Visier - Fußartillerie Regiment 9
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Visier - Fußartillerie Regiment 9
REPORTAGE Alles zu Fuß Andreas Skrobanek er behauptet, die Infanterie sei Gottes W liebstes Kind? Bei der Artillerie fühlt man sich — zumindest als historischer Darsteller — genauso wohl. Zum Beispiel am Tag der heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute und Artilleristen. Dann treffen sich die “Neuner” auf der Festung Ehrenbreitstein. Der Ort könnte nicht passender sein. Denn die Blauröcke stellen das “Preußische Fußartillerie Regiment Nr. 9” und die “alten Preußischen Garnisonsregimenter zu Coblenz” dar — die sogenannte alte Armee von 1871 bis 1914. lles ganz friedlich: Nach dem Sieg über A Frankreich 1871 herrschte bis zu Urkatastrophe 1914 in Europa Frieden. Schlachtdarstellungen wie im napoleonischen Reenactment oder im amerikanischen Civil War bieten sich also für die Fußartillerie Nr. 9 nicht an. Was also machen die Mitglieder? Zunächst einmal: angenehme Geschichts- 112 stunden. Einmal monatlich trifft man sich mit Freunden zum historischen Stammtisch. Da geht es um militärgeschichtliche Themen: Heereskunde, Festungsgeschichte, Kanonen, Infanteriebewaffnung sowie Schlachten. Wie andere Reenactmentgruppen schreiben auch die Koblenzer authentische Darstellungen groß, sie betreiben aber mehr als nur zu marschieren, zu exerzieren, Wachablösungen zu proben und Kanonenschüsse zu zünden — Benimmregeln, korrektes Verhalten und Verpflegung zählen genauso dazu. Fotos: Andreas Skrobanek, Torsten Bender, VISIER-Archiv Wozu in fremden Ländern auf Zeitreise gehen, wenn eine preußische Bundesfestung vor der Haustür liegt? Die Reenactment-Gruppe Fuß 9 dient gern daheim. Reenactment: Koblenzer Fußartillerie Einst und jetzt: Links zwei Postkarten von der Jahrhundertwende mit der Fußartillerie Nr. 9 als Motiv und eine Gruppenaufnahme Ehrenbreitsteiner Fußartilleristen im blauen Rock — das Foto entstand vor 1907. Oben ein Franzose als Preuße: Reenactor Jean-Noël Charon mit Sprenggranate vor der originalgetreuen Kopie der Regimentsfahne. 113 REPORTAGE er bleiwe in Kowelenz: M Reenactors aus der Napoleonik mögen über die Preußen aus der “Champagnerarmee” lästern, doch in einem Punkt ist die Fuß 9 klar im Vorteil. Die historische Kulisse liegt vor der Haustür, hoch über dem Deutschen Eck, wo seit 1993 wieder das rekonstruierte Reiterstandbild Wilhelm I. steht — ursprünglich 1893 eingeweiht. Und während andernorts historische Schlachtfelder immer mehr mit Windgeneratoren oder Straßen verbaut werden, erhält die ehemalige preußische Bundesfestung derzeit zum ersten hieß die aus vier Kompanien bestehende Truppe “Schleswigsche Festungsartillerie Abt. Nr. 9”. Während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 sorgte die Truppe für die Küstenverteidigung und gehörte zur Besatzung Sonderburgs. 1874 trennte sich die Feldvon der Festungsartillerie, 1887 folgte die Verlegung der Abteilung an den Rhein nach Köln. Sie trug nun den Namen Schleswig-Holsteinisches Fußartillerie-Regiment Nr. 9. Sechs Jahre später begann die Koblenzer Episode: Am ersten Oktober 1893 nahmen der Regimentsstab und das II. Batail- Im Jahre 1898 erhielt das Regiment Nr. 9 schwere Feldhaubitzen — das war kein Dienstgeheimnis. Motive wie diese landeten häufig auf Erinnerungsfotos und Postkarten. Noch von vorn: Die Fuß 9 bietet nicht nur Darstellungen auf der Festung Ehrenbreitstein, hier schießen die Artilleristen auf dem internationalen Militärfahrzeugtreffen in Koblenz 2010 mit einem Vierpfünder. Das Signalhorn ist das Steckenpferd von Detlev Bender (r.) — bei seiner Ausbildung half ein Mitglied des Heeresmusikkorps 300 der Bundeswehr. Mal seit 180 Jahren eine Generalüberholung. Wenn am 15. April in Koblenz die diesjährige Bundesgartenschau beginnt, sieht die Festung authentisch aus wie lange nicht mehr — eine einmalige Kulisse, um den Alltag in einer preußischen Garnisonsstadt darzustellen. amilienbande: Provinziell F geht es in der Geschichte der Fuß 9 nicht zu. Der Vorläufer des Regiments war eine 1866 in Sonderburg (dicht bei der dänischen Grenze) geschaffene Festungsartillerie-Abteilung, die wiederum zum Feldartillerie-Regiment Nr. 9 gehörte. In den kommenden Jahren blieb nichts beim Alten: Ab 1867 114 lon in Ehrenbreitstein den Dienst auf. 1914 zog die in Batterie II/9 umbenannte Formation in den Ersten Weltkrieg. 1920 endete die Geschichte, im September lösten die Verantwortlichen das Regiment auf. Ein Jahr zuvor war ein gewisser Josef Grabus, seines Zeichens ein ehemaliger etatmäßiger Feldwebel, mit 41 Jahren an den Kriegsfolgen gestorben. Dabei hatte Grabus im Fußartillerie-Regiment Nr. 9 von der Festung Ehrenbreitstein bis dahin mehr Glück gehabt als viele seiner Kameraden — der Artillerist überlebte zum Beispiel 1916 die Sommeschlacht und 1917 Stellungskämpfe in VISIER 1/2011 Reenactment: Koblenzer Fußartillerie Vorbildlich: Keine Strafen und vorzügliche Führung bescheinigt das Dokument Josef Grabus bei seiner Entlassung 1918. Es verrät auch, dass der Feldwebel verheiratet war und sieben Kinder hatte. Oben: Josef Grabus hier während des Ersten Weltkrieges (Mitte) — der Urgroßvater der Vereinsmitglieder Bender. Die Diensteinteilung an der Wand verrät den Dienstgrad. Im Bild links ohne Schnurrbart einer seiner beiden Urenkel: Torsten Bender. der Champagne. Für zwei Mitglieder aus der Reenactmentgruppe stellt diese Geschichte etwas Besonderes dar, denn der 1878 in der preußischen Provinz Posen geborene Josef Grabus ist der Urgroßvater von Torsten und Detlev Bender. Für die Brüder war die Person des Urgroßvaters der eigentliche Grund, diese Gruppe zu gründen und nicht in die Napoleonische oder eine andere Epoche einzutauchen. “Eigentlich komme ich aus der Heimatforschung. Wer sich hier in VISIER 1/2011 Koblenz damit beschäftigt, landet schnell bei der Geschichte des preußischen Militärs. Dazu kommt: Mein Bruder und ich sind im Koblenzer Ortsteil Ehrenbreitstein aufgewachsen, deshalb hatten wir schon als Kinder eine enge Beziehung zur Festung, man konnte früher dort wunderbar spielen. Aus musealer Sicht war die Festung damals aber eher ein toter Platz” erzählt Torsten Bender. “Mein Entschluss stand deshalb schnell fest, es sollte eine Darstellungsgruppe aus dieser Zeit sein.” Neugier dürfte da mit im Spiel sein. Denn viel blieb vom Vorfahren nicht überliefert: “Auf dem Speicher der Großtante fanden sich in einem alten Kleiderschrank ein Foto und eine ‘Überweisungsnationale’, das würde man heute wohl als ausführlichen Truppendienstausweis bezeichnen.” Mit dem Papier lassen sich auch die Beförderungen von Josef Grabus nachvollziehen: 1900 Gefreiter, 1902 Obergefreiter und Unteroffizier, 1906 Sergant, 1909 Vizefeldwebel, 1914 Feldwebel. Im Krieg erhielt er das Eiserne Kreuz II. Klasse. Auch über die Schlachten, an denen Grabus teilgenommen hatte, weiß die Gruppe Bescheid. iederbelebung: Doch im W Vergleich zu vielen Lebensgeschichten aus dem Amerika- nischen Bürgerkrieg oder den Tagebüchern Ernst Jüngers sind das nur spärliche Informationen. “Andere Unterlagen haben wir nicht entdeckt. Trotzdem wollten wir wissen, was unser Urgroßvater hier getrieben hat. Aber was man nicht weiß, kann man ja darstellen und so dazu lernen. Historische Bücher helfen auch”, sagt Torsten Bender. Die Fußartilleristen aus dieser Zeit halten die Neuner “natürlich für interessanter als Infanteristen, die nur durch die Gegend liefen” — Artillerie bedeutet eben auch Technikgeschichte. Bis jetzt besitzt der gemeinnützige Verein nur eine Vorderladerkanone — noch nicht ganz das, was sich die Mitglieder vorstellen. Doch eine Hand wäscht die andere. 115 REPORTAGE Lehrvorführung für Zivilisten: Auf dem Infotisch steht vorn eine Sprenggranate aus dem Ersten Weltkrieg (Kaliber: 10,5 cm). Dahinter eine Neun-Zentimeter-Bleihemdgranate (um 1875) und eine Granate mit kupfernen Führungsbändern im gleichen Kaliber aus den 1880er Jahren. Mit dem Festungskanonier Jörg Höfer (VISIER 12/2008) arbeitet man eng zusammen. Wenn von Ehrenbreitstein demnächst eine Neun-ZentimeterHinterladerkanone feuert, darf die Fußartillerie nicht fehlen. Die “Verwaltung Burgen, Schlösser, Altertümer in RheinlandPfalz” konnte in den vergangenen Jahrzehnten Ehrenbreitstein wieder zu einem Touristenmagneten machen: Als sie 2007 die Multiperiodenveranstaltung “Historienfestspiele” durchführte, machte die gerade gegründete Fuß 9 im Drillich schon mit. Inzwischen gibt es eine Kooperationsvereinbarung — ein Musterbeispiel dafür, wie gut sich Reenactment und Museen gegenseitig helfen können. Die Artilleristen bieten nicht nur Darstellungen, sondern auch Informationen über die Geschichte des Kanonenschießens. Dafür sammelt der Verein (natürlich deaktivierte) historische Artilleriegeschosse, Torsten Bender steuert Bücher zum Thema bei. Auf Veranstaltungen landet alles auf einem Tisch. Bender: “Wir sind erst neun Neuner, und der Mitgliedsbeitrag von 20 Euro erlaubt keine großen Sprünge. Mit Spenden können wir trotzdem den Fundus langsam ausbauen.” 116 Links eine 150-Millimeter-Ladungshülse aus dem WK I, daneben eine 90-Millimeter-Hülse von 1903. Den Fußartilleristen konnte man damals leicht an der mit einer Kugel verzierten Pickelhaube erkennen. Sein Bruder schreibt inzwischen an einer Abhandlung — vielleicht die Basis für regelmäßige Vorführungen “Kleine Geschichte der Artillerie”. Und noch ein Projekt schwebt den Preußen vor: Eine originalgetreu eingerichtete Wachstube auf Ehrenbreitstein von 1900, die vielleicht in die Besucherführungen einbezogen, auf jeden Fall aber regelmäßig “bespielt” werden wird — Wache stehen und Wachablösungen als Festungsalltag. Die meisten Besucher interessiert so etwas. Und die anderen stören sich nicht an einem angeblichen preußischen Militarismus, sondern gehören eher zu denen, die mit Reenactment insgesamt nichts anfangen können. “Die positiven Reaktionen hängen bestimmt auch damit zusammen, dass wir recht locker auftreten. Außerdem stellen wir keine Offiziere dar, sondern nur Mannschaftsgrade”, erzählt Torsten Bender. “Es macht Spaß.” inkleidung: Heute nicht E mehr via Kammerbulle von Papa Staat — die Uniformteile kosten natürlich etwas. Für Arbeitsdrillich, Stiefel, Krätzchen, Koppel und Seitengewehr müssen Neueinsteiger etwa 500 Euro einplanen. Eine komplette Ausrüstung mit Schmuckuniform, blauem Die Schrapnellgranate links stammt ebenso aus der Zeit des Ersten Weltkrieges wie die 77-Millimeter-Ladungshülse und der Korpus der Gasgranate rechts. Rock und Pickelhaube verschlingt zirka 2000 Euro. Dazu kommt noch ein Gewehr in Salut- oder Dekoausführung. Das klingt viel für den Einstieg ins Hobby. Doch wer Reiten oder Surfen bevorzugt, gibt sicher nicht weniger aus. Torsten Bender mag übrigens das Wort “Hobby” nicht sehr. “Ich würde es eher sinnvolle Freizeitbeschäftigung nennen, von der unsere Mitmenschen auch etwas haben.” Zum Beispiel vom 26. bis zum 28. August — dann finden im Rahmen der Bundesgartenschau auf Ehrenbreitstein die “Preußentage” statt. Æ Informationen: www.fuss9.de So schön kann Rasieren sein: Nicht ganz ernst gemeint ist der Schnappschuss vom Besuch beim “Gesichtsverschönerungsrath.” VISIER 1/2011