Kaija Saariahos erste Oper L`amour de loin
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Kaija Saariahos erste Oper L`amour de loin
Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts an der Kunstuniversität Graz Auf der Suche nach dem verborgenen Seelenleben: L’amour de loin. Orient – Okzident, Heimat – Exil, Traum – Wirklichkeit. Harmonie-Klangfarbe und musikalisch-ästhetische Darstellung der Antithesen in Kaija Saariahos erster Oper Betreuer: Ao.Univ.Prof. Mag.phil. Dr. phil. Harald Haslmayr Institut für Musikästhetik Vorgelegt von Sara Papst B.A. September 2013 Abstract: Auf der Suche nach dem verborgenen Seelenleben: L’amour de loin. Orient – Okzident, Heimat – Exil, Traum – Wirklichkeit. Harmonie-Klangfarbe und musikalisch-ästhetische Darstellung der Antithesen in Kaija Saariahos erster Oper Die finnische Komponistin Kaija Saariaho, die seit über dreißig Jahren in Paris, ihrem „Wahlexil“, lebt, hat sich spätestens mit ihrer am 15. August 2000 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführten Oper L’amour de loin (Die Liebe aus der Ferne) innerhalb der klassischen Musikkulturszene etabliert. Mittlerweile zählt sie zu den bekanntesten zeitgenössischen Komponistinnen, deren Werke in den größten Opern- und Theaterhäusern aufgeführt werden. L’amour de loin nimmt eine besondere Stellung in Saariahos Schaffen ein, zumal sie zu den wenigen Künstlern und Künstlerinnen ihrer Zunft gehört, die sich im 21. Jahrhundert an die große Opernform wagen. Saariaho verpackt in der Oper einen von dem libanesischen Librettisten Amin Maalouf aufbereiteten mittelalterlichen Stoff, der auf der vida und den Liedern des im 12. Jahrhundert lebenden Troubadours Jaufré Rudel beruht, in eine zeitgenössische Form. Ihre stetige Suche nach Antithesen finden in dieser Oper, in der es um die Gegensatzpaare Heimat-Exil, Orient-Okzident, Nähe-Distanz, Leben-Tod, Diesseits-Jenseits, EkstaseMelancholie, Starre-Lebendigkeit, Traum-Wirklichkeit u.a. geht, einen fruchtbaren Boden. Charakteristisch für ihren Kompositionsstil ist neben der sogenannten Harmonie-Klangfarbe als zugrundeliegende Basis das Auffächern, Zerlegen, Verwandeln, Verdichten und Ausdünnen des Klanges. Saariaho versucht die Emotionen, das verborgene Seelenleben, tiefsitzende Gedanken und unbewusst ablaufende Prozesse der drei Figuren auf einer musikalisch-klanglichen Ebene auszudrücken. Die Analyse und Betrachtung dieser musikalischen Gestaltung sowie deren enge Verzahnung mit dem Text beweist Saariahos kompositorische Meisterleistung und erklärt den Erfolg ihrer doch für den klassischen Rezipienten auf den ersten Höreindruck „unkonventionell“ anmutenden Musik. Abstract In search of secret inner life: L’amour de loin. Orient-Occident, home-exile, dream-reality. Harmonic-timbre and musical-aesthetic description of the antitheses in Kaija Saariaho’s first opera L’amour de loin, the acclaimed first opera of the Finnish composer Kaija Saariaho, who has lived for more than thirty years in her self-elected exile Paris, had its debut performance on the 15th of august 2001 at the Salzburger Festspiele. In the meantime she has become one of the most famous contemporary composers, whose works are performed in the biggest operas and theatres of the world. L’amour de loin, the “Love from afar”, is of great importance in her oeuvre as she is one of the very few artists in the 21st century, who dare to compose this complex form of musical work. The opera is based on a medieval plot, the vida and the lyrics of the French troubadour Jaufré Rudel, arranged by the Lebanese author Amin Maalouf. Saariahos permanent search for contradictions is satisfied in this opera by the antithetic topics like home-exile, Orient-Occident, closeness-distance, life-death, this world-hereafter, euphoria-melancholy, numbness-vitality, dream-reality etc. Her composition style, based on the harmonic-timbre, is characterized by expanding, deconstructing, metamorphosing, compacting and fragmenting the sounds. Saariaho tries to express emotions, the inner life, deep-rooted thoughts and unconscious processes of the three figures in a musical way. The analysis of the compositional creation and its close links to the text proves Saariahos extraordinary talent and the success of her masterstroke among the audience of classical music. Inhaltsverzeichnis 1. EINLEITUNG ........................................................................................................................ 1 2. LEBEN UND WERK DER KOMPONISTIN UND DES LIBRETTISTEN....................................... 4 2.1. Kaija Saariaho........................................................................................................................... 4 2.2. Amin Maalouf........................................................................................................................... 9 2.3. Heimat – Exil: Eine starke Verbindung zwischen Saariaho und Maalouf.............................. 14 3. REZEPTIONSGESCHICHTE ................................................................................................. 17 4. DIE HISTORISCHE FIGUR DES TROUBADOURS UND KREUZRITTERS JAUFRÉ RUDEL: SEIN EINFLUSS AUF DIE LYRIK UND DER ZUSAMMENHANG ZU OPERN DES 18. - 21. JAHRHUNDERTS ................................................................................................................ 22 4.1. Biografie ................................................................................................................................. 22 4.2. Fin’amor – das Liebeskonzept der Troubadours .................................................................... 23 4.3. Die Legende des Troubadours Jaufré Rudel ........................................................................... 26 4.4. Lanqand li jorn son lonc en mai – Wenn die Tage lang sind, im Mai .................................... 28 5. FASZINOSUM ORIENT UND OKZIDENT: „AMOR DE LOING“ IN LYRIK UND MUSIK......... 32 5.1. Claudio Monteverdis Combattimento di Tancredi et Clorinda .............................................. 34 5.2. Heinrich Heines Ballade: Geoffroy Rudèl und Melisande von Tripolis ................................. 35 5.3. Wolfgang Amadeus Mozarts Entführung aus dem Serail ...................................................... 37 5.4. Wolfgang Amadeus Mozarts Zauberflöte .............................................................................. 38 5.5. Richard Wagners Tristan und Isolde ...................................................................................... 39 5.6. Tausendundeine Nacht Musik: Nikolai Andrejewitsch Rimsky-Korsakovs Scheherazade ... 40 6. DIE OPER L’AMOUR DE LOIN............................................................................................. 42 6.1. Vorbereitende und hinführende Werke auf die Oper L’amour de loin ................................... 45 6.2. Libretto: Die interkulturelle Dimension der wahren Liebe .................................................... 48 6.3. Form und Instrumentarium ..................................................................................................... 52 6.4. Inhalt ....................................................................................................................................... 54 6.4.1. 1. Akt ................................................................................................................................... 54 6.4.2. 2. Akt ................................................................................................................................... 55 6.4.3. 3. Akt ................................................................................................................................... 56 6.4.4. 4. Akt ................................................................................................................................... 57 6.4.5. 5. Akt ................................................................................................................................... 58 7. KOMPOSITIONSSTIL KAIJA SAARIAHOS........................................................................... 59 7.1. Auf der Suche nach Gegensatzpaaren .................................................................................... 59 7.2. Graphische Notizen ................................................................................................................ 61 7.3. Rhythmus ................................................................................................................................ 62 7.4. Aller Anfang ist der Einzelton: Metabolismus als kompositorisches Grundprinzip .............. 64 7.5. Harmonie-Klangfarbe – ein kompositorisches Charakteristikum........................................... 64 8. MUSIKALISCHE TOPOI BEI KAIJA SAARIAHO: ZU DEN EMOTIONALEN UND ...................... ÄSTHETISCHEN KOMPONENTEN IN DER OPER L’AMOUR DE LOIN ................................... 69 8.1. Ouvertüre – „Traversée“: Eine Miniatur des musikalischen Dramas ..................................... 70 8.2. Musikalische Charakteristika der Figur Jaufré Rudel ............................................................. 73 8.3. Musikalische Charakteristika der Figur Clémence ................................................................. 74 8.4. Musikalische Charakteristika der Figur des Pilgers ............................................................... 75 8.5. Das Lautenspiel Jaufré Rudels................................................................................................ 77 8.6. Wut – Angst – hoffnungsvolle Liebessehnsucht des Troubadours: Ein Spiel mit den Emotionen...................................................................................................................................... 80 8.7. Der Pilger: Ein ewig umherreisender Vermittler zwischen zwei Liebenden sowie den Kulturen des Okzident und Orient ................................................................................................. 86 8.8. Clémence: Die im Exil lebende Entwurzelte .......................................................................... 90 8.9. Traum...................................................................................................................................... 96 8.10. Sturm .................................................................................................................................. 100 8.11. Konstruktion und De-Konstruktion des idealen Frauenbildes Jaufré Rudels ..................... 102 8.12. Sterbeszene ......................................................................................................................... 106 9. ZUSAMMENFASSUNG ....................................................................................................... 112 10. LITERATURVERZEICHNIS ............................................................................................... 116 1. Einleitung ...ich komponiere, also bin ich... Dieser Tagebucheintrag 1 stammt von Kaija Saariaho, einer der bekanntesten lebenden Komponistinnen des 21. Jahrhunderts. Wie eng das Komponieren – für sie mitunter eine hauptberufliche Tätigkeit – mit ihrer Identität, ihren Gefühlen, ihren Empfindungen, ihren Gedanken und ihrer Individualität zusammenhängt, wird durch diese fünf Worte zum Ausdruck gebracht. Saariaho, deren aktive Kompositionszeit mittlerweile vierzig Jahre (inklusive Studienzeiten) andauert, hat den schwierigen Weg innerhalb der musikalisch-künstlerischen Bewegungen, Entwicklungen, Umformungen und den damit verbundenen technologischen, stilistischen und soziokulturellen Veränderungsprozessen in grandioser Weise gemeistert. Ihre mitunter für den ,klassischen‘ Hörer auf den ersten Höreindruck ungewohnt wirkenden und avantgardistisch anmutenden Werke werden in den berühmtesten Musikkulturzentren wie Wien, Salzburg, Amsterdam, London, Berlin, Paris u.a. in den großen Opern- und Theaterhäusern zur Aufführung gebracht. Saariaho ist in ihren Kompositionen stets auf der Suche nach jenem Klang, der tiefliegende Gefühle, innere Prozesse, unbewusste Elemente, verborgene Gedanken und das Seelenleben des Menschen musikalisch auszudrücken und widerzuspiegeln vermag. In ihren Kompositionen vereint sie je nach Besetzung den Klang sämtlicher Orchesterinstrumente mit dem erweiterten Percussionsinstrumentarium (die Erweiterung bezieht sich vor allem auf außereuropäische Instrumente, wie chinesische Zimbeln u.a.), mit unterschiedlichen (alten und neuen) Sprachen und Stimmcharakteren sowie elektronisch generierten Klang- und Distributionsverfahren. Die aus Finnland stammende und seit über dreißig Jahren im ,Exil‘ – in Paris – lebende Komponistin hat mit ihrer ersten Oper L’amour de loin, uraufgeführt im August 2000 bei den Salzburger Festspielen, die große Opernform gewonnen und sich spätestens damit in der internationalen Musikszene einen Namen gemacht. Dem Werk L’amour de loin wurde in der bisherigen musikwissenschaftlichen Forschung noch nicht die angemessene Bedeutung eingeräumt – vor allem der Fokus auf die Konnexion zwischen Inhalt, den darin liegenden Emotionen und der musikalischen Gestaltung wurde 1 Kaija Saariaho, In der Musik, über die Musik, in die Musik hinein. Tagebuchblätter, in: MusikTexte. Zeitschrift für neue Musik, Nr.110, hg. von Ulrich Dibelius u.a., Köln 2006, S. 32. 1 bisher noch wenig Beachtung geschenkt. Ziel dieser Arbeit ist es demnach, diese Zusammenhänge herauszuarbeiten und anhand entsprechender musikalischer Beispiele und den diesen zugrundeliegenden Libretto-Stellen zu veranschaulichen. Da – wie das eingangs erwähnte Zitat von Saariaho zeigt – die Musik und die zugrundeliegende Geschichte immer etwas mit ihrer Person zu tun haben, wird im zweiten Kapitel der Biografie der Komponistin viel Platz eingeräumt. Auch der Librettist Amin Maalouf, dessen persönliche Lebensgeschichte eng mit dem Thema Orient-Okzident und Heimat-Exil verbunden ist, bekommt an dieser Stelle viel Raum. Nach einem kompakten Überblick über die Rezeptionsgeschichte dieses Werkes im dritten Kapitel bezieht sich das folgende auf die historische Figur des Jaufré Rudel aus dem 12. Jahrhundert, der als französischer Troubadour aufgrund seiner außergewöhnlichen Liebesgesänge und seiner Biografie in die Geschichte einging. Um die Oper in ihrer Symbolhaftigkeit zu verstehen und interpretieren zu können, ist es wichtig, das troubadoureske Liebeskonzept der „fin’amor“ näher hinterfragt zu haben – auch das unter anderem der Oper zugrundeliegende Gedicht Jaufré Rudels, Lanqand li jorn son lonc en mai, findet an dieser Stelle Beachtung. Eines der Bilder, mit dem die Suche nach dem verborgenen Seelenleben nach außen getragen wird, ist ein Jahrtausende altes Thema: Die Beziehung, Abwendung, Interesse, Belagerung und Bekämpfung zwischen dem Orient und dem Okzident. Diese magische Anziehung hat nicht nur in der (sozial- und kulturkritischen) Geschichtsfachliteratur und Belletristik große Bearbeitung gefunden, sondern auch die abendländische Musik – vor allem jene des 18. und 19. Jahrhunderts – hat die Klänge und Märchen des Orients aufgenommen. Einige musikalische Beispiele werden in dem fünften Kapitel besprochen. Das sechste Kapitel widmet sich den vorbereitenden Kompositionen Saariahos, dem Inhalt und dem Libretto der Oper L’amour de loin. Der Kern dieser Arbeit stellt das siebente und achte Kapitel dar: Saariahos Kompositionsstil sucht seinesgleichen – die klangliche Umsetzung spezifischer Stimmungen, Peripetien und Entfaltungen mittels Mikrotonalität, schwebenden Streicher- und Bläserklängen, elektronischen Filtern und Naturgeräuschen in Verbindung mit diatonischem Material lassen langsame Wechsel, metabolische Prozesse und offene Schlüsse zu. In der Geschichte der Oper L’amour de loin geht es weniger um eine spannungsgeladene, schnell fortschreitende Handlung mit aktiven äußeren Impulsen, sondern dieses ,musikalische Märchen‘ erhält seine Lebendigkeit und Spannung durch die emotionalen Prozesse (Wut, Aggression, Traurigkeit, Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, Angst, Liebe,...) und das 2 verborgene Seelenleben der drei auf engste in Verbindung stehenden Figuren. Wenn man sich Saariahos persönliches Ziel ihrer Arbeit vor Augen hält, nämlich tiefsitzende Gefühle, unbewusste Anteile und nicht ausgesprochene Gedanken des einzelnen Menschen musikalisch darzustellen und auszudrücken, scheint die Geschichte von der Liebe aus der Ferne geradezu ideal für Saariahos musikalisches Denken geschaffen zu sein. Zugunsten einer leichteren Lesbarkeit wird auf die parallele Anwendung der männlichen und weiblichen Schreibformen verzichtet, sondern ausschließlich weibliche Endungen (zum Beispiel „Komponistinnen“) verwendet. Diese Schreibweise schließt selbstverständlich männliche Personen nicht aus. 3 2. Leben und Werk der Komponistin und des Librettisten 2.1. Kaija Saariaho Musik ist meine Art, mich dem Göttlichen zu nähern. Ich versuche, in die Tiefen unserer Existenz zu schauen.2 Kaija (Anneli) Saariaho3 wurde am 14. Oktober 1952 in Helsinki geboren. Da Saariaho immer wieder bereit war, in Form eines dialogischen Interviews von ihrem Leben, ihrem Werdegang als Komponistin und ihrer Musik zu erzählen, erscheint es für den Leser am lebendigsten, ihre persönlichen Worte in diesem Zusammenhang zu „hören“ bzw. zu lesen. Saariaho zeigt in musikalischen oder persönlichen Belangen Authentizität: Die folgenden Übersetzungen4 aus einem Interview, das Tom Service mit Saariaho geführt hat, sollen nicht nur biografische Informationen liefern, sondern vor allem einen Einblick in jene Erfahrung bieten, die so viele Interviewpartner in der Begegnung mit ihr mach(t)en: Saariaho, – eine der bekanntesten lebenden Komponistinnen – deren Musik von Wärme und Sensibilität durchströmt ist und zugleich vor immenser Kraft sprüht, scheint ein Spiegel ihrer Musik zu sein – oder umgekehrt. Sie ist zurückhaltend, höchst aufmerksam, vielmehr einen Freiraum als eine Distanz vom Gegenüber fordernd und in höchstem Maße präsent – „ihre Musik ist ihr 2 Zitat von Kaija Saariaho, online verfügbar unter Zander, Margarete: „Ich möchte nicht elitär sein“ Die finnische Komponistin Kaija Saariaho ist „composer in residence“ von KLANG! http://www.klanghamburg.de/die-projekte/composer-in-residence/kaija-saariaho-0809/ (Datum der Einsichtnahme für alle Internetangaben: 14.8.2013) 3 Portrait von Kaija Saariaho online verfügbar unter http://www.klang-hamburg.de/die-projekte/composer-inresidence/kaija-saariaho-0809/ 4 Tom Service, Meet the Composer. Kaija Saariaho in Conversation with Tom Service, in: Kaija Saariaho: Visions, Narratives, Dialogues, hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S. 3-14. Diese Übersetzungen stammen von der Autorin dieser Arbeit. Ferner wurden für diesen Biografieabschnitt weitere Informationen aus folgender Quelle entnommen: Sanna Iitti, Art. Saariaho, Kaija (Anneli), geb. Laakkonen, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik begründet von Friedrich Blume. Zweite, neubearbeitete Ausgabe, hg. von Ludwig Finscher, Kassel u.a. 2005, Personenteil Bd. 14, Sp. 733-737. 4 Leben und ihr Leben ist ihre Musik, das eine das andere schaffend, beides verbunden durch ein sozusagen organisches Band“5. Saariahos Eltern stammen aus armen Familien aus dem östlichsten Teil Finnlands. Ihre Mutter bleibt bei den drei Kindern (Saariaho hat eine jüngere Schwester und einen älteren Bruder), während der Vater in der Metallindustrie arbeitet. Ihre Herkunftsfamilie hat wenig Bezug zur Musik, daher ist sie Saariahos „eigene“ Sache, ihr eigenes Universum – es gibt daher niemanden, der sie in dieser Lebensphase musikalisch leitet. Als Kind hört sie die Musik aus dem alten Radio ihrer Eltern, aber in der Nacht – so glaubt sie – eine andere Musik aus ihrem Polster zu hören. Das sensible Kind bittet oft die Mutter, diesen „Polster doch abzuschalten“, da sie ob der Musik in ihrem Kopf nicht schlafen kann. In einem schönen Sommerhaus in Karelia bekommt Saariaho erstmals Musik von Johann Sebastian Bach zu hören und ist fasziniert von dieser Musik inmitten der Natur. Dieser Namen sollte ihr im Gedächtnis erhalten bleiben und in der Rudolf Steiner Schule, in der sie Deutsch lernt, erfährt sie, dass Bach „kleiner Fluss“ heißt – sie findet das wundervoll und so unglaublich korrespondierend zu dem, was sie sich beim Hören seiner Musik vorstellt. Saariaho beginnt als Kind Violine zu lernen, jedoch fühlt sie sich aufgrund der Inkompetenz ihres damaligen Lehrers sehr verloren. Im Alter von 12-13 Jahren beginnt sie, alleine Konzerte in Helsinki zu besuchen – das ist ihr „persönliches Abenteuer“. Der Musikbann bleibt die folgenden Jahre ungebrochen und sie hört alles, was es zu hören gibt („alle“ Musik, die es auf LPs in Helsinki zu kaufen gibt). Auch Dieter Schnebels Musik ist darunter. Saariaho spricht in den Interviews oftmals ihre fehlende kulturelle Prägung bzw. Erfahrung an. Sie war (ist) ein sehr scheuer Mensch. Sie lernt zwar Klavier am Konservatorium in Helsinki, fühlt sich aber, ähnlich wie bei der Violine ein paar Jahre zuvor, nicht wohl damit – auch die notwendigen Prüfungen werden zwar mehr oder weniger erfolgreich absolviert, jedoch empfindet sie sich nicht gut und kompetent im Musizieren. Das macht sie noch unsicherer in ihrem Selbstgefühl. Sie hat zwar zu dieser Zeit bereits die Vision und ein echtes Bedürfnis, sich musikalisch auszudrücken, aber nachdem sie eine „schlechte“ Instrumentalistin ist, geht sie davon aus, dass sie als Komponistin noch schlechter wäre. Sie erinnert sich immer wieder daran, über Mozart gelesen zu haben, der schon alles in ihrem Alter konnte und schließt daraus, das Komponieren nie zu schaffen. Das Gefühl, dass die Musik viel zu wichtig ist, als dass sie – eine kleine unscheinbare Person – diese „anpatzen“ und „schmutzig“ machen dürfe, manifestiert sich. Sie glaubt, das Talent nicht zu haben. Mit 9 oder 10 Jahren beginnt sie zwar 5 Anne Grange, Kaija Saariaho: Esquisse d’un portrait (Kaija Saariaho: Ein Versuch eines Portraits), ins Deutsche übersetzt von Gerda Gensberger, in: Kaija Saariaho/Amin Maalouf: L’amour de loin, Programmheft der Salzburger Festspiele, Salzburg 2000, S. 12. 5 am Klavier selbst komponierte Lieder zu spielen – doch ihre Mutter ist äußerst irritiert ob des nicht zarten, weichen („smoothly“) Klangs und fragt sie, warum sie denn nicht die Musik spielt, die sie zu spielen habe? Also lernt sie mit 13 Jahren auch Gitarre, da sie dieses Instrument (unbemerkt) in ihrem Zimmer spielen kann – aus dieser Zeit stammt ihr erstes Stück Yellow and Nervous. Es ist sehr interessant, dass sie offenbar bereits in diesem (jungen) Alter im Titel des Musikstücks den Charakter (sie ist immer auf der Suche nach dem Charakter in der Musik) und die Farbe sucht und findet. Die Wahrnehmung der Farbe ist bei Saariaho immer präsent. Mit der Zeit beginnt sie, sich selbst auszudrücken, indem sie Gedichte und Lieder schreibt. Die Unsicherheit versuchte sie durch die scheinbare Sicherheit in Form von äußerer Schönheit zu erhalten. Aber das äußere Selbstbewusstsein stärkt nicht das innere. 1972, mit 18 Jahren, heiratet sie den Architekten Markku Saariaho, um weg von ihren Eltern zu kommen. Obwohl sie anfangs denkt, es sei die wahre Liebe, findet sie sich schon bald in einem anderen Gefängnis wieder. Die Ehe zerbricht nach kurzer Zeit, weitere Liaisons mit einem Maler und einem berühmten finnischen Künstler folgen. Diese Zeit ist Saariaho als besonders schwer und mit viel Schmerz belastet in der Erinnerung. Die Studienzeit beginnt 1972: Sie studiert bis 1974 an der Hochschule für industrielle Kunst und Design sowie Musikwissenschaft an der Universität in Helsinki. 1976 folgt der Entschluss, die Sibelius Akademie zu besuchen – eine Entscheidung, die ihr Vater nicht goutiert und das Leben seiner Tochter damit als ruiniert betrachtet.6 Doch Saariaho hält an diesem Weg fest: sie studiert von 1976 bis 1981 Komposition bei Paavo Heininen an der Sibelius-Akademie und setzt ihre Ausbildung in Deutschland fort7. Dort wird sie an der Freiburger Musikhochschule von Persönlichkeiten wie Brian Ferneyhough und Klaus Huber, die zwar „knorrig“ und selbstbewusst ihren eigenen Mythologien folgen, aber in ihren Schülern die selbstständigen Impulse nicht unterdrücken, unterrichtet. Saariahos Haltung gegenüber ihrem Lehrer Ferneyhough ist auf ihre Weise eindeutig: Obgleich seine Musik sie fasziniert, hat sie nie das Gefühl, ein Vorbild in ihm entdeckt zu haben. Saariaho empfindet Widerstand gegen dessen zu komplizierten Aufbau, Vertauschungen und versteckten Strukturen, die nur aus einer Analyse heraus nachvollziehbar sind 8 . In Frankreich orientiert sie sich schließlich – bei aller Bewunderung für die 6 Tom Service, Meet the Composer. Kaija Saariaho in Conversation with Tom Service, in: Kaija Saariaho: Visions, Narratives, Dialogues, hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S. 3-6. 7 Liisamaija Hautsalo, Die Sehnsucht nach dem Transsensuellen, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin. Begleitheft der DVD, München 2005, S.13. 8 Pierre Michel, „Musique pour les oreilles“. De „Korvat auki“ à „Château de l’âme“ („Musik zum Hören“. Über Kaija Saariahos Werk. Von „Korvat auki“ zu Château de l’âme), ins Deutsche übersetzt von Gerda Gensberger, in: Kaija Saariaho/Amin Maalouf: L’amour de loin, Programmheft der Salzburger Festspiele, Salzburg 2000, S. 20. 6 Spektralisten Tristan Murail und Gérard Grisey, die Spuren in ihrem Oeuvre hinterlassen – doch stärker an einem Künstler aus der Ferne, dem Literaten Amin Maalouf.9 1982 lässt sie sich in Paris nieder und findet im IRCAM („Institut de Recherche et Coordination Acoustique et Musique“), dem berühmten Zentrum für zeitgenössische Musik, den richtigen Ort, um sich musikalischen Parametern zu widmen, die in der konventionellen tonalen Musik eher als zweitrangig gelten. Die Klangfarbe, die sie in weiterer Folge zur französischen Spektralmusik führt, zählt wohl zu den Idiomen in Saariahos musikalischen Werken. Ferner fasziniert Saariaho stets die Spannung zwischen Klang und Geräusch – für sie ein Äquivalent zu Konsonanz und Dissonanz.10 Im IRCAM arbeitet Saariaho mit den ihr zur Verfügung stehenden Computern, was zunächst zur Folge hat, sich immer mehr von dem Einbezug der menschlichen Stimme zu entfernen. Dennoch bemerkt sie, dass synthetische Klängen langweilig werden, wenn man sie nicht beständig variiert – diese Entdeckung führt zurück zur intensiveren Beschäftigung mit der menschlichen Stimme. Dieses dem Menschen von Natur aus gegebene ausgestattete Instrumentarium zeichnet sich durch eine ständige, ununterbrochene Variation und Modulation aus. Aus diesem Erkenntnisprozess heraus beginnt Saariaho, sich auf die Partialtöne der Stimme, sowie einzelner Instrumente (beispielsweise analysiert sie den Ton des Violoncellisten Anssi Karttunen oder der Flötistin Camilla Hoitenga) zu konzentrieren. Aus dieser Forschungszeit ergeben sich für Saariaho drei wesentliche Punkte im Hinblick auf die nachfolgenden Kompositionen: (1) Das Vibrato der Stimme und der Druck eines Violoncello-Bogens wird zu den die Struktur bestimmenden Faktoren. (2) Der Computer wird mit Material versehen, das nicht unmittelbar gegeben ist und deshalb auch nur das Resultat erbringt, das in seinen Möglichkeiten liegt. (3) Die Live-Elektronik wird zu einem effizienten Mittel, die von Musiker hervorgerufenen Töne wirkungsvoll zu verändern, um dadurch zu neuen Resultaten zu kommen.11 Saariaho nutzt zwar die Computer-Programme, aber sie weiß, die Technologie, die Maschine, kann nur das zurückspielen, was man in sie hineingibt – die Maschine kann demnach nicht 9 Hans-Klaus Jungheinrich, Facetten einer Identität. Annäherungen an Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 16-17. 10 Liisamaija Hautsalo, Die Sehnsucht nach dem Transsensuellen, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin. Begleitheft der DVD, München 2005, S. 13. 11 Theo Hirsbrunner, Kaija Saariaho – von der Peripherie ins Zentrum, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 30-31. 7 komponieren, sie kann es nicht besser machen. Saariaho ist es immer besonders wichtig, dass sie und nicht die Maschine komponiert. Sie selbst will komponieren und etwas Komplexes und Wundervolles schaffen – das sollte nicht die Technik übernehmen. Harmonie, Textur und Klangfarbe – diese Dinge sind im Herzen ihres musikalischen Denkens. Die Herausforderung liegt in dieser intensiven Zeit der Beschäftigung und Analyse des Klanges darin, genug Handwerkszeug und Erfahrung zu haben, um dieses Denken, diese Ideen, in Musik und musikalische Notation zu übersetzen – ein schwerer kompositorischer Prozess, der mit harter Arbeit verbunden ist. Als sie jedoch die zugrundeliegenden intellektuellen Werkzeuge gefunden hat, um sich selbst für die Musik zu öffnen, empfindet sie sich reif, diese Art von Musik (große Werke) zu schreiben. Einen besonderen Meilenstein stellt in diesem Zusammenhang ihr erstes Werk für großes Orchester: ...à la fumée, ein neunzehnminütiges Stück für Altflöte, Violoncello und Orchester dar. Es verbindet und beinhaltet all ihre damaligen Ideen betreffend musikalische Form, Evolution und Transformation. Dieses Werk markiert Ende und gleichzeitig Anfang einer neuen Kompositionsperiode. Sie fühlt sich nun bereit, nicht mehr in linearen Transformationen zu denken, sondern sucht nach dramatischen Lösungen und Situationen für ihre Musik. Wichtig für diesen Prozess ist die intensive Zusammenarbeit mit Solisten. Sie komponiert für den Violinisten Gidon Kremer und lernt in dieser Zeit Dawn Upshaw, jene Sopranistin, der sie nicht nur einige Werke widmen sollte, sondern den Gesangspart der Figur der Clémence in der Oper L’amour de loin speziell auf ihre Stimme (einer äußerst „biegsamen“ Stimme12) und den ihr zugrundeliegenden charakteristischen Eigenschaften abstimmt, kennen. Damit ergibt sich eine neue Herausforderung in der kompositorischen Weiterentwicklung: Musik für diese großartigen Instrumentalistinnen und Sängerinnen zu schreiben. Die besondere Aufgabe besteht nicht mehr darin, kompositorische Werkzeuge für sich selbst zu konstruieren, sondern diese für andere als durchführbar zu kreieren. Alle Werke, die speziell für einen Solisten geschrieben sind, haben etwas ganz Persönliches von diesem Musiker oder dieser Sängerin. Diese Werke werden – manchmal mehr, manchmal weniger – Portraits dieser Menschen.13 Zeitgleich zu dieser für die Manifestation des Genres Oper in Saariahos Schaffen so wichtige Entdeckung, etabliert sich die Ausnahmekomponistin in den musikkulturellen Zentren Wien und Salzburg. Die Verleihung besonderer Auszeichnungen und Preise lässt daraufhin nicht lange auf sich warten: 2003 gewinnt Saariaho den Grawemeyer Award of 12 Siehe dazu auch die Ausführungen in: Theo Hirsbrunner, Kaija Saariaho – von der Peripherie ins Zentrum, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 3536. 13 Tom Service, Meet the Composer. Kaija Saariaho in Conversation with Tom Service, in: Kaija Saariaho: Visions, Narratives, Dialogues, hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S. 11-12. 8 Music Composition 14 für ihre erste Oper L’amour de loin. Mit L’amour de loin ist das Gefühl verknüpft, dass alles, was sie bisher geschrieben hat, in diesem Werk vorhanden ist. All das Material, ihre Suche nach Harmonie, nach Textur – „alles von allem“ war darin. Damit markiert diese Oper wieder einen wichtigen End- und Startpunkt in ihrer kompositorischen Biografie. Dies zeigt sich in dem Flötenkonzert Aile du songe, jenem Werk, das nach der ersten Oper entsteht: Es besticht durch Klarheit, formale Freiheit und neue Ausdruckskraft. Saariaho ermöglicht der Solistin in diesem Solokonzert mehr Freiheit als in allen anderen zuvor. Auch verzichtet sie auf elektronische Verfahren, wodurch sich für die Instrumentalistin keine zeitlichen Einschränkungen mehr ergeben.15 2.2. Amin Maalouf Amin Maalouf16 wird am 25. Februar 1949 in Beirut in Libanon in eine Journalistenfamilie mit arabischem und gleichzeitig christlichem Hintergrund hineingeboren. 17 Die andauernden Kämpfe in Beirut, die damit verbundene permanente Angst und Perspektivenlosigkeit zwingen ihn und seine damals schwangere Frau, die ruinierte Stadt zu verlassen. 1976 fliehen beide nach Paris, einer Stadt, die ihn und seine Familie freundlich aufnimmt. Die schriftstellerische Laufbahn Amin Maaloufs beginnt schon 1971 in Libanon – als Journalist einer Beiruter Tageszeitung. Als er nach Paris flüchtet, hat er sich in diesem Metier bereits etabliert und bekommt sogleich die Möglichkeit, für das Magazin Jeune Afrique nicht nur Auslandsreisen in über sechzig Länder zu unternehmen, sondern ebenfalls die Funktion des Chefredakteurs innezuhaben. Parallel zu den journalistischen Schreibtätigkeiten nimmt das Bedürfnis, sich dem literarischen Schreiben zu widmen, immer mehr zu. Seinen ersten Publikumserfolg erlangt er 1986 mit Léon l’Africain (Leo Africanus), einem Reisebericht aus dem 16. Jahrhundert und es folgen weitere Werke: Unter anderem die fiktiven Romanbiografien Samarcande (1988, Samarkand), Les 14 Siehe dazu auch die Onlinequelle http://grawemeyer.org/music/previous-winners/2003-kaija-saariaho.html Tom Service, Meet the Composer. Kaija Saariaho in Conversation with Tom Service, in: Kaija Saariaho: Visions, Narratives, Dialogues, hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S. 13. 16 Portrait Amin Maaloufs online verfügbar unter http://word.world-citizenship.org/wp-archive/778 17 Sämtliche die Biografie und Werke betreffende Inhalte in diesem Kapitel sind aus folgenden Quellen entnommen: Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 298-299 sowie die Onlinequelle http://aminmaalouf.narod.ru/. 15 9 jardins de lumiére (1991) und Le premier siècle après Béatrice (1992, Das erste Jahrhundert nach Béatrice). Das Buch Le rocher de Tanios (Der Felsen des Tarnios), einer Chronik des dörflichen Lebens in einem libanesischen Bergdorf des 19. Jahrhunderts, macht ihn 1993 zum Goncourt-Preisträger. Mit Les Échelles du Levant (Die Häfen der Levante) erscheint 1996 ein flammendes Plädoyer für die Verständigung zwischen Arabern und Juden im ausgehenden 20. Jahrhundert. Zu erwähnen sind ferner die historischen Romane L’homme de Mésopotamie (Der Mann aus Mesopotamien), Le retour du scarabée (Die Wiederkehr des Skarabäus) sowie Le Périple de Baldassare (2000, Die Reisen des Herrn Baldassare). Die wichtigste Publikation ist wohl Les Croisades vues par les Arabes (Der Heilige Krieg der Barbaren. Die Kreuzzüge aus der Sicht der Araber), mit dem er sich bereits 1983 einen Namen als Schriftsteller macht. Das Phänomen der Interkulturalität macht Maalouf in seinen Romanen an wiederkehrenden Themen und Motiven fest: So vereinen seine Figuren oftmals mehrere Identitäten in ihrer Abstammung und lassen sich keiner kulturellen Gemeinschaft zuordnen. Sehr oft halten sie sich im Exil auf (so wie es auch in der Oper L’amour de loin der Fall ist), sind in ihrer Heimat Außenseiter. Zahlreiche Begegnungen finden zwischen Personen unterschiedlicher Religionen oder Kulturen statt und meist werden auf den Handlungsschauplätzen interkulturelle Konflikte ausgetragen. Ein weiteres Charakteristikum für die interkulturelle Dimension ist jenes der Reise (dies ist zentral in der Saariahos Oper). Der Großteil der Maaloufschen Protagonistinnen pendelt zwischen verschiedenen Welten (Orient und Okzident, Nord- und Südufer des Mittelmeeres) hin und her. Die Fahrten zum jeweils anderen Ende werden meist mit dem Schiff bestritten und diese Fahrten symbolisieren immer einen besonderen Wendepunkt im Leben der Protagonistinnen.18 In allen Werken konzentriert sich Maalouf darauf, zu zeigen, wie seine Protagonistinnen als Einzelpersonen ihre multiple Identität integrieren oder sich in Gesprächen dem fremden Anderen nähern 19. Ferner haben sie folgendes gemeinsam: Sie gehen auf zeitliche, geschichtliche, geografische und politische Aspekte den Orient und Okzident betreffend ein. Die kulturelle und ökonomische Spaltung in einen „orientalischen“ Osten und einen „europäischen“ Westen und das Gemisch aus Fakten und Bildern sowie die Komplexität auf der einen Seite und die Einseitigkeit auf der anderen Seite sind dabei von zentraler Bedeutung. Das Erforschen der Ursachen dieser 18 Beate Burtscher-Bechter, Die wahre Liebe und nichts als die wahre Liebe? Zur interkulturellen Dimension in Amin Maaloufs Libretto zu L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 40-41. 19 Beate Burtscher-Bechter, Die wahre Liebe und nichts als die wahre Liebe? Zur interkulturellen Dimension in Amin Maaloufs Libretto zu L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 48. 10 soziokulturellen Spaltungen, der Möglichkeiten der gegenseitigen Bereicherung dieser Welten, ihrer Unterschiede sowie Ähnlichkeiten inspiriert Amin Maalouf zu subtilen Bildern, die er in seinen Romanen literarisch zu malen weiß. Die Gabe seiner Erzählkunst führt ihn 1985 zum Entschluss, sich ausschließlich als freischaffender Autor dem Schreiben zu widmen. Maalouf liegt es besonders am Herzen, einen Gegenpol zum Denken in Nationen und nationalen Identitäten zu schaffen – Traditionen des Austauschs, der Urbanität, des flexiblen Umgangs mit dem Fremden zählen für ihn zu entscheidenden offenen Verhaltensweisen. Grenzziehungen, Druck, Intoleranz, mangelnder sozialer Raum für Selbstkritik und konstruktiven Austausch führen zu menschlicher, sozialer und kultureller Destruktion. Maalouf sieht gerade den Westen durch seine Überheblichkeit anderen gegenüber und die starre Ausgrenzung ganz nach dem antiken Konzept „Wir und die Barbaren“ charakterisiert. Dem entgegen wirken kann der Umgang mit vielen Sprachen, mit Menschen unterschiedlicher Herkunft und den Religionen, wobei Maalouf immer wieder auf die westliche Konstruktion des Orients Bezug nimmt: Es ist offensichtlich, [...] dass die weltweite Zirkulation von Bildern und Ideen, die immer schwindelerregendere Ausmaße annimmt und offenbar von niemandem mehr kontrolliert werden kann, unsere Kenntnisse, Verhaltensweisen und Ansichten fundamental und in – zivilisationsgeschichtlich betrachtet – sehr kurzer Zeit verändern wird. Ebenso grundlegend wird sie wahrscheinlich unsere Selbstwahrnehmung sowie Zugehörigkeiten und unserer Identität verändern. Wahrnehmung unserer 20 Dass sich Amin Maaloufs Interesse, sich mit den Fragen der Identität des Menschen zu beschäftigen, in all seinen Werken widerspiegelt, ist auf die Lebenserfahrungen und Lebensumstände in seiner Kindheit und jungem Erwachsenenalter zurückzuführen: Soziale, kulturelle, religiöse und politische Unterschiede waren Nährboden für mitunter gewaltsame und grausame Konflikte innerhalb der Gesellschaft. Die Frage der Herkunft interessiert ihn seit seiner Kindheit, gleichzeitig hat sich aber das starke Empfinden herausgebildet, dass vermischte, viele Faktoren einschließende Identitäten keinesfalls bloß Menschen wie mich betreffen, die in exemplarisch „multikulturelle“ Situationen hineingeboren sind. Es betrifft letztlich jeden von 20 Zit. nach Christian Reder, online verfügbar unter http://aminmaalouf.narod.ru/ 11 uns. Wer hat schon eine einfache, klar abgegrenzte Identität? Wird das behauptet, wird zugleich vieles ausgegrenzt oder verdrängt.21 Maalouf betrachtet nicht nur ethnische und soziale Faktoren als ausschlaggebende Anlässe für Konflikte, vielmehr bedarf es einer tiefergehenden – der Psychoanalyse analogen – Betrachtungsweise. Das mangelnde Bewusstsein des Menschen über die Kategorienbildung „normal“ und „nicht normal“ beschäftigt ihn. Er geht dazu in einem Interview von folgender Frage aus und beantwortet sie aus einer psychologischen Sicht heraus: Aus welchen Gründen werden die kulturelle Prägung einer Person, ihr Aussehen, jedes Zeichen von Herkunft um so viel wichtiger genommen als andere Aspekte? Die Tendenz, sich auf ein Merkmal zu konzentrieren, ist sicher sehr stark; es ist aber bloß mieses Benehmen, wenn religiöse oder ethnische Zugehörigkeiten als das Dominante gesehen werden. Zugleich ist klar, dass es schwer fällt, die eigentlichen Persönlichkeitselemente wahrzunehmen. Wir schleppen unsere Prägungen mit, die jedem Beruf bestimmte Attribute zuweisen, jede Nation irgendwie charakterisieren, die Geschichte, Kriege, Animositäten zum Teil der Traditionen [deklarieren]. Langsam aber sollte klar werden, dass wir gerade dabei sind, die Phase, in der Nationen die Weltbilder – und die Bilder von Fremden – geprägt haben, zu verlassen. Sie ist genauso an Simplifizierungen gebunden wie die angesprochene Typisierung bestimmter Berufe. Es ist einfacher, das angeblich Typische […], wie ein Markenzeichen [wahrzunehmen]. Vieles oder etwas nur „halb“ zu sein, erleichtert Diskriminierungen. Wie die jeweils anderen Teile geschätzt werden, hängt vom kulturellen Kontext ab.22 Maalouf wird nicht müde, Vermittler zwischen den Kulturen zu sein. In diesem Zusammenhang muss nochmals auf sein Werk Der Heilige Krieg der Barbaren. Die Kreuzzüge aus der Sicht der Araber, also jenem, mit dem er sich als Schriftsteller etabliert hat, hingewiesen werden. Es verlangt deshalb große Beachtung, da es in einem interessanten Spannungsfeld zur Oper L’amour de loin steht, handelt es sich doch um eine Chronik – beginnend mit dem Jahr 492 nach arabischer Zeitrechnung – der blutigen Eroberung Jerusalems durch die Kreuzritter aus der Erlebenswelt der arabischen Bewohner. Maalouf verdeutlicht mit diesem Werk, dass die zweihundert Jahre andauernden Kreuzzüge ein Trauma bei den Arabern und eine epochale Erschütterung in ihrem Selbstverständnis 21 Zitat aus dem Interview zwischen Christian Reder und Amin Maalouf im Juli 2001, online verfügbar unter http://aminmaalouf.narod.ru/ 22 Zitat aus dem Interview zwischen Christian Reder und Amin Maalouf im Juli 2001, online verfügbar unter http://aminmaalouf.narod.ru/. 12 hinterlassen haben. Aus der Sicht der Araber waren die Kreuzzüge ein Beispiel für den vielleicht ersten und entscheidenden Bruch der Beziehung zwischen Orient und Okzident und können durchaus als Ursache für den jahrhundertelangen schwelenden, und immer wieder aufkeimenden Konflikt zwischen dem Christentum und dem Islam betrachtet werden. Dass dieser Bruch bis heute nachwirkt, zeigen nicht zuletzt die Ereignisse des 11. September 2001. Maalouf wendet sich in seinem Roman vor allem dem Erleben der Araber zu, die die Kreuzritter als Invasoren und Krieger und im eindringenden Abendländer, den Franzosen den „Français“ sehen. Im heutigen Sprachgebrauch der Araber, so Maalouf, werden vor allem die Franzosen als Menschen aus dem Okzident betrachtet. Damit unterscheidet sich deren Bild des Okzident von unserem: Wir (die in der westlichen, europäischen Kultur Aufgewachsenen), definieren den Okzident als den Westen (nicht ausschließlich Frankreich), während die Araber mit dem Begriff Okzident meist die französischen Eindringlinge verbinden. Umso verständlicher ist es, dass Maalouf sich in dem Libretto zur Oper L’amour de loin gerade mit der die „Français“ repräsentierenden Welt, also dem Pilger, der Gräfin von Tripolis sowie dem Kreuzritter und Troubadour Jaufré Rudel zuwendet. Dahinter liegt Maaloufs Unermüdlichkeit, sich für die Toleranz zwischen den Kulturen einzusetzen. Er fungiert mit seinen literarischen Werken, und nicht zuletzt mit der Oper L’amour de loin als (Ver)Mittler zwischen Okzident und Orient und appelliert damit – und nicht zuletzt aufgrund seiner persönlichen Vergangenheit – an die Bereitschaft zur Koexistenz mehrerer Identitäten. Andrea Oberhuber sieht, betrachtet man die persönliche und schriftstellerische Biografie Maaloufs, vier Anknüpfungspunkte für die Wiederaufnahme und Neubearbeitung des Stoffes von L’amour de loin: Erstens bietet der Libanon als zweitwichtigster Schauplatz des Geschehens einen Projektionsraum der Rudelschen Fernliebe. Zweitens eröffnet sich durch die Opposition von Orient und Okzident ein Spannungsfeld zweier Kulturen und Denkweisen. Drittens gibt es psycho-biographische Parallelen zwischen dem Schriftsteller, Historiker und Essayisten des 20. Jahrhunderts und dem mittelalterlichen Dichter, der auf der Suche nach dem „Glück auf Erden“ sein Land verlässt. Viertens birgt die Geschichte ein zeitlichkulturelles Differenzpotential, das Rolle und Status der Frau in zwei unterschiedlichen Gesellschaftssystemen über eine Zeitspanne von beinahe acht Jahrhunderten hinweg in sich birgt.23 23 Andrea Oberhuber, „Ja mais d’amor no-m jauziray/Si no-m jau d’est’amor de lonh“. Höfisches Liebeskonzept und Liebesdiskurs am Beispiel von Jaufré Rudel und seiner Reaktualisierung in Amin Maaloufs Libretto zu L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 58. 13 Dass Maalouf mit seiner persönlichen Geschichte und seinem Interesse, die Geschichte des Orients und Okzidents, die verschiedenen Kulturen und deren Begegnungen literarisch zu bearbeiten, wie geschaffen für das Schreiben des Librettos ist, wird (wenn nicht bereits an dieser Stelle) auch in den Besprechungen einzelner Szenen (siehe Kapitel 8) deutlich. 2.3. Heimat – Exil: Eine starke Verbindung zwischen Saariaho und Maalouf Wurzeln sind dazu da, dass Menschen, egal wo sie sich befinden, sich im Innersten immer verbunden fühlen: Verbunden mit den eigenen Vorfahren, verbunden mit der Natur, verbunden mit der Menschheit – transzendent betrachtet – verbunden mit dem Kosmos. Maalouf hat eine besondere, schwierige – oder vielleicht besser ausgedrückt – ambivalente Beziehung zu seinen Wurzeln. In seiner Familienchronik erklärt Maalouf, warum er Wurzeln nicht mag. Ich erlaube mir, in folgendem Zitat in eckigen Klammern nicht nur meine Sicht der Wurzeln einzufügen, sondern meine, damit ebenso Saariahos Zugang zur ,Verwurzelung‘ und vermeintlicher ,Wurzellosigkeit‘ zu vermitteln: Wurzeln graben sich in die Erde, ziehen sich durch den Morast, entfalten sich in der Finsternis; sie halten den Baum von Anfang an fest und versorgen ihn auf Kosten einer Erpressung [Symbiose]: ‹Wenn du dich losreißt, wirst du sterben!› Der Baum muss sich fügen, er braucht seine Wurzeln; der Mensch nicht [auch!]. Wir atmen Licht, wir strecken uns nach dem Himmel, und wenn wir in die Erde sinken, verwesen wir. Der Saft der Heimaterde steigt [durch unsere Nahrung] nicht durch unsere Füße nach oben, unsere Füße dienen uns einzig zum Gehen. Für uns zählen die Wege [Die Wege sind wie die Äste und Blätter des Baumes, sie eröffnen uns neue Sichtweisen, neue Perspektiven, eine ,andere‘ Luft zum Atmen]. […] Sie geben uns Hoffnung, sie tragen uns, sie bringen uns voran, schließlich verlassen wir sie. Wir sterben also, wie wir geboren wurden, am Rande eines Weges, den wir nicht ausgesucht haben.24 Maaloufs Sicht der Wurzeln, des Ursprungs des einzelnen Menschen ist angesichts der Werke, die er schreibt, in denen es vordergründig um das Finden seiner eigenen Identität geht, eigentlich verwunderlich, obwohl nicht alle seine Figuren (aber die meisten) in deren 24 Zit. nach Wolfgang Sandner, Die Kraft der Litanei. Über Kaija Saariahos erste Oper „L’amour de loin“, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 49. Dies ist der Beginn der Familienchronik Amin Maaloufs, in der er erklärt, warum „er Wurzeln nicht mag“. Im französischen Original mit dem Titel Origines und auf Deutsch Die Spur des Patriarchen. 14 Geschichte eine friedvolle und befriedigende Auflösung ihrer Suche erfahren. Betrachtet man das oben angeführte Zitat Maaloufs als eine sehr negative Sicht der menschlichen und der eigenen Wurzeln, könnte man davon ausgehen, dass er offenbar für sich noch nicht jene Hürde gemeistert hat, die so viele Figuren in seinen Romanen zu beschreiten fähig gewesen sind. Auch Maaloufs Biografie und das, was er in diversen Interviews über sich und seine Werke sagt, steht in Widerspruch zu diesem ,Baum-Wurzel-Bild‘. Das Phänomen, dass einem manches erst durch die Trennung vom Ursprung bewusst wird, ist spätestens seit dem 18. Jahrhundert bekannt. So haben Goethe und Herder, als sie in Italien weilten, nicht nur über das Land der Gastgeber, sondern auch über ihre nördliche Heimat räsoniert. Auch Ende des 19. Jahrhunderts entdecken finnische Intellektuelle und Künstler in Paris und Berlin die Idee „Finnland“ neu. 25 Die eigene Identität zu spüren wird durch die Melancholie des Heimwehs erleichtert.26 Saariaho, die in der ultramodernistischen Mitte von Paris lebt, nimmt, wenn sie über ihre Heimat Finnland spricht, vor allem auf klangliche, farbliche und auditive Besonderheiten, die sich aufgrund der klimatischen Besonderheiten zeigen, Bezug. So spricht sie über den „Klang“ Finnlands: Ich lebte bis zum Alter von 26 Jahren in Finnland. Und obwohl ich seit zwanzig Jahren in Paris wohne, bin ich eine Finnin. Wenn ich an Finnland denke, erinnere ich mich an wunderbare Veränderungen des Lichts. Alles ist markant. Der Winter ist unglaublich dunkel. Der Sommer ist berauschend. Die Natur schafft sich ihre eigene Akustik. Insbesondere im Frühjahr und Sommer. Ich bewundere diesen magischen Augenblick, wenn im Wald, nach dem Regen, sich die Vögel durch die feuchten Blätter bewegen und singen. Oder wenn es sehr kalt ist, wenn der Schnee wie feiner weicher Puder ist, es verursacht eine ganz besondere Stille. Und dann gibt es die Akustik des feuchten, schweren Schnees: Alles ist tönende Atmosphäre und hängt eng mit speziellen klimatischen Bedingungen zusammen.27 Je länger Saariaho in Frankreich verweilt, desto mehr fühle sie sich als Finnin. Damit erlebt Saariaho wohl selbst die prekäre Integration im Fremden – dennoch meistert Saariaho jenen Weg, den Maalouf offenbar noch vor sich hat: Sie erkennt ihre eigenen Wurzeln und in diesem Erkennen ist große Weiterentwicklung möglich. Dennoch stellt gerade diese Fokussierung auf die Identitätssuche, Wurzelsuche, auf das (Er)Leben im Exil, das Leben in 25 Tomi Mäkelä, Kaija Saariaho und Finnland in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 21. 26 Tomi Mäkelä, Kaija Saariaho und Finnland in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 22. 27 Tomi Mäkelä, Kaija Saariaho und Finnland in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 22. 15 einem fremden Land – auf den ersten Blick also fern von den eigenen Wurzeln zu sein – die Gemeinsamkeit zwischen Saariaho und Maalouf dar. Maalouf wird zu ihrem bevorzugten literarischen Mentor und Librettisten ihrer drei Opern L’amour de loin, Adriana Mater und Émilie. Zwei Menschen aus entfernten Weltgegenden – Saariaho aus dem Okzident auf der einen Seite und Maalouf aus dem Orient auf der anderen Seite – haben sich in Frankreich, ihrer fremden Heimat, gefunden.28 Vielleicht liegt gerade in dieser gemeinsamen Erfahrung die Kraft, dass Saariaho und Maalouf in gewisser Weise die gleiche Sprache sprechen und diese verstehen: Maalouf drückt sie in Form literarischer Texte und Saariaho in Form des Klanges aus. 28 Hans-Klaus Jungheinrich, Facetten einer Identität. Annäherungen an Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 12. 16 3. Rezeptionsgeschichte Saariaho setzt Werke in die Welt, die gleichsam aus sich heraus leuchten und durch ihr Dasein ihre Umgebung bereichern und verändern, die Rezeption herausfordern. 29 Saariaho gewinnt vom „Jahrtausendende an die große Opernform“. Die Wendung in ihrem Schaffen bedeutet „Zuwachs an Resonanz, zumal die großen Opernereignisse in Salzburg und Paris nicht öffentlichkeitswirksamer hätten in Szene gesetzt werden können.“ 30 Mitte der 1990er Jahre, als sich Saariaho in Paris im IRCAM der Analyse und Bearbeitung von Klang widmet, beginnt sie sich in der musikkulturellen Szene in Wien und Salzburg als Komponistin zu positionieren. Die Entscheidung, eine Oper zu schreiben, wird vor allem durch die Möglichkeit der künstlerischen Begegnung gestärkt. Der Entschluss, die Rolle der Clémence mit Dawn Upshaw zu besetzen, ist einer der ersten Meilensteine in der Entstehung der Oper. Für die Sopranistin hat Saariaho zu dieser Zeit bereits zwei Werke geschrieben: Château de l’âme, am 9. August 1996 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt, und Lonh, am 20. Oktober 1996 beim Festival Wien modern uraufgeführt – der Boden für das OpernGroßprojekt war somit bereitet. Gerald Finley (Jaufré Rudel) und Monica Groop (Pilger) kommen hinzu und bereichern Saariahos Kompositionsprozess mit ihren Ideen.31 Am 15. August 2000 feiert Saariahos erste Oper bei den Salzburger Festspielen in einer Koproduktion mit dem Théâtre du Châtelet, Paris und der Santa Fe Opera unter der musikalischen Leitung von Kent Nagano Premiere. Regie führt Peter Sellars32, ein im Laufe der Zeit von Saariaho sehr geschätzter US-amerikanischer Theaterregisseur. Der mittelalterliche Stoff in modernem Gewand bringt einen Großteil der „Kritik zum Schwärmen und das Publikum zum Träumen“33. Die Aufführungen in Salzburg (15., 19., 22., 27. und 30. August) sollten nicht die einzigen gewesen sein: L’amour de loin spielt im Stadttheater Bern (Premiere 13.3.2001), im Théâtre du Châtelet (16.11.-2.12.2001) und 2002 im Opernhaus von Santa Fe. Eine konzertante Aufführung findet im Frühjahr 2006 in Berlin statt, ferner in der English National Oper (2009, hier allerdings in einer absolut konträren Inszenierung). 29 Hans-Klaus Jungheinrich, Facetten einer Identität. Annäherungen an Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 16. 30 Hans-Klaus Jungheinrich, Facetten einer Identität. Annäherungen an Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 17. 31 Kaija Saariaho, Warum eine Oper – warum diese Geschichte?, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin. Begleitheft der DVD, München 2005, S. 12. 32 Weitere Informationen zur Zusammenarbeit zwischen Saariaho und Sellars siehe Kapitel 6. 33 Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 291. 17 Zur Uraufführung in Salzburg: Sellars und der Bühnenbildner George Tyspin lassen in dem kolosseumhaften Theater der Felsenreitschule die beiden durch ein Wasser (das Meer) voneinander getrennten Pole des Okzidents und Orients entstehen. Diese beiden Welten werden durch zwei hohe gläserne Türme dargestellt: auf der einen Seite (im „Westen“ – als zur linken Hand des Publikums, dessen Blick ,nördlich‘ ausgerichtet ist) steigt Jaufré Rudel mit einem Lift auf und ab, stets mit Blick Richtung Meer, auf die andere Seite, dem Osten zugewandt. Dort, im fernen Orient, auf der anderen Seite des großes Wassers, befindet sich der Turm 34 der Gräfin Clémence, die, auf der sich um die eigene Achse drehende Wendeltreppe stehend, gefangen wirkt in dieser ihr so fremden Welt. Dazwischen, in diesem zwar „leeren“ aber nicht unwesentlichen Raum, auf dem Wasser, stets der Pilger in einem gläsernen Boot unterwegs und vor den Türmen anhaltend, um seine Botschaften weiterzutragen und zu erhalten. Martin Anderson von der Cambridge University Press beschreibt die erste Oper Saariahos als „a gigantic metaphor, a comment on the nature of love, selfdeception, inspiration and illusion, human relationsships – like all important works of art, it can`t be pinned down to a single meaning. Instead, it resonates in your mind long after its two hours are up.“35 Gérard Mortier, damaliger Intendant Salzburger Festspiele, erklärt in 36 der seinem Einführungsvortrag, dass, obgleich die Oper altmodisch und naiv wirken mag, in unserer Zeit, in der Sexualität oft ohne alle Tabus in einer krudesten Weise dargestellt wird, das Bild der reinen Liebe wieder evoziert werden sollte.37 Zum außergewöhnlichen Klang Saariahos Musik äußerten sich die meisten Presse- und Kritikerstimmen positiv – die „innere Spannung“ und die Ähnlichkeit mit französischen 34 Das folgende Bild des Turmes, in dem Clémence steht, während sich der Pilger und der sterbende Jaufré Rudel auf dem Boot befinden, ist online verfügbar unter http://www.salzburgerfestspiele.at/geschichte/2000 35 Martin Anderson, London, Barbican: Saariaho’s L’amour de loin, Cambridge University Press, S. 43, online verfügbar unter http://www.jstor.org/stable/3878578. 36 Gérard Mortier war von 1991-2001 Intendant der Salzburger Festspiele. 37 Theo Hirsbrunner, Kaija Saariaho – von der Peripherie ins Zentrum, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 36. 18 Klängen Debussys werden oftmals erwähnt: Für Maria Deppermann bezieht die Musik „ihre innere Spannung aus der musikalischen Meditation, der sinnlichen Sensibilität des Klanges, der in immer neuen Teppichen ausgebreitet wird.“38 Und zum Klang: Manche Klangmosaike atmen [Debussys] Sensibilität, manche Klangflächenkomposition mag sogar an Wagners Rheingold-Töne erinnern, die auch Debussy inspirierten. Die differenzierten Klangfarben sind immer wieder versetzt mit Lebensgeräuschen, selbst mit dem Flüstern von Engeln, die sich Nachrichten zutuscheln, die an John Cage erinnern. Auch orientalische Musik klingt an. Doch nie so kraftvoll, dass sie [...] den Gegensatz und die Verbindungslinien von Orient und Okzident nachhaltig beim Hören symbolisieren.39 Wolfgang Sandner stellt den Klang der Oper in Bezug zum Meer und zum Orient: Für ihn kommen und gehen die Klänge „wie die Wellen des Meeres, Bruitismen fügen sich in den diatonischen Organismus ein. Tonkombinationen und Klangverbindungen wuchern wie in einem kompositorischen Garten Eden.“ 40 Er bezieht also auch den Garten Eden 41 – das Paradies – in seine Beschreibung der Musik Saariahos ein. Mitunter lassen sich kritische Stimmen vor allem in Bezug auf die von Saariaho oftmals erwähnte (scheinbare) Unkomplexität bzw. leichte Erkennbarkeit ihrer Musik finden. So meint Tilman Seebaß, dass, obgleich Saariaho Gespür dafür hat, was hörbar ist, ihre Musik nicht „einfach“, „unvermittelt“ erlebbar ist, sondern eine langwierige Annäherung voraus setzt.42 Besonderen Anklang findet die Stimme der Sopranistin in den Pressestimmen – dies bestätigt Saariahos Weg, die Musik Clémences speziell auf die Eigenheit der Stimme Upshaws und ihrer technischen und musikalischen Qualitäten und Fähigkeiten abzustimmen. Die Sopranistin „verleiht mit ihrer kristallenen Stimme und entrückten Erscheinung auf der Bühne der tripolitanischen Gräfin jene archetypische Aura des Weiblichen, die Fernstenliebe weckt“ 43, so Deppermann. 38 Maria Deppermann, Toteninsel und Elfenbeinturm. Zur Uraufführung der Oper L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 25. 39 Maria Deppermann, Toteninsel und Elfenbeinturm. Zur Uraufführung der Oper L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 25. 40 Wolfgang Sandner, Die Kraft der Litanei. Über Kaija Saariahos erste Oper „L’amour de loin“, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 53. 41 Ausführliches zum Garten Eden folgt in Kapitel 6.2. sowie 8.12. 42 Tilman Seebaß, Oper heute – für wen und wozu? Vor der Folie einer anregenden Vergangenheit, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 77. 43 Maria Deppermann, Toteninsel und Elfenbeinturm. Zur Uraufführung der Oper L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 23. 19 Theo Hirsbrunner beschreibt Upshaw als „singuläre Sängerpersönlichkeit“ mit folgenden Qualitäten: Dawn Upshaw ist ein Sopran, den viele Hörer als kalt empfinden könnten, wäre da nicht eine zauberische Helligkeit im sparsam eingesetzten Vibrato der äußerst biegsamen Stimme. Sie erzeugt den Eindruck einer träumerisch verspielten Kindfrau, einer Melusine oder Mélisande, wie sie Debussys Oper adäquat wäre. Das sich einer großen, pathetischen Emotion ständig Entziehende ist nicht ohne Dämonie; sie wirkt nie offen böse, könnte einem heftig Besitzansprüche Erhebenden aber dennoch gefährlich werden.44 Für Saariaho gibt es eine Differenzierung innerhalb der Pressekritiken. In einem Interview nimmt sie zu diesem Thema Stellung: Zwischen dem Erfolg ihrer drei Opern in Frankreich und den französischen Kritiken gibt es eine große Diskrepanz. Auf der einen Seite waren die drei Opern L’amour de loin, Adriana Mater und Émilie in Frankreich sehr erfolgreich, auf der anderen Seite hatte sie nie so dermaßen schlechte Kritiken, wie jene von den französischen Kritikern eingefahren. Für Saariaho ein sehr „interessanter Widerspruch“ („interesting contradiction“), da sie grundsätzlich in Frankreich sehr geschätzt würde, und sie auch viel Wärme und Respekt in der Musikwelt erfahre. Aber manche französischen Kritiker haben Probleme mit ihren Opern: Sie wollen sehr intellektuelle und moderne Opern. Ihre drei Opern handeln um große Themen wie Liebe, Krieg und Existenz. Es sei wichtig, so Saariaho, dass die Komponistin in der Oper etwas schreibt, das alle Menschen berührt. Alle ihre Opern transportieren persönliche, private Musik, mit der sie mit der inneren Welt des Zuhörers kommunizieren möchte, so, als ob die Musik ihre eigene innere Vorstellung („inner imagination“) ausdrücken würde.45 Dass Saariahos erste Oper grundsätzlich von großem Erfolg gekrönt ist, ist unter anderem auch daran zu erkennen, dass sie in den darauffolgenden dreizehn Jahren nicht nur zahlreiche internationale Preise bekam, sondern zwei weitere Opern in Auftrag gegeben wurden. Saariahos Kompositionsstil, ihre Musik ist ohne Frage für den klassischen Opernbesucher ,gewöhnungsbedürftig‘, oder besser gesagt, auf den ersten Blick bzw. Höreindruck ,ungewohnt’ und vielleicht sogar ,befremdlich‘. Saariahos Musik braucht jedoch keine unzähligen Stunden des Einhörens, geschweige denn vertiefende musikalische und musiktheoretische Analysen – nein – die Stärke in Saariahos Musik liegt vor allem in ihrer 44 Theo Hirsbrunner, Kaija Saariaho – von der Peripherie ins Zentrum, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 35. 45 Tom Service, Meet the Composer. Kaija Saariaho in Conversation with Tom Service, in: Kaija Saariaho: Visions, Narratives, Dialogues, hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S. 13-14. 20 emotionalen Qualität: Ihre Musik transportiert etwas, das unter Umständen nicht sofort begriffen, einordbar oder verstehbar, wie in den kritischen Stimmen angemerkt, jedoch fühlbar ist – und Gefühle und Stimmungen haben den Vorteil, dass sie auch ohne (musikalischen) Verstand, ohne Ratio wahrnehmbar sind. 21 4. Die historische Figur des Troubadours und Kreuzritters Jaufré Rudel: Sein Einfluss auf die Lyrik und der Zusammenhang zu Opern des 18. - 21. Jahrhunderts Die Geschichte des Troubadours Jaufré Rudel 46, die auf seiner Biografie, der sogenannten vida, seinen Gedichten, sowie anderen historischen Quellen beruht, gab Saariaho den nötigen Stoff in die Hand, um eine ganze Oper über Liebe und Tod zu kreieren.47 4.1. Biografie Über das Leben und die Person Jaufré Rudels, dem Fürst von Blaya48 (princeps de Blaia), der als Troubadour altokzitanischer Sprache in die Literaturgeschichte einging, ist wenig bekannt. Seine Lebensdaten werden in diversen Quellen unterschiedlich angegeben, jedoch wird vermutet, dass er von 1120 bis 1148 lebte. Jaufré Rudel zählt zu den bedeutendsten Troubadouren – er ist einer der ersten, dessen Musik überliefert ist. Durch sein Lied Lanqand li jorn son lonc en mai49 (Wenn die Tage lang sind im Mai) mit seinem Refrain „amor de loing“ (Liebe aus der Ferne), dessen Melodie die meist aufgeführte und aufgenommene mittelalterliche Melodie war, und durch seine abenteuerliche Biografie wurde er zu einem der gefeiertsten Repräsentanten höfischer Liebe.50 Jaufré Rudel ist ein authentischer Prinz – seine Vorfahren, die Herren von Blaya, führen ihren Titel schon in Dokumenten des 11. Jahrhunderts. Vermutlich hat er sich 1148 seinem Onkel und Lehnsherrn, den Grafen Guilhem VI. Taillafer von Angoulême, angeschlossen und ihn auf dem Zweiten Kreuzzug (1147-1149) begleitet. Die Spuren von Jaufré Rudel verlieren sich im April 1148 im nur 200 km von Tripolis entfernten Akkon, einer zu Zeiten der Kreuzzüge (11.-13. Jahrhundert) wichtigsten und schwer umkämpften Hafenstadt in Israel. Über den Beweggrund, sich den Kreuzrittern anzuschließen, herrschen unterschiedliche 46 Der Name des Troubadours Jaufré Rudel wird in den Quellen mit Akzent („Jaufré Rudel“) oder ohne („Jaufre Rudel“) geschrieben. Die Autorin hat sich für die einheitliche Schreibweise „Jaufré Rudel“ entschieden. 47 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 42-43. 48 In diversen Quellen wird diese Stadt in verschiedenen Varianten geschrieben: „Blaya“, „Blaye“ oder „Blaia“. Die Autorin hat sich für die einheitliche Schreibweise „Blaya“ entschieden. 49 In der Literatur herrscht eine Inkonsistenz in Bezug auf die Schreibweise „Lanqand“ vor. Die französische Übersetzung „Lanquan“ wird von der Autorin nicht übernommen, sondern im Sinne einer einheitlichen Schreibweise ausschließlich das originäre altokzitanische „Lanqand“ angeführt. 50 John Haines, Art. Jaufre Rudel, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik begründet von Friedrich Blume. Zweite, neubearbeitete Ausgabe, hg. von Ludwig Finscher, Kassel u.a. 2005, Personenteil Bd. 9, Sp. 963-964. 22 Auffassungen. Unter anderem wird vermutet, dass ihn die Liebe zur Gräfin von Tripolis zur Kreuzfahrt bewegt habe. Tripolis ist zu jener Zeit eine von den Grafen von Toulouse im Libanon gegründete christliche Grafschaft. Im fraglichen Zeitraum zwischen 1127 und 1152 lebt die Gräfin Odiarne mit ihrem Ehemann Raimon II. und ihrer Tochter, der Gräfin Melisenda. Der Tod in den Armen einer der beiden Gräfinnen (Odiarne oder Melisenda) ist historisch nicht belegt, allerdings auch nie widerlegt worden. Das tragische und mitunter herzzerreißende Ende des Troubadours in den Armen seiner Geliebten wird in einer Handschrift des 14. Jahrhunderts in einer Miniatur51 illustriert.52 Dass Rudel an dem Zweiten Kreuzzug (1147-1149) teilgenommen haben soll, wird im Gedicht des aus der Gascogne stammenden Jongleurs Marcabu (1129-1150) bestätigt, das dieser seinem Dichterfreund im selben Jahr mit der Widmung „A’N Jaufre Rudel oltra mar“ („An Jaufré Rudel jenseits des Meeres“) ins Heilige Land nachgeschickt haben soll. Das heroenhafte Abenteuer sichert Rudel im kulturellen Gedächtnis einen doppelten Platz: einerseits stirbt er als „Märtyrer aus Liebe“ und andrerseits als der für Gott stets bereit zu sterbende Kreuzritter.53 4.2. Fin’amor – das Liebeskonzept der Troubadours Im 12. Jahrhundert entsteht in Südfrankreich eine Singkunst, mit der die Gefühle der Liebe und Zuneigung zu einer Frau in Wort und „klingendem Ton“ auszudrücken versucht wurde. Mit Wilhelm IX. aus Aquitanien (1086-1127) wird die Kunstepoche des Minnegesangs eingeleitet. Mit Jaufré Rudels berühmtem Liebeslied an die ferne Geliebte beginnt sich die neue Liedkunst durchzusetzen. 54 Sein Werk macht auch die Komplexität in der soziokulturellen Ordnung des Mittelalters bewusst: Für Martin Diz Vidal stellt seine Person und sein Liebeslied einen Beweis dafür dar, dass der Minnesang durchaus kein Phänomen des mündlichen Vortrags von Straßenmusikern und Gauklern ist, die die unteren sozialen Schichten zu unterhalten pflegen. Auch der Einfluss der klerikalen Obrigkeit in so manch profanem Liebeslied – die Lobpreisung der Heiligen Jungfrau Maria sollte die größte Priorität im Liebeslied sein – wird überschätzt. Gerade der provenzalische Minnegesang (im 51 Siehe Abbildung 1, Kapitel 4.2. Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 292. 53 Andrea Oberhuber, „Ja mais d’amor no-m jauziray/Si no-m jau d’est’amor de lonh“. Höfisches Liebeskonzept und Liebesdiskurs am Beispiel von Jaufré Rudel und seiner Reaktualisierung in Amin Maaloufs Libretto zu L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 57. 54 Friedrich Gennrich, Troubadours, Trouvères, Minne- und Meistergesang, in: Das Musikwerk. Eine Beispielsammlung zur Musikgeschichte, hg. von Karl Gustav Fellerer, Neuausgabe, Band 9, Laaber 2010, S. 5. 52 23 geographischen Wirkungsbereich Jaufré Rudels) sowie der iberische Minnegesang nehmen zwischen 1150 und 1300 eine entscheidende gesellschaftliche Bedeutung ein: Die hier auserwählten Vertreter der Singkunst sind hochrangige Fürsten und ihre Lieder übermitteln oppositionelle Tendenzen zur kirchlichen Ordnung, beispielsweise den Umgang mit der Frau betreffend. Gerade die Liebeslieder der Minnesänger zeigen einen Mann, der gerade nicht die typisch dem Mann zugesprochenen Charaktere, wie Kraft, Ausdauer, Härte und Ratio aufweist. Neue historische und literaturwissenschaftliche Studien belegen, dass vor allem unter Malern, Musikern und Literaten des Mittelalters die Vorstellung zweier strikt voneinander getrennter Geschlechter nicht existiert. Es wird eher davon ausgegangen, dass beide Geschlechter sowohl männliche als auch weibliche Merkmale in sich tragen. In manchem befindet sich die Frau gegenüber dem Mann sogar im Vorteil: Jegliche Art körperlicher Ausscheidung (vor allem über das Blut) stellte in der mittelalterlichen Vorstellung eine Form der Seelenreinigung dar. Somit wird den Männern empfohlen, sich Blutegel auf die Knöchel zu setzen, um diesen Reinigungsprozess regelmäßig durchführen zu können. Nicht zu vergessen ist auch die Tatsache, dass es in Südfrankreich eine Reihe weiblicher Troubadours, genannt Trobairitz, gegeben hat.55 Die Besonderheit im Liebeslied Lanqand li jorn56 liegt vor allem an seinem Refrain „amor de loing“ – der Liebe aus der Ferne. Diese „amor de loing“ ist eine Unterform der fin’amor, des komplexen Liebeskonzepts der Troubadours. In der gesamten Troubadourlyrik gibt es einen kleinen gemeinsamen Nenner: Die beständige Spannung zwischen Euphorie und Disphorie ist durchwegs präsent. Durch diese permanente Aufrechterhaltung dieser Spannung wird der Liebesdiskurs überhaupt erst ermöglicht. Das Liebeslied ist innerhalb der Troubadourtradition das genuinste Ausdrucksmittel dieses Liebeskonzepts. Die innere Spannung wird in der fin’amor aufrechterhalten vom Hindernis, das die Liebenden trennt bzw. gibt es immer einen Umstand, der die Liebenden an der Erfüllung ihrer Wünsche hindert. Die geografische Distanz kann nur eines der vielen Hindernisse sein, es können auch gesellschaftspolitische und standesgemäße Normen (zum Beispiel Heirat zwischen Personen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten oder sich bereits im Bündnis der Ehe Befindlichen 55 Martin Diz Vidal, Liebe und Leid der Minnesänger: Figurationen von Männlichkeit bei Jaufré Rudel und Alfonso el Sabio, in: Geschlechtervariationen. Gender-Konzepte im Übergang zur Neuzeit, hg. von Judith Klinger und Susanne Thiemann, Potsdam 2006, S. 235-241. 56 Zur genauen Analyse dieses bekanntesten Werkes Jaufré Rudels siehe Kapitel 4.4. 24 usw.) die Ursache für die Verunmöglichung der Zusammenkunft sein. Gerade diese Nichterfüllung bewegt den Troubadour zu seiner lyrischen Fixierung.57 Das Konzept der höfischen Liebe impliziert eine rigide Ethik mit den Grundpfeilern gesellschaftlicher Anerkennung, persönlichem Wert und Tüchtigkeit, vornehmem Benehmen und sprachlicher Gewandtheit. Die Liebe der mit einer überirdischen Macht ausgestatteten Dame zu erwerben, gilt als höchstes Gut in der höfischen Werteskala. Der Angebeteten mit Worten und Taten geduldig zu dienen und damit die Pflichten gegenüber der Gesellschaft zu erfüllen, bedeutet, das höchste moralische Qualitätskriterium erfüllt zu haben. Dem jungen Mann bietet sich mit der Aufrechterhaltung der Spannung durch Entsagen des Liebesgenusses und dem von Seiten der Dame wohldosiertem Wechselspiel von Zugeständnissen (merce, Gnade) und Rückzug (orguelh, Hochmut) die Möglichkeit, seinen Geist und Körper, sein Begehren beherrschen zu lernen.58 In Jaufré Rudels Lied, gesungen im 1. Akt der Oper L’amour de loin, hören wir von den Tugenden der fremden Dame („Schön ohne den Hochmut der Schönheit, vornehm ohne den Hochmut des vornehmen Standes, fromm ohne den Hochmut der Frömmigkeit“). Das größte Hindernis, die besungene Dame zu treffen, liegt (anfangs) in der geografischen Distanz. Wie wir später sehen werden, wird das „psychosomatische“ Leiden des Prinzen größer, je geringer die Distanz zu ihr wird.59 Für Pierre Bec ist eine Überhöhung der fin’amor und der amor de loing in das Mythische durch seine Transzendenz 60 gegeben: Wie bereits erwähnt, ist zu bezweifeln, dass Jaufré Rudel in den Armen der Gräfin Tripolis gestorben ist. Ebenfalls ist die Identität der Gräfin Tripolis unklar: Manche Forscher meinen, die Ehefrau Raimund’s II. von Tripolis darin zu erkennen, andere Kritiker wiederum sehen in Jaufrés „amor de loing“ die Jungfrau Maria oder 57 Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 293-294. 58 Andrea Oberhuber, „Ja mais d’amor no-m jauziray/Si no-m jau d’est’amor de lonh“. Höfisches Liebeskonzept und Liebesdiskurs am Beispiel von Jaufré Rudel und seiner Reaktualisierung in Amin Maaloufs Libretto zu L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 60-63. 59 Genaueres dazu siehe diverse Unterkapitel des Kapitels 8. 60 Siehe französische Zitate von Pierre Bec in: Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 294. 25 Gott.61 Auf jeden Fall steht die geliebte Frau als Chiffre für ein dem Menschen unerreichbares als erfüllte Liebe gedachtes irdisches Glück.62 4.3. Die Legende des Troubadours Jaufré Rudel Berühmt macht den Troubadour Jaufré Rudel außerdem der mittelalterliche Bericht über seine Liebe zur Gräfin von Tripolis, für die er, wie im Kapitel 4.1. beschrieben, die Kreuzfahrt überhaupt erst unternommen haben soll. Aus seiner vida, die ein anonymer mittelalterlicher Biograf nach seinem Tod verfasst hat, ist folgende Legende 63 , die als Grundlage für das Libretto zu L’amour de loin dient, überliefert: Jaufre Rudel von Blaja war ein sehr edler Mann, ein Prinz von Blaja. Und er verliebte sich in die Gräfin von Tripolis, ohne (sie) zu sehn, wegen des Guten, das er die Pilger von ihr sagen hörte, welche von Antiochia 64 kamen. Und er machte über sie manche Lieder mit guten Melodien und kurzen Versen. Und aus dem Wunsche sie zu sehen, nahm er das Kreuz und begab sich auf das Meer. Und es ergriff ihn eine Krankheit auf dem Schiff und er wurde für todt nach Tripolis in eine Herberge gebracht. Und es wurde der Gräfin zu wissen gethan und sie kam zu ihm an’s Bett. Und er merkte (= es kam ihm zum Bewusstsein), dass es die Gräfin war, da erlangte er das Hören und das Riechen wieder (= kam wieder zu Sinnen) und lobte Gott, dass er ihm das Leben erhalten hatte, bis er sie gesehen hätte. Und so starb er zwischen ihren Armen und liess ihn mit großer Ehre im Hause des Tempels begraben. Und dann wurde sie an jenem Tage Nonne wegen des Schmerzes, welchen sie über seinen Tod hatte.“65 61 John Haines, Art. Jaufre Rudel, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik begründet von Friedrich Blume. Zweite, neubearbeitete Ausgabe, hg. von Ludwig Finscher, Kassel u.a. 2005, Personenteil Bd. 9, Sp. 964. 62 Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 294. 63 Die Legende ist in drei verschiedenen Rezensionen, die sich nur marginal voneinander unterscheiden, überliefert worden. Im Folgenden wird die wahrscheinlich älteste Fassung übernommen. 64 Heutige Stadt Antakya in der Türkei. 65 Albert Stimming, Der Troubadour Jaufre Rudel, sein Leben und seine Werke, Berlin 1873, S. 12. 26 Abbildung: Jaufré Rudel stirbt in den Armen seiner Geliebten. 66 Jaufré Rudels Legende und seine Werke haben für das Verständnis über das Sozialgefüge im Mittelalter eine große Bedeutung. Martin Diz Vidal fasst folgende Komponenten 67 der Liebesdichtung am Beispiel des Troubadours Jaufré Rudel zusammen: - Die fiktionale Umkehrung der Geschlechterhierarchie: Der Troubadour unterwirft sich innerhalb seiner Dichtung der Angebeteten und idealisiert sie.68 - Die Aufhebung der politischen Hierarchie: Iberische Könige und provenzalische Adelige wie Jaufré Rudel stehen als Troubadour auf einer Stufe mit Dichtern niederen sozialen Ranges. - Die troubadoureske Liebeskonzeption ist ein Gegenpol zur kirchlichen Ordnung, da sie andere Formen von Liebe, wie zum Beispiel die Verehrung einer verheirateten Frau, zulässt. - Die höfische Kultur weltlicher Gesänge und Spiele wird von der Kirche zwar missbilligend geduldet, jedoch bedeutet sie streng genommen ein Gegenkonzept zur asketischen Ordnung der christlichen Religion. 66 Jaufré Rudel stirbt in den Armen der Gräfin von Tripolis. Dieses Bild liegt in der Bibliothèque nationale de France auf und ist online unter http://gallica.bnf.fr/anthologie/surprise.php?t=17&i=4 einsehbar. 67 Martin Diz Vidal, Liebe und Leid der Minnesänger: Figurationen von Männlichkeit bei Jaufré Rudel und Alfonso el Sabio, in: Geschlechtervariationen. Gender-Konzepte im Übergang zur Neuzeit, hg. von Judith Klinger und Susanne Thiemann, Potsdam 2006, S. 242-243. 68 Dies ist im Besonderen im Gedicht Lanqand li jorn (siehe Kap. 4.4) ersichtlich. 27 4.4. Lanqand li jorn son lonc en mai – Wenn die Tage lang sind, im Mai Jaufré Rudels sehnsuchtsvollen Liebesliedern wird ein hoher dichterischer Rang zugeschrieben. Über die Anzahl der Gedichte, die eindeutig Jaufré Rudel zugeordnet werden können, besteht in der Forschung Uneinigkeit. Es wird von sechs bis sieben Gedichten (cansos) ausgegangen. Eindeutig belegt sind folgende Gedichte mit Vertonung: Can li rieu de la fontana, Can lo rossinhols el folhos, Lanqand li jorn son lonc en mai und No sap chantar qui so non di.69 Bei Lanqand li jorn son lonc en mai handelt es sich um eine klassische Troubadourkanzone mit sieben Strophen zu je sieben Versen mit dem gleichen Reimschema ababccd und einer Geleitstrophe zu drei Versen mit dem Reimschema ccd. Jaufré Rudels Kanzone ist die älteste dieser Bauform und dürfte stilbildend auf die anderen gewirkt haben.70 Der Reiz des wohl bekanntesten Gedichtes des Troubadours Jaufré Rudel liegt vor allem in dessen Rätselhaftigkeit. Wer oder was ist mit dieser Liebe aus der Ferne gemeint? Ist es die Jungfrau Maria, das Heilige Land, das himmlische Jerusalem, die historische Gräfin von Tripolis, oder vielleicht eine nie gelebte idealisierte Minneherrin? Oder ist die Deutung der Fernliebe als profane Liebe zu einer unerreichbar scheinenden, fernen, noch nie gesehenen Dame doch die naheliegendste?71 Die Antworten auf diese Fragen sind historisch nie belegt worden. Im Folgenden wird das berühmteste Gedicht des Troubadours Jaufré Rudel, das in den letzten 850 bis 900 Jahren immer wieder Grundlage diverser Dichtungen und Vertonungen wurde, auf Provenzalisch72 und Deutsch73 abgebildet: 69 John Haines, Art. Jaufre Rudel, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik begründet von Friedrich Blume. Zweite, neubearbeitete Ausgabe, hg. von Ludwig Finscher, Kassel u.a. 2005, Personenteil Bd. 9, Sp. 964. 70 Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 302. 71 Dietmar Rieger, Mittelalterliche Lyrik Frankreichs I. Lieder der Trobadors. Provenzalisch/Deutsch, Reclam, Stuttgart 1980, S. 243-244. 72 Die provenzalische Kultur oder Literatur umfasst alle südfranzösischen Landschaften, deren Sprache sich durch bestimmte charakteristische Lauterscheinungen vom Französischen grundlegend unterscheidet. In den 1970er Jahren war dies in zwei Fünftel Frankreichs (in 30 von 89 Départements) der Fall. Siehe dazu auch: Joachim Storost, Die Kunst der provenzalischen Trobadors, in: Der provenzalische Minnegesang, hg. von Rudolf Beahr, Darmstadt 1967, S. 3-4. 73 In dieser Übertragung werden ausschließlich die wörtlichen Übersetzungen genommen, um dem Originaltext möglichst getreu zu bleiben. Die vom Übersetzer integrierten Übersetzungserläuterungen werden zugunsten des Leseflusses weggelassen. 28 Lanqand li jorn son lonc en mai I II III IV V VI VII VIII Lanqand li jorn son lonc en mai m’es bels douz chans d’auzels de loing, e qand me sui partitz de lai remembra•m d’un’amor de loing. Vauc, de talan enbroncs e clis, si que chans ni flors d’albespis no•m platz plus que l’inverns gelatz. Ja mais d’amor no•m gauzirai si no•mgau d’est’amor de loing, que gensor ni meillor non sai vas nuilla part, ni pres ni loing. Tant es sos pretz verais e fis que lai el renc dels sarrazis fos eu, per lieis, chaitius clamatz! Iratz e gauzens m’en partrai qan veirai cest’amor de loing, mas non sai coras la•m veirai car trop son nostras terras loing. Assatz i a portz e camis! E, per aisso, non sui devis ... Mas tot sia cum a Dieu platz! Be•m parra jois qan li qerrai per amor Dieu, l’amor de loing; e, s’a lieis plai, albergarai pres de lieis, si be•m sui de loing! Adoncs parra•l parlamens fis qand, drutz loindas, er tan vezis c’ab bels digz jauzirai solatz. Ben tenc lo Seignor per verai per Q’ieu veirai l’amor de loing; mas, per un ben que m’en eschai, n’ai dos mals, car tant m’es de loing... Ai! car me fos lai peleris si que mos fustz e mos tapis fos pelz sieus bels huoills remiratz! Dieus, qe fetz tot qant ve ni vai e fermet cest’amor de loing, me don poder, qu•l cor eu n’ai, q’en bre veia l’amor de loing, veraiamen, en locs aizis, si qe la cambra e•l jardis mi resembles totz temps palatz! Ver ditz qui m’apella lechau ni desiran d’amor de loing, car nuills autre jois tant no•m plai cum jauzimens d’amoir de loing. Mas so q’eu vuoill m’es tant ahis q’enaissi•m fadet mos pairis q’ieu ames e non fos amatz! Mas so q’ieu vuoill m’es tant ahis! Totz sia mauditz lo pairis qe•m fadet q’ieu non fos amatz! Wenn die Tage lang sind, im Mai 74 Wenn die Tage lang sind, im Mai, gefällt mir der süße Vogelgesang von fern, und wenn ich mich von dort, dem Vogelgesang, gelöst habe, erinnert es mich einer Liebe in der Ferne. Ich gehe, von Verlangen niedergedrückt und gebeugt, so, dass nicht der Gesang noch die Weißdornblüte mir mehr gefällt als der eisige Winter. Niemals mehr werde ich mich der Liebe erfreuen, wenn ich mich nicht dieser Liebe in der Ferne erfreue, denn ich weiß keine lieblichere und bessere, gegen keine Seite hin, weder nah noch fern. Ihr Wert ist so wahrhaftig und vollkommen rein, daß ich dort, im Reich der Sarazenen, um ihretwillen ein Gefangener genannt werden würde! Traurig und freudig werde ich mich von ihr trennen, wenn ich diese Liebe in der Ferne sehen werde, aber ich weiß nicht, wann ich sie sehen werde, denn unsere Länder sind zu weit entfernt. Sehr viele Engpässe und Wege gibt es da! Und ich bin deshalb kein Prophet ... Aber alles sei, wie es Gott gefällt! Wohl wird mir Freude zuteil erscheinen, wenn ich sie, um der Gottesliebe willen, um die Liebe in der Ferne bitten werde; Herberge nehmen, obschon ich aus der Ferne bin! Dann wird das vollkommene Gespräch erscheinen, wenn ich, der ferne Geliebte, so nah sein werde, daß ich mit schönen Worten das Vergnügen genießen werde. Wohl halte ich den Herrgott für wahrhaftig, durch dessen Hilfe ich die Liebe in der Ferne sehen werde; aber für einen Nutzen, der mir davon zuteil wird, habe ich zwei Übel, denn so weit ist sie von mir entfernt ... Ach! wäre ich doch dort ein Pilger, so daß mein Pilgerstab und mein Pilgergewand von ihren schönen Augen betrachtet würde! Gott, der alles schuf, was da kommt und geht, und diese Liebe in der Ferne festlegte, gebe mir die Macht – denn Herz dazu habe ich - , daß ich binnen kurzem die Liebe in der Ferne wahrhaftig an einem geeigneten Ort sehen kann, so daß die Kammer und der Garten mir immer als Palast erschiene! Die Wahrheit sagt, wer mich begierig und sehnsüchtig nach der Liebe in der Ferne nennt, denn keine andere Freude gefällt mir so sehr wie der Genuß der Liebe in der Ferne. Aber das, was ich will, ist mir so widrig, denn mit einem solchen Schicksal begabte mich mein Pate, daß ich lieben würde und nicht geliebt werden würde. Aber das, was ich will, ist mir so sehr verwehrt! Ganz verflucht sei der Pate, der mich mit dem Schicksal begabte, daß ich nicht geliebt werden würde! 74 Dietmar Rieger, Mittelalterliche Lyrik Frankreichs I. Lieder der Trobadors. Provenzalisch/Deutsch, Reclam, Stuttgart 1980, S. 40-43. 29 Jaufré Rudel erweitert die dem Minnesang ureigene Unerfüllbarkeit einer Liebessehnsucht aus gesellschaftlichen Gründen um den Aspekt der geographischen Distanz. Eine weitere Besonderheit liegt darin, dass in diesem Gedicht die Unterwerfung des lyrischen Ichs übersteigert dargestellt wird (besonders in Strophe VII ausgedrückt) und durch diese Offenlegung des Liebesleids wird ein Bild von Männlichkeit entworfen, das der patriarchalen Ordnung entgegensteht. In der Strophe VIII spricht der Troubadour sogar Flüche aus („Ganz verflucht sei der Pate, der mich mit dem Schicksal begabte, daß ich nicht geliebt werden würde!“). Der Pilgerstab (Strophe V) repräsentiert einerseits den soziokulturellen Hintergrund, die Kreuzzüge und Pilgerfahrten, gleichzeitig ist er ein Symbol des Phallus. Damit preist der christliche Jaufré Rudel den zu ehrenden Gott, den Schöpfer alles Lebens und gleichzeitig verweist er auf das sinnliche Begehren. Damit wirken die zuvor ausgedrückten Lobpreisungen des Herrn der Schöpfung nur vordergründig als Zeichen eines religiösen Diskurses. Jaufré Rudel figuriert in diesem Werk Männlichkeit nicht als Demonstration von Macht und Stärke, sondern wandelt vielmehr zwischen Anbetung und Unterwerfung sowie sexuellem Begehren. Er ersetzt mit dieser Vermengung religiöser und erotischer Topoi nicht den klerikalen Diskurs durch einen profan-sinnlichen, sondern zeigt damit auch die soziokulturellen Normen und Geschlechterrollen zur Zeit des Mittelalters auf.75 Jaufré Rudels Gedicht ist ein außergewöhnliches Beispiel eines weiteren Charakteristikums der Troubadourlyrik: Es enthält eine Vielzahl von Liebesparadoxien, da die „Liebe aus der Ferne“ die Pole Sehen–Nichtsehen, Besitzen–Nichtbesitzen, Wirklichkeit–Traum76, die durch die begrifflichen Gegensatzpaare nah–fern, warm–kalt, Ärger–Freude, drinnen–draußen, lieben–nicht geliebt ausgedrückt werden77. Rohr betrachtet die Troubadouren als jene, die die „äußere Welt unter dem Schleier des Traums“ wahrnehmen. Deshalb lässt sich die Ansicht der Troubadouren zum Verhältnis Wahrheit und Wirklichkeit folgendermaßen ausdrücken: „Die Wahrheit als das Wesentliche ergibt sich ihnen aus der Innenschau, die Wirklichkeit, als das Unwesentliche, tritt in den Hintergrund zurück.“78 75 Martin Diz Vidal, Liebe und Leid der Minnesänger: Figurationen von Männlichkeit bei Jaufré Rudel und Alfonso el Sabio, in: Geschlechtervariationen. Gender-Konzepte im Übergang zur Neuzeit, hg. von Judith Klinger und Susanne Thiemann, Potsdam 2006, S. 244-248. 76 Zit. nach Rupprecht Rohr, Zur Interpretation der altprovenzalischen Lyrik, in: Der provenzalische Minnegesang, hg. von Rudolf Baehr, Darmstadt 1967, S. 89-90. 77 Martin Diz Vidal, Liebe und Leid der Minnesänger: Figurationen von Männlichkeit bei Jaufré Rudel und Alfonso el Sabio, in: Geschlechtervariationen. Gender-Konzepte im Übergang zur Neuzeit, hg. von Judith Klinger und Susanne Thiemann, Potsdam 2006, S. 244-245. 78 Rupprecht Rohr, Zur Interpretation der altprovenzalischen Lyrik, in: Der provenzalische Minnegesang, hg. von Rudolf Baehr, Darmstadt 1967, S. 90. 30 In der vida wird Jaufré Rudel beschrieben als einer, der „viele Lieder mit guten Melodien gemacht habe“ („e fez [...] mains vers ab bons sins, ab paubres motz“). Vier Gedichte 79 von Jaufré Rudel sind mit musikalischen Aufzeichnungen versehen. Seine Melodien weisen alle die für die frühe Troubadour Musik typische schlichte Barform (ABABA’CB bei Lanqand li jorn) auf. Die Besonderheit in Jaufrés Melodien liegt wohl in ihrem dramatischen Ausdruck: Der Abgesang von Lanqand li jorn beginnt dramatisch, in dem der Stollen zu den ersten Worten der Strophe „vau de talan embroncs e clis“ (Ich bin beladen und gebeugt vor Sehnsucht) eine Quinte höher imitiert wird. Diese Passage dient dazu, den melodischen Ausdruck von Jaufrés schmerzlicher und distanzierter Liebe zu verstärken. 80 Jaufré Rudels Melodie wird in der Literatur mit mehr oder weniger kleinen Abweichungen unterschiedlich transkribiert. Folgende Übertragung 81 stammt von Friedrich Gennrich, der viele mittelalterliche Melodien gesammelt und ediert hat. Auf eine mögliche Paraphrasierung bzw. Zitate der mittelalterlichen Melodie im Gesangspart der Figur des Jaufré Rudels in der Oper L’amour de loin wird im Kapitel 8.2. Bezug genommen. 79 Can li rieu de la fontana, Can lo rossinhols el folhos, Lanqand li jorn son lonc en mai und No sap chantar qui so non di. 80 John Haines, Art. Jaufre Rudel, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik begründet von Friedrich Blume. Zweite, neubearbeitete Ausgabe, hg. von Ludwig Finscher, Kassel u.a. 2005, Personenteil Bd. 9, Sp. 964-965. 81 Friedrich Gennrich, Troubadours, Trouvères, Minne- und Meistergesang, in: Das Musikwerk. Eine Beispielsammlung zur Musikgeschichte, hg. von Karl Gustav Fellerer, Neuausgabe, Band 9, Laaber 2010, S. 12. 31 5. Faszinosum Orient und Okzident: „amor de loing“ in Lyrik und Musik Die Oper L’amour de loin beschreibt die Seereise von Westen nach Osten, vom Okzident in den Orient, eine Dichotomie, die das Werk aufzulösen versucht.82 Das Bindeglied zwischen den Kulturen ist der Pilger, der von Stadt zu Stadt, Land zu Land wandert und den Menschen von dem „Anderen“ erzählt. Die Unwissenheit, Entfernung, das Unbekannte entfernter Länder und Kulturen machen neugierig und sehnsüchtig. Edward W. Said hat 1978 mit seinem Werk Orientalismus das Bild des Westens vom Orient nachgezeichnet und den Begriff „Orientalismus“ als spezifische Umgangsweise vor allem der Westeuropäer (Franzosen, Deutsche, Italiener, Spanier, Portugiesen, Schweizer, aber auch Russen) mit dem Orient definiert. Für Said war der Orient gewisser Maßen eine europäische Erfindung – der Orient hat seit der Antike als ein „Märchenland voller exotischer Wesen gegolten, das im Reisenden betörende Erinnerungen an traumhafte Landschaften und eindringliche Erlebnisse hinterließ.“ Der Orient, der an Europa grenzt, war mitunter auch Ort der ältesten, größten und reichsten Kolonien und wird als Quelle menschlicher Zivilisation und Sprachen betrachtet. Im Orient fanden die Europäer ein „kulturelles Gegenüber“, ein „Gegenbild“, eine „Gegenpersönlichkeit“ und entwarfen das Bild „des Anderen“.83 Diese Bilder des Orients stehen auch in enger Verbindung mit Jaufré Rudels Legende und Werk. Über Jahrhunderte hinweg regt seine Person immer wieder Dichter – und wie wir bei der Oper L’amour de loin sehen, auch Librettisten – zur Wiederaufnahme dieser Liebe aus der Ferne an. Nicht nur das Leben des wahren Jaufré Rudels ist in vielerlei Hinsicht undurchsichtig – auch der Begriff „amor de loing“ (Provenzalisch) oder „amour de loin“ (Französisch) lässt mehrere Bedeutungen zu: Die „Liebe aus der Ferne“ oder die „ferne Geliebte“ könnte sowohl eine „in der Ferne Lebende“ als auch eine „nie gesehene Schöne“ sein. Dass der Dichter zu dieser „nie gesehenen Frau“ vor Liebe entbrennt, könnte über ein Bild („Bild-Variante“84), das er von ihr gesehen hat oder, so wie es bei der Oper L’amour de loin der Fall ist, viel subtiler, über die Berichte eines Pilgers („Pilger-Variante“) entstanden sein. Die „Bild-Variante“ war zwar in der Literatur der Troubadours vorhanden, jedoch wurde die „Pilgervariante“ in der Troubadourlyrik meist bevorzugt.85 82 Liisamaija Hautsalo, Die Sehnsucht nach dem Transsensuellen, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin. Begleitheft der DVD, München 2005, S. 15. 83 Edward W. Said, Orientalismus, Frankfurt am Main 22010, S. 9-10. 84 Die Begriffe „Bild-“ und „Pilger-Variante“ stammen von Angelica Rieger, siehe dazu ausführlich Kapitel 5.3. 85 Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 296. 32 Die Geschichte des Troubadours und die unerreichbare Liebe sind immer wieder innerhalb der westlichen literarischen Geschichte in Form von Novellen und Dramen aufgetaucht. So verarbeitet beispielsweise Petrarch (1304-74) Jaufré in seinen Sonetten, während Jehan de Notredame 1575 die Geschichte in die Biographie des Troubadours einbezieht. Jaufré Rudels Geschichte hat aber auch seinen Platz in Werken der Dichter der Romantik, wie Algernon Charles Swinburne, Giosuè Carducci, Ludwig Uhland, Heinrich Heine und Stendhal. Das Thema wird auch berührt in Monteverdis Combattimento di Tancredi et Clorinda (1624). 86 Vor allem markiert das 18. Jahrhundert die Wiederentdeckung der arabischen Welt und ihrer Literatur – und dies nicht nur in der Dichtkunst, in der die „Märchen aus 1001 Nacht“ eine Renaissance erleben, sondern vor allem in der Musik87. Die musikalischen Werke der letzten 300 Jahre, die den Klang, das Thema oder Geschichten aus dem Orient in sich tragen, aufzuzählen und zu besprechen, würde den Rahmen dieser Arbeit weit sprengen. Nasser Al-Taee hat in ihrer Publikation die westliche Musik sowie Dichtungen auf orientalische Bezüge hin eingehend untersucht und stellt somit einen kompakten Überblick dar. Folgende Aufzählung der von ihr besprochenen Werke versteht sich als kleiner Einblick ihres Analysebogens: Paul Wranitzkys romantisches Singspiel Oberon, König der Elfen (1789), die romantische Oper Oberon (1826) von Carl Maria von Weber, Oberon von Anthony Burgess (1985), Haydns Symphonie in G-Dur „Militärsymphonie“ (Hob. 100, 1794), Mozarts Thamos, König in Ägypten (KV 345, 1774), das Finale im Violinkonzert Nr. 5 in ADur (KV 219, 1775), Zaide (KV 344, 1780), Entführung aus dem Serail (KV 384, 1782), „Rondo alla Turca“ (dritter Satz der Klaviersonate in A-Dur, KV 331, 1783/84), Zauberflöte (KV 620, 1791), Georges Bizets Carmen (1875), Ludwig van Beethovens Neunte Sinfonie (1824), in der im Finale ebenso alla turca vorkommt, Die Ruinen von Athen (1811), in dem der „Chor der Derwische“ und ein „Marcia alla turca“ für die charakteristisch orientalische Musik sorgen sowie Camille Saint-Saëns Samson und Dalila (1877) usw. Der türkische, orientalische oder „exotische“ Teil der Musik ist meist durch einen schnellen Wechsel in einen 2/4 Rhythmus, höhere Dynamik und Akzente (oft fp oder sfz), Wechsel in eine Molltonart und den Einsatz von spezifisch dem Orient zugeschriebenen Instrumenten, wie die Piccolo, Zimbeln, Triangeln und großen Trommeln charakterisiert. Ziel ist es, den schrillen, lauten, kreischenden Klang der einziehenden Armee der Osmanen (die „Ottoman Army“) nachzuahmen – Gewalt und Lärm werden vor allem im 18. Jahrhundert mit der 86 Liisamaija Hautsalo, Whispers from the Past: Musical Topica in Saariaho’s Operas, in: Kaija Saariaho: Vision, Narratives, Dialogues, hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S. 114. 87 Siehe dazu auch: Alain Patrick Olivier, Exilé, Pélerin, Conteur (Amin Maalouf: Emigrant, Pilger und Erzähler), ins Deutsche übersetzt von Gerda Gensberger, in: Kaija Saariaho/Amin Maalouf: L’amour de loin, Programmheft der Salzburger Festspiele, Salzburg 2000, S. 14-16. 33 furchterregenden Janitscharenmusik, der Militärmusik der Osmanen, assoziiert. Al-Taee sieht diese Musik aber zugleich – vor allem in Beethovens Verwendung des alla turca Stils (insbesondere in der Neunten Sinfonie) – als eine Form, pure Freude, Erhabenheit, Größe, Würde und ausgelassene Feierstimmung auszudrücken mit dem Ziel, eine bedeutende Nachricht an die Menschheit zu richten: Die Ankunft bzw. das Annehmen einer vereinigten Welt, ohne Ausgrenzung des Anderen – Al Taee betrachtet Beethovens Musik demnach als einen Apell und ein Symbol für eine friedliche, universelle Einheit und Brüderlichkeit.88 Im Folgenden werden einige wichtige Werke vorgestellt, die einen besonderen Bezug zu der hier im Zentrum stehenden Oper L’amour de loin haben. 5.1. Claudio Monteverdis Combattimento di Tancredi et Clorinda Die Oper L’amour de loin und Claudio Monteverdis Combattimento di Tancredi et Clorinda haben gewisse Gemeinsamkeiten. Beide Geschichten spielen in der Kreuzfahrerzeit und (teilweise) im Orient. In beiden geht es um die Beziehung zwischen Mann und Frau, deren Liebe sich nicht erfüllt, weil einer der beiden stirbt.89 Das zugrundeliegende Libretto ist ein Auszug aus der epischen Dichtung La Gerusalemme liberata von Torquato Tasso. Monteverdi (1567-1643) erprobt in diesem Werk erstmals den stile concitato: Dieser „erregte Stil“ sollte die drei heftigsten Grundaffekte der menschlichen Seele – Zorn (ira), Mäßigung (temperanza) und Demut/Flehen (umilità o supplicatione) – ausdrücken.90 In Combattimento fordert Kreuzritter Tancredi die als Mann verkleidete flüchtende Clorinda, mit der ihn eine große Liebe verbindet, zum Zweikampf auf und verletzt sie tödlich. Auch ihnen wird das gemeinsame Glück auf Erden durch den frühen Tod (im Gegensatz zu L’amour de loin) der Frau verwehrt. Für Tilman Seebaß ist das Drama in beiden Fällen auf einer ähnlichen, intimen Personenkonstellation mit den beiden Liebenden und einem „Testo“ aufgebaut. Der Testo ist bei Monteverdi der Rezitator, der gleichzeitig erzählt, bezeugt und kommentiert. In L’amour de loin teilt Maalouf die Funktionen auf: Zum Einen hat der Pilger die Rolle des schicksalhaften Hermes, dem Götterboten über, und zum Anderen 88 Siehe dazu Nasser Al-Taee, Representation of the Orient in Western Music. Violence and Sensuality, Ashgate 2010, S. 117-121. 89 Tilman Seebaß, Oper heute – für wen und wozu? Vor der Folie einer anregenden Vergangenheit, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 73. 90 Denis Morrier, Monteverdi. Le Huitième Livre de Madrigaux (Monteverdi. Das VIII. Madrigalbuch, übersetzt von Heidi Fritz), in: Monteverdi. Madrigal guerrieri ed amorosi. Concerto Vocale, harmonia mundi, Begleitheft der CD, S. 29-30. 34 hat der Chor einen kommentierenden Part, der Gedanken, Gefühle und Handlungsweisen der Protagonisten hinterfragt.91 5.2. Heinrich Heines Ballade: Geoffroy Rudèl und Melisande von Tripolis Auch Heinrich Heine war offenbar die Legende des Troubadours Jaufré Rudel bekannt. Er kreierte seine Variante der Legende Jaufré Rudels und sah in Melisande, einer wahren historischen Person (die Tochter von Odiarne, der Gräfin von Tripolis und ihrem Gatten Raimon II) die Geliebte seines „Geoffroy“ und schrieb folgende Ballade (1851 in Romanzeros. Erstes Buch. Historien., herausgegeben von Heinrich Heine): Geoffroy Rudèl und Melisande von Tripolis In dem Schlosse Blay erblickt man Die Tapete an den Wänden, So die Gräfinn Tripolis Einst gestickt mit klugen Händen. Ihre ganze Seele stickte Sie hinein, und Liebesthräne Hat gefeyt das seidne Bildwerk, Welches darstellt jene Scene: Wie die Gräfin den Rudèl Sterbend sah am Strande leigen, Und das Urbild ihrer Sehnsucht Gleich erkannt’ an seinen Zügen. Auch Rudèl hat hier zum ersten Und zum letzten Mal erblicket In der Wirklichkeit die Dame, Die ihn oft im Traum erzücket. Ueber ihn beugt sich die Gräfinn. Hält ihn liebevoll umschlungen, Küßt den todesbleichen Mund, Der so schön ihr Lob gesungen! 91 Tilman Seebaß, Oper heute – für wen und wozu? Vor der Folie einer anregenden Vergangenheit, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 73. 35 Ach! der Kuß des Willkomms wurde Auch zugleich der Kuß des Scheidens, Und so leerten sie den Kelch Höchster Lust und tiefsten Leidens. In dem Schlosse Blay allnächtlich Giebt’s ein Rauschen, Knistern, Beben, Die Figuren der Tapete Fangen plötzlich an zu leben. Troubadour und Dame schütteln Die verschlafnen Schattenglieder, Treten aus der Wand und wandeln Durch die Säle auf und nieder. Trautes Flüstern, sanftes Tändeln, Wehmuthsüße Heimlichkeiten, Und posthume Galantrie Aus des Minnesanges Zeiten: »Geoffroy! Mein todtes Herz Wird erwärmt von deiner Stimme, In den längst erloschnen Kohlen Fühl’ ich wieder ein Geglimme!« »Melisande! Glück und Blume! Wenn ich dir in’s Auge sehe, Leb’ ich auf – gestorben ist Nur mein Erdenleid und –Wehe.« »Geoffroy! Wir liebten uns Einst im Traume, und jetzunder Lieben wir uns gar im Tode – Gott Amur that dieses Wunder!« »Melisande! Was ist Traum? Was ist Tod? Nur eitel Töne. In der Liebe nur ist Wahrheit, Und dich lieb’ ich, ewig Schöne.« »Geoffroy! Wie traulich ist es Hier im stillen Mondscheinsaale, Möchte nicht mehr draußen wandeln In des Tages Sonnenstrale.« »Melisande! theure Närrinn, Du bist selber Licht und Sonne, Wo du wandelst, blüht der Frühling, Sprossen Lieb’ und Mayenwonne!« Also kosen, also wandeln Jene zärtlichen Gespenster Auf und ab, derweil das Mondlicht Lauschet durch die Bogenfenster. 36 Doch den holden Spuk vertreibend Kommt am End die Morgenröthe – Jene huschen scheu zurück 92 In die Wand, in die Tapete. In Heinrich Heines Ballade wird dem Liebespaar zwar – genauso wie in Jaufré Rudels Gedicht – die Liebe auf irdischem Boden verwehrt, jedoch ist das Liebespaar bei Heine im Tode vereint. Heine lässt den Leser am nun gemeinsamen „Leben“ der beiden Toten teilhaben, indem er ihre Wanderungen, Seite an Seite durch die tiefe Nacht, beschreibt. Einzig und alleine das Tageslicht zwingt die beiden Gestalten wieder „in die Wand, in die Tapete“ – wo sie warten werden, um nach Sonnenuntergang wieder gemeinsam die Nacht zu durchstreifen. Damit ist gelebter Liebe – wenn auch in einem transzendenten Zustand – kein Hindernis mehr im Wege. Heinrich Heines Ballade ist demnach weniger charakterisiert durch die für die in der französischen Troubadourlyrik so wichtige innere Spannung, genährt von dem Hindernis der großen Distanz (bei Jaufré Rudel), sondern gewinnt ihren Reiz vielmehr durch die malerische und romantische Beschreibung des Liebesglücks: Traum, Tod, Leben – Begriffe, die Heines „Geoffroy Rudèl“ zu relativieren weiß und in der Liebe die Wahrheit allen Seins erkennt. 5.3. Wolfgang Amadeus Mozarts Entführung aus dem Serail Das Singspiel Die Entführung aus dem Serial (1782) – das Libretto stammt von Johann Gottlieb Stephanie – hat nicht nur aufgrund seiner Handlung einen starken Bezug zum Orient (eine Liebesgeschichte ist ebenso enthalten, wie ein Exilthema 93 ), sondern Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) nimmt in diesem Werk vor allem einen starken musikalischen Bezug zu dieser (Musik)Kultur. Die Ouvertüre und weitere Stücke lassen jene türkische Musik anklingen, wie man sie sich im 18. Jahrhundert vorstellt. Mozart erweitert das Orchester um die der türkischen Marschmusik zugeordneten Instrumente: die Piccoloflöte, die große Trommel, die Triangel und das Becken und zitiert die sogenannte Janitscharenmusik, die Militärmusik der Osmanen, mit ihrem raschen Tempo, antreibendem Charakter und spezifischem Rhythmus. 92 Heinrich Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Manfred Windfuhr, Band 3/I: Romanzero Gedichte. 1853 und 1854. Lyrischer Nachlaß. Text, Hamburg 1992, S. 47-49. 93 Bassa Selim (Sprechrolle) wurde ursprünglich aus seiner westlichen Existenz vertrieben und ins Exil zu einer ihm fremden Kultur gezwungen. 37 5.4. Wolfgang Amadeus Mozarts Zauberflöte Auch in Wolfgang Amadeus Mozarts Zauberflöte (1791) nimmt die ferne Liebe eine zentrale Stellung ein. Angelica Rieger nennt deshalb die bereits erwähnte „Bild-Variante“, das heißt das Phänomen, dass ein Mann in Liebe zu einer Frau verfällt, die er nur auf einem Bild erblickt, auch „Zauberflöten-Variante“94. Paminas Bild veranlasst Tamino, in eine Liebessehnsucht zu fallen und den Wunsch, diese bezaubernde Frau sein eigen nennen zu dürfen, wahr werden zu lassen. Der Librettist Emanuel Schikaneder benötigt für diesen inneren Wandel und diesen daraus resultierenden inneren Antrieb, dieses Ziel zu erreichen, acht Verse, um mit weiteren sechs Versen der schmerzerfüllten Sehnsucht des Liebenden Ausdruck zu verleihen. Dies Bildnis ist bezaubernd schön, Wie noch kein Auge je gesehn! Ich fühl’ es, wie dies Götterbild mein Herz mit neuer Regung füllt. Dies Etwas kann ich zwar nicht nennen, doch fühl’ ich’s hier wie Feuer brennen. Soll die Empfindung Liebe sein? Ja, ja! Die Liebe ist’s allein. – Oh, wenn ich sie nur finden könnte! Oh, wenn sie doch schon vor mir stände! Ich würde – würde – warm und rein – Was würde ich? – Ich würde sie voll Entzücken an diesen heißen Busen drücken, und ewig wäre sie dann mein.95 94 Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 296. 95 Wolfgang Amadeus Mozart. Die Zauberflöte. Text und Erläuterung zum vollen Verständnis des Werkes, hg. von Kurt Pahlen, München 1979, S. 25. 38 5.5. Richard Wagners Tristan und Isolde Auch diese Geschichte handelt von Liebe und Tod, von Begegnungen und der Unmöglichkeit, die Liebe zu leben. Die Nähe von L’amour de loin zum Mythos von Tristan und Isolde ist aber auch deshalb evident, da er wahrscheinlich auch in Aquitanien, am Hofe der Königin Aliénor entstand96. Tristan, sehnend nach dem erlösenden Tod, stirbt in den Armen seiner Geliebten Isolde. Sowohl in Tristan und Isolde (1865) als auch in L’amour de loin geht es um Eros und Thanatos, um die absolute und deshalb tödliche Liebe. Der Unterschied liege darin, so Deppermann, dass Jaufré seine Liebe in Verse fasse und sein Begehren sich ausschließlich in Sehnsucht, Liedern und dem Lobpreis Gottes im Anblick der Geliebten erschöpfe. Deppermann fügt weiter an, dass sich die Liebe zwischen Jaufré und Clémence nicht erfülle, sondern sie letztlich beide in den „imaginären Zitadellen des neuen Codes der höfischen Liebe gefangen“ bleiben. Für Deppermann ist Jaufrés Tod ein einsamer Tod. 97 Diese Meinung entspricht nicht jener der Autorin dieser Arbeit, da es Jaufré nicht zuletzt mit dem Schritt ins Boot des Pilgers gelingt, über moralische und kulturelle Grenzen hinwegzusteigen und er in der wahren Begegnung mit Clémence alles andere als einen einsamen Tod erfährt. Zurück zu Richard Wagner (1813-1883) und seiner Oper Tristan und Isolde, zu der er selbst das Libretto verfasste: Die starken Liebesgefühle zwischen Tristan und Isolde basieren auf dem ihnen verabreichten Liebestrank. Ihre Liebe gipfelt in sinnlich ekstatischer Erfüllung und im Todeswunsch im Namen ekstatischer Lebensintensität, denn „alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit“. Die Liebe wird jedoch geächtet und als Isolde übers Meer zum sterbenden Tristan kommt, sinkt sie – wie verklärt – auf seinen Leichnam. Eros und Thanatos verschwistern sich in beiden Opern auf verschiedene Art.98 96 Theo Hirsbrunner, L’amour de loin und Adriana Mater, die beiden Opern von Kaija Saariaho. Ein Vergleich, in: Musiktheater der Gegenwart. Text und Komposition, Rezeption und Kanonbildung. Mit einem Schwerpunkt: Die Salzburger Ur- und Erstaufführungen in Theater und Musiktheater, hg. von Jürgen Kühnel, Ulrich Müller, Oswald Panagl, Anif/Salzburg 2008, S. 204. 97 Maria Deppermann, Toteninsel und Elfenbeinturm. Zur Uraufführung der Oper L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 26. Weitere ausführliche Gegenargumente und Erläuterungen hierzu folgen in dem gesamten Kapitel 8 und 9. 98 Maria Deppermann, Toteninsel und Elfenbeinturm. Zur Uraufführung der Oper L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 26. 39 5.6. Tausendundeine Nacht Musik: Nikolai Andrejewitsch Rimsky- Korsakovs Scheherazade Die Quellen für die 1888 komponierte sinfonische Dichtung Nikolai Andrejewitsch RimskiKorsakovs beruhen auf vier Märchen aus der Geschichtensammlung TausendundeineNacht, wobei das Märchen Scheherazade wohl zu den bekanntesten zählt. In dieser Suite vereint Rimsky-Korsakov (1844-1908) russische Musik mit einer farbenfrohen Instrumentation und erzeugt orientalisches Flair. Das Märchen Scheherazade erzählt von dem Sultan Schahrayâr, der von seiner Frau betrogen wurde. Er ist davon überzeugt, dass es keine treue Frau auf Erden gibt und fällt den Entschluss, sich nie wieder von einer Frau betrügen zu lassen. Er heiratet daher jeden Tag eine neue Frau, die er am Morgen nach der Hochzeitsnacht umbringen lässt. Eines Tages wird Scheherazade seine Frau – sie erzählt ihm 1001 Nächte lang Märchen, dessen Fortgang der Sultan jedes Mal mit Freuden erwartet. So rettet sie ihr Leben, denn nach 1001 Nächten – in einem Zeitraum, in dem drei Kinder zur Welt kommen – ist der Sultan davon überzeugt, dass er sich geirrt hat und lässt Scheherazade am Leben.99 Rimski-Korsakov unterteilt die symphonische Suite in vier Teile: 1. Das Meer und Sinbads Schiff 2. Die Geschichte des Prinzen Kalender 3. Der junge Prinz und die junge Prinzessin 4. Das Fest in Bagdad – Das Meer – Das Schiff zerschellt an einer Klippe unter einem bronzenen Reiter Orientalische Musik wird assoziiert mit Bildern des Ozeans, mit schönen, fließenden Melodien (Scheherazades Melodienthema zählt wohl zweifelsfrei dazu) und brillanter Orchestration. Nicht weniger bekannt ist wohl die Melodie des Sultans, der einen bösen Charakter in sich trägt und blind vor Wut ist. Ähnlich wie Mozarts Osmin aus der Entführung aus dem Serail, wird der Sultan gelenkt von seiner Wut, die in ihm gewalttätiges, aufbrausendes, irrationales und launisches Verhalten fördert. Beide – sowohl Osmin als auch der Sultan – handeln und in unseren Augen grausam. Rimsky-Korsakov lässt den Sultan deshalb musikalisch laut und bombastisch auftreten:100 99 Siehe dazu auch Onlinequelle verfügbar unter http://de.wikipedia.org/wiki/Scheherazade Nasser Al-Taee, Representation of the Orient in Western Music. Violence and Sensuality, Ashgate 2010, S. 239-240. 100 40 Diesem Motiv gegenüber steht Scheherazades Violinenmelodie: die Violine, ein Instrument, das im Klang der menschlichen Stimme sehr nahe kommt, Schönheit und emotionale Zartheit präsentiert, ist besonders geeignet, die lyrische, brillante, aber auch dramatische Seite von Scheherazade musikalisch auszudrücken. Ihre Melodie wird von Harfenakkorden begleitet. Die Harfe mit ihren himmlischen Klängen kommt oft in „magischen“ oder „märchenhaften“ Momenten zum Einsatz. Für Al-Taee ist die Harfe auch ein Instrument, das die Assoziation zum antiken Griechenland, zum mittelalterlichen Arabien und Europa erlaubt, uns also in jene Zeit zurückversetzt, in der Reisende von Land zu Land pilgerten, um ihre Geschichten – instrumental begleitet – weiterzuerzählen. Al-Taee sieht Scheherazade ebenso verbunden mit der Orpheus Legende. Orpheus, benutzt ebenfalls seine Leier (bei Glucks Orfeo ed Eurydice imitiert die Harfe die Leier), um die Wächter des Hades zu besänftigen.101 Die Harfe als Instrument der „Prinzessin“ begegnet uns auch in der Oper L’amour de loin – Clémence, die Gräfin von Tripolis, wird häufig von diesem zart besaiteten ,Himmelsinstrument’ begleitet. 101 Nasser Al-Taee, Representation of the Orient in Western Music. Violence and Sensuality, Ashgate 2010, S. 241. 41 6. Die Oper L’amour de loin Die Oper L’amour de loin nimmt in Kaija Saariahos Schaffen aus zweierlei Hinsicht eine besondere Stellung ein. Zum Einen hat sich die finnische Komponistin mit diesem Werk erstmals der Gattung Oper gewidmet – einer Gattung, die von zeitgenössischen Komponistinnen eher zu den vermiedenen Vorhaben zählt. Zum Zweiten hat die Uraufführung dieser Oper die lebendige Verbindung zwischen älterer und neuester französischer Literatur sichtbar gemacht: Sie packte einen mittelalterlichen Stoff in ein modernes Gewand und brachte damit die Kritik überwiegend zum Schwärmen und das Publikum zum Träumen.102 Obgleich die Gattung Oper von der musikalischen Avantgarde der 1960er Jahre verworfen wurde, und viele Generationskollegen Saariahos den Untertitel „Oper“ in ihren Werken vermeiden und durch Begriffe wie „akustisches Theater“, „Monodram“, „Kammerfantasie“ etc. ersetzen, sucht Saariaho die Gattung Oper mittels ihrer eigenen kompositorischen Sprache neu zu gestalten. Dabei verzichtet sie nicht auf die traditionelle Erzähltechnik, also auf die literarische Teleologie des Librettos.103 Gérard Mortier, der damalige Intendant der Salzburger Festspiele, entschließt sich, die Oper L’amour de loin im Jahr 2000 in das Programm der Salzburger Festspiele aufzunehmen. Über Mortier kommt Saariaho in Kontakt mit dem Librettisten Amin Maalouf. Gemeinsam mit dem Regisseur Peter Sellars sind diese drei Herren wichtige Entscheidungshilfen, vor allem was den Entschluss, sich für die Oper als zeitgenössische Kunstform zu entscheiden und in weiterer Folge Fragen künstlerischer Belange betrifft. Mit dem Regisseur Sellars kommt Saariaho erstmals 1989 bei einem Besuch seiner Inszenierung von Don Giovanni in Kontakt. Nachdem sie 1992 eine weitere Inszenierung von ihm (Messians Saint-François d’Assise) und dem musikalischen Leiter Esa-Pekka Salonen sieht, reift in ihr der sichere Entschluss, eine Oper zu schreiben. Sellars und Salonen sind stets Quell der Inspiration geblieben. Gewidmet ist die Oper L’amour de loin dem belgischen Theater- und Opernintendanten und damaligen künstlerischen Leiter der Salzburger Festspiele Gérard Mortier.104 L’amour de loin sollte für Saariaho nicht der einzige Ausflug in die Gattung Oper sein – die Pariser Bastille-Oper beauftragt sie mit der Komposition von Adriana Mater, einer 102 Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 291. 103 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 37. 104 Kaija Saariaho, Warum eine Oper – warum diese Geschichte?, in Kaija Saariaho: L’amour de loin. Begleitheft der DVD, München 2005, S. 12. 42 abendfüllenden Oper, die am 3. April 2006 Premiere feiert.105 Ihre dritte Oper Émilie, ein 9szeniges Monodram für Sopransolo basierend auf einem Maaloufschen Libretto, wird am 1. März 2010 in der Opéra nationale de Lyon uraufgeführt. Die beiden ersten Opern erzählen Geschichten, sind somit narrative Opern, wenngleich Adriana Mater eher als ein „musikalisches Drama“ mit besonderer ethischer Dimension und L’amour de loin als eine „Operndichtung“ bezeichnet werden könnte. 106 Was beide Opern jedenfalls gemeinsam haben, ist die Integration der neuesten Entwicklungen der Kompositionstechnik in Verbindung mit der neuesten Technologie innerhalb der Gattung der zeitgenössischen sinfonischen Oper.107 Die Narration im Libretto ermöglicht es, die Oper als eine Abfolge aus individualisierten sinfonischen Bildern, Dichtungen oder Szenen zu strukturieren und gestalten.108 Die dritte Oper Émilie beruht auf dem Leben und den Schriften der Marquise Émilie du Châtelet (1706-1749). In der Oper L’amour de loin geht es, wie der Titel schon besagt, um die Liebe aus der Ferne, um deren Willen es sich lohnt zu sterben. Liebe und Tod sind durchaus übliche Themen im Operngenre – man könnte meinen, diese Grundaspekte der Menschheit würden ob der enormen Anzahl innerhalb der rund 400 jährigen Operngeschichte im 21. Jahrhundert geradezu Langeweile erzeugen, jedoch ist dieses scheinbar banale Thema geradezu deshalb so prädestiniert für die Gattung Oper, da „es die Musik erlaubt, den größten Geheimnissen oder Rätseln der menschlichen Existenz auf den Grund zu gehen.“ 109 Saariaho gibt selbst Aufschluss darüber, warum sie sich für die Gattung Oper und warum gerade für diese Geschichte entschieden hat: Die Oper ist eine besondere Gattung innerhalb einer abstrakten Form der Musik, denn, im besten Falle, reflektiert sie mit den dargelegten Ereignissen unser eigenes Leben. Überzeugende, anrührende Figuren werfen ein neues Licht auf unser Dasein. Liebe und Tod, Themen, die die Menschen im Innersten betreffen, stehen daher auch in der Oper im Vordergrund. Auf diese starken Themen wollte ich mich konzentrieren, wollte musikalischen 105 Liisamaija Hautsalo, Die Sehnsucht nach dem Transsensuellen, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin. Begleitheft der DVD, München 2005, S. 13. 106 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 37. 107 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 37-38. 108 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 38. 109 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 43. 43 Gefühlen nachspüren, die sie hervorrufen, und über die Musik ihrem unbekannten Reich näher kommen.110 Saariaho erkennt später, als sie sich bereits mitten in den Kompositionsarbeiten befindet, dass nicht sie diejenige sei, die die Geschichte ausgesucht hat, sondern die Geschichte sie auswählte – „the story has chosen me“ – sie erkennt, dass der Troubadour und seine Angebetete Clémence zwei Seiten ihrer Persönlichkeit darstellen und mit Hilfe der Musik versucht sie, diese beiden Seiten einander näher zu bringen.111 Zentral in der Geschichte ist immer der „Weg zum Anderen“112: von Aquitanien über das Meer nach Tripolis. Die 13 dialogisch oder monologisch aufgebauten Szenen, in denen die Geschichte erzählt wird, wirken wie eine musikalische Dichtung. Die Szenen spiegeln jeweils das tiefste Innere des Gefühlslebens des Prinzen Jaufré Rudel, der Gräfin Clémence und des Pilgers, der die Funktion des Vermittlers und des Fährmannes innehat, wider. Die Oper ist keine Handlungsoper – was die äußere szenische Handlung betrifft, wirkt sie geradezu statisch. Aktion steht im Hintergrund, die nötige Spannung entsteht vor allem durch das vielschichtige Seelenleben der Protagonisten113. In diesem „Stationsdrama“ – wie Stoïanova die Oper nennt – kommt der Musik die dynamische, bewegende Rolle zu: Sie übernimmt die „besonders aktive und raffinierte Entwicklung der Emotionen: die kleinsten inneren Bewegungen, die feinsten Oszillationen und Steigerungen der Emotion, das subtile Leben des liebenden Begehrens, der Hoffnung, der Freude, der Verzweiflung, der Empörung, der seligen Liebe aus der Ferne“.114 Saariaho wollte für das Genre Oper weder etwas zu Kompliziertes, noch eine gewöhnliche Alltagsgeschichte: Ich suchte nach einer abstrakten Geschichte, die von Liebe und Tod handelt und von der Art und Weise, wie Menschen auf den Tod eines geliebten Menschen reagieren. – Ich wollte diese 110 Kaija Saariaho, Warum eine Oper – warum diese Geschichte?, in Kaija Saariaho: L’amour de loin. Begleitheft der DVD, München 2005, S. 11-12. 111 Bettina Huter, L’amour de loin – „the story has chosen me“. Interview mit Kaija Saariaho. Übersetzt und bearbeitet von Bettina Huter, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 87. 112 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 43. 113 Kaija Saariaho, Warum eine Oper – warum diese Geschichte?, in Kaija Saariaho: L’amour de loin. Begleitheft der DVD, München 2005, S. 12. 114 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 43. 44 existentiellen Themen mit meiner Musik ausdrücken und suchte nach einer Geschichte, die mehr das Seelenleben von Menschen in den Vordergrund stellt als eine äußere Handlung.115 L’amour de loin entsteht in einer relativ kurzen Zeit: In 18 Monaten ist die Partitur fertig gestellt, jedoch geht der schriftlichen Aufzeichnung der Musik eine lange Zeit der Überlegung und Vorbereitung voraus. Saariaho beschäftigt immer wieder die Frage, was die Form der Oper für sie bedeute und was sie ihr ermögliche, auszudrücken. Zentral in dieser gedanklichen Vorbereitungszeit ist auch die Frage, wie sich Musik und Text geradezu nahtlos miteinander verbinden lassen. Die Struktur sollte sich organisch aus dem Sujet und dem Material ergeben. Saariaho sucht nach einem Weg, um die musikalische Identität der Hauptcharaktere effizient zu entwickeln.116 Die Schönheit der Jahrhunderte alten Liebesgeschichte des Troubadours Jaufré Rudel und der Prinzessin Clémence fesselt Saariaho von Beginn an. Je mehr sie sich mit dieser Geschichte befasst, desto stärker wird ihr die Verbindung zu ihrer eigenen Geschichte bewusst. In den drei Charakteren der Oper sieht sie sich selbst wieder: Jaufré ist ein Komponist wie sie selbst es ist. Sie erkennt sich als Frau, die, wie Clémence, ihr Leben im Exil verbringt. Genauso, wie der Pilger versucht, dieser beider Leben zusammenzubringen, versucht Saariaho in gleicher Weise, ihr Leben als Frau und das einer Komponistin miteinander zu vereinen.117 6.1. Vorbereitende und hinführende Werke auf die Oper L’amour de loin 1984 erklärt Saariaho in einem Interview, dass sie wahrscheinlich nie eine Oper oder eine Symphonie im klassischen Sinne schreiben werde.118 Es scheint, als würden einige Werke und Begegnungen mit bestimmten Menschen notwendig gewesen sein, um diesen großen Schritt dennoch zu wagen. Saariaho komponiert vor ihrer ersten Oper einige Werke, die eng in Bezug zur Oper stehen: 115 Bettina Huter, L’amour de loin – „the story has chosen me“. Interview mit Kaija Saariaho. Übersetzt und bearbeitet von Bettina Huter, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 87. 116 Kaija Saariaho, Warum eine Oper – warum diese Geschichte?, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin. Begleitheft der DVD, München 2005, S. 11. 117 Kaija Saariaho, Warum eine Oper – warum diese Geschichte?, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin. Begleitheft der DVD, München 2005, S. 12. 118 Liisamaija Hautsalo, Die Sehnsucht nach dem Transsensuellen, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin. Begleitheft der DVD, München 2005, S. 13. 45 Der Vokalzyklus Château de l’âme (1995 komponiert und 1996 uraufgeführt bei den Salzburger Festspielen) für Solosopran, acht Frauenstimmen und Orchester – der Text ist auf der alten hinduistischen und ägyptischen Tradition aufgebaut. Lonh119 (1996) für Sopran und Elektronik – der Text beruht auf einem Minneliedtext des Troubadours Jaufré Rudel auf Okzitanisch. Oltra Mar (1999-2000) für Chor und Orchester (Text von Maalouf und Abou Said) sowie die neue Fassung für Vokalquartett und gemischten Chor von Nuits, adieux (1997) sind ebenfalls mit der musikalischen Sprache der Oper eng verbunden. Das, was diese Werke gemeinsam haben, sind die Sopranistin Dawn Upshaw, der Schriftsteller Maalouf (alle basieren auf den Schriften dieses libanesischen Literaten), die okzitanische (provenzalische) Kultur sowie die auf der Harmonie-Klangfarbe beruhende vokal-melodische solistische und chorische Schreibweise. 120 Dass der Text und die Musik Saariahos gleichermaßen ihre sinnlichen und klanglichen Qualitäten haben, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass alle Werke einen Titel tragen, der eine gewisse Stimmung, Atmosphäre mit sich bringt: Es sind klingende Namen wie Lichtbogen, New Gates („Neue Pforten“), Château de l’âme („Die Seelenburg“), die Ballettmusik Maa („Erde“), Lonh („weit weg“) oder eben Oltra Mar (provenzalisch: „Über das Meer“). Das besondere an Oltra Mar und Château de l’âme liegt neben der engen musikalischen und thematischen Verbindung zu L’amour de loin wohl auch darin, dass sie für Saariaho die Herausforderung darstellen, erstmals für ein großes Orchester und Stimmen zu komponieren. In diesen Werken beweist Saariaho ihre souveräne Handhabung des Vokalen, von der reich differenzierten Solostimme bis zur Verschmelzung des Chors mit dem Orchester – dies beweist ihre Sensibilität für die Ausdrucksfähigkeit der menschlichen Stimme als auch ihre lange Erfahrung in der instrumentalen Klangforschung121. Château de l’âme ist eine Expedition in das Innere des Klangs und gleichzeitig in die Innenwelt, in die Burg der Seele und Liebe. Die facettenreich aufgefächerte Musik mit den drei ineinandergreifenden Schichten (Sopranpart, Orchester, Chor) erhält zusammen mit den Texten aus den indischen Veden und altägyptischen Zaubersprüchen eine geheimnisvolle Aura.122 119 Für diesen Werktitel existieren mehrere Schreibweisen: „Lhon“, „Lohn“ oder wie hier angeführt „Lonh“. Die Autorin dieser Arbeit verwendet der Einheit Willen die letztere, provenzalische Schreibweise. 120 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 42. 121 Michael Kurtz, Kaija Saariaho auf dem Weg zu ihrer Oper „L’amour de loin“. Musik und die visuelle Welt und vielfältige Facetten der Stimme, in: Offizielles Programm der Salzburger Festspiele 2000, hg. von Friedel Schafleitner, Salzburg/Wien 2000, S. 160. 122 Ellen Kohlhaas, Seelenschlösser oder Übergänge und Zwischenwelten. Ein Streifzug durch Kaija Saariahos Vokalmusik, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 60. 46 Die Musik von Oltra Mar (ein Werk, das ebenfalls die Liebe zum Hauptthema hat) übernimmt Saariaho ohne große Änderungen in den Anfang des vierten Aktes der Oper L’amour de loin. Lonh komponierte Saariaho 1996 für das Wien Modern Festival. Es beinhaltet einen vom historischen Jaufré Rudel inspirierten Liederzyklus für Sopran und Synthesizer. „Lonh“ bedeutet so viel wie „weit weg“ oder „entfernt“ und stammt aus der alten provenzalischen Sprache Okzitanisch. Saariaho verpackt in diesem Werk in den drei Sprachen Okzitanisch, Französisch und Englisch Verse aus der ersten Strophe von Jaufré Rudels altokzitanischem Gedicht Lanqand li jorn son lonc en mai123. Saariaho übernimmt die äußere Form des Originalgedichts, in dem sie ihre Komposition ebenfalls in neun Abschnitte unterteilt. Einige der in der mittelalterlichen Dichtung charakteristischen symmetrischen und wiederholenden Aspekte werden von dem Sopranpart aufgegriffen, sodass der von Saariaho kreierte Text als eine Textkollage basierend auf Jaufré Rudels Gedicht betrachtet werden kann. Der elektronische Part des Stückes hat die Funktion, den Text in allen drei Sprachen hörbar zu machen. Der okzitanische Text wird von dem Dichter Jacques Roubaud gelesen, der sich intensiv mit diesem Gedicht beschäftigte und auch gemeinsam mit Julie Parsillé die Übersetzung in das Französische lieferte. Die französische Fassung wird von Jean-Baptiste Barrière und der englische Text von Dawn Upshaw gelesen. Ihre (aufgenommene) Gesangsstimme ist ebenfalls Teil des akustischen Materials, das elektronisch distribuiert wird. Dieses vokale Material und andere konkrete Klänge, wie zum Beispiel Vogelgesänge, Wind und Regen, laufen durch eine Vielzahl von elektronischen Programmen und Filtern („Ircam Transformations Program“, „Chant Program“, „AudioSculpt Program“, etc.), um danach nach außen projiziert zu werden. Die Arbeit für den elektronischen Part wird am IRCAM unter Mithilfe von Gilbert Nouno und Jean-Baptiste Barrière durchgeführt. Saariaho versteht die Komposition Lonh als Prolog zu Oper L’amour de loin.124 123 Siehe dazu die ausführliche Darstellung und Besprechung dieses der Oper L’amour de loin zugrundeliegenden Gedichts im Kapitel 4.4. 124 Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 300 sowie Originaltext (auf Englisch) und Aufnahme des Werkes von Kaija Saariaho online verfügbar unter http://www.youtube.com/watch?v=l7ZQTYhO4fM 47 6.2. Libretto: Die interkulturelle Dimension der wahren Liebe Amin Maaloufs Lebensgeschichte, sein schriftstellerisches Können, sein historisches Wissen und das persönliche Interesse, sich dem Orient und Okzident und den vielfältigen Überlieferungen in den alten Schriften zu befassen, scheinen eine ideale Grundlage für die gute und intensive Zusammenarbeit zwischen Saariaho und ihm zu sein. Als Maalouf den Auftrag für das Libretto bekommt, macht er die Erfahrung, dass es einen großen Unterschied zwischen dem literarischen Schreiben von (historischen) Romanen und dem Verfassen eines Librettos für die Oper gibt. Er beginnt deshalb, viele Libretti zu lesen und hört sich – dies ist außerordentlich hervorzuheben – die Musik früherer Werke Saariahos an, um seine literarischen Fähigkeiten bestmöglich mit ihrer Musik verbinden zu können. Sowohl Maalouf als auch Saariaho begeben sich mit diesem Projekt somit auf ein Neuland und werden letztlich durch diese intensive Zusammenarbeit gute Freunde.125 Maalouf folgt in seinem Libretto grundsätzlich der vida Jaufré Rudels, er bringt aber mit seiner Figurenkonstellation und den Einblicken, die seine Protagonistinnen in ihre Lebenswelten gewähren, neue Akzente zum Vorschein. So stellt er den Pilger als ewig ruhelosen Wanderer sowohl zwischen zwei Welten, als auch als Mittler zwischen dem Troubadour und der Gräfin von Tripolis dar – beide aus selber Herkunft stammend (Provenzalen). Die Gräfin von Tripolis, die hier den historisch nicht belegbaren Namen Clémence trägt, stammt eigentlich aus dem Westen, befindet sich aber seit ihrem siebten Lebensjahr fern der Heimat, im Orient. In ihr fließen somit Erfahrungen aus dem Orient und Okzident zusammen – sie stellt jene im Exil lebende Person dar, die zwei Kulturen, zwei Welten in sich trägt. Die Parallelen zwischen dieser Figur und der Lebenserfahrung des Librettisten, der sich im Alter von 27 Jahren von seiner Heimat gezwungenermaßen verabschieden musste und seither im Westen lebt126, aber in sich diese beiden polarisierenden Identitäten mit sich trägt, sind deutlich erkennbar. Die dritte Figur, der Troubadour Jaufré Rudel verkörpert mit seiner Liebe zu Clémence die Sehnsüchte des Okzidents nach den märchenhaften Verheißungen des Orients – ganz nach den zauberhaften Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Den drei Protagonistinnen wird ein Chor zur Seite gestellt, der 125 Bettina Huter, L’amour de loin – „the story has chosen me“. Interview mit Kaija Saariaho. Übersetzt und bearbeitet von Bettina Huter, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 82. 126 Siehe dazu Kapitel 2.2. 48 entweder in der Funktion der Freunde Jaufré Rudels (Männerchor) oder der der Gefährtinnen Clémences (Frauenchor) beratend, kritisierend oder mahnend eingreift.127 Der Aspekt der Interkulturalität wurde bereits im Kapitel 2.2. und 2.3. genauer erläutert, jedoch ist es an dieser Stelle wichtig, diesen Aspekt im Libretto aufzugreifen. Generell sticht in der gesamten Geschichte das Thema der Interkulturalität hervor, in der Überfahrtsszene kommt es aber in dieser Hinsicht zu einer enormen Verdichtung: Beate Burtscher-Bechter, die die Überfahrtsszene im 4. Akt vor dem Hintergrund kulturtheoretischer Überlegungen analysiert, sieht darin den Beweis der interkulturellen Dimension des Librettos bestätigt. Mit der Überfahrt tritt der Moment des Übertritts und der Überschreitung kultureller Grenzen ein. Ferner verharrt Jaufré auf dem Meer in einem gewissen Zwischenraum. Er überschreitet in dem Moment, als er – zum ersten Mal in seinem Leben – das Schiff besteigt, eine moralische Grenze. Die geliebte Dame muss nach troubadouresken Regeln unerreichbar bleiben. Mit dieser Überfahrt wird aber auch eine weitere Grenze überschritten – die der Kultur – und damit wird der Eintritt in eine neue Welt überhaupt erst möglich. Das Mittelmeer ist dabei der Zwischenraum, die reale und symbolische Grenze zwischen den beiden Welten des Okzidents und des Orients. Bei der Interkulturation wird immer beides vorausgesetzt: einerseits gibt es die Grenze zwischen den Kulturen und andrerseits deren Überschreitung.128 Für Jaufré beginnt mit dieser Grenzüberschreitung ein neuer Lebensabschnitt, er selbst sagt: Am Ende der Reise liegt Clémence, liegt meine zweite Geburt, das Taufwasser wird tief und kalt sein, am Ende der Reise wird mein Leben beginnen. (IV, 75.)129 Burtscher-Bechter betrachtet diesen Zwischenraum als ausschlaggebenden Ort markanter intrapersoneller Veränderungen bei Jaufré Rudel, da mit dem Eintritt in den Zwischenraum seine Gedanken von Gegensätzlichem und Unvereinbarem beherrscht werden. Innere, tiefgehende Prozesse werden durch die Konfrontation innerhalb dieses Überganges von einer 127 Vgl. zu diesem Abschnitt auch Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 300-301. 128 Beate Burtscher-Bechter, Die wahre Liebe und nichts als die wahre Liebe? Zur interkulturellen Dimension in Amin Maaloufs Libretto zu L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 42-43. 129 Das Originallibretto auf Französisch ist erschienen in: Amin Maalouf, L’amour de loin. Livret, Paris 2001. Sämtliche Zitate aus dem Libretto auf Deutsch stammen aus: kaija saariaho. L’amour de loin. Kent Nagano, Ekaterina Lekhina, Marie-Ange Todorovitch, Daniel Belcher, Rundfunkchor Berlin, Deutsches SymphonieOrchester Berlin, Audio-CD, harmonia mundi, Begleitheft, Arles 2009, S. 32-107 und werden im Folgenden zitiert mit (Akt, Seitenzahl). 49 Welt in die andere bzw. dieses Aufeinandertreffens von unterschiedlichen Kulturen, Werten, Normen,... in Gang gesetzt. Pure und in sich widersprüchliche Angst („ich habe Angst, sie nicht zu treffen, ich habe Angst, sie zu treffen...“130) manifestiert sich in Jaufré Rudel. Die Angst des Troubadours vor den Konsequenzen der Begegnung mit der fremden Unbekannten ist mindestens ebenso groß wie das Bewusstsein, gegen die höfischen Regeln gehandelt zu haben. Burtscher-Bechter misst diesem inneren Hadern, diesem inneren Kampf große Bedeutung zu: Das Hadern von Jaufré kann als Auseinandersetzung mit jenen subjektiven und kollektiven Erfahrungen, gemeinschaftlichen Interessen und kulturellen Werten gelesen werden, die sich [in diesem Zwischenraum] gegenüberstehen.131 Für Jaufré gibt es keinen Weg zurück – er befindet sich auf dem Schiff auf hoher See. Der Prozess des Aushandelns und Haderns ist dabei stets präsent. In diesem inneren Abwägen, Aushandeln, sich Mut zusprechen, sich hoffnungslos fühlen, mit dem Schicksal, mit seinen Entscheidungen Hadern geht es nicht darum, Widersprüche zu glätten oder aus dem Weg zu räumen, sondern vielmehr darum, einen „Bewusstwerdungsprozess in Gang zu setzen und einen möglichen Umgang mit den Antagonismen zu finden“ 132 . Während im selben Akt anfangs – im obigen Librettoausschnitt gezeigt – Jaufré eine zweite Geburt vor seinen Augen sieht, packen ihn kurz später, während der Sturm133 das Schiff beängstigend schaukeln lässt und er sich totenbleich an der Reling anklammert, massive Zweifel: Von ferne ist die Sonne Licht des Himmels, von nahem aber ist sie Feuer der Hölle! Ich hätte mich länger, länger von ihrem fernen Leuchten wiegen lassen sollen, anstatt mich zu verbrennen! Ich war Adam, und das Fernsein war mein irdisches Paradies. Warum musste ich zum Baum gehen? Warum musste ich die Hand nach der Frucht ausstrecken? Warum musste ich mich dem gleißenden Stern nähern? (IV, 83-85) 130 Zur ausführlichen dramaturgischen und musikalischen Gestaltung hierzu siehe im Kapitel 8.6. Beate Burtscher-Bechter, Die wahre Liebe und nichts als die wahre Liebe? Zur interkulturellen Dimension in Amin Maaloufs Libretto zu L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 47. 132 Beate Burtscher-Bechter, Die wahre Liebe und nichts als die wahre Liebe? Zur interkulturellen Dimension in Amin Maaloufs Libretto zu L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 47. 133 Zur detaillierten Auseinandersetzung mit dem Sturm, dem dritten Bild des vierten Aktes, siehe Kapitel 8.10. 131 50 Maalouf lässt hier Jaufré in einer höchst symbolischen Sprache sprechen: Was bedeutet in diesem Fall Baum, Frucht, Adam, gleißender Stern? Um diese Bildsprache zu entschlüsseln, muss nur vor Augen geführt werden, zu welchem faszinierenden Ort Jaufré die Reise antritt – in den Orient: Für Christen und Juden beginnt die Menschheit im Garten Eden, den man im Orient zu finden weiß. Für die Perser ist der Garten ebenfalls innerhalb des spirituellen Lebens wichtig. Der Überlieferung nach suchten sie einen Hügel, auf dem sie einen Baum inmitten von anderem Grün pflanzten und umgaben den Ort mit einer Mauer. Dieser Garten sei Zufluchtsort für Körper und Seele. Auch im persischen Sufismus kommt dem Garten eine große Bedeutung zu. In ihren Gedichten bezeichnet der Sufi-Poet diesen und seinen Mittelpunkt, den Paradiesbaum Tuba, als einen Ort der Hoffnung.134 Der Garten Eden ist das Paradies – ein idealer Aufenthaltsort, der mit mehreren Bildern assoziiert wird: Zum Einen ist damit „ein schöner Garten mit üppigem Pflanzenwuchs und friedlicher Tierwelt gemeint, eine Stätte des Friedens, des Glücks und der Ruhe, die nach dem biblischen Schöpfungsbericht den Menschen von Gott als Lebensbereich gegeben wurde“, zum Zweiten bezeichnet dieser Begriff auch „das Jenseits als Aufenthaltsort Gottes und der Engel, in den die Seligen nach dem Tod aufgenommen werden, den Himmel.“ 135 Der Begriff „Eden“ stammt aus dem Hebräischen und bedeutet so viel wie „Wonne“, aber auch „Ebene“ oder „Wüste“. In alten Bibelstellen wird der Garten Eden deshalb auch als „Garten in Eden“ bezeichnet.136 Jaufré sieht sich als Adam, der bis vor kurzem im Paradies lebte – er hätte in diesem Paradies (seinem Schloss in Toulouse) für immer weilen und sich seinen Träumereien widmen können. Er hätte diesen sich lebendig anfühlenden Traum in dieser Wirklichkeit aufrecht und bestehen lassen können, indem er seine entfernte Geliebte weiterhin besungen hätte. Doch er konnte der Versuchung nicht widerstehen, von der „Frucht“ zu kosten – er ist der Verlockung, der entfernten Geliebten noch näher sein zu können, erlegen. Seine Liebeslieder an die ferne Geliebte waren, so lange er in seiner Heimat, fern von ihr weilte, ein gelebter Traum inmitten der Wirklichkeit – nun findet er sich in einem wahren Albtraum wieder, verstoßen aus dem Paradies. 134 Maryam Mameghanian-Prenzlow, Zwischen Wort und Bild. Iranische Literatur und Kunst der Gegenwart im Austausch, in: Der Orient, die Fremde: Positionen zeitgenössischer Kunst und Literatur, hg. von Regina Göckede und Alexandra Karentzos, Bielefeld 2006, S. 113. 135 Zit. nach Wassilios Klein, Wer hat Sehnsucht nach dem Paradies?, in: Sehnsucht nach dem Paradies. Paradiesvorstellungen in Judentum, Christentum, Manichäismus und Islam. Beiträge des Leucorea-Kolloquiums zu Ehren von Walther Beltz, hg. von Jürgen Tubach u.a., Wiesbaden 2010, S. 4. 136 Online verfügbar unter http://www.duden.de/rechtschreibung/Eden 51 6.3. Form und Instrumentarium Die Oper entspricht mit fünf Akten, drei Hauptfiguren und einem Chor einer konventionellen Form dieser Gattung. Sie beginnt mit einer Ouvertüre, die das musikalische Material vorstellt, hat als literarische Grundlage ein Libretto und ist von der Thematik der ersehnten und unerfüllten Liebe „opernartig“. Die Geschichte wird durch eine Folge von 13 Szenen erzählt. Im Laufe dieser 13 Szenen, die dem sinfonischen Gestus mit seinen Kontrasten und teleologischen Entwicklungen entsprechen, geht es zentral um den Sog der Annäherung an das Andere, an den Anderen bis zur glücklichen und zugleich tragischen Begegnung am Ende. 137 Die musikalische Sprache der Oper ist allerdings eindeutig der Moderne zuzurechnen.138 Anfangs hat Saariaho die Absicht, fünf Sänger und Sängerinnen als Hauptfiguren mit fünf verschiedenen Tessituren nach dem Modell des vokalen Gleichgewichts in den Opern von Mozart zu komponieren, jedoch wird die Handlung im Laufe der Zusammenarbeit mit dem Librettisten Maalouf und dem Regisseur Sellars auf drei Hauptpersonen reduziert: der Troubadour Jaufré Rudel, Prinz von Bleye (Bariton), Clémence, die Gräfin von Tripoli (Sopran) und der Pilger (Mezzosopran), obgleich diese ,Reduzierung‘ vielmehr einer Substituierung gleichkommt, da die beiden anderen Personen durch den Chor vertreten werden. Die beiden Chöre – die Gefährten Jaufré Rudels als Männerchor sowie ein Frauenchor, der die Frauen von Tripolis und Anhängerinnen der Gräfin Clémence repräsentieren – dienen als organischer Bestandteil der musikalischen Substanz, der die innigsten emotionalen Bewegungen der Protagonisten zum Ausdruck bringen. Die Chöre sind somit nicht als distanzierter Kommentator des Geschehens „von außen“ konzipiert.139 Während Jaufré Rudel sowohl eine fiktive, als auch reale Person ist (siehe Kapitel 4.), ist im Gegensatz dazu der Pilger (Mezzosopran in einer Hosenrolle) eine metaphorische Figur: Sie trägt keinen Namen, handelt als Bote, als Hermes, vielleicht auch als Engel zwischen den Liebenden.140 Saariaho verwendet alle Instrumente des großen Orchesters mit erweitertem Schlagzeug, die durch zahlreiche Spielarten, wie Tremoli, Vibrati, dynamische Schwankungen, 137 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 44. 138 Liisamaija Hautsalo, Die Sehnsucht nach dem Transsensuellen, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin. Begleitheft der DVD, München 2005, S. 14. 139 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 43. 140 Liisamaija Hautsalo, Die Sehnsucht nach dem Transsensuellen, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin. Begleitheft der DVD, München 2005, S. 15. 52 Mikrointervalle, tasto 141 , ponticello 142 , unterschiedlicher Bogendruck für die Streicher, Dämpfer und Atemgeräusche für die Bläser143, zirkuläre Glissandi für die beiden Harfen, etc. die klanglichen Möglichkeiten in hohem Maße erweitern. Auch die Sängerinnen nutzen die verschiedenen Klangmöglichkeiten ihrer Stimme, indem sie kontinuierlich von einem Laut zum anderen oder von einer Singart zu einer anderen übergehen, flüstern, sprechen, mit oder ohne Vibrato singen etc.144 Ferner verwendet Saariaho elektronische Klänge, die gemeinsam mit dem Klang des großen Orchesters und seinen mitunter oben beschriebenen unkonventionellen Spielarten sowie den vielfältigen Facetten und klanglichen Möglichkeiten der menschlichen Stimmen ein echtes Oszillogramm der Gefühle ermöglichen. Der Pianist bedient auch das Keyboard und hat die Aufgabe, elektronische Klänge einzusetzen. Eine weitere Person ist für die Balance zwischen den verschiedenen musikalischen Materialebenen zuständig. Saariaho lässt in diesem Werk die Elektronik nur dann einsetzen, wenn die Klangfarbe und Orchestrierung durch konkrete Geräusche erweitert werden soll, indem gefilterte Resonanzklänge und Geräusche der Natur (zum Beispiel Vogelgesänge, Wind,...) der Orchestertextur angepasst werden.145 Es geht Saariaho demnach nicht darum, elektronische Musik einzusetzen, um einen elektronischen, virtuellen Klangeindruck zu erzeugen, sondern „es geht ausschließlich darum, der Grundidee des spektralen Komponierens folgend Kontinuitäten zu schaffen, [...], die eine reichere und subtilere Klangwelt ermöglichen“146. 141 Sul tasto meint eine bestimmte Spielart auf den Streichinstrumenten, bei der über dem Griffbrett gestrichen oder gezupft wird. Effekt dieser Spielart ist die Reduktion von hohen Teiltönen. Siehe Art. Sulla tastiera, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, hg. von Stanley Sadie, Bd. 18 (Spiridion-Tin whistle), New York u.a. 1995, S. 355. 142 Sul ponticello meint eine bestimmte Spielart auf den Streichinstrumente, bei der sehr nah am Steg gestrichen wird, um die unteren Teiltöne zugunsten der höheren zu vermindern. Effekt dieser Spielart ist ein dünner, sphärischer Klang. Siehe Art. Sul ponticello, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, hg. von Stanley Sadie, Bd. 18 (Spiridion-Tin whistle), New York u.a. 1995, S. 365. 143 Hier ist im Speziellen die Flöte – ein von Saariaho in ihren frühen Kompositionen bevorzugtes Instrument – zu erwähnen, da der Flöte gleichzeitig Ton und Geräusch zu entlocken sind. „Der reine Ton der Flöte kann unbegrenzt die Geräusche der unteren Register oder des Atems absorbieren [...]“: Ivanka Stoïanova, Kaija Saariaho. Ein Komponistenporträt, in: Kritische Musikästhetik und Wertungsforschung. Otto Kolleritsch zum 60. Geburtstag, hg. von Otto Kolleritsch, Wien/Graz 1996, S. 44. 144 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 43. 145 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 43-44. 146 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 44. 53 6.4. Inhalt Die Oper erzählt in fünf Akten die Geschichte des im 12. Jahrhundert lebenden Troubadours Jaufré Rudel, der sich, sehnend nach wahrer Liebe auf Erden, auf eine waghalsige und letztlich tödliche Reise in den Orient wagt, um jene Frau kennenzulernen, die dieses übermenschliche Glück zu verkörpern scheint.147 Die fünf Akte, denen ein Orchestervorspiel voran geht, bestehen aus zwei bis vier Bildern, deren Titel – wie alle Werke Saariahos – bereits eine gewisse Stimmung, eine Assoziation, einen bestimmten (bedeutenden) Namen oder Ort beschreiben: Orchestervorspiel: Überfahrt 1. Akt, erstes Bild: Jaufré Rudel ; zweites Bild: Der Pilger 2. Akt, erstes Bild: Clémence ; zweites Bild: Der Pilger 3. Akt, erstes Bild: Im Schloss von Blaye ; zweites Bild: In Tripoli am Strand 4. Akt, erstes Bild: Indigofarbenes Meer ; zweites Bild: Traum ; drittes Bild: Sturm 5. Akt, erstes Bild: Der Garten der Zitadelle in Tripoli ; zweites Bild: Wenn doch der Tod warten könnte ; drittes Bild: Ich hoffe noch ; viertes Bild: Zu dir, der so fern ist 6.4.1. 1. Akt Der erste Akt basiert auf dem Eingangssatz der vida: „Et enamoret se de la comtessa de Tripol, ses vezer, per lo ben qu’el n’auzi dire als pelerins que venguen d’Antiocha.“ – „Und er verliebte sich in die Gräfin von Tripolis, ohne sie je gesehen zu haben, nur ob des Guten, das er Pilger, die aus Antiochia zurückkehrten, von ihr hatte sagen hören.“148 Erstes Bild: Jaufré Rudel (Jaufré, Chor der Gefährten) Der erste Auftritt gehört dem durch diffuse Sehnsüchte nach einer fernen Liebe getriebenen Troubadour. „Ich lernte, vom Glück zu sprechen, aber glücklich zu sein habe ich nicht gelernt“, gesteht sich Jaufré ein. Er ist des vergnügungssüchtigen, oberflächlichen Lebens eines jungen Adeligen überdrüssig geworden. Seine Weggefährten erinnern ihn an die 147 Sämtliche Inhaltsbeschreibungen der Oper stammen von folgenden Quellen: Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 301-302 sowie Kaija Saariaho: L’amour de loin. Begleitheft der DVD, München 2005, S. 16-18. 148 vida und deren deutsche Übersetzung online verfügbar unter http://www.literaturwissenschaft-online.unikiel.de/veranstaltungen/ringvorlesungen/liebesdichtung_antike_barock/Troubadour_Folien.pdf 54 Leichtigkeit seines bisherigen Daseins, doch er entgegnet ihnen: „Diesen Jaufré, der jede Nacht seinen Körper auf dem einer Frau wiegte, wird man nie mehr sehen.“ Vielmehr weiß er nun: Die Frau seiner Sehnsüchte, die er in seinen Liedern besingt, „ist so fern, dass ich sie nie umfangen werde ... Schön, ohne den Hochmut der Schönheit, vornehm ohne den Hochmut des vornehmen Standes. Fromm ohne den Hochmut der Frömmigkeit.“ Seine Gefährten aber verspotten ihn. Sie appellieren an den Liebeskranken, sein früheres Leben wiederaufzunehmen und insinuieren, die von ihm besungene ideale Geliebte existiere gar nicht. Zweites Bild: Der Pilger (Pilger, Jaufré, Chor der Gefährten) Der Pilger erscheint und berichtet von der Existenz einer Frau, die den Sehnsüchten Jaufrés entspricht. Auf einer seiner Reisen hat er sie in Tripolis getroffen. Jaufré ist von der Erzählung des Pilgers völlig verzaubert: „Was hast du mit mir gemacht, Pilger? Du hast mir die Quelle gezeigt, aus der ich nie trinken werde. Nie wird die ferne Dame mein sein, ich aber bin der ihre für immer.“ Der Bericht des Pilgers versetzt den Prinzen erst in die Lage, seiner „amor de lonh“ ein Gesicht zu geben. 6.4.2. 2. Akt Dieser Akt hat keine Entsprechung in der vida. Erstes Bild: Clémence (Clémence, Pilger) Der Pilger kehrt über das Meer zurück in den Orient nach Tripolis und trifft auf Clémence, die Gräfin von Tripolis, die jedes Schiff mit Spannung erwartet. Sie wurde einst im Abendland, bei Toulouse geboren. Jedes ankommende Schiff erinnert sie an ihr Exil, jedes ablegende Schiff an ihre Verlassenheit: „Das Land, wo ich geboren bin, lebt in mir, doch für es bin ich gestorben. Wie glücklich wäre ich, würde eine einzige Mauer, ein einziger Baum sich meiner erinnern.“ Doch ein Mann denke dort, im fernen Aquitanien an sie, berichtet ihr der Pilger, ein Troubadour, der sie in seinen Liedern als unbekannte Schönheit, als „Liebe aus der Ferne“ besingt. Mit welchem Recht tut er dies?, fragt sich Clémence befremdet. Zweites Bild: Liebe aus der Ferne (Pilger, Clémence) Als der Pilger ihr – in französischer Sprache – Auszüge aus Lanqand li jorn son lonc on mai vorsingt, bleibt die Gräfin, die zuerst gehörten Verse sinnend auf Okzitanisch wiederholend, 55 tief bewegt zurück. Clémence ist ergriffen und zugleich zweifelnd: „Wenn dieser Troubadour mich kennen würde, hätte er mich dann so inbrünstig besungen? ... Troubadour, ich bin nur schön im Spiegel deiner Worte.“ 6.4.3. 3. Akt Erstes Bild: Auf der Burg von Blaye (Jaufré, Pilger) Der dritte Akt beginnt mit der Rückkehr des Pilgers an Jaufrés Hof und dessen Bericht von seiner Begegnung mit der Gräfin von Tripolis. Jaufré befragt ihn begierig nach seiner fernen Liebe. Zunächst erzürnt darüber, dass der Pilger der Unbekannten die Identität des Prinzen preisgegeben hat, dessen Liebe gestand und es sogar wagte, dessen Gedichte zu rezitieren, beschließt Jaufré, sich auf die Reise zu ihr zu begeben: „Es war angenehm, sie nach Muße zu betrachten, ohne dass sie mich sah. Es war einfach, meine Lieder zu schreiben, da sie sie nicht hörte. Aber jetzt müsste sie sie aus meinem und keinem anderen Munde hören.“ Dieses Bild zeigt Jaufré Rudels aus der Auseinandersetzung mit den Freunden und dem Pilger resultierenden Entschluss, sich einzuschiffen. Nur dieser Teil ist durch die vida motiviert, in der es heißt: „Et per voluntat de leis vezer, el se croset e se mes en mar,“ („Und weil er sie sehen wollte, nahm er das Kreuz und schiffte sich ein,“149). Am Ende dieser Szene wird auch deutlich, dass die Gräfin ihren so ganz und gar nicht okzitanischen Vornamen aus dramaturgischen Gründen trägt: Als der Pilger auf Jaufrés Aufforderung hin gegen Ende dieses Bildes ihren Namen nennt: „Clémence, elle se prénomme Clémence“ („Clémence, ihr Name ist Clémence“) lässt sich der Troubadour prompt zu folgendem Wortspiel hinreißen: „Clémence, Clémence, comme le Ciel es clément! Clémence, la mer clémente va se refermer devant moi, pour que je puisse la franchir á pied sec jusqu’au pays où tu respires“ – „Clémence, Clémence, wie der Himmel gnädig ist! Clémence, das gnädige Meer wird sich vor mir schließen, damit ich es trockenen Fußes überqueren kann, um in das Land zu gelangen, in dem du atmest.“ Zweites Bild: In Tripolis am Strand (Clémence, Chor der Frauen von Tripolis) Clémence singt auf Okzitanisch am Meer die beiden letzten vom Pilger gehörten Strophen von Lanqand li jorn son lonc en mai. Die Frauen, die sie umgeben kommentieren kritisch den besungenen Liebesbegriff der „amor de lonh“: „Welche Frucht kann diese Liebe aus der 149 vida und deren deutsche Übersetzung online verfügbar unter http://www.literaturwissenschaft-online.unikiel.de/veranstaltungen/ringvorlesungen/liebesdichtung_antike_barock/Troubadour_Folien.pdf 56 Ferne tragen? ... Leidet ihr nicht darunter, dem Geliebten fern zu sein?“ Doch Clémence scheint die Distanz wahren zu wollen: „Seine Lieder sind mehr als Zärtlichkeiten, und ich weiß nicht, ob ich den Mann so lieben würde wie den Dichter ... Zweifellos würde ich leiden, wartete ich auf diesen Mann und er käme nicht. Aber ich warte nicht auf ihn.“ 6.4.4. 4. Akt Der 4. Akt entwickelt das Motiv der Seereise parallel zu den wachsenden Ängsten Jaufré Rudels vor der tatsächlichen Begegnung mit der fernen Liebe, seine Krankheit und die Ankunft in Tripolis als Sterbender. Damit entspricht der vierte Akt eng der Vorgabe der vida, in der geschrieben steht: „e pres lo malautia en la nau, e fo condug a Tripoli, en un alberc, per mort“ („und auf dem Schiff wurde er krank, und er wurde nach Tripolis in eine Herberge gebracht, wo man ihn für tot hielt“150), allerdings wird (im fünften Akt) die Herberge durch den Hafen von Tripolis, am Fuße des Palastes der Gräfin ersetzt. Außerdem ist der vierte Akt durch eine Traumvision Jaufré Rudels von der „Gräfin über den Wassern“ angereichert. Erstes Bild: Indigofarbenes Meer (Jaufré Rudel, Pilger) Jaufré Rudel fährt zum ersten Mal auf dem Meer. Der Pilger hingegen hat das Meer schon oft bereist und schwärmt von der Weite des Himmels und dem Duft der Wellen. Für Jaufré gibt es nur einen Gedanken: Die Reise endet bei Clémence. Zweites Bild: Traum (Jaufré Rudel, Pilger) Jaufré hat von seiner fernen Geliebten geträumt: „Sie wandte sich um und öffnete die Arme, aber ich wagte nicht, zu ihr zu gehen.“ Er hat Angst, sie nicht zu finden, und Angst, sie zu finden, Angst zu sterben und Angst zu leben. Der Traum ist ein in der Troubadourlyrik weit verbreitetes, auch vom historischen Jaufré Rudel gern variiertes, ursprünglich erotisches Motiv151. Drittes Bild: Sturm (Jaufré Rudel, Pilger, Chor) Jaufré fiebert der Ankunft bei seiner „Liebe aus der Ferne“ entgegen, doch er fürchtet sich zugleich davor. Seine immer angstvoller werdenden Gedanken machen ihn krank. Je näher sie 150 vida und deren Übersetzung online verfügbar unter http://www.literaturwissenschaft-online.unikiel.de/veranstaltungen/ringvorlesungen/liebesdichtung_antike_barock/Troubadour_Folien.pdf. 151 Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 305. 57 Tripolis kommen, umso mehr bereut er seine Reise: „Ich war Adam, und das Fernsein war mein irdisches Paradies. Warum musste ich zum Baum gehen? Warum musste ich nach der Frucht greifen?“ 6.4.5. 5. Akt Erstes Bild: Garten auf der Zitadelle (Chor der Frauen von Tripolis, Clémence, Pilger) Die Frauen von Tripolis verkünden die Ankunft Jaufré Rudels. Clémence ist in ihren Gefühlen schwankend: „Also ist er gekommen. Der Liebestolle ist übers Meer gefahren, um mich zu sehen, so wie ich bin ... Sollte ich fernbleiben, unnahbar? Oder mich im Gegenteil nah zeigen?“ Der Pilger kommt und berichtet, dass Jaufré Rudel schwer krank ist und nur Clémence seinen Tod noch aufhalten kann. Zweites Bild: Wenn der Tod warten könnte (Jaufré Rudel, Clémence, Pilger, Chor der Gefährten) Alle sie umgebenden Bedenken sind verschwunden, als Clémence und der todkranke Jaufré Rudel zusammentreffen. Sie gestehen sich gegenseitig ihre innige Liebe. Jaufré Rudel stirbt in den Armen von Clémence mit den Worten: „In diesem Augenblick habe ich alles, was ich begehre. Was mehr vom Leben verlangen?“ Drittes Bild/Viertes Bild: Meine Hoffnung bleibt/Zu dir, der so fern ist (Clémence, Chor, Chor der Frauen von Tripolis, Pilger, Chor der Gefährten) In ihrer Verzweiflung empört sich Clémence gegen Gott: „Ich hatte gehofft, dass Du einem so liebenden Wesen noch mehr Liebe erweisen würdest.“ Die Stimmen des Chores – die Strafe Gottes fürchtend – versuchen zu besänftigen. Clémence, die sich nun keinem anderen Mann mehr hinzugeben vermag, beschließt, ins Kloster zu gehen. Ob sie am Ende ihre Gebet an ihren fernen Gott oder an den fernen Geliebten richtet, bleibt offen: „Wenn Du Liebe heißt, bete ich nur Dich an, Herr [...] Vergib mir meine Zweifel an Deiner Liebe [...] und Dir. Herr, Du bist die Liebe, Du bist die Liebe aus der Ferne.“ 58 7. Kompositionsstil Kaija Saariahos Ich teile die Musik in verschiedene Kategorien, nach der Natur der Klänge, nach ihrer Oberfläche, ist sie körnig oder weich, oder nach der Helligkeit des Spektrums, danach, ob das Spektrum sehr klar und rein ist oder ob es komplex ist, je komplexer, um so mehr Anteile von Geräusch hat der Klang in sich.152 Für Saariaho existiert eine enge Verbindung zwischen Musik und Visualität. Ob dies mit ihrer zweiten Leidenschaft, der Malerei, die sie vor dem Kompositionsstudium zwei Jahre studierte, zusammenhängt, kann sie selbst nicht bestätigen. Sie stellt sich Orchesterklänge immer in Form von Farben oder Lichtnuancen vor. Bevor sie zu komponieren beginnt, macht sie sich ein Gesamtbild der Komposition. Sie überlegt sich die Mittel, die sie für die Umsetzung dieser Vorstellung benötigt. Die graphische Skizzenarbeit hilft ebenfalls, ein Gesamtbild entstehen zu lassen, aus diesem in der Folge eine Gesamt-Atmosphäre der Arbeit und der Einzelbausteine resultiert. Dieses imaginäre Gesamtbild bildet das Fundament für die Komposition, erst danach beginnt sie, das konkrete Material zu entwickeln.153 Das Komponieren ist für Saariaho „ein stetiges Gespräch zwischen dem bewussten Gedanken und dem Unbewussten.“154 7.1. Auf der Suche nach Gegensatzpaaren Saariaho sucht „neuartige Gegensatzpaare, mit deren Hilfe [sie] das Denken und die Zeit, also die Musik, gestalten bzw. strukturieren kann.“155 Charakteristisch für Saariahos Stil sind die langsamen Wechsel und Verwandlungen, offenen Schlüsse und die Endlosigkeit. Die Affinität zur melodischen Dimension ist erst Mitte der 1990er Jahre in ihren Kompositionen bemerkbar – in diesen Jahren komponiert sie vermehrt Vokalwerke, wodurch die Melodie 152 Zitat von Kaija Saariaho, verfügbar in Onlinequelle unter Zander, Margarete: „Ich möchte nicht elitär sein“ Die finnische Komponistin Kaija Saariaho ist „composer in residence“ von KLANG!: http://www.klanghamburg.de/die-projekte/composer-in-residence/kaija-saariaho-0809/. 153 Bettina Huter, L’amour de loin – „the story has chosen me“. Interview mit Kaija Saariaho. Übersetzt und bearbeitet von Bettina Huter, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 81-82. 154 Michael Kurtz, Kaija Saariaho auf dem Weg zu ihrer Oper „L’amour de loin “. Musik und die visuelle Welt und vielfältige Facetten der Stimme, in: Offizielles Programm der Salzburger Festspiele 2000, hg. von Friedel Schafleitner, Salzburg/Wien 2000, S. 158. 155 Zit. nach Tomi Mäkelä, Kaija Saariaho und Finnland in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 28. 59 eine größere Bedeutung für sie erhält.156 Theo Hirsbrunner sieht Saariahos Musik vor allem durch die „Etablierung eines Kontinuums, das allmählich vom Geräusch zum Klang kommt“157, charakterisiert. Saariahos Kompositionsstil ist geprägt von der Idiosynkrasie gegenüber traditionellen Kompositionskategorien, die nicht nur in der absoluten Verweigerung liegt, Stücke in Sonatenform oder Fugentechnik zu schreiben, sondern viel weiter noch, in der teilweisen Elimination von Melodie, Harmonik und Rhythmus als zentrale vertikal-horizontale Zusammenhänge stiftende Kräfte. Jungheinrich spricht von der präzisen Strukturierung des Ungefähren, das sie sich offensichtlich bei György Ligetis und Klaus Hubers Vernetzungstechnik von Tonelementen sowie Brian Ferneyhoughs Zerstäubungsstrategie abgeschaut hat.158 Während die Dualismen des Futurismus solche wie Technik und Natur, Kunst und Wissenschaft sind, arbeitet Saariaho synthetisch und von der unkonventionellen, wahrhaftigen menschlichen Psyche ausgehend, die Individualität des Einzelnen respektierend und ihre eigene Individualität bedingungslos preisgebend.159 Saariahos Werke zeichnen sich ebenso durch synästhetisch–intermediale Komponenten aus. Diese Dualismen transportiert Saariaho auf zwei unterschiedlichen Ebenen: Zum Einen arbeitet sie mit dem klassischen und erweiterten Orchester- und Schlagwerkapparat in Kombination mit elektronischen Liveverfahren; zum Zweiten ist es Saariaho ein Anliegen, die verschiedenen Prozesse, Peripetien der menschlichen Psyche und das gleichzeitige Vorhandensein gegensätzlicher, aber dennoch in einem einzigen Individuum seienden Emotionen mithilfe des Klanges auszudrücken. Saariaho wird häufig gefragt, ob sie ihren Kompositionsstil als besonders „weiblichen“ Stil beschreiben würde. Sie selbst will vom spezifisch „weiblichen“ Komponieren jedoch nichts wissen160. Das Element einer weiblichen Ästhetik bei Saariaho könnte eventuell aufzuspüren sein, indem man ihre Kompositionen mit den Komponenten des Pflanzenhaften, Organischen, 156 Liisamaija Hautsalo, Die Sehnsucht nach dem Transsensuellen, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin. Begleitheft der DVD, München 2005, S. 13. 157 Theo Hirsbrunner, Kaija Saariaho – von der Peripherie ins Zentrum, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 31. 158 Hans-Klaus Jungheinrich, Facetten einer Identität. Annäherungen an Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 15. 159 Tomi Mäkelä, Kaija Saariaho und Finnland in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 28. 160 Hans-Klaus Jungheinrich, Facetten einer Identität. Annäherungen an Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S.13. 60 Nichtabrupten in Verbindung bringt. 161 Jedoch ist es nicht möglich, in der Partitur auf Einzelheiten hinweisen zu können, von denen behauptet werden könnte, dass sie kein Mann komponieren hätte können. 162 Saariaho möchte mit der Oper L’amour de loin eine „Art Meditation über die Liebe und den Tod“ komponieren. Mit Musik, so Saariaho könne man „Dinge ausdrücken, die man nicht so leicht mit konzeptuellem Denken und mit präziser Sprache beschreiben kann.“163 7.2. Graphische Notizen Neben ihrer Ausbildung in seriellen Kompositionstechniken ist Saariahos musikalisches Denken durch die darstellende Kunst und vor allem durch die Farbenlehre von Johann Wolfgang Goethe und Vasilij Vasil’evič Kandinskij geprägt. Sie inspirieren sie nicht nur dazu, mit dem Übergang zwischen Vokalen und Konsonanten zu experimentieren und einen Übergangsprozess zwischen Geräusch und Klang zu generieren 164 , sondern sie nutzt ihr graphisches Denken vor allem in der Anfangsphase des Kompositionsprozesses, bevor eine Note überhaupt geschrieben wird. Mit grafischen Hinweisen zur Gestaltung der Geräuschepolyphonie arbeiteten auch die Futuristen Marinetti und Russolo. 165 Diese Werkskizzen, die mehr an Zeichnungen als an eine Musiknotation erinnern, dienen dazu, einen Überblick über den Verlauf der Form zu bekommen.166 Da für die Oper L’amour de loin keine graphischen Notizen als Kopien oder Autographe zur Verfügung stehen, soll hier die erste Skizze 167 des Werkes Verblendung 168 abgebildet werden, um einen kleinen Einblick in das bildhafte Denken der zu komponierenden Musik bei Saariaho zu gewinnen: 161 Hans-Klaus Jungheinrich, Facetten einer Identität. Annäherungen an Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 13-14. 162 Hans-Klaus Jungheinrich, Facetten einer Identität. Annäherungen an Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 14. 163 Bettina Huter, L’amour de loin – „the story has chosen me“. Interview mit Kaija Saariaho. Übersetzt und bearbeitet von Bettina Huter, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 85. 164 Sanna Iitti, Art. Saariaho, Kaija (Anneli), geb. Laakkonen, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik begründet von Friedrich Blume. Zweite, neubearbeitete Ausgabe, hg. von Ludwig Finscher, Kassel u.a. 2005, Personenteil Bd. 14, Sp. 733-737. 165 Tomi Mäkelä, Kaija Saariaho und Finnland in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, Mainz 2007, S. 28. 166 Theo Hirsbrunner, L’amour de loin und Adriana Mater, die beiden Opern von Kaija Saariaho. Ein Vergleich, in: Musiktheater der Gegenwart. Text und Komposition, Rezeption und Kanonbildung. Mit einem Schwerpunkt: Die Salzburger Ur- und Erstaufführungen in Theater und Musiktheater, hg. von Jürgen Kühnel, Ulrich Müller, Oswald Panagl, Anif/Salzburg 2008, S. 204. 167 Pirkko Moisala, Kaija Saariaho, Urbana und Chicago 2009, S. 31. 168 In diesem Werk kombiniert Saariaho das erste Mal aufgenommene Musik mit Live-Musik. 61 7.3. Rhythmus Während Rhythmus in den früheren Werken Saariahos ein weniger zentraler musikalischer Parameter war, bezieht Saariaho seit mittlerweile über zehn Jahren das Element Rhythmus immer mehr in ihre kompositorische Arbeit ein. Ein Unterschied ist hierbei zwischen den beiden Opern L’amour de loin und Adriana Mater zu erkennen. Während in der Oper L’amour de loin der klangliche Ausdruck von Emotionen im Vordergrund steht, ist Rhythmus bei der zweiten Oper geradezu omnipräsent. Jungheinrich sieht den Rhythmus bei Saariahos Musik zu L’amour de loin als kein Ausdrucksmedium, sondern vielmehr wachsen und wuchern aus den elementaren, eine gewisse Raumsicherheit herstellenden Anfängen, pflanzenartige musikalische Gestalten oder auch vielfältig opalisierende (glänzende), wie in unendlichen Lichtreflexen zart sich verändernde Gesteinsformationen169. Den prononcierten aktiven Rhythmus wählt sie, bei ihrer zweiten Oper Adrian Mater, so Jungheinrich, um Gewalt und größte Spannung musikalisch adäquater darstellen zu können. Abgesehen davon verwendet Saariaho in dieser zweiten Oper keine konkreten elektronischen Klänge, jedoch nutzt sie elektronische Hilfsmittel, um die Musik aus dem Orchestergraben herauszuholen und auf durchdachten Wegen durch das Publikum wandern zu lassen.170 169 Hans-Klaus Jungheinrich, Facetten einer Identität. Annäherungen an Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 15. 170 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 45. 62 Saariaho selbst sieht indessen in der Oper L’amour de loin sehr wohl eine starke Einbeziehung des Rhythmus. Jaufré, Clémence und der Pilger, drei unterschiedliche Charaktere, haben ihr individuelles musikalisches Material, wobei sich jedes auch durch seinen eigenen Rhythmus auszeichnet. Saariaho dazu: Jaufré ist sehr aktiv. Bei ihm ist die Musik pulsierend und vorwärts bewegend. Im Gegensatz dazu gibt es bei Clémence fast keinen Rhythmus, außer wenn sie zornig wird. Die Musik, die sie charakterisieren soll, ist mehr eine räumliche Ausdehnung als eine zeitliche Bewegung. Der Chor hingegen hat sehr oft aktive und primitive rhythmische Elemente. Das musikalische Material weist also sehr unterschiedliche und gegensätzliche rhythmische Parameter auf.171 Nicht nur die Protagonistinnen sind durch ihren eigenen Rhythmus charakterisiert, sondern der Orchesterklang scheint immer wieder das Pulsieren des Meeres aufzugreifen. Für Maria Deppermann ist der Rhythmus in dieser Oper zwar schwer auszumachen, dennoch wird er als „Pulsieren des Meeres, des Atems und des Herzens [...] hörbar“172 und die letzten Herztöne Jaufré Rudels hört man im Orchester (Zimbeln und erste Violinen) zu seinen Worten: Was könnte ich mehr vom Leben verlangen? (V, 99) 171 Bettina Huter, L’amour de loin – „the story has chosen me“. Interview mit Kaija Saariaho. Übersetzt und bearbeitet von Bettina Huter, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 84. 172 Maria Deppermann, Toteninsel und Elfenbeinturm. Zur Uraufführung der Oper L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 25. 63 Nach den letzten Worten Jaufrés folgen noch drei „Herzschläge“ mit den Zimbeln, die Violinen 173 beenden die Achtelbewegung auf h2 ebenfalls einen Takt später – eine Generalpause lässt diesen Moment inne halten. 7.4. Aller Anfang ist der Einzelton: Metabolismus als kompositorisches Grundprinzip Ein weiteres Charakteristikum von Kaija Saariahos Kompositionsprozess ist der Beginn des Werks mit nur einem Einzelton, der durch verschiedene Instrumente wandert, dabei oszilliert, sich immer mehr verfärbt und lebhaft umspielt wird. Jungheinrich spricht in diesem Zusammenhang von dem Begriff „Klangfarbenmelodie“, aber er würde diese musikalische Form noch mehr als ein sich „Herausentwickeln von Formen und Gestalten aus einer punktförmigen Latenz“ beschreiben.174 Saariaho lässt die Oper aus einem einzigen Akkord, quasi einem Aggregat heraus entstehen, der das gesamte Werk durchdringt. In der Oper L’amour de loin wird dieser Akkord bereits beim Orchestervorspiel Überfahrt an erste Stelle gesetzt.175 7.5. Harmonie-Klangfarbe – ein kompositorisches Charakteristikum Der Begriff der Harmonie-Klangfarbe (l’harmonie-timbre) ist zentral in Saariahos Kompositionsschaffen. Das Streben nach einer einheitlichen, kohärenten Komposition ist sowohl in ihren Werken allgemein, aber vor allem in den Opern zentral. Diese Einheit und Kohärenz basieren auf der grundlegenden Harmonie-Klangfarbe. Diese Harmonie-Klangfarbe definiert die musikalische Substanz, sie ist quasi ein gedachtes Konzentrat, ein mehrschichtiger und mehrdeutiger Kern, aus dem die spezifischen musikalischen Charaktere entstehen, so zum Beispiel die individualisierte Sprache der Protagonistinnen. Die HarmonieKlangfarbe ist so etwas wie eine „musikalische Grundfarbe der Szene“176. Die spezifischen 173 Sämtliche Musiknotenbeispiele sind entweder der Partitur Kaija Saariaho. L’amour de loin. „high“ Clémence part. Full Score. Acts I-V, Chester Music 2005 (in der Folge zitiert mit Akt, Taktangabe, Seitenzahl) oder des Klavierauszuges Kaija Saariaho. L’amour de loin. Vocal score. Chester Music 2002 (in der Folge zitiert mit Akt, Taktangabe, KIA, Seitenzahl) entnommen. 174 Hans-Klaus Jungheinrich, Facetten einer Identität. Annäherungen an Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 14. 175 Siehe dazu im Kapitel 8.1. 176 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 38. 64 musikalischen Charaktere erhalten erst durch das Entstehen und Herausarbeiten von Skalen, Melodien, Imitationen, Akkorden, Geräuschen, von dichten Texturen, detaillierten Clustern etc. aus der zugrundeliegenden Harmonie-Klangfarbe ihre Lebendigkeit. Dieser Entstehungsprozess nimmt in Saariahos Kompositionen meist durch einen einzelnen Klang – sozusagen der präzisen Idee einer Harmonie-Klangfarbe, ihren Anfang.177 Diese präzise Idee wird bereits am ersten Klang der Oper L’amour de loin musikalisch formuliert.178 In der Opernszene hängt diese musikalische Formentwicklung, dieses Entstehen, sich Weiterspinnen eng mit der narrativen Handlung, mit der Bedeutung des Textes und vor allem mit den inneren Gefühlszuständen des einzelnen Protagonistinnen bzw. mit den Peripetien und Spannungen in der Handlung zusammen. Damit setzt Saariaho anstatt der thematischen Einheiten und der abstrakten klassischen Formschemata in der klassischen und romantischen Tradition den analysierten Klang, der sich in alle Richtungen ausbreiten kann, und sich damit dynamische Formentfaltungen der musikalischen Materie ergeben, in den Mittelpunkt ihres kompositorischen Schaffens. Der Begriff der grundlegenden Harmonie-Klangfarbe impliziert jedoch nicht, dass es eine einzige im gesamten Werk gibt und sich daraus alle spezifischen Charaktere ableiten, sondern jede Szene wird durch ihre Harmonie-Klangfarbe individuell prägnant – dies nicht zuletzt deshalb, um individuelle Charaktere, Situationen und Gefühle adäquat musikalisch zu schildern. Wichtig ist, dass trotz dieser dynamischen Entfaltung des musikalischen Materials Zusammenhänge nachvollziehbar bleiben. Deshalb müssen die Harmonie-Klangfarben leicht erinnerbar sein, damit dem Zuhörer die Projektionen, Spreizungen und Entfaltungen als kohärenzschaffende, anziehende Kraft erkennbar werden. Das heißt, die Harmonie-Klangfarbe erfüllt als Urgrund der musikalischen Idee sowohl die Möglichkeit der freien „Explosion, Projektion oder Expansion in alle Richtungen“ als auch eine präzise, sich auf sie beziehende Kraft, die eine Einheit und die Kohärenz des Gesamten erkennbar gestalten lässt. Die Harmonie-Klangfarbe ist somit weder eine starre thematische, noch eine unreflektiert flexible Substanz, sondern eine „Art Matrix, aus der musikalisches Leben [...] entsteht.“ Das Charakteristikum dieser Matrix, die auf Grundlage der HarmonieKlangfarbe beruht, ist die Mehrdimensionalität.179 Das Komponieren auf Basis eines Klangspektrums oder einer Harmonieklangfarbe, die sowohl eine Einheit bildet als auch Flexibilität durch metabolische Variationen zeigt, ist im 20. Jahrhundert bereits durch Arnold Schönbergs Kompositionen, vor allem durch das Stück 177 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 38. 178 Siehe dazu Kapitel 8.1. 179 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 39. 65 „Farben“ aus den Sechs Orchesterstücken op. 16 bekannt. Überhaupt stellt dieses Stück, bei dem die Akkordfärbungen durch polyphone Verschiebungen in den verschiedenen Schichten der Orchestertextur sowie der detaillierten Instrumentierung des stets fünfstimmigen Akkords entstehen, das erste Beispiel des Phänomens der Harmonie-Klangfarbe in der Geschichte der europäischen Musik dar. 180 Dieses Stück beruht im Prinzip auf einer sich ständig, streng kontrollierten Wechselbeziehung zwischen Harmonie und Klangfarbe. 181 Die Einheit des musikalischen Materials und die Kohärenz der Großform ist durch die Harmonie gegeben. So ähnlich wie Schönberg gewährleistet die grundlegende Harmonie-Klangfarbe bei Saariaho die Einheitlichkeit des musikalischen Materials und die Kohärenz der musikalischen Form. Während Schönberg die Kontinuität zwischen den beiden traditionellen, sich voneinander abgrenzenden Parametern Tonhöhe (Harmonie) und Klangfarbe zurückgreift, schafft Saariaho durch neue Technologien der elektronischen Musik und Klangsynthese Kontinuitäten, die die konventionellen Parameter endgültig aufheben. Dadurch ist ihre Harmonie-Klangfarbe ein flexibles Resultat des Zusammenwirkens mehrerer Parameter. 182 Stoïanova sieht Saariahos Harmonie-Klangfarbe deshalb als: [...] lebende musikalische Materie, die noch die geringsten Bewegungen der Tonhöhen, der Klangfarben, der Dauern, der Lautstärken, der mit den Spielarten verbundenen Geräusche usw. in ihrer ständigen Wechselbeziehung einschließt.183 Diese „organische Entfaltung“ des musikalischen Materials bzw. der Materie definiert Stoïanova als „metabolische entwickelnde Variation“ bzw. als „metabolische Entfaltung“. Saariaho sinfonisches Denken ist charakterisiert durch diese metabolische Entfaltung, die grundsätzlich offen und flexibel ist, gleichzeitig weist sie eine starke Kohärenz zwischen den einzelnen Entwicklungen auf.184 Dieses ständige Werden, sich Herausentwickeln, sich Entfalten ist eine sehr französische Tendenz, wie sie beispielsweise die Musik Debussys zeigt. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang nochmals der Einfluss der Spektralisten Gérard Grisey und Tristan Murail, 180 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 39-40. 181 Ivanka Stoïanova, Kaija Saariaho. Ein Komponistenporträt, in: Kritische Musikästhetik und Wertungsforschung. Otto Kolleritsch zum 60. Geburtstag, hg. von Otto Kolleritsch, Wien/Graz 1996, S. 61. 182 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 40. 183 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 40. 184 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 40. 66 von denen Saariaho die spektrale Kompositionstechnik kennenlernte. In den 1970er Jahren beginnt Grisey, akustische Phänomene auf ihre Struktur der Partialtöne hin zu analysieren, um daraus ein ganzes Stück abzuleiten. Tatsache ist, dass bereits Debussy und Maurice Ravel zuvor mit Akkorden gearbeitet haben, deren Terzaufbau bis zum elften Partialton reichen. Grisey und Murail gehen aber noch ein Stück weiter, indem durch Umschichtungen und Transpositionen neue Akkordtypen, die weder als konsonant, noch dissonant einzustufen sind, entstehen – damit lebt die typisch französische Ästhetik des schönen Klanges, wie ihn Debussy und Ravel kultiviert haben, wieder auf. Saariaho kommt in ihrer Ausbildung durch ihren Lehrer Olivier Messiaen, der quasi als Vermittler dient, in intensiver Berührung mit der Kunst der Klangfarben, mit der Kunst der „accords de résonance“.185 Theo Hirsbrunner hat sich mit Debussys Klang und dessen Verwandtschaft mit Saariahos Klang beschäftigt. Für ihn ist die Etablierung eines Klangfarben-Kontinuums ein wichtiges kompositorisches Prinzip: Klangfarben werden in rhythmische Proportionen gebracht, die wiederum eng mit der Natur der Farben verbunden sind. Tonfiguren und Motive in Richtung eines Höhepunktes prozessual zu verarbeiten, war Debussy fremd: [Debussy] suchte […] nach einem ständigen Werden der Klangmassen. Die Musik wird wie neu erfunden und steigt aus einem Urplasma auf. Dieser Vorgang kann zum Beispiel sehr gut verfolgt werden in Werken wie La mer (1905) und dem Anfang der Oper Pelléas et Mélisande (1902), in der die Musik zum großen Teil mit dem stillen Wachstum des Waldes rund um die Burg Allemonde vergleichbar ist: Symbol eines vegetativen Zustandes, vor dem alles menschliche Wollen eitel erscheint.186 Obgleich die von Saariaho angewendete metabolische offene Variation an die Technik der Ostinato-Schichten-Überlagerung187 erinnert, verzichtet sie auf das Grundprinzip des Ostinato, nämlich die genaue, starre und systematische Wiederholung derselben musikalischen Substanz. Dennoch ist die Idee der Wiederholung präsent, [...] sie definiert aber eine spezifische Art von entwickelnder offener Variation. Die Wiederholung in den verschiedenen Schichten der musikalischen Textur einer Szene 185 Theo Hirsbrunner, L’amour de loin und Adriana Mater, die beiden Opern von Kaija Saariaho. Ein Vergleich, in: Musiktheater der Gegenwart. Text und Komposition, Rezeption und Kanonbildung. Mit einem Schwerpunkt: Die Salzburger Ur- und Erstaufführungen in Theater und Musiktheater, hg. von Jürgen Kühnel, Ulrich Müller, Oswald Panagl, Anif/Salzburg 2008, S. 206. 186 Theo Hirsbrunner, Kaija Saariaho – von der Peripherie ins Zentrum, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 33. 187 Die Überlagerung von Ostinato-Schichten meint das Entstehen von Schichten durch Wiederholung eines Musters. 67 absorbiert die Differenz, die Veränderung, die ständige Variation, um einheitliche, sich aber immer erneuernde Klangtexturen zu schaffen, bei denen man die Wiederholung und die polyphone Überlagerung beim Hören nicht mehr bemerkt. Diese Klangtexturen sind immer kohärent, da sie auf ein und derselben harmonischen Basis gründen, und immer neu, weil sie sich stets frei an die narrative Handlung anpassen.188 Stoïanova spricht auch von „variiertem Ostinato“ – und meint damit die zugunsten der offenen sich entwickelnden Variation aufgehobenen Wiederholungen. Diese Flexibilität der gesamten Textur wird unter anderem durch diese „Pseudo“-Ostinati ermöglicht, die sich kontinuierlich verdichten, ein Crescendo bilden, sich allmählich verändern oder ganz verschwinden, um in liegenden Klängen zu erstarren.189 Die gesamte Oper hindurch wird – meist von den Streichern – durch Liegetöne ein Klangkontinuum erzeugt, das in vielen sich überlappenden und sich gegenseitig verschleiernden Triolen, Sextolen, Quintolen, Repetitionstönen und Ostinati sowie Trillern und Tremoli wie ein langsames Kontinuum, erinnernd an Nebelschwaden, voranschreitet. Andreas Sandner spricht diesem Klang die „emotionale Kraft einer Litanei“ bzw. eines „zweistündigen Ariosos im Tonfall orientalischer Märchen“ zu. Über diesen sich sukzessive verändernden Klanggrund stechen die musikalischen Abweichungen besonders hervor.190 Neu sind die Klangtexturen unter anderem deshalb, weil Saariaho den Klang auf die inneren, emotionalen Gemütszustände der einzelnen Figuren in der Oper sowie der Peripetien der Handlung, die mit den inneren Gefühls-Bewegungen der handelnden Personen im Kontext stehen, anpasst. Im folgenden Kapitel wird auf die musikalische Entfaltung der emotionalen Bewegungen, des Seelenlebens der Protagonistinnen und deren Identitätsfindungsprozesse eingegangen. 188 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 41. 189 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 42. 190 Wolfgang Sandner, Die Kraft der Litanei. Über Kaija Saariahos erste Oper „L’amour de loin“, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 52. 68 8. Musikalische Topoi bei Kaija Saariaho: Zu den emotionalen und ästhetischen Komponenten in der Oper L’amour de loin Saariahos Kompositionen bestechen durch ihre höchst emotionale und sensitive Komponente. Sie selbst spricht von der gleichzeitigen Anwesenheit verschiedener Wirklichkeiten, die durch die einzelnen unterschiedlichen Erfahrungen, die vielfältigen Blickwinkel und momentanen Stimmungen zustande kommen. Obgleich daher immer eine Bewegung, ein Sich-Verändern, einen Überfluss an „Material“ in der menschlichen Psyche und den Gedanken vorhanden sind, gibt es dennoch einen einzigen Augenblick, der den Grundgedanken darstellt. Diesen Grundgedanken, der sich durch alle „Schichten des Denkens, der Wahrnehmungsfähigkeit, des Hörens, des Sehens“ 191 zieht und den Saariaho in der Zeit aufhält, um sich ihm in aller Ruhe zu widmen, transportiert Saariaho musikalisch mit der kompositorischen Technik der Klangfarben-Melodie. Saariahos sinfonische Arbeit beruht auf einer präzisen Ausarbeitung von musikalischen Charakteren, mit denen sie sich intensiv auseinandersetzt und die sie einander gegenüberstellt. Ferner schafft sie durch Verdichtung, Auflösung, Ausweiten und Führen von Spannungsbögen ein dichtes Netz von Beziehungen, dessen narrative Inhalte ein kohärentes Ganzes darstellen. 192 Für Ivanka Stoïanova zählt Saariaho somit zu den bedeutendsten Vertretern des „starken Denkens“ in der Nachfolge der großen sinfonischen Komponisten der europäischen Tradition.193 Musikalisches Material Die mittelalterliche Figur des Troubadours Jaufré Rudel und seine der Oper zugrunde liegende musikalische Dichtung Lanqand li jorn son lonc in mai lässt die Frage aufkommen, ob die Komponistin einen musikalischen Bezug zu dem Künstlerkollegen aus dem 12. Jahrhundert herstellt. Die Forschung ist sich darüber uneinig: Während Angelica Rieger und wenige Musikkritikerinnen 194 keinen Rückgriff Saariahos auf die mittelalterliche Melodie sehen, geht beispielsweise Hautsalo davon aus, dass die Komponistin zwar nicht direkt die Melodie des historischen Jaufré Rudel übernimmt, diese dennoch in den Vokalpartien (vor 191 Zit. nach Tomi Mäkelä, Kaija Saariaho und Finnland in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 28. 192 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 38. 193 Ivanka Stoïanova, Narration und sinfonisches Denken im Opernschaffen von Kaija Saariaho, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 38. 194 Angelica Rieger nennt hier einen gewissen Burton von der BBC sowie Frau Gabriele Luster, die für die Zeitung Müncher Merkur die Musikkritik geschrieben hat. 69 allem in dem musikalischen Material der Figur des Troubadours) paraphrasiert 195. Auf die Frage, wo und wie detailreich Saariaho das musikalische Material des historischen Jaufré Rudel in die Musik der Oper integriert, wird in den einzelnen Unterkapiteln eingegangen. Saariaho hat in ihrer Oper musikalische Stimmungsbilder eingebaut: Zusätzlich zur Ouvertüre, die die atmosphärische Grundstimmung vermittelt, gibt es die beispielsweise das Bild des Sturmes (4. Akt, 3. Bild) oder des Traumes (4. Akt, 2. Bild). In den folgenden Unterkapiteln werden einzelne Szenen genauer analysiert, indem ein Fokus sowohl auf das Libretto als auch auf die musikalische Gestaltung und Ausarbeitung dieses Texts sowie den damit verbundenen emotionalen Gefühlswelten gesetzt wird. Saariaho hat die Oper mit konventioneller Notenschrift und zusätzlichen Symbolen und Abkürzungen abgebildet. Diese beziehen sich auf folgende spezifische Spielanweisungen der Orchesterinstrumente: M.V. molto vibrato (viel Vibrato) S.V. senza vibrato (ohne Vibrato) Alle Triller (außer spezifisch angegeben) sollen mit dem höheren Halbton gespielt werden. S.P. starkes sul ponticello Spiel der Streicher (nah am Steg streichen, um einen möglichst scharfen Ton zu erzeugen) S.T. sul tasto der Streicher (weit weg vom Steg, am Bund streichen, um einen möglichst gedämpften Ton zu erzeugen) Erhöhung des Bogendrucks, um einen kratzenden Klang zu erzeugen, wodurch die hörbare Tonhöhe allmählich vom Geräusch überdeckt wird. Bogendruck verstärken, und wieder vom Geräusch zum Ton zurückkommen. 8.1. Ouvertüre – „Traversée“: Eine Miniatur des musikalischen Dramas Eingeleitet wird die Oper von einer ausgedehnten Ouvertüre, die das musikalische Hauptmaterial der Oper und das musikalische Drama als Miniatur präsentiert. Darauffolgende Abschnitte schreiten in Form von musikalischer Prosa – dialogisch oder monologisch – voran. 196 Die Ouvertüre wird von Saariaho als „Traversée“, demnach als eine 195 Liisamaija Hautsalo, Whispers from the Past: Musical Topica in Saariaho’s Operas, in: Kaija Saariaho: Vision, Narratives, Dialogues, hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S. 114. 196 Liisamaija Hautsalo, Whispers from the Past: Musical Topica in Saariaho’s Operas, in: Kaija Saariaho: Vision, Narratives, Dialogues, hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S.113. 70 „Durchfahrt“ oder „Überfahrt“ bezeichnet. In ihr wird die tragische Geschichte mit all ihren emotionalen Höhen und Tiefen in etwas mehr als fünf Minuten kompakt musikalisch dargelegt. Saariaho lässt durch ihr „Traversée“ das Publikum in dieses emotionale Spannungsfeld eintauchen. Das Orchestervorspiel ist in 12-taktige Abschnitte unterteilt, die unterschiedliche Tempo- und Ausdrucksbezeichnungen (Lento, misterioso; Espressivo, sempre calmo; Dolcissimo; Più grave u.a.) tragen. Der Spektralklang, der quasi als Leitmotiv, als Leitakkord in der Oper fungiert, wird bereits mit dem ersten Klang der Oper hörbar – er entspricht somit dem Ursprung der nachfolgenden (Ver)Wandlungen, Entwicklungen und organischen Fortführungen. Dieser Spektralklang bestimmt zwar nicht die gesamte Komposition (dies würde auch Saariahos Anspruch, die inneren emotionalen auszudrücken, und psychischen widersprechen), jedoch Prozesse taucht der er an Protagonistinnen Höhepunkten musikalisch in deutlich wiedererkennbarer Form auf: Der Beginn der Oper ist durch die ineinander verschachtelten Partialtöne B und Fis markiert. 197 Folgende Abbildung 198 zeigt jenen Akkord, der sich im Laufe der ersten zwölf Takte ausbreitet. Er wird, beginnend mit den Kontrabässen, Harfen und Klavier, sukzessive mit dem Hinzutreten weiterer Instrumente, wie Celli, Bratschen, Violinen und Flöten aufgebaut – quasi aus dem Nichts entsteht in kurzer Zeit ein musikalischer Sog, der innerhalb von zwölf Takten einen an berauschender Dichtheit kaum zu überbietenden Höhepunkt erfährt. Der Klangteppich wird auf den Tönen b, d, e, fis, ais und h ausgebreitet. 197 Theo Hirsbrunner, L’amour de loin und Adriana Mater, die beiden Opern von Kaija Saariaho. Ein Vergleich, in: Musiktheater der Gegenwart. Text und Komposition, Rezeption und Kanonbildung. Mit einem Schwerpunkt: Die Salzburger Ur- und Erstaufführungen in Theater und Musiktheater, hg. von Jürgen Kühnel, Ulrich Müller, Oswald Panagl, Anif/Salzburg 2008, S. 207. 198 Pierre Michel, „Musique pour les oreilles“. De „Korvat auki“ à „Château de l’âme“ („Musik zum Hören“. Über Kaija Saariahos Werk. Von „Korvat auki“ zu Château de l’âme), ins Deutsche übersetzt von Gerda Gensberger, in: Kaija Saariaho/Amin Maalouf: L’amour de loin , Programmheft der Salzburger Festspiele, Salzburg 2000, S. 25. 71 Nach diesen ersten zwölf Takten (die Anweisung lautet im T.13 „Espressivo, sempre calmo“) beginnt sich inmitten dieses aufgefächerten Klanges eine bestimmte Melodienfolge hervorzuheben. Einzeltöne dieser von den Vibraphonen ostinatohaft, fast tranceartig durchgespielten Tonfolge, werden wiederum sukzessive von den Blech- und Holzbläsern übernommen, wobei diese auf einem einzelnen Ton mehrere Takte verweilen, bis der Klang eine bestimmte Schwelle an Dichtheit überschreitet, um sich wieder in eine neue Form zu verwandeln – das Pflanzenartige, Metabolische, Organische, das Saariahos Kompositionsstil eigen ist, zeigt bereits in den ersten dreißig Takten der Oper seine Ausprägung. Die Piccoloflöten werfen immer wieder eine hohe 32stel-Figur ein, die an die (später auftauchende) musikalischen Charakteristika von Clémence und an den Gesang einer Nachtigall, die Jaufré im nachfolgenden Auftritt ruft, erinnert. 72 8.2. Musikalische Charakteristika der Figur Jaufré Rudel Saariaho arbeitete die modale, aus der Feder des realen Troubadour Jaufré Rudel stammenden Melodie Lanqand li jorn in die Oper, und vor allem in die Musik der Figur Jaufrés ein. Diese Melodie ist bestimmt durch schrittweise Bewegung, orientalisch anmutende Verzierungen und melodische Improvisation sowie Triolen-Figuren. Dass die Musik der Figur Jaufré Rudel von der der Troubadoure abgeleitet ist, ist beispielsweise an dem arpeggierten Quart- und Quintakkorden (in den Harfen) erkennbar.199 Saariaho paraphrasiert das musikalische Material des historischen Jaufré Rudels, indem sie die diatonische modale Färbung in der Klangidentität von Jaufrés Material übernimmt, wodurch ihm eine von den anderen beiden Charakteren unterscheidbare Klangidentität verliehen wird. 200 Seine melodischen Linien bewegen sich im Ambitus einer Quinte oder Oktave und lehnen sich an die mittelalterlichen Troubadourmelodien an, vermitteln aber gleichzeitig durch die Halbtontriller bzw. Sechszehntelverzierungen einen an die arabische Musik erinnernden Muezzingesang. Jaufré, der in diesem ersten Bild – auf der Suche nach musikalischer und dichterischer Perfektion – hoch oben auf seinem Turm weilt, lässt schnell die Assoziation und Stimmung des Orients aufkommen. 199 Liisamaija Hautsalo, Die Sehnsucht nach dem Transsensuellen, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin. Begleitheft der DVD, München 2005, S. 14. 200 Liisamaija Hautsalo, Whispers from the Past: Musical Topica in Saariaho’s Operas, in: Kaija Saariaho: Vision, Narratives, Dialogues, hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S. 114. 73 8.3. Musikalische Charakteristika der Figur Clémence Der Gesang der Clémence ist durch große Sprünge gekennzeichnet. Ferner gehören zu ihrer Musik eine wiederholte aufwärts gerichtete Quintole, meist von den Harfen gespielt, und kleinteilige, miteinander verschmelzende Motive, die in den Einleitungen zu ihren AuftrittsSzenen erklingen. Clémences Figur ist eng mit aufsteigenden Tonleitern verknüpft, die die Interpretation nahe legen, in Richtung Himmel und zu Gott zu führen. 201 Clémence ist häufig durch ein höheres Instrumentenregister, wie Triangel, Glocken, Piccolo, Harfe und Violinen charakterisiert.202 Die Vokallinie Clémences hat stark ornamentalen Charakter mit langen Trillerpassagen in hoher Lage.203 Meist enden ihre Melodiefiguren aufwärts (im Gegensatz zu jenen des Pilgers), so wie es unten stehendes Beispiel zeigt, in dem Clémence ihre sehnsuchtsvolle Frage an den Pilger richtet („Dieses Schiff, das gerade anlegt, wisst ihr, woher es kommt?“): 201 Liisamaija Hautsalo, Die Sehnsucht nach dem Transsensuellen, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin. Begleitheft der DVD, München 2005, S. 14-15. 202 Liisamaija Hautsalo, Whispers from the Past: Musical Topica in Saariaho’s Operas, in: Kaija Saariaho: Vision, Narratives, Dialogues, hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S. 114. 203 Wolfgang Sandner, Die Kraft der Litanei. Über Kaija Saariahos erste Oper „L’amour de loin“, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 53. 74 Der Name Clémence geht auf das lateinische „clemens“ zurück und bedeutet so viel wie „mild“ oder „gnädig“. 204 Im dritten Akt, erstes Bild lässt sich der Troubadour auf ein dichterisches Wortspiel ein, als er vom Pilger den Namen der Prinzessin erfährt: „Clémence, Clémence, wie der Himmel gnädig ist! Clémence, das gnädige Meer wird sich vor mir schließen, damit ich es trockenen Fußes überqueren kann, um in das Land zu gelangen, in dem du atmest.“ (III, 79). Für Angelica Rieger kommen auch andere dramaturgische Überlegungen für die nichtokzitanische Namenswahl der Gräfin in Betracht, zumal zwei Gräfinnen historisch belegbar sind: die Gräfin Odiarne oder deren Tochter Melisenda 205 . Odiarne, so Angelica Rieger, sei für ein modernes Publikum kaum mehr als weiblicher Vorname erkennbar und der Name Melisenda schon an die Titelheldin der einzigen Oper Debussys, Pelléas et Mélisande (1902), vergeben. 8.4. Musikalische Charakteristika der Figur des Pilgers Das musikalische Charakteristikum des Pilgers ist ein leicht identifizierbares abwärts gerichtetes Motiv der vier Flöten und hat die Funktion, das Auftauchen des Pilgers zu signalisieren: In diesem Partiturbeispiel ist auch die von Saariaho hoch geschätzte, den Flöten zugrundeliegende Ton-Geräusch-Vielfalt ersichtlich: Der schwarze Punkt über der 204 205 Namensbedeutungen über Onlinequelle verfügbar unter http://www.vorname.com/name,Clemence.html Siehe dazu auch Kapitel 4.1. 75 Sextolenfigur der Alt-Flöte im Takt 326 signalisiert einen normale geblasenen Ton, der sich im Laufe dieses Taktes zu einem „Luft/Atem-Ton“ („breath tone“) hin verändert. Die Streicher werden in diesem Beispiel zu einem senza vibrato (S.V.; ohne Vibrato) bei gleichzeitigem sul tasto (S.T.) Spiel angehalten. Die Gesangspartie des Pilgers hat kein spezifisches Gepräge: Er ist eine musikalisch transparente Figur, deren Material sich immer wieder verändert. Diese Veränderungen sind abhängig davon, zu welcher der beiden Personen er sich in seiner Vermittlerfunktion nähert. Der Gesang des Pilgers wird meist von den Mikrointervalle spielenden Streichern unterlegt206. Die Mikrointervalle sind in der Partitur durch folgende Symbole gekennzeichnet: 206 Liisamaija Hautsalo, Die Sehnsucht nach dem Transsensuellen, in: Kaija Saariaho: L’amour de loin. Begleitheft der DVD, München 2005, S. 14. 76 8.5. Das Lautenspiel Jaufré Rudels Nach der musikalischen Einleitung wird das Publikum durch das erste Bild in die mittelalterliche Welt der Troubadoure geführt: Jaufré Rudel, eine Leier in den Händen haltend, ist im Begriff, ein Lied zu komponieren, aber es will ihm nicht so recht gelingen, den Text und die Noten zu ordnen: Ich lernte vom Glück zu sprechen, aber glücklich zu sein habe ich nicht gelernt. (Er schüttelt verneinend den Kopf.) Zu sprechen vom Glück habe ich gelernt, glücklich zu sein aber habe ich nicht gelernt. [...] Ich sah eine Nachtigall auf dem Zweig, ihre Worte riefen die Gefährtin. Meine Worte rufen nur weitere Worte, meine Verse rufen nur weitere Verse. Sag mir, Nachtigall ... (Er hält inne) Nachtigall, sag mir, Nachtigall. (Er nickt). Nachtigall, sag mir, Nachtigall. (I, 33) Wie bereits im Kapitel 8.2. aufgezeigt, wird an dieser Stelle die Troubadourmusik des historischen Jaufrés paraphrasiert und ein orientalisches Flair vermittelt. Sein Gesang wird von Celli, Bratschen und Harfen begleitet – das Englisch Horn kommt an einzelnen Stellen als musikalisches, fernes Echo zum Einsatz, indem es die Sechszehnteltriolenbewegungen von Jaufrés Melodie imitiert. Nach diesem dreimaligen, in dichterischen Liebesgefühlen getauchten Apell Jaufré Rudels an die Nachtigall ertönt ein barsches „Nachtigall wird dir nichts sagen“ von seinen Gefährten. 77 Sie möchten ihren offensichtlich vom rechten Wege abkommenden, und seine Sinne verlierenden Herren an das bisher von ihm gelebte Leben erinnern, in dem er glücklich war und es ihm weder an Trank noch Frauen fehlte. Die Einwürfe der Gefährten Jaufrés versetzt Saariaho musikalisch mit dem des Spektralklangs inhärenten Intervalls der reinen Quinten, um so einen gewissen mittelalterlichen „couleur locale“ entstehen zu lassen.207 Beispielsweise spielen Fagotte fis-cis1 (T. 150), Celli und Harfe c-g, die Hörner Eis-His (alle T. 151). Rhythmus ist – wie bereits erwähnt – in dieser Oper nicht allzu dominant, jedoch werden die Stimmen der Gefährten immer mit einem scharfen Rhythmus (meist von den Streichern gespielt) unterlegt. Hautsalos Analyse zufolge, ist in dieser Szene ein peitschender Tarantella-Rhythmus208 (6/8 Rhythmus in Kombination mit dem Tamburin) zu hören, der somit die Welt der Gefährten, die offensichtlich in einer gänzlich anderen Welt als in der des von Liebessehnsucht getränkten Troubadours (und seiner troubadouresken Liebeslyrik und –musik) leben, musikalisch darlegt. Die Tarantella, eine aus dem (einfachen) Volk stammende Musik, zeigt somit den Unterschied zwischen Jaufré, dem sozial höher stehenden Prinzen und seinen Gefährten, die sich sozial auf niedrigerem Status befinden, auf. Zur leichteren Übersicht wird hier ein Ausschnitt aus dem Klavierauszug abgebildet: 207 Theo Hirsbrunner, L’amour de loin und Adriana Mater, die beiden Opern von Kaija Saariaho. Ein Vergleich, in: Musiktheater der Gegenwart. Text und Komposition, Rezeption und Kanonbildung. Mit einem Schwerpunkt: Die Salzburger Ur- und Erstaufführungen in Theater und Musiktheater, hg. von Jürgen Kühnel, Ulrich Müller, Oswald Panagl, Anif/Salzburg 2008, S. 208. 208 Liisamaija Hautsalo, Whispers from the Past: Musical Topica in Saariaho’s Operas, in: Kaija Saariaho: Vision, Narratives, Dialogues, hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S. 114-115. 78 Doch Jaufré Rudel steht trotz penetranter und mitunter aggressiver Einwürfe seiner Gefährten zu seinem Entschluss: Vielleicht war ich glücklich, Gefährten, ja, vielleicht, Doch von all den Nächten meiner Jugend bleibt mir nichts, Von all dem, was ich trank, bleibt mir nur ein großes Dürsten, Von all den Umarmungen bleiben mir nichts als zwei unbeholfene Arme. Diesen Jaufré, den man in den Tavernen grölen hörte, den wird man nie mehr hören. Diesen Jaufré, der jede Nacht seinen Körper auf der Wippe eines weiblichen Körpers wiegte, Den wird man nie mehr sehen... (I, 37) Der Troubadour steckt offenbar in einer tiefen Sinnkrise: die Jahre der jugendlichen Leichtigkeit und Unbeschwertheit, gleichzeitig jene der Unreflektiertheit sind vorbei – seine Seele dürstet nach dem wahren, erfüllenden Sein. Von all den Nächten meiner Jugend bleibt mir nichts, von all dem, was ich trank, bleibt mir nur ein großes Dürsten (I, 37) Offenbar ist es Zeit, in der Krise die Muse zu entdecken, offenbar ist es Zeit, aus dem Erotik liebenden jungen Mann den ekstatischen Asketen in sich zu entdecken. Die Hingabe an das überirdisch zu sein Scheinende, an die Vollkommenheit im menschlichen Sein führt Jaufré in die Liebe zum Fernsten: Er benötigt für die Aufrechterhaltung seiner Existenz und als Quelle seiner Dichtung das Bild der unerreichbaren, idealen, himmlischen, mit übermenschlichen Tugenden ausgestatteten Frau. Für seine Gefährten ist Jaufré am Rande des Wahnsinns und als ein aktiv im Leben stehender Mensch praktisch erstarrt, als Dichter zeigt er in diesem Moment höchste Lebendigkeit. 79 8.6. Wut – Angst – hoffnungsvolle Liebessehnsucht des Troubadours: Ein Spiel mit den Emotionen Kaija Saariahos Musik vermittelt und übersetzt tiefe Gefühle, Gefühlsausbrüche und emotionale Peripetien. Besonders die Emotionen der Angst, der Furcht, der Unsicherheit werden musikalisch dargestellt. Im dritten Akt erschrickt der Troubadour, als ihm der Pilger darüber berichtet, dass die Gräfin von Tripolis um seine Existenz und von seinem ihr gewidmeten Liebeslied weiß. Dieses Wissen der Gräfin versetzt den Troubadour nicht ohne Grund in einen emotionalen Ausnahmezustand: Zum Einen ist ihm damit bewusst, dass mit der Kenntnis seiner Existenz die Verwirklichung seiner Sehnsüchte in den Bereich des Möglichen gerückt ist. Zum Anderen wäre ihm – wenn er sich in diesem Moment der Gesetze der Liebeslyrik entsinnen würde – klar, soeben seinem literarischen und menschlichen Todesurteil in die Augen geblickt zu haben. Seine literarische und künstlerische Schaffenskraft ist nämlich durch die Aufhebung des „existentiellen Spannungsbogens der Dialektik des sai et lai, des Hier und Dort“209 massiv bedroht. Während Jaufré Stück für Stück nachfrägt, was in der Begegnung zwischen dem Pilger und der fernen Gräfin geschehen ist, was diese nun aufgrund der Antworten des Pilgers von ihm weiß (dass er Dichter sei, dass er sie und ihre Schönheit besinge, wie er heiße, dass er sie liebe), explodieren in ihm geradezu innerlich ambivalente Gefühle: Zum Einen bekommt er Angst und wird unsicher ob des Wissens der Gräfin von seiner Existenz und seiner Taten, zum Zweiten ist er gekränkt, als er erfährt, dass die erste Reaktion der Gräfin ebenfalls Gekränktheit war und sie danach (scheinbare) Resignation und Desinteresse zeigte. Zum Dritten fühlt er Hoffnungslosigkeit und Verbitterung in ihm aufkommen, als er erfährt, dass sie sich „nur“ geschmeichelt fühlte. Saariaho unterlegt Jaufrés Fragen (und den damit verbundenen Gefühlen) einen crescendo-decrescendierenden mikrotonalen Klangkörper, der durch Klarinetten, Fagotte, Kontrafagott und Posaunen generiert wird. Wenn die Dichtheit ihren Höhepunkt (allerdings im piano) erreicht, wirft Jaufré seine nächste Frage ein. Das folgende Notenbeispiel zeigt dieses innere Aufflammen Jaufrés, das sich während der Antworten des Pilgers entwickelt, um in weiterer Folge in die nächste Frage zu führen: Nach dem Einwurf Jaufrés, der eigentlich ein großer Vorwurf gegen den Pilger ist (dieser hatte den Namen des Prinzen an Clémence verraten) – „Warum, warum hast du mir das 209 Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 307. 80 angetan?“ – übernehmen die Streicher den von den Bläsern zuvor aufgebauten Klangcluster und lassen diesen decrescendierend auslaufen. 81 Saariaho übersetzt diese gefühlsgeladene Frage-Antwort-Szene, dieses Auf- und Abflammen konträrer Gefühle und Gedanken in ein musikalisches An- und Abschwellen, das, obwohl es nie in exakter Weise wiederholt wird, einen Wiedererkennungscharakter hat. Es ist durch den Einsatz des Flötenmotivs voraushörbar, dass der Pilger mit seinen Antworten folgt; durch das Bläser-Streicher-Aufflammen und wieder Abebben wird Jaufrés innerer Gefühls- und Gedankensturm charakterisiert. Es ist eindeutig hörbar, dass hier ein wichtiger Entscheidungsprozess im Prinzen vonstatten geht, der ihn letztlich dazu führt, alle bis dahin zu groß erschienenen Schwellen zu überwinden. Eine für diesen Schritt notwendige Verwandlung der im Dialog aufkeimenden Gefühle der Unsicherheit, Angst, Hoffnungslosigkeit in die Wut – einem emotionalen Zustand, der sehr stark mit dem Ego verwurzelt ist und weniger aus einem Seelenschmerz resultiert, aber große Antriebskraft in sich hat – erfolgt mit dem Wissen Jaufrés, dass der Pilger seine troubadouresken Worte, die er in einer anstrengenden, plagenden Stunde der dichterischen Muse geschaffen hat, „à peu prés“ („in etwa“) der Gräfin repetiert hatte. Damit wird auch wiederum die bedeutende Rolle des Pilgers ersichtlich, der durch seine in diesem Fall unvorsichtige Antwort einen folgenreichen zornigen Gefühlsausbruch bei Jaufré auslöst: Hast du ihr meine Gedichte vorgetragen? Pilger: Ich besitze kein so gutes Gedächtnis, ich habe sie ihr in etwa [„à peu prés“ – so ungefähr] vorgesummt... 82 Jaufré: In etwa! Was meinst du mit „in etwa“? Ich verbringe Tage und Nächte damit, meine Lieder zu komponieren, jede Note und jeder Reim muss die Feuertaufe bestehen, zwanzigmal, dreißigmal ziehe ich mich aus und wieder an, bevor ich das richtige Wort finde, das seit aller Ewigkeit da war, am Himmel hängend, auf seinen Platz wartend. Und du, du sagst sie „in etwa“ auf? Du hast sie „in etwa vorgesummt?“ Unglückseliger! Unglückseliger! Wie kannst du mich so verraten und dich danach noch als mein Freund ausgeben? (III, 65-67) Es kommt im Vergleich zu den vorigen Fragen und Antworten sowohl rhythmisch als auch dynamisch zu einer Verdichtung: Der peitschende Tarantella-Rhythmus der Streicher, Harfen, Fagotte und Kontrafagotte signalisiert Jaufrés innere Aggressivität, aber auch eine in diesem Falle Nichtentsprechung des den sozial höher stehenden Menschen zugewiesenen Verhaltenskodex – von der Kontrolliertheit und des bedachtsamen Sinnierens und Überdenkens in der Wahl der Worte, wie es einem Troubadour geziemt, ist hier nichts mehr vorhanden. Natürlich erinnert dieser Rhythmus auch an die Gefährten Jaufrés, die ihn im ersten Akt in Begleitung dieses Motivs auslachten, als er die Nachtigall und die ferne Geliebte besang. In einem sforzato entfährt es dem verblüfften, in höchstem Maße irritierten Jaufré, dessen hohe Dichtkunst er mit dem „in etwa“ in unwürdigster Weise mindergeschätzt sieht, ein fast schreiendes „À peu près!“ Das, was von Jaufré in diesem Augenblick in voller Kraft aus ihm herausbricht, ist das Ergebnis eines spannungsgeladenen, von Gefühlen überströmenden Dialoges zwischen dem Pilger und ihm. 83 Rieger sieht in diesem Fall zwei wesentliche Beweggründe, die den Troubadour dazu veranlassen, die weite Reise, die im Originallied nur eine hypothetisch ins Auge gefasste ist, zu unternehmen: In erster Linie muss er geradezu zur Gräfin reisen, um seine gekränkte Dichterehre wieder herzustellen – eine Reise quasi im Sinne einer dichterischen Rehabilitation. Erst in zweiter Linie fasst er in diesem Moment den Entschluss zur Reise für die ferne Liebe. 210 An dieser Stelle ist es sinnvoll, nochmals in die Regeln der Troubadourlyrik einzutauchen. Der Troubadour – ein Sprach-, Wort- und Reimkünstler – strebt nach der Konkordanz von vollendeter Form und höfischem Inhalt, von formaler Schönheit und konzeptueller Wahrheit. Originalität und Perfektion ist Grundlage seines poetologischen Selbstverständnisses und das Publikum muss in metrischer, stilistischer, musikalischer und inhaltlicher Hinsicht überzeugt werden. 211 Vor diesem Hintergrund wird der Gefühlsausbruch Jaufré Rudels verständlich. 210 Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 307. 211 Andrea Oberhuber, „Ja mais d’amor no-m jauziray/Si no-m jau d’est’amor de lonh“. Höfisches Liebeskonzept und Liebesdiskurs am Beispiel von Jaufré Rudel und seiner Reaktualisierung in Amin Maaloufs 84 Der Pilger, der den Wutausbruch mit einem beleidigenden „Vielleicht ist es besser, wenn ich gehe“ (III, 67) kommentiert, wird von einem schlagartig von schlechtem Gewissen geplagten Jaufré Rudel zurückgehalten: Nein, warte, verzeih mir! Alles, was passiert ist, hat mein Blut in Wallung gebracht. Verzeih mir, mein Freund, ich werde dich nicht verärgert gehen lassen. Wenn ein Mensch hienieden mir gegenüber Rechte besitzt, bist du es allein, Pilger, mein Freund, der mir zuerst von ihr berichtet hat. Doch was du mir sagst, erschüttert mich, weil ich nicht mehr an sie denken kann, ohne zu denken, dass auch sie mich von ferne betrachtet. Es war angenehm, sie nach Muße zu schauen, ohne dass sie mich sieht. Es war einfach, meine Lieder zu schreiben, da sie sie nicht hörte. Aber jetzt, jetzt ... (er denkt lange nach.) Aber jetzt müsste sie sie aus meinem Mund hören, Ja, aus meinem Mund und keinem anderen. Wenn sie beim Hören meines Liedes errötet, möchte ich sie erröten sehen, Wenn sie erbebt, möchte ich sie erbeben sehen, Wenn sie seufzt, möchte ich sie seufzen hören. Sie ist nun nicht mehr so fern, und du kannst ... du kannst mir sogar ihren Namen zuflüstern. Pilger: Clémence, ihr Name ist Clémence. Jaufré: Clémence, Clémence, wie gnädig der Himmel ist! Clémence, das gnädige Meer wird sich vor mir schließen, damit ich es trockenen Fußes überqueren kann, um in das Land zu gelangen, in dem du atmest. (III, 67-69) An dieser Stelle, in der Jaufré den Namen seiner besungenen Angebeteten erfährt, werden die am Beginn der Oper markierten Partialtöne B und Fis besonders präsent. Sie erklingen hier in aufsteigender (während im Moment Jaufrés Tod der selbe Akkord in absteigender Folge erklingt) Form – sie bilden eine Art Aura um den Namen Clémence 212 . Der peripetische Charakter, der dieser Musik inneliegt – kurz zuvor hatten wir es mit einem wütenden, Libretto zu L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 64. 212 Theo Hirsbrunner, L’amour de loin und Adriana Mater, die beiden Opern von Kaija Saariaho. Ein Vergleich, in: Musiktheater der Gegenwart. Text und Komposition, Rezeption und Kanonbildung. Mit einem Schwerpunkt: Die Salzburger Ur- und Erstaufführungen in Theater und Musiktheater, hg. von Jürgen Kühnel, Ulrich Müller, Oswald Panagl, Anif/Salzburg 2008, S. 208. 85 ausrastenden und in dichterischem Stolz gekränkten Prinzen zu tun – ist nicht zu überhören: Jaufrés Rück-Wandel in seine im ersten Akt präsente Weichheit, Zartheit und feminine Seite des sich in Liebessehnsucht verlierenden Troubadours, der seine volle Aufmerksamkeit seiner Vision widmet, wird durch die Violoncelli und Posaunen (Fis), den Kontrabässen und Tuben (B1) repräsentiert. Über diesen liegenden Partialtönen erklingen die aufsteigende, jeweils zählzeit- sowie tonhöhenversetzte Melodienfolge der Crotales, Vibraphone und des Klaviers – sie könnte als die von Jaufré gesetzten Schritte über das große Wasser interpretiert werden, sie könnte gleichzeitig eine ,Himmelstreppe‘ symbolisieren, die der Troubadour mit dem nun sicheren Entschluss betritt, seiner Clémence im irdischen Leben begegnen zu wollen. 8.7. Der Pilger: Ein ewig umherreisender Vermittler zwischen zwei Liebenden sowie den Kulturen des Okzident und Orient Während in Lanqand li jorn son lonc en mai der Pilger als ein „Gestalt gewordener Vertreter [...] einer anonym auftretenden Gruppe“213 vorkommt, bekommt diese Figur im Libretto und der Oper eine neue Rolle: Er selbst beschreibt sich als ewig Getriebenen und den 213 Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 308. 86 Verlockungen und Zauber des Orients Erlegenen. Der Pilger kennt somit nicht nur die Kultur des Orients und die des Okzidents – ist damit Mittler zwischen den Kulturen – sondern findet sich in der zum Scheitern verurteilten Rolle des Vermittlers zwischen zwei Menschen wieder. Auch Said äußerst sich zur Figur des Pilgers, der in Bezug auf das Zeichnen eines spezifischen ,Orientbildes‘ im Westen eine wesentliche Rolle spielte: „Jeder Pilger sieht die Dinge auf seine Weise, doch die Möglichkeiten einer Wallfahrt sind ebenso begrenzt wie die Wahrheiten, die sie offenbaren kann.“214 Wie begrenzt letztlich die Handlungsmöglichkeiten und Möglichkeiten der Offenbarung des Pilgers sind, wird spätestens am Ende der Oper ersichtlich. Auch Clémence ist irritiert darüber, dass jemand die Heimat (freiwillig) verlässt – sie fragt den Pilger, ob die ihr ferne Heimat ihn verjagt, im Stich gelassen oder gedemütigt habe. Er antwortet: Nichts von alledem, Gräfin. Ich habe dort meine Teuersten zurückgelassen. Aber ich musste über das Meer fahren, um mit eigenen Augen zu betrachten, was der Orient an Geheimnissen birgt. Konstantinopel, Babylon, Antiochia, Die Meere aus Sand, die Flüsse aus Glut, die Bäume, die Tränen aus Weihrauch weinen, die Löwen in den Bergen Anatoliens und die Stätten der Titanen. (nach einer Weile) und vor allem, vor allem musste ich das Gelobte Land kennenlernen. (II, 47) Dieser Satz des Pilgers macht zum einen deutlich, was einen „Pilger“ von einem „Normalreisenden“ unterscheidet: Der Begriff „Pilger“ stammt aus dem lateinischen „peregrinus“, der Fremde, oder „peregrinari“, in der Fremde sein215. Ein Pilger ist also eine Einzelperson, die aus religiösen Gründen (Buße, Erhörung von Gebeten, Heilung von Krankheit,...) in die Fremde, an einen Wallfahrtsort geht. Der westliche Pilger ist ein christlich gläubiger Mensch, dessen größter Wunsch das Betreten des heiligen Bodens, des Gelobten Landes, ist. Der Pilger in der Oper L’amour de loin ist ein ewig Umherziehender: Nicht nur zwischen vielen verschiedenen Ländern, sondern auch zwischen zwei Kulturen und – zwischen zwei Liebenden. Besonders glücklich, zufrieden und erfüllt scheint diesem Pilger 214 215 Edward W. Said, Orientalismus, Frankfurt am Main 22010, S. 197. Siehe dazu auch Onlinequelle, verfügbar unter http://de.wikipedia.org/wiki/Pilger 87 sein Leben nicht zu sein – er „muss“ aus einem inneren Drang heraus, seine Liebsten zurücklassen und auf Reisen gehen. Es scheint, als ob der Drang danach ihm von außen auferlegt wurde. Dieser in der Fremde seiende und stets sich auf dem Weg befindliche Pilger steht in engster Verbindung zum Ahasvermythos, der im Folgenden kurz dargestellt wird: Ahasver, der ewig umherziehende Jude, der dazu verdammt wurde, auf ewig durch die Welt zu reisen und das Wort Gottes zu verkünden, sieht seine auferlegte Aufgabe als Fluch des nie zur Ruhe Kommenden. Ahasver – der ewig Umhertreibende, gehört (sowie Faust, Hamlet und Don Juan) zu den in immer wieder neuen Metamorphosen wiederkehrenden Repräsentanten des Weltschmerzes 216. Der Legende (1602) zufolge habe der Schuhmacher Ahasver um das Jahr 30 in Jerusalem gelebt, Jesus von Nazareth für einen Ketzer gehalten und alles getan, um dessen Verurteilung durch den Sanhedrin und die Kreuzigung durch Pontius Pilatus zu erreichen. Er sei es gewesen, der das Volk zu der Forderung Kreuzige ihn! aufgestachelt habe. Nachdem Jesus zum Tod verurteilt war und sein Kreuz selbst zur Hinrichtungsstätte Golgota tragen musste, habe Ahasver Jesus auf dem Kreuzweg eine kurze Rast an seiner Haustür verweigert. Darauf habe Jesus ihn angesehen und zu ihm gesagt: „Ich will stehen und ruhen, du aber sollst gehen!“ Mit diesem Fluch sei Ahasver zur ewigen Wanderschaft durch die Zeit verdammt worden, ohne sterben zu können. Seither wandere er durch alle Herren Länder, wo ihn immer neue Zeugen sähen und mit ihm redeten. Er spreche immer die Landessprache und zeige Demut und Gottesfurcht.217 Demut und Gottesfurcht, der Drang, immer wieder den Orient zu bereisen, dabei die „Teuersten“ in der Heimat zu verlassen und letztlich den Fluch des Gescheiterten nicht loszuwerden – dies alles spiegelt sich in dem Pilger der Oper wider. Wie fragil dieser Vermittlerstatus ist, wird hier sehr deutlich: Dem Pilger kann zwar nicht die alleinige Verantwortung des Entschlusses von Jaufré, sich auf die für ihn tödliche Reise zu begeben, zugesprochen werden, dennoch hat er mit seinen zum Teil unachtsam und aus einer gewissen Unsicherheit resultierenden, unüberlegt ausgesprochenen Worten einen erheblichen Anteil an der letztlich tödlichen Katastrophe. Auf der einen Seite zeigt er sich mit einem sehr bescheidenen und ruhigen Charakter ausgestatteten Menschen, dem offensichtlich viel daran liegt, zwei gebrochene Herzen zueinander zu führen. Auf der anderen Seite erhebt auch er seine Stimme zu Gott – verzweifelnd fragend und gleichzeitig schmerzvoll klagend – als Jaufré stirbt und Clémence sich entscheidet, das Leben in der Einsamkeit des Klosters weiterzuführen: 216 Dieter Borchmeyer, Ahasvers Wandlungen: Der fliegende Holländer und seine Metamorphosen, in: Richard Wagner, hg. von Dieter Borchmeyer, Frankfurt am Main 2002, S. 121. 217 Online verfügbar unter http://de.wikipedia.org/wiki/Ewiger_Jude 88 Pilger: (erschüttert vom Schicksal seines Freundes, aber gefasster als Clémence, bekundet auch er seine Verbitterung. Es ist kein Dialog, es sind eher zwei parallele Monologe, den Blick zum Himmel gerichtet) Und ich, Herr, warum hast du mich für diese Aufgabe erwählt? Von einem Ufer zum andern, von einer vertraulichen Mitteilung zur andern, glaubte ich, die weißen Fäden eines Hochzeitskleides zu weben, aber ohne es zu wissen, webte ich ein Leichentuch. (Er entfernt sich wie ein gefallener Engel oder erstarrt wie eine Salzsäule) (V, 105) Des Pilgers Gesang, der sich mit dem Clémences verwebt, erscheint als einsamer, schmerzvoller Klagegesang – immer wieder werden die Worte von der zweigestrichenen Oktave in die eingestrichene geführt, so lange, bis dieser Klagegesang auf dem cis1 verebbt. Das Schicksal des Pilgers zeigt mit der Zerbrechlichkeit des Status’ des Mittlers zwischen den Liebenden auch jenen des Botschafters zwischen den Kulturen. Maaloufs Libretto basiert zwar auf der vida und dem Gedicht des historischen Jaufré Rudel, jedoch hat der Pilger in seiner Fassung eine enorme Aufwertung erfahren. Er ist zwar namenlos, aber sowohl Jaufré, als auch Clémence brauchen ihn für die Weiterentwicklung und Fortführung ihres inneren Prozesses. Die Figur des Pilgers und Maalouf stehen in einer sehr engen Verbindung zueinander: Auch Maalouf ist Zeit seines Lebens Vermittler zwischen Menschen, Kulturen, Ländern – wie zerbrechlich, fragil, schwierig, oftmals zum Scheitern verurteilt dieser Status 89 ist, zeigt sowohl die Geschichte des Pilgers, als auch das Leben desjenigen, der sie in dieser opernhaften Form kreierte. Für Saariaho hat der Pilger eine wichtige Rolle, obgleich sie ihn sich weder als Person, noch als menschliches Wesen vorstellt – er verkörpert in der Oper das Schicksal. Dies ist auch der Grund dafür, dass die Musik in den Dialogen zwischen Jaufré und dem Pilger und zwischen Clémence und dem Pilger jeweils eine andere ist. Der Interpretation, dass das Geschlecht des Pilgers keine Rolle spielt, da er bei Clémence eine Frau und bei Jaufré einen Mann zu verkörpern scheint, ist viel Raum gegeben. Wichtig ist, dass er ein guter Freund von Jaufré ist und dass er auch Clémence liebt.218 Der Pilger ist somit eine androgyne Gestalt, die notwendig ist, zwischen den beiden Einsamen als Dritter zu intervenieren. Er ist zwar unscheinbar, aber er ist jenes Element, das ständig in Bewegung ist, zwischen den Polen lebendig hin- und herpendelt. Für Deppermann stellt der Pilger den dritten fehlenden Teil der göttlichen Trinität dar: Zwischen den beiden einsamen Ichs, zwischen dem Orient und Okzident bedarf es des „Herzstücks der Vermittlung“, das die „Liebe durch Wort und Musik“ (und nicht wie bei Mozarts Tamino durch das Bild) weiterträgt. Dass der Pilger ein „doppelter“ Pilger ist, wird nicht zuletzt mit dem „Kostümcode“, der der Oper eine „semantische Ausstrahlung, die unser Auge zum visuellen Mitdenken anregt“ verleiht, transportiert: Unterwegs von Osten nach Westen mit nackten Armen und verschnürt von Gebetsriemen und unterwegs von Westen nach Osten verhüllt in der Kutte des Mönchs.219 8.8. Clémence: Die im Exil lebende Entwurzelte Die Figur der Clémence erfährt in Maaloufs Libretto große Veränderungen im Vergleich zu den historischen Vorlagen220. Dass er Clémence zu einer Schwester des Grafen von Tripolis macht221, zählt dabei nur zu den kleineren Adaptionen. Die Figur der Clémence ist nicht auf den idealen, von den Troubadouren verehrten und besungenen Frauentypus begrenzt, so wie 218 Bettina Huter, L’amour de loin – „the story has chosen me“. Interview mit Kaija Saariaho. Übersetzt und bearbeitet von Bettina Huter, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 87. 219 Maria Deppermann, Toteninsel und Elfenbeinturm. Zur Uraufführung der Oper L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 20. 220 Siehe dazu auch den Aspekt der Verwandtschaft (die Gräfin wird bei Maalouf zur Schwester des Grafen von Tripolis) in: Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 309-310. 221 Der Pilger erzählt bei der ersten Begegnung mit Clémence, dass er zu dieser Zitadelle gekommen ist, um „dem Grafen, Eurem Bruder, ein langes Leben zu wünschen“. (II, 47). 90 es im Gedicht Lanqand li jorn son lonc en mai der Fall ist. Maalouf kreiert eine in ihrer Identität zutiefst entwurzelte Frau, die sich in ihrer Wahlheimat Tripolis als Fremde fühlt. Auch zu ihrer Heimatstadt Toulouse ist das entfremdete Gefühl im Vordergrund. Clémence ist eine Christin, die einem inneren Identitätskonflikt gegenüber steht. Dies ist insofern interessant, als dass dies üblicherweise unter umgekehrten Vorzeichen gelebt wird: 222 Aus dem Orient kommende Menschen suchen im Westen eine neue Heimat zu finden und sind mit diesen Identitätskonflikten stark konfrontiert. Maalouf gibt bereits bei der ersten Begegnung zwischen dem Pilger und Clémence dem Gefühl der Heimatlosigkeit einer im Exil Lebenden den entsprechenden Raum. Zuerst fährt sie den Pilger barsch an, der offensichtlich aus freien Stücken seine Heimat verließ, eine Wahl, die ihr in jungen Jahren nicht zur Verfügung stand. Hat es eure Heimat verdient, dass ihr sie so im Stich lasst? Hat sie euch hungern lassen? Hat sie euch gedemütigt? Hat sie euch verjagt? Diesem kurzen anklagenden Gefühlsausbruch folgt, die verneinende Antwort des Pilgers so gut wie nicht beachtend, in einem fast somnambulen Zustand ihre Klage: (Clémence wendet sich an ihn, aber ebenso an den Himmel wie an sich selbst) So viele Menschen träumen davon, in den Orient zu kommen, und ich träumte nur davon, hier wegzukommen. Im Alter von fünf Jahren habe ich Toulouse verlassen, und seither bin ich untröstlich. Jedes Schiff, das anlegt, erinnert mich an mein eigenes Exil, jedes Schiff, das ablegt, gibt mir das Gefühl verlassen worden zu sein. (II, 47-49) Den Einwurf des Pilgers, dass ihr doch Tripolis gehöre und ihre Eltern hier begraben seien, ändern nichts daran, dass sie weiterhin gefangen in Erinnerungen bleibt und noch immer im Schmerz der damaligen Trennung verhaftet ist. Dieses Land ist mein? Mag sein. Aber ich, ich bin nicht sein. 222 Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 310. 91 Meine Füße gehen auf hiesigem Grund, aber alle meine Gedanken tummeln sich in fernen Gründen. Wir träumen beide von der Ferne jenseits des Meeres, aber Eure Ferne ist hier, Pilger, und meine ist dort. Meine Ferne liegt bei Toulouse, wo die Rufe meiner Mutter und mein Kinderlachen widerhallen. Ich erinnere mich noch daran, wie ich barfuß auf einem Steinweg einem Kater nachjagte. Der Kater war jung, er ist vielleicht noch am Leben und erinnert sich an mich. Nein, er dürfte tot sein, oder er hat mich vergessen, wie mich die Steine des Weges vergessen haben. Ich erinnere mich an meine Kindheit, aber nichts aus der Welt meiner Kindheit erinnert sich meiner. Das Land, in dem ich geboren bin, lebt noch in mir, doch für es bin ich tot. Wie glücklich wäre ich, würde eine einzige Mauer, ein einziger Baum sich meiner erinnern. (II, 49) Als der Pilger von einem Mann erzählt, der an sie denkt, ist sie anfangs irritiert und verärgert. Sie möchte immer wieder wissen, wer ihm das Recht gibt, von ihr zu sprechen? Diese Wut wandelt sich im Dialog zwischen dem Pilger und ihr zu einem Gefühl der Hoffnung. Die entfernte Liebe vermag die Brücke zu ihrer Heimat zu werden. Rieger sieht an dieser Stelle eine egoistische Hoffnung über dem Gefühl der Liebe stehen: Durch und mit dem Lied des Troubadours, so Rieger, wird ein Stück Heimat greifbarer223. Gegen diese These der rein aus einem Egoismus heraus resultierenden Zuneigung zum Troubadour sprechen mehrere Details: Nachdem der Pilger in französischer Sprache die Verse 2, 5 und 7 der Kanzone Lanqand li jorn son lonc on mai rezitiert, verrät das Zittern in ihrer Stimme, dass ihr die Botschaft dieses Mannes und seine Gefühle zu ihr als Person nicht gleichgültig sind. Sie fragt nach weiteren Strophen und möchte sich laut Libretto gerne weniger erschüttert zeigen, als sie es tatsächlich ist224. Maalouf macht nicht zuletzt mit seinen Regieanweisungen deutlich, dass Clémence einen emotionalen Prozess beginnend von anfänglicher Verwirrung („troublée“) über Empörung („outrée“) beschreitet, um schließlich innerste Betroffenheit und Tränen in den Augen („qui a des larmes aux yeux“225) zu zeigen. Und obwohl sie nicht imstande ist, dem Pilger eine Antwort an den Prinzen von ihr auszurichten, beginnt sie, die vom Pilger vorgetragenen Verse auf Okzitanisch (!) zu singen. 223 Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 310. 224 II, 55. 225 II, 50, 52, 54. 92 Sie wechselt damit in eine andere Sprache – in „ihre“ Sprache, in die Sprache ihrer Heimat. Sie ist zwar nach wie vor örtlich weit entfernt von ihrer Heimat, jedoch hat sie ein ursprüngliches Element ihrer Heimat – die Sprache, mit der sie aufgewachsen ist, zurückgewonnen. Es scheint, dass die okzitanische Rezitation eine Art Echo ist – ein Echo des Klanges ihrer Heimat. In dieser Szene spielen sich hoch emotionale und psychologisch tiefgreifende Prozesse in Clémence ab, die musikalisch in äußerst differenzierter Form zum Ausdruck gebracht werden: Als Clémence die Möglichkeit eröffnet wird, über den Pilger eine Botschaft von ihr persönlich in ihre Heimat, zu diesem entfernten sie besingenden Prinzen zu schicken, hält sie plötzlich inne, sie ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht fähig, diese Schwelle – von der Distanz in die Nähe – zu überschreiten. Saariaho lässt dieses Innenhalten, dieses unsichere Abwägen, das im Bruchteil von Sekunden geschieht, in zartester, jedoch höchst spannungsgeladener Form musikalisch geschehen. Die quälende Nachdenkpause Clémences wird von den Flöten in einer zarten abwärtsgehenden Triolenbewegung eingeleitet und führt über einen sich rasch von den Streichern, der zweiten Harfe und dem Klavier aufbauenden dissonanten Akkord (dfis-g-gis-a-b-c) zur Entscheidung: „Nein, sagt ihm nichts“. 93 Danach geschieht in Clémence jene Schwellenüberschreitung, zu der sie gerade eben noch nicht fähig war, in gewisser Weise doch noch – aber auf einer anderen Ebene: Maalouf und Saariaho heben in dieser Szene die Gräfin nämlich auf eine besondere sprachliche Ebene: sie spricht auf einmal die alte Sprache der Liebeslyrik, der Liebesgedichte der Troubadoure und gleichzeitig die Sprache ihrer Heimat. Clémence hat unter Umständen anfangs den entfernten Troubadour und seine Lieder ausschließlich als Brücke zu ihrer Heimat angesehen, jedoch spätestens an der Stelle des Rezitierens seiner Gesänge in okzitanischer Sprache wird spürbar, dass die Gräfin nicht aus einem egoistisch geleiteten Gefühl heraus diesem Prinzen ihre Aufmerksamkeit schenkt. Ganz im Gegenteil – sie lässt bereits an dieser Stelle, räumlich weit entfernt von diesem Prinzen, sehr viel Nähe zu, indem sie mit all ihrem Herzen und tiefer emotionaler Rührung die Sprache ihrer Heimat und die des Prinzen von sich gibt. Clémence 94 singt hier die ersten vier Zeilen des 2. Verses von Lanqand li jorn son lonc en mai. Sie rezitiert die Melodie des Pilgers, die generell einen Ganzton höher gesetzt ist, in leicht abgewandelter Form und reichert diese mit Verzierungen an. Ihr Liebesgesang ist von einer sehr zarten Violinenbegleitung unterlegt; ein Harfenarpeggio (es-a-fis1-g1-cis2), das in einem ausgedehnten, lang nachklingenden fis2 in der Oboe endet, lässt die Assoziation zu Himmelsklängen und Engelsstimmen zu. Elektronisch wird dieser Trancezustand, diese Reise Clémences in ihre Vergangenheit, in ihren Ursprung mit Vogelstimmen und Flüsterklängen („whispers“) angereichert.226 226 Interessant ist, dass der Pilger die Verse 2, 5 und 7 des Gedichts rezitiert, das er von Jaufré vernommen haben soll – der Rezipient hört in der Oper diese Verse nie aus dem Munde Jaufrés. 95 8.9. Traum Während in den ersten drei Akten sich Jaufré und Clémence räumlich in großer Distanz befinden, bringt der vierte Akt durch den Aufbruch des Prinzen eine bis dahin noch nicht dagewesene Bewegung ins Geschehen. Dieser Akt besticht geradezu durch so viel „Bewegung, Spannung und Unruhe, die sich vor dem Hintergrund der ,langen Überfahrt‘ [vor der der Pilger eindrücklich warnt] kontrastreich abheben.“227 Während der Seefahrt verfällt Jaufré Rudel in einen Traum, in dem er seine Liebe aus der Ferne sieht. Maalouf greift hier ein in der Troubadourlyrik weit verbreitetes und vom historischen Jaufré Rudel gern variiertes Motiv des (ursprünglich erotischen) Traumes auf: Ich habe sie gesehen, Pilger, ich habe sie gesehen, wie ich dich sehe! [...] Sie war hier, und ihr Körper und ihr Antlitz und ihr weißes Gewand erhellten die Nacht. Sie sang ein Lied, das ich für sie geschrieben habe. (IV, 77) Der Pilger versucht mit „Es ist tiefste Nacht, und du hast geträumt“ den Troubadour zu beruhigen, jedoch bleibt Jaufré Rudel seiner Vision treu. Während Jaufré dem Pilger vom Traum erzählt, betritt Clémence die Bühne und der Traum materialisiert sich. Man sieht Clémence in einem weißen Kleid am Meer entgegengehen, Jaufré dabei ein Zeichen gebend, ihr zu folgen und man hört sie singen... „Deine Liebe beschäftigt meinen Sinn im Wachen wie im Traum, doch ich ziehe den Traum vor, denn im Traum gehörst du mir!“ (IV, 79) Clémence erscheint in dieser Szene als höchst ambivalente Figur: Zum Einen erinnert sie an eine Sirene, die den Geliebten durch ihren verführerischen Gesang vom Wege abbringen möchte, zum Anderen scheint sie Jaufré wie eine göttliche Gestalt, die über das Wasser wandelt. Der Dichter bekommt es angesichts der beiden präsenten Bilder der todbringenden Verführerin und der Mariengestalt mit der Angst zu tun.228 Er lässt sich von den beruhigend auf ihn einredenden Worten des Pilgers nicht beeinflussen und berichtet weiter: 227 Beate Burtscher-Bechter, Die wahre Liebe und nichts als die wahre Liebe? Zur interkulturellen Dimension in Amin Maaloufs Libretto zu L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 42. 228 Beate Burtscher-Bechter, Die wahre Liebe und nichts als die wahre Liebe? Zur interkulturellen Dimension in Amin Maaloufs Libretto zu L’amour de loin, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 42. 96 Als ich ihr in die Augen schaute, lächelte sie und bedeutete mir, ihr zu folgen. [...] Ich bin ihr gefolgt, doch plötzlich sah ich, wie sie sich vom Schiff entfernte und auf dem Wasser ging, wie unser Herr, ohne unterzugehen. Sie drehte sich nach mir um, öffnete ihre Arme, aber ich wagte nicht, mich ihr zu nähern. (IV, 79) Ab diesem Moment mutiert der Traum, der die entfernte Liebe so nah wie nie zuvor zu Jaufré Rudel brachte, in einen Albtraum und spätestens hier wird der Anfang vom Ende des Troubadours eingeleitet: Ich blieb wie festgewurzelt an der Reling stehen, brachte nicht den Mut auf, ihr nachzugehen, und ich weinte vor Scham ob meiner Feigheit. Beim Erwachen standen mir Tränen in den Augen, und sie war verschwunden. (IV, 79) Das mittelalterliche Liebeskonzept der Troubadourlyrik ins Auge fassend, wird an dieser Stelle klar, dass diese Peripetie im Traum geradezu geschehen muss: Dem Troubadour bleibt das Erreichen seiner im Lied offenbarten Wünsche verwehrt – sogar im Traume. Mit dem Scheitern im Traum beginnt wieder die Angst, Unsicherheit und Hoffnungslosigkeit in Jaufré Rudel zu keimen. Diese Gefühle sind wiederum Nährboden für die Ingangsetzung des nun eintretenden Krankheitsprozesses, der letztlich dazu führt, das Liebeskonzept der fin’amor aufrechtzuerhalten. Der Traum kann aber nicht nur in Zusammenhang mit dem troubadouresken Liebesmotiv gebracht werden, sondern ist auch für die Komponistin selbst ein wichtiges Motiv, das sich in einigen Werken229 Saariahos wiederfindet. Die Komponistin selbst sieht Träume als „Brücken zum Unbewussten“230 – und führt über ihre eigenen Träume Buch: 229 Im Traume (1980), From the Grammar of Dreams („Aus der Grammatik der Träume“, 1988), Grammaire des rêves („Grammatik der Träume“, 1988-1989). Aile du songe (2001) und Teile des Tempest Songbook (19922004). Zu den vier letzten Werken siehe auch: Ellen Kohlhaas, Seelenschlösser oder Übergänge und Zwischenwelten. Ein Streifzug durch Kaija Saariahos Vokalmusik, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 57-61 sowie in derselben Publikation Éve Pintér, Was die Träume erzählen. Textdeutungen in den Vokalwerken von Kaija Saariaho, S. 75-83. 230 Anni Oskala, Träumen über Musik, Musik über Träume, in: MusikTexte. Zeitschrift für neue Musik, Nr.110, hg. von Ulrich Dibelius u.a., Köln 2006, S. 46. 97 Ich bin ein Mensch, der sich an viele Träume erinnert. Manchmal gibt es in meinen Träumen Musik, die haften bleibt. Zuweilen hinterlässt ein Traum auch nur eine Erinnerung an eine Stimmung oder irgendeine Klangfarbe. Aber ich schreibe keine träumerische, umhertreibende Musik. Die Träume sind eher Türen zu verborgenen Existenzformen wie Tod und Liebe, zu grundlegenden Dingen, von denen wir nicht wissen.231 Anni Oskala hat Saariahos Werke, denen Traummotive zugrunde liegen, analysiert, indem sie die Gemeinsamkeiten der kompositionstechnischen Eigenschaften in diesen Werken festmacht und mit Saariahos Aussagen über Traumstrukturen in ihrer Musik sowie Traumtheorien mit dem Schwerpunkt der Freudschen psychoanalytischen Traumdeutung sowie jener David Foulkes verknüpft. Saariahos Interesse am Traum liegt vor allem in seiner strukturellen Unberechenbarkeit – ein Element, das sie in ihrem kompositorischen Werdegang höchst inspiriert und beeinflusst hat. Auch die Hartnäckigkeit von sich wiederholenden Traumgedanken im einzelnen Traum als auch die oftmalige Wiederkehr bestimmter Träume hat Saariaho stets fasziniert und in ihre Musik eingebaut. Sie selbst glaubt den Grund in diesen Wiederholungen darin zu erkennen, dass der Träumer die unbewusste Botschaft des Traumes noch nicht verinnerlicht hat und deshalb solange immer wieder auftauchen muss, bis dieser Prozess der Verinnerlichung abgeschlossen ist. Jaufré Rudel befindet sich als Troubadour, der ständig von einem Liebestraum singt, quasi in einer endlosen Träumerei – dies aber nicht im Schlaf, sondern eigentlich in einem wachen, singenden, dichtenden Zustand. In der hier angesprochenen Szene wird Jaufré von seinen Tagesphantasien auch in der Nacht, im Traum eingeholt. Damit drehen sich sowohl Jaufrés Wach- als auch Traumgedanken geradezu zwanghaft und ausschließlich um Clémence. Die dichterischen Traumbilder in seinen Liedern werden nachts durch real wirkende Traumbilder von Clémence abgelöst.232 Saariaho lässt vor allem durch eine bestimmte Melodie der Oboe das Element des immer wiederkehrenden Traumes in die Oper einfließen. Oskalas Analyse zufolge kommt dieses Oboenmotiv, Teile oder Variationen davon, in allen Akten vor: Sie nennt es das „Love from Afar“ Thema233: 231 Anni Oskala, Träumen über Musik, Musik über Träume, in: MusikTexte. Zeitschrift für neue Musik, Nr.110, hg. von Ulrich Dibelius u.a., Köln 2006, S. 46. 232 Siehe dazu auch Anni Oskala, Träumen über Musik, Musik über Träume, in: MusikTexte. Zeitschrift für neue Musik, Nr.110, hg. von Ulrich Dibelius u.a., Köln 2006, S. 46-49. 233 Anni Oskala, Dreams about Music, Music about Dreams, in: Kaija Saariaho: Visions, Narratives, Dialogues, hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S. 41-60. 98 Saariaho lässt den Anfang der Traumszene in ruhiger Atmosphäre beginnen – sowohl Jaufré, als auch sein Begleiter schlafen. Doch diese Stimmung verwandelt sich durch eine rhythmisch verdichtende Musik rasch in einen aufgewühlten und aufwühlenden Zustand, der die Unruhe Jaufrés und auch die des Meeres (es folgt im nächsten Bild der Sturm) widerspiegelt. Das Klanggewebe wird dichter und die Dynamik steigt. Erste Flöte und Vibraphon beginnen mit wechselnden Achtelbewegungen fis-g. Dieses Grundpendeln von zwei Tönen (und später von drei bis vier Tönen) im kleinen Sekundintervall wird sukzessive von anderen Instrumenten (2. und 3. Flöte, Harfe, Crotales234 und z.T. Violinen) angereichert, wobei sich zusätzlich eine rhythmische Verdichtung durch sich wiederholende, beinahe hypnotisierende Triolen-, Sextolen-, Sechzehntel- und Zweiundreißigstelbewegungen ergibt. Die Oboe wirft immer wieder ein bekanntes Motiv, oder besser gesagt, ein bestimmtes Profil ein (die Töne d, b, a, cis) – es erinnert an die Gesangsmelodie Clémences. Zusammen mit der mehr und mehr aufwühlenden Rhythmik, der sich erweiternden Harmonik (fis, g, a, b, cis, d,) und dem Chor zeigt Saariaho musikalisch Jaufrés Erinnerungen und Phantasien, die sich im Traume miteinander in einer alptraumhaften Form verschmelzen. 234 Dies sind sogenannte antike Zimbeln, die Bestandteil des Perkussionsensembles sind. 99 Der Traum hat zur Folge, dass der Troubadour von massiven Existenzängsten geplagt wird – er befindet sich in diesem Augenblick in einem Dilemma, das er nicht zu bewältigen imstande ist. Aus ihm spricht in diesem Zustand größter Aporie die pure Angst: Ich habe Angst, Pilger, ich habe Angst. Du bist die Stimme der Vernunft, aber die Angst hört nicht auf die Stimme der Vernunft. Ich habe Angst, sie nicht zu finden, und ich habe Angst, sie zu finden. Ich habe Angst, auf See verloren zu gehen, bevor ich Tripoli erreiche, und ich habe Angst, Tripoli zu erreichen. Ich habe Angst zu sterben, Pilger, und ich habe Angst zu leben, verstehst du? (IV, 81) Der Troubadour ist sich seiner ausweglosen Lage bewusst – er hat sich in ein Dilemma hineinmanövriert, dem er weder mit Hilfe seines Verstandes, noch mit der seines Herzens, seiner Intuition, zu entrinnen vermag. Seine Gefühle stehen ständig im Widerspruch miteinander. Aus psychologischer Sicht befindet er sich in einem Zustand größter Disbalance – zwischen Todessehnsucht und Lebenswille hin- und herpendelnd. 8.10. Sturm Dem Albtraum folgt ein weiterer Tag auf unruhiger See: Das Meer tost und Jaufré, der leichenblass an der Reling lehnt, stürzt – die Gefährten lachen über ihn. Sie zeigen in dieser Szene, wie wenig sie die wahre Seele ihres Herren kennen und wie sehr ihr Blick auf das Wesentliche fehlt: Sie vergleichen Jaufré mit einem furchtlosen Krieger, mit einem mächtigen 100 König, einem Ritter, der Wüsten und Berge überwinden konnte – aber – selbst diese zitterten auf hoher See. Doch Jaufré weiß selbst den wahren Grund seiner Angst; zum Pilger gewandt: Wenn unsere Gefährten wüssten, weshalb ich zittere, sängen sie nicht so. Nicht das Meer macht mir Angst... (IV, 81) Saariaho setzt diese aufgewühlte Stimmung mit Hilfe der spektralen Technik um: Diese befindet sich vor allem in dem Augenblick, wo sie die Weite des Meeres zu schildern hat, in ihrem Element. Der Akkord (Partialtöne F und B) erscheint in ausgedünnter Form, nur von Fis aus aufsteigend und Töne bevorzugend, die einen tonalen und diatonischen Eindruck erzeugen. Symbol- und naturhaft für das blaue Meer, das laut Pilger der „Spiegel des Himmels“ (IV, 77) ist, sind vor allem die übereinandergeschichteten reinen Quinten. Nach und nach kommen andere Töne hinzu. 235 Innerhalb kürzester Zeit (im Laufe von 8 bis 10 Takten) entsteht ausgehend von Posaunen, Harfen, Klavier, Celli und Kontrabässen (alle fis und/oder b) ein dichtes Tongewebe, erzeugt von allen Instrumenten (außer die ersten Violinen) des Orchesters. Die Töne bewegen sich zwischen dem klingenden B1 (Kontrabässe) und dem klingenden fis4 (Piccolo), wobei diese Verdichtung ebenso schnell wieder abebbt wie sie gekommen ist – ein rauschender, tosender Meeresklang. Die Gefährten werden wieder von dem peitschenden Tarantella-Rhythmus angekündigt und begleitet. Der Übersicht halber im Folgenden ein Ausschnitt dieser klanglichen Fülle aus dem Klavierauszug. Die klein gedruckte Triolenfolge wird von den Trompeten gespielt: 235 Theo Hirsbrunner, L’amour de loin und Adriana Mater, die beiden Opern von Kaija Saariaho. Ein Vergleich, in: Musiktheater der Gegenwart. Text und Komposition, Rezeption und Kanonbildung. Mit einem Schwerpunkt: Die Salzburger Ur- und Erstaufführungen in Theater und Musiktheater, hg. von Jürgen Kühnel, Ulrich Müller, Oswald Panagl, Anif/Salzburg 2008, S. 208. 101 8.11. Konstruktion und De-Konstruktion des idealen Frauenbildes Jaufré Rudels Während Jaufré Rudel zu Beginn der Oper, noch bevor er Bekanntschaft mit dem Pilger macht, von den vermeintlichen Tugenden einer fernen Frau spricht und von seinen Gefährten mit durchaus aggressiven und harschen Tönen verspottet wird, kommt es im zweiten Akt 102 durch die Gräfin selbst zur Dekonstruktion seiner Vision. Ihrer Selbsteinschätzung nach kann sie auf die ihr zugesprochenen Tugenden nur zu negativen Antworten kommen. Wenn dieser Troubadour mich kennen würde, hätte er mich dann so inbrünstig besungen? Hätte er mich besungen, wenn er in meine Seele hätte schauen können? Schön, ohne den Hochmut der Schönheit, so sagte man ihm... Schön? Doch immerzu um mich blickend, um mich zu vergewissern, dass keine andere Frau schöner ist! Edel ohne den Hochmut des Adels? Aber ich giere nach Ländereien des Okzidents wie des Orients, als schulde die Vorhersehung mir etwas! Fromm ohne den Hochmut der Frömmigkeit? Doch ich stolziere in meinen schönsten Kleidern zur Messe, dann knie ich mich in der Kirche nieder, mit leerem Sinn! Troubadour, ich bin nur schön im Spiegel deiner Worte. (II, 57) Die Gräfin stellt somit das konstruierte ideale Frauenbild des Jaufré Rudels in Frage. Saariahos musikalische Darstellung der Dekonstruktion der visionären Konstruktion Jaufré Rudels zeigt aber auch eine andere Seite dieser Selbstdekonstruktion: Diese Erkenntnis des eigenen Charakterzugs ist verbunden mit dem Gefühl des Schmerzes und der Traurigkeit. Diese Traurigkeit, die inneren Tränen Clémences werden durch den Frauenchor hörbar. Hautsalo zitiert in diesem Zusammenhang Monelle, der davon ausgeht, dass bestimmte musikalische Motive einen spezifischen Zustand beschreiben: So kann beispielsweise das sogenannte „pianto topic“, das Intervall der fallenden Sekunde, auf die fallende Träne, den Schmerz, die Traurigkeit oder den Tod hinweisen236. Clémence dekonstruiert in dieser Szene demnach nicht nur ihren eigenen Tugendkatalog (Schönheit, Adel, Frömmigkeit,....) , sondern ist im Innersten von tiefer Traurigkeit erfüllt: 236 Liisamaija Hautsalo, Whispers from the Past: Musical Topica in Saariaho’s Operas, in: Kaija Saariaho: Vision, Narratives, Dialogues, hg. von Tim Howell, Jon Hargreaves, Michael Rofe, Ashgate 2011, S. 116-117. 103 Clémence scheint neben einem stolzen und damit einer Adeligen gebührenden sowie wie am Ende der Oper klar ersichtlichen selbstbestimmten Charakter auch jenen einer unsicheren, dependenten Frau zu haben. Sie zweifelt wie oben beschrieben nicht nur an ihren eigenen Tugenden, sondern auch an der ihres Verehrers. Es scheint, als ob sie mehrere Gründe dafür sucht, diese ferne Liebe nicht zur Wirklichkeit werden zu lassen. Es gibt aber unter den Gefährtinnen eine bestimmte Person, die Clémence in ihrer inneren Ambivalenz unterstützt und spricht: Ihr alle, die ihr sie tadelt, was haben euch eure so nahen Männer gebracht? Egal ob Prinzen oder Diener, sie machen euch zu Mägden, wenn sie euch nah sind, leidet ihr, und wenn sie fortgehen, leidet ihr noch ... (III, 71) Saariaho hat – wie bereits erwähnt – ursprünglich fünf Protagonistinnen für diese Oper vorgesehen: Diese Person wird eine jener zweien sein. Es dürfte sich um die Tochter oder eine Freundin handeln, die wohl die einzige zu sein scheint, die Clémence besonders nah steht. Clémence segnet diese Frau, indem sie antwortet: Wahr sprichst du, meine Tochter, meine Freundin, du seist gebenedeit! Du seist gebenedeit! Diese Person stützt Clémence, in ihrer Kraft zu bleiben und folgende herausfordernde Fragen ihrer Gefährtinnen zu bewältigen: [...] Ihr leidet nicht darunter, demjenigen so fern zu sein, der Euch liebt? Nicht an seinem Blick erraten zu können, ob er Euch noch begehrt? 104 Ihr leidet nicht darunter, nicht einmal zu wissen, wie sein Blick ist? Ihr leidet nicht darunter, niemals seine Augen schließen zu können und dabei seine Arme zu spüren, die euch umfangen und an seine Brust drücken? Ihr leidet nicht darunter, niemals, niemals seinen Atem auf Eurer Haut zu spüren? Clémence: Nein, bei Gott, ich leide nicht. Vielleicht werde ich eines Tages leiden, aber, bei unserem gnädigen Herrn, nein noch leide ich nicht. Seine Lieder sind mehr als Zärtlichkeiten, und ich weiß nicht, ob ich den Mann so lieben würde, wie ich den Dichter liebe, ich weiß nicht, ob ich seine Stimme genauso sehr lieben würde, wie ich seine Musik liebe. Nein, bei Gott, ich leide nicht. Zweifellos würde ich leiden, wartete ich auf diesen Mann und er käme nicht, aber ich erwarte ihn nicht. Zu wissen, dass dort, in meiner Heimat, ein Mann an mich denkt, lässt mich mit einem Mal der Welt meiner Kindheit nahe sein. Ich bin die Ferne jenseits des Meeres für den Dichter, und der Dichter ist meine Ferne jenseits des Meeres. Zwischen unseren beiden Ufern reisen zärtliche Worte, zwischen unseren beiden Leben reist eine Musik... Nein, bei Gott, ich leide nicht, nein, bei Gott, ich erwarte ihn nicht, ich erwarte ihn nicht... (III, 71-73) Dennoch wird hier Clémences Zwiespalt offensichtlich – sie betrachtet den fernen Geliebten nicht mehr als zu begehrenden Mann, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auf die Qualitäten eines durchaus begabten Dichters. Das, was er in seinem künstlerischen Schaffen kreiert, gilt es zu verehren und achten. Falls das Auftauchen dieses Mannes überhaupt eine Bedeutung haben sollte, dann ausschließlich jene, sich innerlich wieder vermehrt der eigenen Kindheit und der entfernten Heimat zu widmen. Der Dichter steht allein für die entfernte Heimat, die sich durch ihn und sein Werk so nah wie nie zuvor anfühlt – der Dichter quasi als Verbindung zu ihrer Herkunft. Immer wieder nennt sie Gott – eine in diesem Moment anscheinend gläubige Frau, die noch zuvor selbst gesagt hat, sich in der Kirche zwar niederzuknien und zu beten, aber „mit leerem Sinn“ (II, 57). Die wiederholte Verneinung des Leidens und Erwartens wirkt wie ein sich selbst auferlegter Autosuggestionsspruch, der das tiefste Innere umzukehren versucht. Dennoch zeigt Clémence differenziertere charakteristische Merkmale 105 als jene der historischen Figur der besungenen und verehrten Dame innerhalb der Troubadourlyrik. Sie ist zur Eigenreflexion fähig – frägt innerlich nach, wägt ab. Nur eine mit der Kompetenz des reflexiven mentalen Verhaltens ausgestattete Person ist zur Auseinandersetzung mit Widersprüchen, sei es emotionaler oder kognitiver Art, in der Lage. 8.12. Sterbeszene In der Sterbeszene greift Amin Maalouf nicht nur auf das Lied Lanqand li jorn son lonc en mai des historischen Jaufré Rudel zurück, sondern hebt auch ein besonderes Charakteristikum des Liebeskonzepts der fin amor hervor: Die ersehnte Liebe darf nach diesem Konzept nicht im irdischen Leben gelebt werden – dies würde ein Widerspruch in sich sein. Auf diesen elementaren Grundbaustein der fin amor bezieht sich der Pilger, indem er auf die Untrennbarkeit zwischen der geliebten Frau und dem fernen Ort bzw. auf den anderen Pol der Untrennbarkeit zwischen dem Tod und der Nähe zu ihr hinweist: (Clémence nimmt Jaufré Rudel in ihre Arme.) Jaufré: Herr, könnte ich so bleiben, einige Augenblicke, einige Augenblicke länger, Könnte ich noch ein wenig weiterleben, nur ein wenig, Meine Liebe, die fern war, ist mir nun nah, mein Körper ruht in ihren Armen, und ich atme den süßesten Duft. Könnte der Tod noch draußen warten, anstatt mich so ungeduldig zu schütteln. Pilger: Aber wenn der Tod nicht so nahe wäre, Jaufré, Wäre die Frau, die du liebst, in diesem Moment auch nicht in deiner Nähe, um dich zu umarmen, Die Luft, die du atmest, wäre nicht durchdrungen von ihrem Duft, Und sie hätte dir nicht gesagt: „Ich liebe dich, Jaufré“. (V, 97) Dieser kurze Einwurf des Pilgers, der mitten in einem intensiven und hochemotionalen Dialog zwischen Jaufré Rudel und Clémence erfolgt, spiegelt auch die Verzweiflung des Mittlers wider: Es waren seine Erzählungen, die den Anfang vom Ende des Troubadours einleiteten und letztlich zu dieser wahren Begegnung führten, die eigentlich nicht stattfinden hätte dürfen. Offensichtlich ist es ihm in diesem Moment ein großes Bedürfnis, dem Schmerz des Prinzen 106 mit dieser vermeintlich nach dem Liebeskonzept der Troubadoure „logischen“ Erklärung Trost zu spenden und vermutlich auch ein Stück weit sein Gewissen zu beruhigen. Saariaho gestaltet diesen Doppelmonolog des Pilgers und Jaufrés als Duo – obgleich der Eindruck entsteht, dass eher jeder für sich in seiner Musik und seinen Worten lebt. Die für die beiden Figuren charakteristischen Instrumente – die Flöten für den Pilger, das Klavier für Jaufré – kommen hier zum Einsatz. Maalouf greift noch zwei Mal auf das bekannte Troubadourlied zurück: Der Wunsch des Troubadours, die Geliebte an den traditionellen lieux érotiques, den Plätzen der Erotik zu begegnen, die im Lied Lanqand li jorn son lonc en mai als „la cambra e•l jardis“ – die Kammer und der Garten 237 – beschrieben werden, geht in Erfüllung. Ferner wird das Unmögliche möglich: das „vollkommene Gespräch“238, in dem sich Jaufré und Clémence in einem Frage-Antwort Dialog – allerdings immer in der konjunktiven Form – gegenseitig die Liebe erklären: Jaufré: Wenn mich der Himmel jemals gesunden ließe, Nähmst du mich an der Hand, um mich zu deinem Gemach zu geleiten? Clémence: Ja, Jaufré, wenn der Himmel in seiner Güte dich heilen würde, nähme ich dich an der Hand, um dich zu meinem Gemach zu geleiten. Jaufré: und ich streckte mich aus neben dir? Clémence: Und du strecktest dich aus neben mir... Jaufré: Und du legtest dein Haupt an meine Schulter? Clémence: Mein Haupt an deine Schulter... Jaufré: Dein Gesicht dem meinen zugewandt, deine Lippen nahe den meinen... Clémence: Meine Lippen nah den deinen... (Ihre Lippen berühren sich sanft.) (V, 98-99) 237 238 Siehe Kapitel 4.4. Vers VI, Zeile 6. Siehe Kapitel 4.4. Vers IV, Zeile 5. 107 Dieser Dialog wird mit den Harfen und Violinen (den Clémence zugeordneten Instrumenten) und dem Klavier, den Crotales und dem Vibraphon (den Jaufré zugeordneten Instrumenten) begleitet, wobei der Klangboden von den Streichern gelegt wird – ein flimmernder Klang. Mit Fortschreiten des Dialogs verschwinden sukzessive diese den beiden Figuren zugehörigen Instrumente. Als Jaufrés letzte Worte – (sehr hoch gesetzt mit e1, fis1 und gis) – verklingen, spielt nur noch die erste Violine das h2 stetig vier Takte weiter, um schließlich ganz zu verklingen: Das pulsierende Herz steht still. Der Wunsch der höchsten Liebesgabe der troubadouresken domna – den Kopf an ihre Schultern zu betten und ihre Lippen im Kuss zu berühren – gehen für Jaufré Rudel in Erfüllung. 239 Für ihn gibt es damit nichts mehr vom Leben zu fordern und er stirbt in ihren Armen mit den Worten: In diesem Augenblick habe ich alles, was ich begehre. Was könnte ich mehr vom Leben verlangen? (V, 99) 239 Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 306. 108 Das Pochen des Herzens wird von Zimbeln und Crotales gespielt – auch dies verklingt. Nachdem Jaufré sein Leben in den Armen seiner Clémence ausgehaucht hat und ein ganzer Takt Generalpause diesen Moment inne halten lässt, werden, ähnlich wie am Beginn und wie im dritten Akt, als Jaufré zum ersten Mal den Namen dieser Frau erfährt, die Partialtöne B und Fis – diesmal aber in absteigender Form, hörbar240. Der versammelte Chor versucht nun, Clémence davon abzuhalten, Gott anzuklagen – sie haben Angst vor der Strafe Gottes, vor dem schutzlos Ausgeliefertsein im Sturm auf offener See usw. Clémence beginnt auch, sich selbst schlecht zu reden, die Schuld für den Tod Jaufrés zuerst bei sich zu suchen. Sie beschließt am Ende dieses Wustes an Schuldfindungen, ihren nicht gekannten Mann die ewige Treue zu schwören: Ich bin Witwe eines Mannes, der mich nicht gekannt hat, und nie wird ein Mann meine Bettstatt ergründen. (V, 105) Diese Aussage spricht eher dafür, dass sie nicht aus einem tiefen Glauben heraus ins Kloster geht, sondern dies aus Liebe zu ihrem Jaufré tut und aus dem Bedürfnis heraus, vor den Menschen zu flüchten. Maalouf lässt diese innere Gespaltenheit Clémences – auf der einen Seite das blasphemische Erheben gegen den Himmel und auf der andern Seite die Entscheidung, in ein Kloster zu gehen – ihren Höhepunkt erreichen: Ihr Schlussgesang – ein Schlussgebet vor dem Leichnam ihres Geliebten, bleibt (zunächst) ambivalent. Dazu aus dem Libretto: (Als wäre sie bereits im Kloster, kniet sie sich nieder und beginnt zu beten, zunächst schweigend, dann mit lauter Stimme, dem reglosen Körper ihres Geliebten zugewandt, der wie ein Altar wirkt, so dass nicht ganz klar wird, ob sie zu ihm oder zu Gott betet, gegen den sie sich aufgelehnt hatte. Der Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass die Worte, die sie spricht, doppeldeutig sind.) Wenn Du Liebe heißt, bete ich nur Dich an, Herr. Wenn Du Güte heißt, bete ich nur Dich an. Wenn Du Vergebung heißt, bete ich nur Dich an, Herr. Wenn Du Passion heißt, bete ich nur Dich an. Mein Gebet erhebt sich zu Dir, der Du mir nun so fern bist, zu Dir, der so fern ist. 240 Theo Hirsbrunner, L’amour de loin und Adriana Mater, die beiden Opern von Kaija Saariaho. Ein Vergleich, in: Musiktheater der Gegenwart. Text und Komposition, Rezeption und Kanonbildung. Mit einem Schwerpunkt: Die Salzburger Ur- und Erstaufführungen in Theater und Musiktheater, hg. von Jürgen Kühnel, Ulrich Müller, Oswald Panagl, Anif/Salzburg 2008, S. 208. 109 Vergib mir meine Zweifel an Dir! Du, der Du Dein Leben für mich gabst, vergib mir, so fern geblieben zu sein. Jetzt bist Du es, der fern ist. Bist Du noch da, um mein Gebet zu hören? Jetzt bis Du es, der fern ist, jetzt bist Du die Liebe aus der Ferne. Herr, Herr, Du bist die Liebe, Du bist die Liebe aus der Ferne... (V, 107) Der Gesang Clémences wird von zart flimmernden, schwebenden und sphärischen Streicherklängen getragen, die durch eine spezielle Vibratotechnik (alternierender Fingerdruck von „normal“ und „leicht“) auf den Tönen b, h, d, e erzeugt werden. Die Harfen reichern diesen Klang mit einer raschen fis-b-Alteration an und setzen immer wieder Arpeggioakzente (fis-cis-d) ein. Die Spielanweisung von Saariaho lautet „the music blends gradually into air and light“ – es scheint, als ob Clémence nicht nur an den Himmel gewandt spricht, sondern sich auf dem erlösenden Weg zum Himmel auf Erden befindet. Für viele Autoren (und Kritiker) bleibt der Schluss der Oper ambivalent: Betet Clémence nun Gott oder ihren Geliebten an? Bei genauerer Betrachtung der Musik bzw. des Gesangsparts Clémences fällt auf, dass bestimmte Wörter von der Sopranistin gesprochen werden: Es sind dies „Seigneur“ („Herr“, im Takt 722, 729 und 767), „maintenant“ („jetzt“, „nun“, Takt 736), „Toi qui“ („Du, der du…“, T 748) sowie „ma prière“ (Gebet, Takt 758). 110 Diese Wörter sind im Hinblick auf ein (christliches) Gebet Schlüsselwörter – warum spricht diese Clémence und singt sie nicht, zumal sie innerhalb der Melodielinie liegen? Hier ist es wichtig, nochmals die Worte Saariahos ins Gedächtnis zu rufen, die sie in einem Interview sagte: Für sie ende die Oper nicht traurig, sondern – im Gegenteil – Clémence finde am Ende ihr Leben wieder, da sie erkenne, dass sie die Liebe in sich trage. Clémence zeigt uns mitten in diesem himmlischen, dem (vermeintlich) Gott geweihten Gebetsgesang, mit ihrem Wechsel in die ,menschliche Sprache’, dass sie ihre menschliche und irdische Stimme wiedergefunden hat: Sie steht voll im Leben, im Herzen erfüllt von großer Liebe – das Lied, das sie singt, ist ihrem Geliebten, Jaufré Rudel, gewidmet. Er ist zwar nicht mehr auf irdischem Boden, aber im Herzen lebt er ewig weiter. Clémence hat die höchste Stufe der Transzendenz erreicht – eine Stufe, die einem irdischen Menschen normalerweise verwehrt bleibt: Jaufré und Clémence ist es durch die Überschreitung größter Hürden und Schwellen gelungen, den Garten Eden, das Paradies auf Erden, zu betreten. Saariaho macht diese höchste Form Liebe musikalisch erlebbar: der Klang dieser letzten Szene ist nicht mehr fassbar, greifbar, fest – alles schwebt in zartester Stimmung; der Gesang Clémences, der sich ins Unendliche auszudehnen scheint, erzeugt gemeinsam mit den Streichern, dem Percussionsensemble (hier Vibraphon, Crotales, Marimba, TamTam und Pauken), den hellen Flöten (der Pilger ist musikalisch anwesend), den glitzernden Harfenklängen (Jaufré ebenfalls!) und den elektronisch generierten Flüster-, Wald- und Vogelgeräuschen eine überirdische und transzendente Atmosphäre, die im realen Leben, im Irdischen, das Erdenhafte integriert. 111 9. Zusammenfassung Amin Maalouf und Kaija Saariaho haben mit der Oper L’amour de loin gezeigt, wie aktuell und lebendig eine Jahrtausende alte Geschichte im 21. Jahrhundert sein kann. Eine Geschichte, die die elementarsten Grundfragen der Menschheit beleuchtet – das Suchen und Verstehen der eigenen Identität und die des Anderen, die Suche und Sehnsucht nach Erfüllung, Liebe und inneren Frieden. Maalouf verpackt diese grundlegenden Themen in eine alte, aus dem 12. Jahrhundert stammende Geschichte eines französischen Mannes, der sich als Troubadour ständig in dem Zustand des nach Erfüllung Suchenden und des sich in träumerischen Visionen Verlierenden befindet. Maalouf erweitert in seinem Libretto allerdings das Liebeskonzept des Troubadours, die fin’amor, die aus der vorbehaltlosen Hingabe an eine Sehnsucht lebt und aus der puren Spannung des Hier und Dort genährt wird, durch tatsächliche Handlungen, Entscheidungen und viel mehr noch, innerliche Bewusstwerdungsprozesse aller Protagonistinnen. So treiben den Dichter und die Gräfin nur auf den ersten Blick egoistische Ziele voran: Der Dichter sucht seine dichterische Identität und Perfektion, die Gräfin ihre persönliche Identitätssuche. Die wahre Liebe als Antrieb und das ehrliche Interesse am Anderen scheinen somit nicht in den Vordergrund gerückt zu sein. Rieger sieht zusätzlich durch den Tod Jaufrés und Clémences Einkehr ins Kloster das Fehlen jeglicher Transzendenz bewiesen: Die Liebenden fänden sich weder in dieser noch in einer „anderen“ Wirklichkeit; Egoismus und Pessimismus seien die Basis der Geschichte und stünden in starkem Widerspruch zu Maaloufs aufklärerischen Mission als Autor und Mittler zwischen den Kulturen, so Riegers Konklusion.241 Auch Deppermann sieht, wie im Kapitel 5.5 beschrieben, ein einsames und nicht erfüllendes Ende in der Oper. Die eingehende Betrachtung des Werkes, in der vor allem die Verbindung zwischen Text, emotionalen Gehalt des Textes und der Musik einen Fokus darstellte, hat Gegenteiliges bewiesen: Egoismus kann keinem der drei Figuren zugeschrieben werden: Jaufré würde aus einem Egoismus heraus nicht eine derart weite, für seine gesamte Existenz bedrohliche Reise antreten. Auch Clémence zeigt durch die Bereitschaft, sich den eigenen Ängsten, Wünschen und Sehnsüchten zu stellen, dass sie weit weg von egoistischem Handeln und Denken ist. Dass das Ende der Oper weder „einsam“, noch „nicht erfüllend“ ist, hat die musikalischästhetische Darstellung der Sterbeszene eindrücklich bewiesen. Dennoch sei an dieser Stelle 241 Angelica Rieger, Amour de loin. Über die Geschichte eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin 2005, S. 311-312. 112 eine ausführlichere Argumentation erlaubt, die sowohl auf das Libretto, als auch auf die Musik Saariahos und vor allem auf die lebendige Verbindung dieser Bezug nimmt. Zwischen dem troubadouresken Liebeskonzept der fin’amor und der Maaloufschen L’amour de loin sind erhebliche Unterschiede herauskristallisierbar. Der anfangs rein dichterischen Hingabe an eine Sehnsucht folgen tatsächliche Entscheidungen und Handlungen. Der Troubadour zeigt – nicht zuletzt angeregt durch die Erzählungen des Pilgers – Eigeninitiative und Aktivität, indem er sich tatsächlich auf die Suche nach der bis dahin ausschließlich besungenen, und im irdischen Leben nie erreichbaren Frau macht. Er entspricht somit nicht dem Typus Troubadour, dessen dichterische Integrität und Perfektion mit der räumlichen Distanz aufrechterhalten werden kann. In dem Moment, in dem der Troubadour sich entscheidet, tatsächlich den Weg über das Meer zu wagen, in dem Moment, in dem er seiner Besungenen in die Augen blickt, seinen Kopf an ihre Schultern lehnt, implodiert geradezu seine Existenz als Troubadour – er ist nicht mehr der Troubadour Jaufré Rudel, sondern der Prinz Jaufré Rudel, der seine Suche nach wahrer Liebe und dem wahren Kern des Lebens erfolgreich beendet. Auch die Gräfin entspricht nicht dem troubadouresken Idealtypus einer Frau, die mit übermenschlichen Tugenden ausgestattet ist und somit nicht einem irdischen, sondern engelhaften Wesen entspricht, sondern zeigt ihre wahre, menschliche und verletzliche Seite: Sie trauert um ihre Heimat, die ihr in Kindheitstagen genommen wurde. Nur auf den ersten Blick scheint es, dass sie im Wissen um einen entfernten Prinzen, der sie besingt, ihren Mangel an heimatlicher Identität ausgleicht. Schon bald wird das Gefühl der Heimatlosigkeit in das einer innigen Liebe umgewandelt. Der innere Prozess führt sie zur Erkenntnis, dass Ferne und Nähe, Heimat und Fremde relativ sind, und im Herzen die wahre Heimat, die wahre Liebe immer mitgetragen wird. Der Orient steht für den Garten Eden – dem Ort der Entstehung der Menschen, einem Ort, an dem Körper und Seele Eins sind. Dieses „Paradies auf Erden“ bleibt eigentlich für den Menschen (so lange er auf Erden lebt – dies entspricht der Vorstellung vieler Religionen) unerreichbar. Clémence befindet sich seit ihrer Kindheit inmitten dieses Ortes, nur konnte sie ihn bis dahin weder erkennen, noch fühlen – mit Jaufrés Reise und Überwindung des Meeres begann auch in ihr der Prozess der Überwindung dieser großen Schwelle. Als Jaufré und Clémence sich Arm in Arm auf der Zitadelle, in Tripolis, im Orient befinden, erleben sie die größte Transzendenz, die einem Menschen zuteil werden kann. Ihnen wird es ermöglicht, diese eigentlich dem Menschen vorenthaltene Liebe zu leben – und das in doppelter Hinsicht: Zum Einen werden die vielen Hürden (die Grenzen der troubadouresken 113 Liebeslyrik, die Meinungen der eigenen Freunde und Vertrauten, die räumliche Distanz, die Selbstzweifel, Ängste, Wut, Trauer, die egoistischen Gefühle,...) überwunden. Zum Anderen haben beide Menschen als verloren geglaubte Seelen, deren Leben sinnentleert zu sein schien, an dem höchst symbolisch und spirituellen Ort sowohl zu sich selbst als auch den anderen gefunden. Clémence muss deshalb nach dem Tod ihres Geliebten weder aufhören, diesen Menschen zu lieben, noch ihm in den Tod folgen (wie dies in vielen Opern, von Orpheus und Eurydike angefangen über den Fliegenden Holländer und seiner Senta bis hin zu Tristan und Isolde), weil die Liebe nicht das irdische Leben braucht, um gefühlt zu werden. Wenn man den Begriff Transzendenz (lateinisch transcendentia242 – „das Übersteigen“) versteht als Etwas, das man weder Sehen noch Hören kann (wie Freude, Glück, Zufriedenheit,...), sondern nur Fühlen, dann ist die Liebe die höchste Form der Transzendenz. Die Liebe zwischen Jaufré und Clémence erfährt in der Oper eine ,Erhöhung‘ dieser Transzendenz – es kommt quasi zu einer ,Auflösung der Transzendenz‘: Liebe wächst und ist da – Clémence und Jaufré brauchen keinen anderen Raum mehr für diese Liebe zu suchen, sie haben ihn in sich gefunden. Clémence braucht nicht mehr sehnsuchtsvoll nach ihrer Heimat Toulouse schauen, denn die Heimat ist bereits in ihr. Saariaho empfindet deshalb entgegen vielen Forschern, die sich mit der Oper beschäftigen, dass diese Oper weder traurig ist, noch tragisch endet. An dieser Stelle sollen Saariahos eigene Worte den ihren gebührenden Platz bekommen: [Es ist] ein sehr befreiendes Gefühl, wenn wir durch den Tod eines geliebten Menschen erkennen, dass wir nicht plötzlich aufhören müssen, diesen Menschen zu lieben, weil die Liebe über den Tod hinausgeht und den Tod überwindet. [...] Für mich persönlich ist [L’amour de loin] eine sehr glückliche Geschichte, denn Jaufré hat den Mut, sich aufzumachen, um Clémence zu sehen, und beide leben für ihre Liebe. [...] Die Oper [vermittelt] Hoffnung, gerade, wenn man bedenkt, welche Entwicklung Clémence nach dem Tod von Jaufré durchmacht. Zunächst ist sie natürlich verzweifelt, dann zornig. Aber dann überwindet sie den Zorn und die Verneinung des Lebens und ist am Ende der Oper erfüllt von einer unendlichen Liebe. Viele Leute glauben, dass Clémence am Ende der Oper stirbt. Das glaube ich nicht. Meiner Meinung nach findet Clémence am Ende der Oper zurück zum Leben, und zwar durch diese unendliche und ewige Liebe, die sie in sich trägt.243 242 Siehe dazu auch online unter http://de.wikipedia.org/wiki/Transzendenz. Bettina Huter, L’amour de loin – „the story has chosen me“. Interview mit Kaija Saariaho. Übersetzt und bearbeitet von Bettina Huter, in: Oper im Kontext. Musiktheater bei den Salzburger Festspielen, hg. von Bettina Huter, Innsbruck 2003, S. 88. 243 114 Durch das ausgesprochen dichterisch feinfühlig verfasste Libretto und der musikalischen Umsetzung und Gestaltung der Geschichte mit ihren vielschichtigen, unterschwellig und langsam sich entwickelnden inneren Prozessen haben Maalouf und Saariaho ein Meisterwerk geschaffen, das, obgleich es in den letzten Jahren einige Aufführungen erlebt hat, noch mehr Beachtung verdient. Saariaho schuf auf Basis eines außergewöhnlichen Librettos mit ihrem ersten Ausflug in das wohl anspruchsvollste Musikgenre eine spirituelle Oper mit meditativem Charakter, in der Themen wie Interkulturalität genauso aufgegriffen werden wie individuelle und seelische Prozesse. Sie schuf eine Oper, die vor Antithesen nur so sprüht: Orient und Okzident, Erotik und Askese, Furcht und Freude, Angst und Mut, Wolllust und Tugend, himmlische und irdische Liebe, Diesseits und Jenseits, Vergänglichkeit und Stetigkeit, Flucht und Beharrlichkeit, Einsamkeit und Zweisamkeit, Sequestration und Integration, Ekstase und Melancholie, Starre und Lebendigkeit, Leben und Tod, Ideal und Wirklichkeit,... Saariahos Kompositionsstil, der durch das „Auffächern, Zerlegen, Verwandeln, Umfärben, Umdeuten, Verdichten und Ausdünnen“ 244 des Klanges charakterisiert ist, scheint wie gemacht zu sein für die musikalische Gestaltung dieser Antithesen. Langsame, aber stetige Veränderungen im Klang – gewissermaßen ein musikalischer Sog, der durch das sukzessive Hinzutreten und Aufbauen einzelner Stimmen entsteht – führen gemeinsam mit dem Hinzutreten von Akzenten und diatonischem Material dazu, diese latenten Peripetien, metabolischen Prozesse und die subtile Innenschau des Seelenlebens musikalisch auszudrücken. Saariaho hat mit ihrer ersten Oper eindrücklich bewiesen, dass sie zu den großen Komponistinnen der Musikgeschichte gehört. Abschließen soll diese Arbeit deshalb Saariaho selbst, die sich zur bedeutenden und über die Musikgrenzen hinausgehenden Rolle und Aufgabe einer Komponistin wie folgt äußert: Ich habe das Gefühl, dass der heutige Künstler in einem umfassenden Sinne das tiefe Erbe der Humanität in sich trägt. Wir sollten gemeinsam Sorge für dieses höchste Gut tragen und Wege finden, dass es – auch lange nach uns – am Leben bleibt. Eine Aufgabe, die gegenwärtig sehr schwer erscheint.245 244 Siehe dazu auch Ellen Kohlhaas, Seelenschlösser oder Übergänge und Zwischenwelten. Ein Streifzug durch Kaija Saariahos Vokalmusik, in: Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2007, S. 61. 245 Zit. nach Michael Kurtz, Kaija Saariaho auf dem Weg zu ihrer Oper „L’amour de loin“. Musik und die visuelle Welt und vielfältige Facetten der Stimme, in: Offizielles Programm der Salzburger Festspiele 2000, hg. von Friedel Schafleitner, Salzburg/Wien 2000, S. 161. 115 10. Literaturverzeichnis Al-Taee, Nasser: Representation of the Orient in Western Music. Violence and Sensuality, Ashgate 2010. Art. Sulla tastiera, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, hg. von Stanley Sadie, Bd. 18 (Spiridion-Tin whistle), New York u.a. 1995, S. 355. Art. 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