Frau mit nassem Haar
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Frau mit nassem Haar
DIE FRAU MIT NASSEM HAAR Theater – Kirche Woltersdorf Vorbemerkungen Obwohl die Taufen in den Kirchen weniger geworden sind, könnte man behaupten, dass wir in einer Zeit „verdeckter Taufbegeisterung“ leben. Ohne Duschen will der Tag nicht recht beginnen. Unnötig, diesen Gedanken weiter auszuführen. Insofern wird die Taufe als unentbehrlich gewordenes quasi-ziviles Morgenritual zelebriert – im Sinne einer täglich notwendigen Wiedertaufe. Niemand wird dafür heute auch nur ansatzweise verdammt; die Wiedertäufer zu Zeiten der Reformation wurden noch verbrannt. „Nicht nur jeder Teil dieser Erde ist meinem Volk heilig“ (Sitting Bull), sondern auch jeder Tropfen Ozean. Wasser tut gut – und ist heilig, wie die Erde, die uns trägt, das Licht, welches uns leuchtet und Luft, die mit unseren Haaren spielt. Der Verdacht ist nicht ganz unbegründet, dass die Kirchen ihr altes Basisritual zwar nicht freiwillig auch der WellnessWelt haben ausleihen müssen - aber schließlich dann doch irgendwie schon. Warum? Wasser wählt seinen Weg selber, und zuerst einmal hauptsächlich nach unten. Das belebende Wasser, prickelnd und mit allen möglichen Ergänzungsstoffen angereichert ist deshalb auch in Whirlpools und Saunalandschaften abgeflossen – die achteckigen Taufbecken der alten Kirche haben eiförmige Kolleginnen bekommen. Wer es sich leisten kann, tauft sich jeden Morgen neu. Heiß und kalt, - so ist es gut. Und es gälte, den eben konstruierten Zusammenhang von Wellness und Taufe nicht hochmütig zu abzutun, sondern ihn positiv und produktiv zu entdecken, - zu bedenken und (darauf käme es an) zu zelebrieren. Dogmatisch unängstliche Kirchenliebhabende haben sich längst darüber verständigt, wie wir in eine „Sich-Selbst-taufende-Ära“ eingetreten sind. Schon seit längerem. Herzlich willkommen im Baptisterium Maximum! Das Stück "Die Frau mit nassem Haar" will das so beschriebene „Willkommen“ fröhlich aufnehmen und führt zu diesem Zwecke die Wohlfühl-Welt kurz zurück in den traditionellen Kirchenraum, welcher hier ohne Frage sehr verändert begegnet. Ein HaarStudio, ein Friseurstuhl, eine sehr kompetente Friseurin, eine suchende Kundin ... gute Musik, sonderbare Spiegel - und in deren Mitte das Bild vom schön gelockten Gott vor respektabel blauem Pool. Schließlich tauchen sogar noch Bewohner transzendentaler Sphären auf: Drei englische Tiere mit Ambition und göttlichem Auftrag. Am Ende sind dann alle Zuschauer freiwillig oder unfreiwillig getauft, mit dem versprengten Weihwasser aus dem nassen Haar einer Vierzigjährigen, die nicht nur suchte, sondern fand – und zwar nichts Geringeres als sich selbst. Wie schön kann die Suche nach dem Wesentlichen sein! Und in einer was für fantastisch schillernden Zeit leben wir. Dem Heiligen begegnet man fast überall, - zu allererst ganz unerwartet beim Friseur. Erzähl es ihm, er wird sich freuen! Wenn sich bei einigen Theaterzuschauerinnen der „Frau mit nassem Haar“ anlässlich des nächsten Friseurbesuchs ein „Tauferinnerungserlebnis“ re-inszeniert, hat sich das Stück gelohnt. Wenn einer, der sich taufen zu lassen überlegt, am Ende des Stückes sagt: „Ich will es versuchen, - aber es muss so sein wie bei der „Frau mit nassem Haar“ – um so besser. © Matthias Schollmeyer März 2014 Kirchplatz 3 / 06895 Zahna-Elster Tel. 016096684401 Mail: sanktmarienzahnaqgmail.com DIE FRAU MIT NASSEM HAAR PERSONEN: Frau mit nassem Haar Die Friseurin Ibis (Schreiber Thot) Kameleon (Kamel, Löwe und Chamäleon) Gottesanbeterin (Sarakris die Fangschrecke) (drei tierische Hilfswesen) chorus baptizandorum (die Zuschauer) ORT DER HANDLUNG Ein ins Sakrale spielendes Haarstudio, alles ein wenig improvisiert, Retrodesign – weil ehemalige Kirche oder Wartesaal, leicht mit anderem zu verwechseln, irgendwo im Raum hängt ein kleines Schild mit der Aufschrift „Heute Ruhetag“ DAS STÜCK VOR DEM STÜCK Die drei Hilfs-Tiere erscheinen (Ibis, Kameleon und Gottesanbeterin). Im Raum verteilt nehmen sie Aufstellung. Kameleon und Gottesanbeterin werden von überlebensgroßen zweidimensionalen Pappbildern dargestellt, welche den Spielern auf den Rücken geschnallt sind. Ibis wird von einer Person gegeben, die mit nur einer kleinen Pappbildatrappe auf dem Rücken agiert. Die Personen, die die Pappbilder von Kamel und Gottesanbeterin tragen, bewegen sich im Raum nur auf geraden Linien hin und her, und sie drehen sich dabei nicht um. Im Prinzip sind bei diesen beiden nur die hinter der Pappe hervorgehenden Arme und Hände zu sehen, mit denen notwendige Verrichtungen vorgenommen werden können. Nur der Ibis wird sprechen, nur er ist sichtbar, er trägt ebenfalls ein Pappbild, das aber nach hinten zeigt, und eher zu vernachlässigen ist. Indessen zeigt es die Verwandtschaft dieser drei seltsamen Wesen. Der Ibis spricht zu den Zuschauern und sieht deshalb von vorn genauso aus, wie von hinten. Er dreht sich auch im Raum hin und her, wird auch im Profil sichtbar, wobei die Pappe erst am Schluss seines Auftrittes zu sehen ist, wenn ihm der Umhang abgenommen worden ist. Dann scheint die zweidimensionale Pappe hin und wieder zu verschwinden. Der Ibis ist ein zweidimensionales 3D – Wesen. Die Gottesanbeterin und das Kamel sind reine 2DWesen. Die beiden Frauen 3D-Wesen. Der Ibis, das ist wichtig, hat einen bunten Schleier umgeworfen, der im Laufe des Spiels zum Friseurumhang genutzt werden wird – das traditionelle Taufkleid, der bunte Rock Josephs usw.. Der Ibis spricht den gesamten Prolog (Das Stück vor dem Stück), während die anderen beiden (Kameleon und Gottesanbeterin) mit langsam abgemessenen Gebärden den Kirchenraum verändern - so dass im Laufe der Ibis-Rede ein Friseursalon entsteht. Das spärliche aber raumverändernde Handeln wird von der Stimme des Ibis wie folgt kommentiert: Ibis: Denkt ruhig jetzt. Denkt etwa, wir sind irgendwelche Tiere. Wir sind das auch. Sind, waren, werden sein Hilfswesen sozusagen. Die Tiergestalt bietet sich an, zum Helfen sind wir da. Doch was soll Hilfe sein? Wir sind genauso wirklich, wie es Engel sind, Götter und Menschenkinder. Im Lied der alten Seher Kennt man uns als drei große Rätsel. Ihr wisst, - oft stockt das Stück. Oft stockt das Stück, „Leben“ genannt. Damit die Handlung weitergeht, vom Strom der Zeit geleitet, stellen wir Weichen am Schienenstrang der Jahre lautlos und meist ganz unerkannt knien wir vor großen Hebeln und greifen tief ins Räderwerk des angeblich Unabwendlichen ein. Und solche Handlung nennt ihr in der Rückschau „hilfreich“. Ihr meint, ein Gott hätte sich gnädig zugewandt, euch, wenn dies oder das geschieht. Mag sein, - doch davon wissen wir nicht viel. Zu eurer Hilfe sind wir da. Und für uns selbst natürlich auch. Ein jegliches, was da ist für sich selbst Ist deshalb stets für andre da. Ich stelle vor, - mich, Ibis. Kennt meinen Namen! Oft werde ich mit „Sibi“ angerufen. Ibis und Sibi ist verdolmetscht: SELBST, SICHSELBST. Wenn dieser Name euch begegnet, ganz gleich, in welcher Reihenfolge man die Zeichen schreibt, bin ich gemeint. (zeigt auf Kamelion, das im Raum umhergeht und dies und das mit kleinen Handgriffen verändert) Seht, dort, Kamelion steht - und geht, der alles trägt und deshalb vieles wandelt. Merkt wohl, er kann mit seiner Kunst die alte Bude hier zum Tempel des höchsten Wohlbefindens umgestalten. Er legt 'nen bunten Schleier ab und wieder auf, platziert vielleicht reizende Blumen - traun, er rückt das Stühlchen dort mehr in den Vordergrund und schieb es dann, wenige Zentimeter nur, an einen andern Ort, - bis alles stimmt und jedes Ding im Raum den Platz erhalten hat, dass jeder angetan ist und entzückt. Es sind die alten Heiligtümer stets s e i n Werk gewesen, und bleiben´s auch, bis sich der Himmel trollt und einrollt, doch solches erst am Ende der Gezeiten. (zeigt auf die Gottesanbeterin Sarakris) Noch lernt von der da hinten schließlich was. Wenn andere der Stimme süßen Klang gebrauchen, lautet bei ihr nur großes Schweigen, und allenfalls ein sanftes Zirpen. Sie nährt die Welt mit süßer Stille. Namenlos bleibt das Werk. Als Gabe legt sie - seht, jetzt eben grad auf euren Tisch dort vorn ein kleines schwarzes Eisenkästchen. Wer dieses Kästlein anrührt und bewegt, hörte darin ein leises Rascheln stets, mehr nicht und war erstaunt bis tief zum Grunde seines Herzens. Denn in dem abgeschlossnen Würfelding Lebt, webt und schwebt ein kleines Pergament. Ein Wort, ein einzig Wort steht drauf geschrieben. Und dieses Wort, hat´s in sich. Doch mehr können wir nicht sagen, betreffs des Kästleins ward uns, so wie Euch , u n s i c h r e s Wissen nur zuteil. Ich selber, Ibis, lege dieses Ei, vom Vogel Greif ist´s her, vom legendären Vogel Phoinix meinetwegen, wenn ihr so sagen wollt, stelle es in die Mitte eures Raums hierher. So sind wir immer schon gewesen. Wir haben euch seit alters her stets treu, doch ohne Aufseh´n zu erregen, meistens und treu gedient. Wir leihen gern, verschenken kleine Dinge, so werden solche von euch froh gemacht, die sich darauf verstehen möchten. Kamelion legt jetzt sein Herzensbüchlein (das geschieht) dort zu den andern beiden Sachen. Darin lest Träume – unsichtbar meist noch, weil aufgeschrieben in der Zeit Latentia, mit allerreinstem Honigtintensaft. Und was geschrieben steht, geschieht. Nicht ist es so, dass du einschreibst, was du geträumt hast, zur Nacht etwa im Finsteren, dann, wenn nur Sterne und der Mond am Himmel gehn und alle Lampen ausgeloschen trauern. Da träumt man meist, wie eine Treppe immer höher steigt, doch nirgends ankommt. Oder auch wohl von wilden bösen Tieren, obwohl wir wissen, böse Tiere gab es nie ... oder du träumst, dass du vor etwas fliehst und nicht vorankommst, wie man Termine hat – und sie versäumt, was man halt träumt. Früh jetzt greift man zum Büchlein rasch, um aus Erinnerung die wirren Traumgestalten festzubannen mit dem Stift. Dann, oft nach Jahren erst, schaut man in´s Büchlein, um zu staunen und zu lachen, und schüttelt meist den Kopf nur noch, wo ist die Zeit geblieben ... So ist´s mit d i e s e m Büchlein nicht!. Hier schreibt man anders auf. Denn, was geschrieben steht, das bleibt kein Traum. Weil es in Wirklichkeit geschieht - zum Guten stets und nur zum Guten. Zum Guten auch für alle, nicht nur für die Schreibenden. Ein Büchlein ist es, und von ganz besondrer Art, das sag ich euch! Nun haben wir viel ausgeplaudert, - doch was sage ich: Nur angedeutet haben wir weniges. Seht selber zu, wie ihr´s verstanden haben werdet. Wohlan, die zwei dort hinten, sie verwandelten den Raum auf stille Weise, fast unbemerkt geschah's, und eins der Heiligtümer, die von Zeit zu Zeit man gerne aufsucht, ist entstanden, flüchtig, und auf die Schnelle. (Das Kamel tritt zum Ibis, nimmt ihm den Umhang von den Schultern, unter dem Umhang wird nun die Pappe sichtbar. Der abgenommene Umhang wird von Kamelion über den Friseurstuhl geworfen –in der Mitte des Raumes steht jetzt der mit diesem Umhang drapierte Friseurstuhl, Werbeaufnahmen von verschiedenen Frisuren hängen inzwischen an den Wänden, wobei das Bild vom schöngelockten Gott in der Mitte, - und drei große blinde Spiegel den Raum dominieren) Detail Altarbild Woltersdorf „der gelockte Gott“ DAS STÜCK NACH DEM STÜCK Aufwändig geschminkt und mit auffallendem Schmuck angetan, betritt eine Frau den Raum, - das ist „Die Frau mit dem nassem Haar“, - jetzt freilich noch trockenes Haar tragend. Sie setzt sich auf einen abseits stehenden unbedeutenden Stuhl und entfaltet dort eine der in Haarstudios ausliegenden Fach-Zeitschriften, in der sie zu blättern beginnt. Musik wird hörbar. Die Frau wendet die Seiten hin und her und beginnt sich für die Musik zu interessieren, als ob sie den Text mitspräche. Bei der Musik handelt es sich um „Frühling“ aus den „Vier letzten Liedern“ von Richard Strauss – Text von Hermann Hesse. Alle Zuschauer bilden den chorus baptizandorum. Jedes zuschauende Chormitglied hat beim Einteritt in die Kirche/das Studio/den Theaterraum einen Schein in die Hand bekommen, auf dem u.a. auch die Hesse-Texte abgedruckt sind, - und von diesem „Hand-Schein“ wird der Text durch den ZuschauerChor zu gegebener Zeit im Rhythmus abgelesen. In dämmrigen Grüften träumte ich lang von deinen Bäumen und blauen Lüften, Von deinem Duft und Vogelsang. Nun liegst du erschlossen In Gleiß und Zier von Licht übergossen wie ein Wunder vor mir. Du kennst mich wieder, du lockst mich zart, es zittert durch all meine Glieder deine selige Gegenwart! Während der dritten Strophe betritt die Friseurin den Raum. Sie macht sich hier und da, so und anders zu schaffen. Die Musik spielt dabei weiter. Nach deren Ende wird die Friseurin von der Frau gefragt: (Die Sprache der Frau ist am Beginn eher ungeformte Alltagssprache mit einem gewissen unangenehmen Zug zum Jargon. Das ändert sich im Lauf der Handlung, bis am Ende das, was die Frau sagt, fast an die rhythmischen Bindungen des Ibis erinnert) Die Frau: Was war das für eine komische Musik? Die Friseurin: Das ist aus den Letzten Liedern von Strauss. Die Frau: Letzte Lieder? Klingt ein bisschen traurig, was? Für einen Friseurladen ungewöhnlich. Geht das? Ich brauche eine neue Frisur. Die Friseurin: Es ist ja auch erst das erste der letzten Lieder. Die Frau: Ach, da gibts noch mehrere? Die Friseurin: Ja, insgesamt sind es genau vier. Die Frau: Mehr nicht? Die Friseurin: Das erste ist das schönste. Die Frau: Ich habe den Text nicht ganz gecheckt. Wie war das jetzt noch mal? (zitiert) “In dämmrigen Grüften träumte ich lang von deinen Bäumen und blauen Lüften, Von deinem Duft und Vogelsang.“ Oder so ähnlich ... Die Friseurin: Ja, genauso. Dann geht es aber noch weiter (zitiert): „Nun liegst du erschlossen In Gleiß und Zier von Licht übergossen wie ein Wunder vor mir. Du kennst mich wieder, du lockst mich zart, es zittert durch all meine Glieder deine selige Gegenwart!“ Die Frau: Ist das so eine Art Liebeslied? Die Friseurin: So eine Art schon. Was kann ich übrigens für Dich tun. Ist Dir das Du recht? Magst Du das leiden? Die Frau: Ja schon. (Sie steht auf und reicht der Friseurin die linke Hand, diese auch die linke) Ich bin die Sibylle, - leider. Ein komischer Name, aber meine Eltern eben. Die Friseurin: Ich heiße Sylvia. Die Frau: (lacht albern) Auch mit S also - vorn. Die Friseurin: Ja, mit S. Du kannst Dich auf den Friseurstuhl setzen und ich mache alles fertig. Eine neue Frisur soll es also sein? Wir bieten hier aber nicht alle Frisuren an. Da liegen zwar immer ein paar Zeitschriften rum. Aber das ist nur von früher noch so, und der Leute wegen eben heute auch noch. Eigentlich machen wir das hier schon lange ganz anders, - wir möchten dazu helfen, dass jede ihre eigene Frisur bekommt. Und machen die Frisuren deshalb in Anlehnung an Lieder und Musik. Die Frau: Wie jetzt? Das geht? Habe ich noch nie gehört. Die Friseurin: Ja, das ist sozusagen auch unsere Spezialität. Es gibt sehr wenig anderes Studios, wo sie das so machen. Bis jetzt. Eine Frisur ist ja eine Komposition. Wie die Komposition eines Liedes auch. Kommt jemand in unser Studio wird durch einen Zufallsgenerator ein Lied ausgewählt – und das hast du eben gehört, dein Lied. In dämmrigen Grüften. Die Frau: Letzte Lieder! Ich will aber keine letzte Frisur! Ich will eine neue Frisur. Doch das Lied eben hat mich sehr ... berührt. Es ist mir durch und durch gegangen. „In Dämmrigen Grüften / träumte ich lang!“ Die Friseurin: Na ja, Hermann Hesse und Richard Strauß. Da geht eigentlich nichts drüber. Höchstens noch ... Soll ich noch mal? (die Musik erklingt wieder, zum zweiten Mal, aber nicht alle drei Strophen. Die Friseurin beginnt nun, der Frau, die sich auf den Friseurstuhl begeben hat und ins Publikum schaut, den Umhang anzukleiden. Der Umhang ist das Gewand des Ibis, welches von Kamelion über den Stuhl gelegt worden war. Die Friseurin hebt nun an, das Haar der Frau ausgiebig zu kämmen.) Die Frau: (schaut sich um) Sylvia, - aber alle die Spiegel sind hier so blind. Man kann sich selbst gar nicht sehen. Die Friseurin: Sieh es mal so: Jede sieht nur so viel, wie ihr zugemutet werden kann. Die Frau: Ach, das ist Absicht … ! Die Friseurin: Es gibt eben verschiedene Spiegel. Aus manchem Spiegel kann uns unser Bild noch nicht richtig betrachten. Die Frau: Wie jetzt! Ich betrachte doch das Bild! Nicht das Bild mich. Oder? Die Friseurin: Das Bild betrachtet immer dich. Deshalb hängen wir uns Bilder in die Wohnung. Damit uns endlich jemand sieht. Die Frau: So habe ich das noch nie betrachtet. Ach, - beim Friseur ist´s schon immer richtig gut. Man kann auch mal über alles so richtig quatschen. Über das, worüber man sonst mit keinem richtig reden kann. Aber wenn ich morgen z.B. jemandem sage, wie ein Spiegelbild mich betrachtet. Und dass die Spiegel lieber blind sind, damit sie nicht sehen müssen, was aus uns geworden ist. Genial. Aber dann halten die mich für völlig durchgedreht. (lacht ihr typisches Lachen, - zu lange, zu laut, zu hoch und zu gewollt, also zu falsch) Die Friseurin: Ich nicht. Die Frau: Was, ich nicht? Die Friseurin: Ich halte dich nicht für völlig durchgedreht Die Frau: Und du putzt die Spiegel nicht? Und wie lange gibt´s deinen Laden hier schon? Ich habe den noch nie bewusst wahrgenommen. So mitten im Grünen. Ein kleiner Pavillon eher – ohne viel Schnickschnack, ohne Werbung, wie nochmal heißt ihr? Die Friseurin: Heute Ruhetag. Der Laden hier ist auch wirklich ganz neu. Und Du hast Glück. Heute Ruhetag. Die Frau (fährt auf) Wie? Geschlossen? Aber was passiert da dann eben grade? Die Friseurin: Ich mach Dir eine neue Frisur. Die Frau: Wenn geschlossen ist? Die Friseurin: Nein, es heißt „Heute Ruhetag“. Du kamst herein. Und jetzt kämme ich Dich. Die Frau: Das ist mir – irgendwie peinlich. Die Friseurin: Soll ich aufhören? Die Frau: Nein, nein, nein - es ist sehr angenehm. Ich wünschte es würde nie aufhören. Ist das ein besonderer Kamm? Die Friseurin: Eigentlich nicht. Es kommt aber immer darauf an, wie ich den Kamm halte. Und die Geschwindigkeit ist enorm wichtig. Nicht zu schnell. Nicht reißen. Und nicht zu langsam. Du sollst ja schließlich merken, dass du gekämmt wirst. Und das Haar lädt sich auf. Mit jedem Strich wird da etwas verändert. Die Frau: Ist das jetzt nur ein Damenstudio - oder auch für ... Da hinten hängt so ein Foto. Wer ist das? (Sie deutet über die Schulter auf das Christusbild am Altar) Die Friseurin: Das ist der Meister. Die Frau: Ach, - ich hätte gedacht, dass Du hier die Chefin bist! Die Friseurin: Bin ich auch. Aber das ist der Meister. Die Frau: Cool ... Oh, das tut gut. Doch es ist mir peinlich. Weil ja eigentlich geschlossen ist. Die Friseurin: Nicht geschlossen heißt es – Heute Ruhetag. (nach einer längeren Pause) Beim Friseur ist immer Ruhetag. Wir sind die Ruhe, wir sind der Friede, wir sind die Gelassenheit, wir sind die, die das machen, worauf es eigentlich immer … wirklich ankommt. Die Frau: Ich habe heute Nacht geträumt, ich müsste mein Leben ändern. Da dachte ich, ich muss das jemandem erzählen. „Erzähl es deinem Friseur“, wie man so schön sagt ... Die Friseurin: Und da bist Du gleich hierher gekommen ... Die Frau: Ja, irgendwohin muss man ja doch gehen. Ich bin jetzt vierzig geworden. Vorgestern, am Freitag. Die Friseurin: Gratuliere, Sibylle. Herzlichen Glückwunsch. Die Frau: Schrecklich ... Die Friseurin: Stell dir vor, du würdest nicht älter. die Frau: Das wäre schön. Die Friseurin: Dann wärst du aber bald tot, wenn du nicht älter wirst. die Frau: (lacht erneut) Hast Du auch wieder recht ... Was lag da hinten für ein Ei rum? (zeigt mit der Hand über den Rücken wieder zum Altar) Die Friseurin: Das nehmen wir, wenn wir die Haare waschen. Denn da ist alles drin, was das Haar braucht. Das menschliche Haar besteht zu 70 Prozent aus Silicium, bzw. die Federn der Vögel sind aus Silicium. Und wir waschen mit Vogeleiern die Haare unserer Kundinnen. Wenn sie es wollen, sonst natürlich nicht. die Frau: Mit Hühnereiern? Die Friseurin: ... keine Hühnereier. die Frau: was dann? die Friseurin: Vogeleier. die Frau: Und was für Vögel? die Friseurin: … das ist so ... Berufsgeheimnis. die Frau: Ah, - das verstehe ich gut. Bitte ein bisschen kräftiger kämmen. Berufsgeheimnis … Ist es auch wegen dem Artenschutz? Die Friseurin: ... Du meinst des Artenschutzes wegen? die Frau: … Ich würde das gern probieren mit der Vogeleieressenz ... Die Friseurin: Aber gern. Dann müssen wir aber auch die Haare waschen. Das ganze Programm. die Frau: Ja, ja, ... waschen, das ist gut. (die Friseurin lässt die Frau nun allein und holt einen Metallständer mit einer Emaille-Schüssel und ein großes weißes Frotteehandtuch. Die Frau hat inzwischen den Friseurstuhl so gedreht, dass sie den Zuschauern den Rücken zukehrt und zum Bild des Meisters blickt. Die Friseurin stellt ihrerseits alle notwendigen Sachen so ab, dass die Zuschauer die beiden Frauen jetzt nur von hinten sehen können, während vorher beider Frauen Gesichter gesehen werden konnten. Dann gießt sie Wasser in die Schüssel. Langsam und zelebrierend) die Frau: Das ist ja noch eine richtig alte Waschschüssel. (nach einer Pause) Aber das ist doch hier ein Haarstudio, oder? Schade, dass ich mich in den Spiegeln da nicht richtig sehen kann. Oder, schade, dass mein Bild mich nicht richtig sehen kann. Aber dein Meister mit den Locken macht mir schöne freundliche - Augen. (Lehnt sich weit zurück) die Friseurin: Soll ich dir sagen, dass ich viel von ihm gelernt habe? die Frau: Wenn er ein Meister ist, klar ... (etwas verunsichert) das ist hier doch ein Friseurladen? Oder was ist das hier? Die Friseurin: Und was hast Du heute geträumt, außer dass Du dein Leben ändern musst. Das träumt ja jede(r) von uns tausendmal am Tag. die Frau: ich zum ersten Mal ... die Friseurin: ja … ? die Frau: Es kam einer auf mich zu, gab mir ein Büchlein, so ein schönes von Paperblanc und sagte nichts. Ich schlug es auf, und es stand auch nichts drin. Leider. die Friseurin: Jetzt mal ganz weit nach hinten legen. Ich will deine Haare waschen. (Taucht die Haare in das Wasser, das natürlich warm sein muss) die Frau: Es ist kalt, aber nicht unangenehm. Kühl eben … die Friseurin Ja, du kannst dich ganz entspannen. Du musst nichts machen. die Frau: Kann ich noch mal das Lied hören? die Friseurin und die Frau (zitieren, indem jede Zeile des Textes als Frage formuliert wird): “In dämmrigen Grüften(?) träumte ich lang(?) von deinen Bäumen und blauen Lüften, (?) Von deinem Duft und Vogelsang. (?) Nun liegst du erschlossen(?) In Gleiß und Zier(?) von Licht übergoss(?)en wie ein Wunder vor mir. (?) Du kennst mich wieder, (?) du lockst mich zart, (?) es zittert durch all meine Glieder(?) deine selige Gegenwart!“ (?) (die Musik erklingt erneut, währenddessen die Friseurin, die Haare sorgsam und liebevoll zu waschen beginnt. Es ist eine Mischung aus Dirigieren und Waschen, sie tritt jetzt auch abwechselnd links und rechts neben die Frau, so dass sie beim dirigierenden Waschen zu sehen ist) die Frau: (zeigt zum Altar) was ist das dort für ein Kästchen: die Friseurin: Ach, - das da. Ich weiß es nicht. Es war schon immer da. Wir haben es übernommen von den Vorgängern. die Frau: Wer - wir? die Friseurin: Der Meister und ich halt … die Frau: Wo ist denn dein Meister? Seid ihr so ´ne Haarkette oder was in der Art? Kommt er manchmal in dein Studio? die Friseurin: Der kommt schon manchmal. Für heute aber hat er sich aber zurückgezogen. Ich habe sein Bild immer hier. Und das Kästchen. die Frau: Darf ich´s mal anfassen? die Friseurin: Klar doch. (sie holt das Kästchen vom Altar) Hier ist es. Ich drehe den Stuhl mal um, so dass Du es besser sehen kannst und das Licht richtig drauf fällt. (der Stuhl wird nun umgedreht, so dass die Frau wieder sichtbar wird, nur mit nassen Haaren jetzt, also vollkommen verändert.) die Frau: ist das Eisen? die Friseurin: Mein Meister redet immer - vom Meteoriten. Aber ich denke mir, er hat zu scherzen beliebt. die Frau: Zu scherzen beliebt? die Frau: Er ist ein herrlicher Typ. Drückt sich gern mit Geschichten, Beispielen und Gleichnissen aus. die Frau: Meteoriten-Eisen ... Und wann kommt denn das mit dem Ei jetzt? die Friseurin: Jetzt! (sie schlägt das Ei auf den Kopf der Frau auf und sofort schäumt es wie wild, denn in dem Ei ist natürlich Shampoo. Die Eierschalen werden auf den Boden geworfen - und sollen dort gut sichtbar bleiben, - wie denn auch jede Menge Wasser und Schaum über die Personen sich auszubreiten beginnen.) die Frau: (im Schaum) Hast du Avatar gesehen? die Friseurin: Klar. die Frau: Da waren so Drachen und Menschen wie Vögel. Aber nur im Film. Ich hab´s in 3D gesehen. die Friseurin: Ich sehe es in 4D. die Frau: Was ist 4D? die Friseurin: Die Weiterentwicklung von 3D die Frau: Das tut wirklich sehr gut. Aber von 4D habe ich aber noch gar nichts gehört. die Friseurin: Noch nicht. die Frau: Ein Friseurwitz? die Friseurin: 4D - das ist, - ich hoffe, dass es das irgendwann mal gibt. die Frau (schüttelt das Kästchen): Aber da ist was drin. Es raschelt irgendwie. Was könnte das wohl sein? Das würde ich gerne wissen ... die Friseurin: Ich auch. Der Meister aber hat immer gesagt, ich solle nicht traurig sein, wenn ich es nicht weiß. Er hat gesagt: „Du hast es, aber du weißt es nicht. Freue Dich daran, dass du es hast. Wolle nicht mehr wissen, als was Du wissen kannst.“ So sagte er, oder so ähnlich. Stelle dir vor, du wüsstest es, aber hättest es nicht. Das wäre doch bitter. die Frau: Au weiha. Das wäre wirklich bitter. Zu wissen, es gäbe etwas Wichtiges, und das Wissen zu kennen, aber es nicht zu haben. Schlimm. (schüttelt das Kästchen) Es klingt wie Papier. Ich weiß es nicht, aber ich habe es. die Friseurin: Wir lassen jetzt den Schaum von dem, äh … von dem (beide) „Drachenei“ (beide lachen) einwirken. Ich gehe jetzt für ein paar Minuten nach draußen, um die Rollläden hochzuziehen. Dann waschen wir den Schaum wieder aus, und alles wird dann sehr gut sein für Dich... die Frau: Nimm Dir Zeit. Aber drehe mich bitte vorher so, dass ich den Meteoritenmeister sehen kann. die Friseurin: Meteoritenmeister? die Frau: Oder Meister des Kästchens! - Darf ich ihn so nennen? die Friseurin: (dreht den Stuhl um, so dass wieder der Rücken der Frau zu sehen ist und ihr Kopf mit dem Schaum und geht nach draußen. Im Gehen sagt sie): Jede darf den Meister nennen, wie es gut ist. Ich stelle Dir jetzt noch das vorletzte von den vier letzten Liedern an. (die Friseurin verlässt den Raum, und die Gottesanbeterin kommt. Sie beudeutet den Zuschauern, von dem Handschein den Text des vorletzten letzten Liedes abzulesen. Einige Zuschauer sind unterrichtet und führen den chorus baptizandoum stimmlich an) Chorus baptizandorum: Nun der Tag mich müd gemacht, soll mein sehnliches Verlangen freundlich die gestirnte Nacht wie ein müdes Kind empfangen. Hände, laßt von allem Tun Stirn, vergiß du alles Denken, Alle meine Sinne nun wollen sich in Schlummer senken. (Das Lied wird eingespielt. Dann, wenn das instrumentale Zwischenspiel erklingt, geht die Gottesanbeterin her und beginnt für die Frau unbemerkt, deren Haar mit Mengen von Wasser auszuwaschen, der Schaum im Haar wird weniger, aber der Fußboden wird deutlich in Mitleidenschaft gezogen, sehr viel Wasser fließt, und Duft durchzieht den Raum. Die Gottesanbeterin macht sich sehr dicht am Kopf der Frau zu schaffen, was von den Zuschauern mit Bangen beobachtet wird … Die Frau mit den nunmehr wirklich sehr nassen Haaren sitzt ganz unbeweglich da. Als die Musik zu Ende ist wiederholt sie die Worte der dritten Strophe: die Frau: Und die Seele unbewacht will in freien Flügen schweben, um im Zauberkreis der Nacht tief und tausendfach zu leben. Chorus baptizandorum: (von den Chorführern gelenkt) Und die Seele unbewacht will in freien Flügen schweben, um im Zauberkreis der Nacht tief und tausendfach zu leben. Die Frau: Das ist wirklich sehr schön. Es duftet auf einmal so. Was ist das denn – das ist jedenfalls nicht irgendein billiges Zeug, - Sylvia? Die Gottesanbeterin antwortet nicht, sondern dreht den Stuhl wieder so, dass die Zuschauer die Frau sehen können. Dieselbe hat sich verändert. Alle Schminke ist nun abgewaschen und ein ganz natürliches Gesicht erscheint. Die Gottesanbeterin wäscht die Haare und gießt Wasser hin und her. Schließlich erhebt sich die Frau und dreht sich zum Altar, um das Kästchen, dass sie bisher für alle immer noch sichtbar in der Hand gehalten hat, abzustellen. die Frau: Das Kästchen wird mir langsam aber doch zu schwer. Ich kann nicht wissen, was darinnen ist. Aber ich habe es auf meinen Händen getragen. Das genügt mir. (Sie dreht sich zum Altar, indem dreht sich auch die Gottesanbeterin um die sich drehende Frau. So geschieht es also, dass die Frau mit dem Kästchen auf den Altar zugeht, indes die Gottesanbeterin von ihr fort und zwar aus der Kirche / dem Haar-Studio schreitet. Keiner sieht dabei den anderen, weil die eben beschriebene Bewegung es erfordert, dass sich beide den Rücken zukehren um in die bezeichneten Richtungen gehen zu können. Kaum ist die Gottesanbeterin hinaus, kehrt die Friseurin Sylvia zurück, und die Frau mit den nassen Haaren geht vom Altar wieder auf den Friseurstuhl zu, wo sie sich beide begegnen und anlachen. Es ist klar, dass die Frau die Gottesanbeterin nicht gesehen hat. Es soll aber für die Zuschauer unklar bleiben, ob die Friseurin Sylvia und die Gottesanbeterin nicht ein und dieselbe Person sind. Zumindest werden beide von ein und derselben Schauspielerin gegeben. Es soll unklar bleiben, ob diese Identität bloß gespielt, nur aus Personeinsparungsgründen oder inhaltlich gewollt worden ist. Es bleibt offen, wer nun „wer“ ist, sein soll oder sein musste) die Frau: Ich fühle mich ganz neu geboren. Und ich glaube, ja - so müsste mich mein Spiegelbild jetzt sehen können. Warum bloß darf das nicht sein? Spiegel, blinde Spiegel! die Friseurin: Hilf mir, damit ich es ändern kann, - es sind sehr alte Spiegel (sie beginnt damit, die Folien von den Spiegeln abzuziehen, welche dadurch nun sehr blank und glänzend erscheinen und dem Raum neue Tiefe und zusätzliches Licht, Glanz und Staunen geben, - die Frau mit dem nassen Haar hilft ihrer Friseurin dabei. Die Spiegel stehen jetzt in der Mitte des Raumes, der Friseurstuhl ist auf die Stelle verschoben worden, an der am Beginn der Stuhl mit den Zeitschriften platziert war) die Frau: So einfach geht das also. Mein Spiegelbild, mein Spiegelbild soll mich jetzt sehen. (Sie stellt sich vor die Spiegel und wirft den Kopf zurück, so dass das nasse Haar sein Wasser im Raum verteilen kann - und dieses bis in die ersten Bankreihen hinein die Zuschauer besprengt. Einmal, zweimal, dreimal) Die Frau: So soll sich mein Bild jetzt sehen. Sieh auf mich, mein liebes Bild, und schau über mich noch weiter hinaus. Blicke mich an, damit ich werden kann, was ich bin. Mehr als man dachte kann sein, und Größeres braucht darüber hinaus nicht erfunden zu werden. Betrachte mich nun ich will mein Leben ändern. ich kann und ich darf ich soll und ich muss … die Friseurin: Und von wem ist dieses Lied? die Frau: Das ist von mir. Heute in deinem Laden. Und ich habe, als Du weg warst Etwas für Dich gefunden. (sie geht hinter die Spiegel und nimmt das Paperblank-TraumBüchlein vom Altar. Dann reicht sie es der Friseurin). Das schenke ich Dir. die Friseurin: Danke Sibylle, solche Büchlein liebe ich ohnegleichen. Sie sind herrlich und leer Und offen für alles – was wir einschreiben, solches geschieht, wenn es was Gutes ist. Oder das Gute will. Welch besonderer Tag. Danke, dass Du gekommen bist. die Frau: (geht mit weit ausgebreiteten Armen durch den Raum) Danke, mein Bild fand mich hier. Und ich fand mein Bild. Ade, - ihr drei lieben Spiegel. Werdet nicht wieder blinder, als ihr es sein müsst. Oder noch besser, werdet immer wieder sehend. traut euch herzuschauen zu uns Menschen. Ich segne euch alle. (beide ab, sie drehen das Schild um, auf dem Heute Ruhetag steht. Auf der Rückseite des Schildes steht ebenfalls Heute Ruhetag. Die Frau mit den Nassen Haaren geht voran und wirft von Zeit zu Zeit ihre Haare nach hinten, so dass am Ende schließlich auch die Allerletzten des chorus baptizandorum „getauft“ sind). NACHBEMERKUNGEN "Die Frau mit nassem Haar" ist ein Theaterstück sui generis. Die Suche nach Leuten, die das Dramolett gern aufführen würden, gestaltet sich schwer. Den Gründen für diese beklagenswerte Tatsache soll hier nachgegangen werden. Es sind klassische Hinderungsgründe, die aber zugleich inhaltlich gewollt und absichtlich eingearbeitet worden sind. Würden sie abgestellt und vermieden werden, verschwände das kleine Drama in sich selbst. Schon die Klassifikation des Textes fällt schwer. Mysteriendrama im Sinne Rudolf Steiners? Jein, - Lyrisches Drama? Na ja … Irgend so etwas in dieser Art. "Die Frau mit nassem Haar" soll bisher nur ein einziges Mal aufgeführt werden und zwar am frühen Nachmittag eines Septembersonntags. Da liegt man eigentlich entspannt auf dem Sofa und liest ein bisschen in Zeitschriften herum oder nickt sogar ein. Genauso fängt das Stück auch an; die Frau (mit noch trockenem Haar) kommt in einen Friseurladen und blättert bei sonderbarer Musik in Zeitschriften mit verschiedenen Frisuren. Wir denken ja manchmal, wenn wir nur ein ganz klein wenig an uns verändern, verändern wir uns ganz. Neuer Kopf – neues Schicksal, neue Frisur – neues Leben. Und manchmal ist es auch so! In diesem Stück soll es so sein. Sibylle, die Frau mit nassem Haar, ist am Beginn des Stücks eine perfekt zurechtgemachte "Katalog-Schönheit". An der Frisur ist nichts zu steigern, am MakeUp nichts zu verbessern, die Kleidung ist exakt mit jedem Detail ihrer selbst abgestimmt. Trotzdem will die Frau noch etwas über sich selbst hinauskommen. Deshalb gerät sie in den Friseurladen, der eigentlich auch eine Kirche ist, ein Heiligtum, ein Initiationsort. Am Ende des Stückes ist Sibylle zu einer Frau ohne Frisur, ohne MakeUp dekonstruiert. Das Stück zeigt, wie die Konstruktion der perfekten Frau liebevoll abgetragen wird durch die Begegnung mit Silvia, der Friseurin. Die Namen sind dabei nicht willkürlich gewählt worden. Sibylle, die alte Prophetin, wird durch Silvia, die aus dem Walde Kommende, zu einem Neuanfang geführt. Dadurch gewinnt die Friseurin eine therapeutische Funktion, die sich im Alltagswerk ihres Berufslebens versteckt. Die Frau Silvia entlässt die Frau Sibylle mit einer neuen Frisur nach Hause. Sibylle hatz sich verändert. Sie schaut jetzt aus einem abgeschminkten Gesicht, dem wahren Gesicht, das sich zu zeigen traut, heraus – unter einer dekonstruierten Frisur, nasses Haar. Der Gedanke ist eigentlich klar, und es gibt hier nicht viel zu deuteln. Die Zaschauenden müssen nicht viel verstehen, sondern können sich zurücklehnen und entspannen. Kein Drama, keine Aufregung. Man sieht, wie andere einen sehen würden, wäre man selber hier beim Friseur und würde betrachtet werden. Schön … Die Handlung besteht zumeist aus Kämmen, Waschen, Reden, Singen, Hören und Genießen. Nachmittags 14.00 Uhr. Nun ragen in diesen schläfrigen Mikrokosmos drei der (vermutet tausend) Tentakeln herein, mit denen das Ungeheure uns berührt und ewig in der Schwebe hält. Das sind zum Einen die seltsamen Gestalten im Prolog, oder, wie es hier heißt, im "Stück vor dem Stück". Es handelt sich um metaphysische Hilfstiere, oder Halbgottheiten, - irgendwelche Prinzipien haben sich Gestalt geliehen und drapieren die Welt zurecht, damit wir sie erleben können. Die drei legen ein paar Fundstücke aus, welche Rätsel bleiben, aber zugleich die Handlung bestimmen. Ein Ei, ein Kästchen, ein Büchlein. Die Sprache der Hilfswesen ist rhythmisch gebunden, ihre Bewegung abstrakt und ihr Aussehen eher schematisch. Jedoch stellen die drei Hilfsfiguren ihre Sache witzig dar, nicht ehrfurchtheischend. Wie nebenbei erzählen sie die Dinge aus jener Welt her, die größer ist als alles, was darüber hinaus nicht gedacht werden kann. Dagegen steht die Sprache der beiden Frauen, sie schrammt manchmal dicht am Jargon vorbei. Aber, und das ist gewollt, Sibylles Sprache wird gegen Ende hin immer qualitätsvoller. Sie gleicht sich der Sprache der höheren Wesen irgendwie an. Zum Zweiten ist es der Theaterraum mit dem zentral gestellten Meisterbild, der Fragen aufwirft. Wo sind wir hier hingeraten? Der "Meister des Ladens" ist ein im 19. Jahrhundert designter Nazarener-Christus mit kunstvoll gedrehten Locken. Das Bild steht zentral, auf dem Friseurtisch, wo sonst nur der große Friseur-Spiegel sich befindet. Dieser Christus-Spiegel ist konstruiert und gemalt. Die anderen Spiegel im Raum sind Glasspiegel, aber allesamt blind, sie stehen im Raum, ohne dass sie ihrem Zweck gerecht werden wollen (mit mehreren Lagen PVC-Folie umwickelt. Diese armen Spiegel möchten das konstruierte Gesicht der Menschen, die keine Sibyllen mehr sind, nicht sehen - und haben ihr Angesicht deshalb verhüllt. Die Dinge weigern sich, falsche Spiele mitzumachen, und helfen den Menschen. Rückwärts gedacht wird der lichte Theaterraum Friedrich Schinkels, die Kirche in Woltersdorf also zu einem therapeutisch verdächtigen WellnessRoom. Oh, wie geschmacklos das klingt! Das, was damit gemeint ist, führt aber tief. Zum Dritten ist es Musik, welche berührt und erst einmal verwirrt. Endzeitklänge von Richard Strauss, kein Technogehämmer, keine Zenmusik, kein RADIO SAW, kein Fitness-Sender. Spätromantik vom Kompliziertesten und zugleich textlich Bewegendsten. Hermann Hesse, der Frauenversteher, der Männerherzen Berührende, der Morgenlandfahrer im Gewande des Steppenwolfs kommt darin zu Wort, indem er nach Melodien des Tonzauberers Richard Strauss gesungen wird. Wie kann man aber am Nachmittag zwischen zwei und drei Uhr soviel Hintergründigkeit aushalten. Ja, - zugegeben, es ist ein Traum aus dem Nachmittag eines träumenden Fauns. Und, - es gibt das sogenannte Heilige nicht ohne eschatologische Komponente. Und Pan erscheint am Mittag, und erschreckt zuerst, - und dann flötet er. Der Ernst schaut überall mit zu. Auch beim Friseur. Nie kommen sich Menschen so nahe wie in den großen Heils-Handlungen. Die Taufe, das Begräbnis, der Beginn, die Hochzeitsfeier, der Kampf, das Sterben, der Schlaf, das Ausgeliefertsein, - von all dem ist etwas mit dabei, wenn wir uns einem Friseur oder einer Friseurin überlassen. Wir begeben uns in die Hände der Gottesanbeter(in), aber der Kopf wird uns eben nicht abgerissen. Die Gestalten besonders der Gottesanbeterin und des Ibis sind mit Absicht so gewählt, sie sind unterweltlich, gewiss. Bei allen Handlungen, die etwas Ritualisiertes annehmen (schon deshalb, weil sie sich mehrere Male in genau der gleichen Abfolge ereignen müssen), kommt das auf, was man das tremendum genannt hat. Es ist dieses auch mit einem gewissen schamhaften Unbehagen behaftet. Unbehagen dem Ding gegenüber, das ich im Ritual beachte und zugleich auch fürchte. Und, weil ich es fürchten muss, geschickt zu verehren beginne. Etwa: Warum soll ich mich etwa taufen lassen? Warum soll ich vor allen Leuten "Ja" geloben. Warum soll ich schwören. Warum soll ich … usw. Die Gottesanbeterin ist eine seltsame Gestalt. Sie hat eine demütige Geste, - und beißt schlagartig zu. Wer in ihre Hand fällt ist verloren. Und erstarrt in Erwartung dieses Zusammenhangs, schon bevor er gegeben ist. Beim Friseur sehen wir uns selbst im Spiegel und sehen, wie wir uns dabei verändern – bzw. verändert werden. Beim Friseur! Hier allerdings, in "Die Frau mit nassem Haar" nicht. Die Spiegel sind alle blind. Dieser sonderbare Widerspruch ist ausdrücklich gewollt. Soll nicht aufgelöst und muss ruhig zelebriert werden. Der Prozess eines immer deutlicher werdenden Aufmerkens wird mit den drei Gaben der drei Hilfswesen markiert. Auf diese Weise bekommt "Die Frau mit nassem Haar" nebenbei etwas kindlich Märchenhaftes. Ein Ei, ein Kästchen und ein Büchlein. Das Ei wird zerstört und auf den Kopf von Sibylle appliziert, - sie ist damit der Phoinix, der aus dem Wasser neu geboren wird. Das Kästchen wird in der Hand gewogen – und zurückgelegt an seinen Platz. Es ist nicht zu öffnen. Es bleibt Rätsel bis in Ewigkeit, wie vieles immer rätselhafter wird. Und das Büchlein ist ganz leer. Es wird verschenkt, damit es beschrieben werde mit guten Wünschen für alle(zeit). Am Ende der Waschungen und Tauchungen werden die Folien von den Spiegeln abgezogen und das Licht macht, dass sich die Zuschauenden in den Spiegeln nunmehr erkennen können, - zu ihrem Urbild finden, bzw. das Urbild zu ihnen findet. Zugleich wird einer der Spiegel vor das Altarbild des Meisters gestellt. Christus kann dadurch als historisches Bild nicht länger mehr betrachtet werden. Er ist nunmehr verhüllt, wie vorher die Spiegel verhüllt waren. Aber Christus ist durch einen "nichtblinden" spiegelnden Spiegel verhüllt. Wer nunmehr also in die Richtung des Christus-Bildes schauen will, der betrachte sich selbst im Spiegel und wisse, dahinter ist Christus – verhüllt im Bild des ihn Betrachtenden. Und, das ist das Großartige: Die Frau mit nassem Haar (und mit ihr alle anderen auch) sehen im Spiegel als ihren Hintergrund nunmehr den Ausgang des Kirchengebäudes, der, als man das Bauwerk am Beginn des Stückes "Die Frau mit nassem Haar" betreten hatte, als Eingang diente. "Die Frau mit nassem Haar" ist also auch ein abschiedliches Stück mit folgender Botschaft: Wer sich selbst gesehen hat, der muss sich nicht ewig ganz neu erfinden und immer wieder neu suchen. Denn dabei bleibt oft auch viel Kraft, Zeit und Freude auf der Strecke. Die neue Sibylle schüttelt dementsprechend ihr dekonstruiertes "getauftes" Haupt und besprengt hinausgehend segnend die erstaunt aufgesprungenen Zuschauenden, die sich vor den umher sprühenden Wassertropfen schützen wollen, aber nicht können. Groß ist die Macht des nassen Haares. Hier soll sich etwas von der Urwüchsigkeit der Johanneischen Unter-Tauch-Tauf-Handlung reinszenieren. Vorstellbar ist, dass nach "Die Frau mit nassem Haar" draußen Kämme verteilt, Haare gewaschen werden und ähnlich Schönes geschieht. PS Für eher orthodox gelagerte Kircheninsider sei an dieser Stelle noch kurz Folgendes bemerkt: Bekenntnistexte sind absichtlich n i c h t zum Zuge gekommen! Aber in dem, was zwischen Silvia und Sibylle zur Sprache kommt, lässt sich eine christliche Tauftheologie zumindest ansatzweise vermuten. Es braucht natürlich die theologische Kompetenz und den Sachverstand, diese Vermutungen im Stück zu verorten für sich selber entdecken zu wollen!