoben - die Beitragshöhe begrenzt sich allerdings durch die Beitragsbemessungsgrenze. Beiträge begründen Ansprüche auf spätere Leistungen (Äquivalenzprinzip).
Höhere Einkommen und höhere Beiträge führen zu entsprechend höheren Renten. In längerfristiger Sicht handelt es sich also nicht um
eine personelle sondern um eine intertemporale Umverteilung. Dies gilt jedoch nur für die Geldleistungen. Die für die Kranken-, Pflege- und
teilweise auch für die Arbeitslosenversicherung typischen Sachleistungen richten sich nach dem Bedarf und lassen sich nicht als „Einkommen“ den Leistungsempfängern zuordnen.
Von der Summe her sind also die Steuer- und Beitragsabzüge deutlich größer als die dem Haushalten zufließenden Transfers.
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Wie die Befunde zeigen, ist die Ausgleichsfunktion des Sozialstaates in den zurückliegenden Jahren unter Druck geraten. Denn wenn die
Ungleichheit der Bruttoeinkommen nahezu kontinuierlich ansteigt, wird es immer aufwändiger, einen nachträglichen Ausgleich zu erreichen.
Die zunehmende Ungleichheit der Bruttoeinkommen ist dabei nicht allein auf einzelne ökonomische Ereignisse (wie die Finanz- und Wirtschaftskrise) zurückzuführen. Es handelt sich vielmehr um einen ausgeprägten Langzeittrend, der auf eine Fülle insbesondere arbeitsmarktbezogener Entscheidungen und Phänomene zurück zu führen ist (wie die Ausweitung von Niedriglöhnen und von atypischer und
prekärer Beschäftigung, die Privatisierung vormals öffentlicher Dienstleistungen, die Expansion des Finanzsektors, die Entwicklung der
Arbeitszeiten oder die rückläufige Tarifbindung).
Methodische Hinweise
Die vorliegende Berechnung des Instituts Arbeit und Qualifikation beruht auf den Daten des „Sozio-ökonomischen Panels (SOEP)“. Es
handelt sich dabei um eine repräsentative Wiederholungsbefragung von über 20.000 Personen aus rund 11.000 Haushalten. Gefragt wird
u.a. nach Einkommen, Erwerbstätigkeit, Bildung und Gesundheit. Durch das Paneldesign der Befragung ist es möglich, langfristige soziale
und gesellschaftliche Trends zu verfolgen.
Um die Entwicklung der Einkommensverteilung nach Schichten abzubilden muss definiert werden, welcher Grenzwert die Schichtzugehörigkeit absteckt. Über derartige Grenzen lässt sich wissenschaftlich kaum befinden, ihre Festlegung ist vielmehr von Wertentscheidungen
sowie wissenschaftlichen und politischen Konventionen abhängig. In der internationalen Armutsforschung ist es zur Konvention geworden,
die Armuts(risiko)grenze bei 60% des Medians anzusetzen. Damit werden gleichzeitig auch mittlere Einkommen statistisch abgegrenzt.
Diesem Vorgehen folgend wird die untere Grenze der vorliegenden Berechnung durch die 60%-Schwelle abgetrennt (Unterschicht), die
Obergrenze der Mittelschicht reicht bis zum zweifachen, mittleren Einkommen. Einkommen, die darüber liegen, werden der Oberschicht
zugerechnet. Da durch die breite Definition der Mittelschicht mehr als zwei Drittel der Haushalte zur Mitte zählen, wird die Mittelschicht
noch einmal in drei Einkommensgruppen ausdifferenziert. Insgesamt werden daher die folgenden Einkommensschichten ausgewiesen:
1. unter 60% des Medians (Unterschicht)
2. 60 bis unter 80% des Medians (untere Mittelschicht)
3. 80 bis unter 120% des Medians (mittlere Mittelschicht)
4. 120 bis unter 200% des Medians (obere Mittelschicht)
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5. 200% des Medians und mehr (Oberschicht)
Als Indikator für die Bestimmung der Schichtzugehörigkeit wird das Haushaltseinkommen herangezogen. Die Berechnung basiert auf dem
Äquivalenzeinkommen, das durch die Gewichtung nach der neuen OECD – Skala das Einkommen unterschiedlich großer und unterschiedlich zusammengesetzter Haushalte vergleichbar macht. Die unter Bedarfsgesichtspunkten modifizierten pro-Kopf Haushaltseinkommen
(sogenannte Äquivalenzeinkommen) werden wie folgt berechnet: Die Haushaltseinkommen werden anhand einer Skala (neue OECDSkala) gewichtet, bei der dem Haupteinkommensbezieher der Faktor 1 zugeordnet wird. Einer weiteren erwachsenen Person im Haushalt
sowie Kindern, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, wird der Faktor 0,5 zugewiesen. Jüngere Kinder werden mit einem Faktor von 0,3
berücksichtigt. Bei einem Paar mit zwei jüngeren Kindern errechnet sich damit in der Summe ein Faktor von 2,1 (1,0 + 0,5 + 0,3 + 0,3),
durch den das Haushaltseinkommen dividiert wird. Beträgt das Haushaltseinkommen in dieser Familie 2.394 Euro/Monat, so liegt das
Äquivalenzeinkommen dann bei 1.140 Euro (2.394 dividiert durch 2,1). Durch dieses Verfahren soll berücksichtigt werden, dass Kinder
einen geringeren Einkommensbedarf als Erwachsene haben und dass in Mehrpersonenhaushalten Einspareffekte auftreten. Bei dem bedarfsgewichteten Einkommen handelt es sich um ein rechnerisches Einkommen, das für alle Haushaltsmitglieder gleich groß ausfällt.
Unterstellt wird damit, dass das Haushaltseinkommen gleichmäßig aufgeteilt wird und zur Verfügung steht.
Durch die Zusammenschau aller Einkommen eines Haushalts kann verhindert werden, dass beispielsweise das niedrige Einkommen einer
Hinzuverdienerin mit Minijob als Indiz für ein niedrige Schichtzugehörigkeit gewertet wird, obwohl dieses Einkommen im Haushaltskontext
durch das sehr hohe Einkommen des Ehemannes kompensiert wird. Gerade die Einkommensverteilung nach Steuern und Transfers muss
zwingend auf Haushaltsebene betrachtet werden, weil Steuern (bei verheirateten Paaren) gemeinsam entrichtet und eine Reihe von sozialstaatlichen Transfers familien- bzw. haushaltsbezogen verteilt werden (bspw. Krankenversicherung, Bedarfsprüfung in der Grundsicherung etc.). Eine Konsequenz dieser haushalts- und einkommensbezogenen Sichtweise besteht allerdings auch darin, dass die Entwicklung
der unterschiedlichen Schichten zum Teil auch veränderte Lebensformen abbildet, etwa, weil Haushaltseinkommen nach Trennungen oder
Scheidungen abrupt sinken, und der/die Partner mit geringerem Einkommen in eine niedrigere Schicht absteigt. Das Ausmaß derartiger
statistischer Effekte ist jedoch gering.
Quelle: Bosch, Gerhard/Kalina, Thorsten (2015): Das Ende der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“. Die deutsche Mittelschicht unter Druck.
IAQ-Forschung 1/2015. Einzusehen unter http://www.iaq.uni-due.de/iaq-forschung/2015/fo2015-01.pdf [Stand: 1.12.2015]
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