Abgründe. Einige Bemerkungen und Beispiele zur

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Abgründe. Einige Bemerkungen und Beispiele zur
Abgründe. Einige Bemerkungen und Beispiele zur Einführung
(Monika Schmitz-Emans)
Ab-Gründe
ABGRÜNDE spielen in der literarischen (Anti-)Topographie eine prominente Rolle. Vergleiche
dieser Abgründe lassen Rückschlüsse auf jeweils zeit- und werkspezifische Vorstellungswelten
zu und lenken den Blick auf dominante thematische Interessen.
Als Bezeichnung für einen Ort oder Ortstypus weist der Ausdruck "Abgrund" eine Besonderheit
auf, an die für die literarische und künstlerische Darstellung von ‚Abgründen’ auf vielfältige
Weisen anknüpfen: Mit der Benennung eines Ortes oder Raums als "Abgrund" verbunden ist
zumindest implizit ein Moment der Privation oder doch des Nicht-so-Seins-wie-Anderes, des
Sich-Absetzens-von-Anderem. Dem deutschen "Abgrund" entspricht das griechische "abyssos"
(lateinisch "abyssus"), das mittels der privativ gebrauchten Vorsilbe "a" aus "byssos", (Meeres)Grund, gebildet wird. – Die für das deutsche Kompositum "Abgrund" verwendete Partikel "ab"
ist in den germanischen Sprachen in verschiedenen Varianten geläufig; etymologisch verwandt
mit griech. ‚apo’ (lat. ‚ab’), hat es vielfältige Funktionen und verweist dabei insbesondere auf
Differenzen, Distanzen und Trennungen (vgl. Beispiele bei Jacob und Wilhelm Grimm,
Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 6–10) – analog zum ‚von’ (im Sinne von ‚weg’) –, ferner auch
auf ein Ausgehen- oder Fortgehen-von-Etwas (vgl. das mit ‚ab’ etymologisch verwandte
englische ‚of’). Als Bestandteil von Komposita dient "ab" oft der Bezeichnung einer Privation –
wie in "abgott", "abgunst" [Mißgunst], "abhold", "absonnig" [sonnenabgewandt] (Grimm 1, Sp.
9); hier "pflegt es [= das ‚ab’] minderung des im nomen enthaltenen begrifs (!), gleichsam
entfernung aus ihm anzuzeigen" (Grimm 1, Sp. 9). Noch in "abwitz" ("aberwitz") und "abglaube"
("aberglaube") wird diese Funktion greifbar (Grimm 1, Sp. 9). Ein "abgrund" –
sprachgeschichtlich abgeleitet aus ahd. "abcrunti", mhd. "abegründe" (Grimm 1, Sp. 51) – ist
dementsprechend das vom "Grund" Unterschiedene – zunächst einmal im Sinn räumlicher
Distanz, wobei als "Grund" Erde gedacht wird, auf der man steht. Es geht mit dem Abgründigen
also um das, "was den grund, die erde verlassend, in die tiefe, den grund hinab reicht" (Grimm 1,
Sp. 9) bzw. "was hinab, von der erde weg reicht, die unterste tiefe, der abgrund der hölle, des
meers" (Grimm 1, Sp. 52).
Semantisch insgesamt insgesamt weniger eindeutig und direkt negativ respektive privativ als das
"un-", läßt das "ab-" einen "Grund" demnach zwar nicht zum "Ungrund" werden, aber doch zu
etwas, das dem "Grund" fern ist bzw. die Auslotung eines "Grundes" nicht gestattet. Die
metaphorische Bedeutung von "Grund" – im Sinne dessen, worauf man auch im übertragenen
Sinn ‚stehen’, ‚aufbauen’, ‚beruhen’ kann, was also ‚festen Stand’ gewährt – findet ihr
Gegenstück in entsprechenden "Abgrund"-Metaphern: Abgründe gewähren keinen festen Stand,
keinen stabilen Bezugspunkt. Schon das griechische "abyssos" ist Name des Unergründlichen
und insofern nach menschlichem Ermessen Grundlosen, die Bezeichnung für einen Ort von
unermeßlicher Tiefe, der als solcher Sinnbild anderer Unermeßlichkeiten ist.
Daß die Gegenüberstellung von Höhe und Tiefe sich auf dem Weg über symbolische
Oppositionen und entsprechende Sprachbilder auf ganze kulturelle Vorstellungswelten prägend
auswirkt, zeigt sich an der geläufigen Assoziation des "Abgründigen" mit dem "Tiefen"
besonders klar. Die vertikale Dichotomie des ‚Hohen’ und des ‚Tiefen’ dient in biblischen
(alttestamentarischen wie neutestamentarischen) vor allem dazu, die Beziehung Gottes zu seinen
Widersachern, des Reichs des Lichts zu dem der Finsternis in Vorstellungsbildern zu
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konkretisieren. Dabei ist das Bild des Sturzes in den Abgrund besonders aussagekräftig. Der
Höllensturz Luzifers und derer, sie auf seiner Seite sind, ist ein besonders prominentes AbgrundNarrativ. Und in der Apokalypse findet sich das Abgrund-Motiv wiederholt aufgegriffen,
verknüpft mit der Vorstellung einer vom Abgrund ausgehenden Verfinsterung und Gefährdung.
"[…] Und ich sah einen Stern; der war vom Himmel auf die Erde herabfallen; und es
wurde ihm der Schlüssel zum Brunnen des Abgrundes gegeben. Und er schloß den
Brunnen des Abgrundes auf; da stieg aus dem Brunnen Rauch auf, wie der Ruch eines
großen Ofens, und die Sonne und die Luft wurden verfinstert […] ." (Off., 9, 1–2)
"Und wenn sie ihr Zeugnis vollendet haben, wird das Tier, das aus dem Abgrund
heraufsteigt, mit ihnen Krieg führen und sie besiegen und sie töten." (Off., 11, 7)
"Das Tier, das du sahst, war und ist nicht und wird aus dem Abgrund emporsteigen und
geht ins Verderben." (Off. 17, 8)
"Und ich sah einen Engel vom Himmel herabsteigen, der hatte den Schlüssel des
Abgrunds, und eine große Kette lag auf seiner Hand. Und er ergriff den Drachen, die alte
Schlange, die der Teufel und der Satan ist, und legte ihn in Fesseln für tausend Jahre und
warf ihn in den Abgrund und legte ein Siegel an […]." (Off. 10, 1–3)
Literarische Höllenabgründe
Schon früh mit der Vorstellung eines Totenreichs in Verbindung gebracht, wird der ‚Abgrund’ in
christlichen Vorstellungswelten zum Bild der Hölle, insofern diese als ein unermeßlich tief
gelegener Ort gilt. Dantes "Commedia" (1306–1321) läßt die Darstellung des Inferno mit dessen
Schilderung als riesenhafter und dem Blick unermeßlicher Abgrund beginnen: Zu Beginn des IV.
Gesangs finden sich sein Erzähler und dessen Begleiter Vergil, beide von Charon über den Fluß
Acheron getragen, am Rand einer Schlucht, aus der vielstimmiger Jammer ertönt. Hier ist der
Eingang zur ‚blinden Welt’ der Hölle, in welche die beiden Wanderer nun hinabsteigen,
stufenweise den sich konzentrisch und trichterförmig nach unten erstreckenden neun Kreisen der
Hölle folgend, die "Wand des Abgrunds" (IV 24) entlang.
"Vero è che 'n su la proda mi trovai
de la valle d'abisso dolorosa
che 'ntrono accoglie d'infiniti guai.
Oscura e profonda era e nebulosa
tanto che, per ficcar lo viso a fondo,
io non vi discernea alcuna cosa.
Or discendiam qua giù nel cieco mondo,
cominciò il poeta tutto smorto." (Inf. IV 7–9)
"Am Rand fürwahr mich fand ich von dem Schlunde
Des Jammertals, das donnernd widerhallt
Von Schreien ohne Zahl in seinem Grunde.
Tief, dunkel wars, voll Nebel, der sich ballt;
Zur Tiefe tauchend, konnt in all dem Weiten
Nicht Raum mein Aug erkennen noch Gestalt.
‚Hier laß zur blinden Welt hinab dich leiten’,
sprach der Poet, und seine Wang erblich […]." (Inf. IV 7–14)
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Der Höllentrichter erstreckt sich bei Dante bis zum Zentrum der Erde; dort sitzt Luzifer in einer
eisigen Sphäre. Gebildet wurde der Trichter einst durch die Wucht von Luzifers Sturz. Die durch
die Trichterbildung verschobene Erdmaterie hatte dabei auf der anderen Seite der Erde einen
Berg entstehen lassen. – Als einen Abgrund schildert auch Torquato Tass die Hölle; laut
"Gerusalemme Liberata" (1581) und "Gerusalemme Conquistata" (1593) sind hier die Kräfte des
Bösen versammelt. Pluto entsendet von hier aus Dämonen, die den christlichen Rittern
entgegentreten (Gerusalemme Liberata, IV 4; IX 15). – In John Miltons "Paradise Lost (1667)
wird das Bild des Abgrunds bei der Schilderung der Hölle aufgegriffen, die hier wiederum als ein
dunkles Gefängnis erscheint, in das Luzifer vom Himmel herab gestürzt wurde (vgl. Paradise
Lost I 15–75; VIII 131–135). Friedrich Gottlieb Klopstocks Topographie der Hölle gestaltet sich
ähnlich: Die vom Satan beherrschten Bezirke beginnen im "Messias" (1748–1773) mit
"unermeßlich dämmernde(n) Räume(n)" (Messias, 249); die Hölle liegt weit unten,
eingeschlossen "in ewige Dunkelheit" (Messias, 256) – ein "Ort der dunkeln Verdammnis"
(Messias, 265). Die "Bewohner des Abgrunds" (Messias, 294) huldigen Satan als ihrem
"schrecklichen König" (Messias, 293). Vergeblich mühen sich Kräfte des Bösen wie Belielel,
ihre von Gott verfluchten Gefilde der göttlichen Welt ähnlicher werden zu lassen: "öde
Verwüstung / Bleibt ungestalt im erschütterten Abgrund hinter ihm liegen" (Messias 382f.).
Erhabene Abgründe
Klopstocks höllischer Abgrund partizipiert als Pendant zur göttlichen Sphäre zumindest vie
negationis an deren Erhabenheit. Die durch Edmund Burke unter Anknüpfung an Pseudo-Longin
im mittleren 18. Jahrhundert konzipierte Ästhetik des Erhabenen (vgl. "A philosophical enquiry
into the origin of our ideas of the sublime and beautiful", 1757) nimmt auf die literarische und
bildkünstlerische Darstellung von Abgründen nachhaltigen Einfluß. Bedrohliche
Naturphänomene vermögen im Menschen eine aus Furcht und Staunen gemischte Gefühlslage zu
erzeugen, einen ‚delightful horror’, in dessen Zeichen das Schreckliche zum Gegenstand
ästhetischer Erfahrung wird. In vorromantischen und romantischen Landschaftsdarstellungen
konkretisiert sich die Ästhetik des Erhabenen besonders prägnant – in Bildern von
Naturphänomenen, die dem Menschen die Grenzen seiner Kräfte vor Augen führen und zugleich
Imaginationen und Ideen in ihm wecken. Die Gebirgslandschaft mit ihren Gipfeln und
Abgründen wird zum programmatischen Motiv. Entsprechende Landschaftsschilderungen
nehmen etwa in der Schauerliteratur breiten Raum ein. Sie gewähren dem Leser angesichts der
Bedrohlichkeiten einer übermächtigen und ‚abgründigen’ Natur ein ästhetische Vergnügen
(‚delightful horror’), das die bedrängten und gequälten Figuren selbst kaum empfinden können,
weil sie dem schrecken ja unmittelbar ausgesetzt sind. Der Leser hat ihnen gegenüber das
Privileg, die Schrecken einer rätselhaften und abgründigen Welt aus einer Distanz
wahrzunehmen, die ästhetische Erfahrung ermöglicht; Analoges gilt für den Betrachter gemalter
erhabener Landschaften.
Abgründe in Landschaftsräumen, dämonische Mächte und äußerste Schrecken finden sich in der
Schauerliteratur vielfach miteinander verknüpft. Matthew Gregory Lewis läßt seinen
skandalumwitterten Roman "The Monk" (1796) mit einer Szene enden, in der sich das
präromantische Konzept der erhabenen menschenfeindlichen Gebirgslandschaft mit
Reminiszenzen an infernalische Abgründe und den Teufel als ihren Herrn verbindet. Der Satan,
mit dem der lasterhafte Mönch Ambrosio aus Todesangst eine Pakt eingegangen ist, läßt sein
Opfer zuletzt aus dem Himmel in die Tiefe fallen. Abgestürzt in die Sierra Morena, erleidet
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Ambrosio nach seinem Sturz noch sechs Tage lang die schrecklichsten Qualen, bevor er stirbt
(und, wie man annehmen darf, zur Hölle fährt). E.T.A. Hoffmanns Roman "Die Elixiere des
Teufels" (1815/16), in dem sich viele Handlungselemente und Motive aus Lewis’ "Monk"
aufgegriffen finden, verzichtet auf einen so eindeutigen Auftritt des Teufels; das Dämonische
erscheint stattdessen als facettenreiches Projektionsphänomen, und der Akzent des Interesses
verlagert sich auf die psychische Disposition der latent gespaltenen Hauptfigur Medardus. Dieser
selbst läßt dann auch, dem eigenen Bericht zufolge, einen Doppelgänger in einen Abgrund
stürzen, und aus ‚Abgründen’ taucht eben dieses alter ego mehrfach wieder auf – als
unheimlicher Indikator dafür, daß in der Romantik die Abgründe der Seele das eigentliche
Thema darstellen, auch und gerade wenn von räumlichen Abgründen die Rede ist.
Abgründige Natur
In dem Maße, als die Natur selbst – einer zentralen Thematik der romantischen Literatur
entsprechend – als verrätselt und fremd erscheint, gewinnen natürliche ‚Abgründe’ an Bedeutung
und Faszinationskraft. Dies gilt für die Abgründe des Meeres als der unauslotbaren Tiefe des
ohnehin fremden Wasserreiches; es gilt aber auch für die Tiefen der Erde, in die hinabzusteigen
allenfalls wenigen Auserwählten gestattet ist. Geologische und erdgeschichtliche Konzepte und
Bilder werden im frühen 19. Jahrhundert – stimuliert durch Wissensdiskurse, in denen die Natur
selbst, die Erde und die sie bewohnenden natürlichen Arten historisiert erscheinen – zum
wichtigen Motivfundus. Der Abstieg ins Innere der Erde erscheint aus einer erdgeschichtlich
inspirierten Perspektive zugleich als Abstieg in die ‚Tiefe’ der Zeit – insbesondere in ‚Zeiträume’
weit vor den Anfängen der Menschheitsgeschichte. Die Abgründe im Inneren der Erde werden
imaginiert als Inbegriff des Andersartigen und in seiner Menschenferne dem menschlichen
Begreifen letztlich Inkommensurablen – ‚unermeßlich’ nicht nur wegen ihrer Weitläufigkeit,
sondern auch als fremdes Gegenstück kultureller Schöpfungen.
Romantische Geschichten über Bergbau, Bergwerke, Bergleute können so (unbeschadet ihrer
vordergründigen Beziehung zur Vorstellungswelt um menschliches Handwerk,
Naturbeherrschung und ökonomische Nutzung von Bodenschätzen) zur Geschichten der
Initiation in eine dem Begreifen widerständige Sphäre werden – und damit zu programmatischen
Geschichten der Initiation in die Sphäre des Schönen und der Kunst. Schon in Kunstmärchen wie
Tiecks "Der Runenberg" erscheint – anknüpfend an die Tannhäusersage und das HörselbergMotiv – die Welt des Gebirges und der Gesteine als Schauplatz einer so unheimlichen wie
wirkmächtigen Initiation und Inspiration. Das Anorganische und seine Formensprache treten der
Welt des Organischen und Vergänglichen gegenüber und verlocken den sterblichen Menschen
dazu, sich auf eine fremde, im räumlichen wie im übertragenen Sinn abgründige Sühäre
einzulassem. Aus der von Gotthilf Heinrich Schubert mitgeteilten Geschichte über den
Bergmann von Falun, dessen Leichnam viele Jahrzehnte nach seinem Tod wohlkonserviert, weil
der anorganischen Sphäre assimiliert, wiederauftaucht, macht E.T.A. Hoffmann in "Die
Bergwerke von Falun" eine Künstlergeschichte: Sein Held Elis Fröbom wendet sich von den
Menschen ab und folgt der Verlockung der Bergkönigin, die in den Abgründen der Gesteinswelt
regiert. Eine menschenferne, im buchstäblichen wie im metaphorischen Sinn abgründige
anorganische Naturwelt wird ihm zum Stimulus der Imagination, die ihn dem bürgerlichen und
sozialen Leben unwiderruflich entfremdet. Beim allerersten Anblick der großen Öffnung in der
Erdoberfläche, von der aus die Bergleute zu Falun in die Tiefe der Gesteinswelt steigen,
erscheint Elis das spätere Faszinosum der Bergwelt allerdings noch unheimlich; hier fällt nicht
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nur der Ausdruck "Abgrund", sondern auch Vergleiche mit der Hölle, ja Reminiszenzen an
Dantes Infernoreise, drängen sich dem Betrachter auf.
"Bekanntlich ist die große Tagesöffnung der Erzgrube zu Falun an zwölfhundert Fuß
lang, sechshundert Fuß breit und einhundertundachtzig Fuß tief. Die schwarzbraunen
Seitenwände gehen anfangs größtenteils senkrecht nieder; dann verflächen sie sich aber
gegen die mittlere Tiefe durch ungeheuern Schutt und Trümmerhalden. In diesen und an
den Seitenwänden blickt hin und wieder die Zimmerung alter Schächte hervor, die aus
starken, dicht aneinandergelegten und an den Enden ineinandergefugten Stämmen nach
Art des gewöhnlichen Blockhäuserbaues aufgeführt sind. Kein Baum, kein Grashalm
sproßt in dem kahlen zerbröckelten Steingeklüft, und in wunderlichen Gebilden,
manchmal riesenhaften versteinerten Tieren, manchmal menschlichen Kolossen ähnlich,
ragen die zackigen Felsenmassen ringsumher empor. Im Abgrunde liegen in wilder
Zerstörung durcheinander Steine, Schlacken – ausgebranntes Erz, und ein ewiger
betäubender Schwefeldunst steigt aus der Tiefe, als würde unten der Höllensud gekocht,
dessen Dämpfe alle grüne Lust der Natur vergiften. Man sollte glauben, hier sei Dante
herabgestiegen und habe den Inferno geschaut mit all seiner trostlosen Qual, mit all
seinem Entsetzen." (Hoffmann, Die Bergwerke zu Falun)
Hatte Elis schon zuvor im Traum eine Meerestiefe geschaut, die sich dann als Tiefe eines
kristallin-steinernen Reichs erwies, so wird diese Analogiebildung zwischen Erd- und
Meeresabgrund nun nochmals aufgegriffen, und der Anblick dieses Abgrundes weckt
Todesahnungen.
"Als nun Elis Fröbom hinabschaute in den ungeheueren Schlund, kam ihm in den Sinn,
was ihm vor langer Zeit der alte Steuermann seines Schiffs erzählt. Dem war es, als er
einmal im Fieber gelegen, plötzlich gewesen, als seien die Wellen des Meeres verströmt,
und unter ihm habe sich der unermeßliche Abgrund geöffnet, so daß er die scheußlichen
Untiere der Tiefe erblicke, die sich zwischen Tausenden von seltsamen Muscheln,
Korallenstauden, zwischen wunderlichem Gestein in häßlichen Verschlingungen hin und
her wälzten, bis sie mit aufgesperrtem Rachen, zum Tode erstarrt, liegen geblieben. Ein
solches Gesicht, meinte der alte Seemann, bedeute den baldigen Tod in den Wellen, und
wirklich stürzte er auch bald darauf unversehens von dem Verdeck in das Meer und war
rettungslos verschwunden. Daran dachte Elis, denn wohl bedünkte ihm der Abgrund wie
der Boden der von den Wellen verlassenen See, und das schwarze Gestein, die blaulichen,
roten Schlacken des Erzes schienen ihm abscheuliche Untiere, die ihre häßlichen
Polypenarme nach ihm ausstreckten." (Hoffmann, Die Bergwerke zu Falun)
Tatsächlich wird Elis ja, wie der Schubert-Leser schon vorab weiß, vom Abgrund verschlungen
und selbst zum Bestandteil der unergründlichen Tiefe werden (als Bergman von Falun).
Topographisches wird in romantischen Texten wie diesem letztlich zur Projektionsfläche und
Chiffre für psychische Prozesse. Bergwerke und abgründige Gewässer spiegeln die Disposition
des Ichs, sich aus der Sphäre der ‚festen Gründe’ hinauszubewegen, und sei es um den Preis des
Selbstverlusts. Bei Hoffmann kommen aus dem Abgründigen immerhin die Impulse zur
künstlerischen Kreativität.
Abgründige Architekturen der Imagination
Nicht nur natürliche (landschaftliche) Räume, nicht nur Gebirge und Meere geraten in der
romantischen Literatur als abgründig in den Blick, sondern auch architektonisch gestaltete
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Räume, wie sie vor allem in der Schauerliteratur gern als Chiffren psychischer Strukturen und
Dispositionen geschildert werden. Giovanno Battista Piranesi wird in Vorromantik und
Romantik zum Inbegriff eines Künstlers stilisiert, dessen Bildphantasien dem Abgründigen
Gestalt geben. In den "Carceri d’Invenzione" mit ihren sich ins Unabsehbare erstreckenden,
riesenhaft wirkenden und mysteriösen Räumen, Räumen ohne natürliches Licht, ohne
Außenwelt, ohne Zentrum, ohne erkennbare Funktion konkretisiert sich das Bild einer Welt, die
vom Menschen nicht auszuloten ist – weder räumlich noch hinsichtlich ihres Zwecks. Schon die
Winzigkeit der gesichtslosen Figuren auf Piranesis Blättern deutet darauf hin, daß ihnen die Welt
zum Abgrund geworden ist.
Vorromantische und romantische Autoren deuten Piranesis Carceri als in diesem Sinn
programmatisch – und nehmen die Blätter zum Ausgangspunkt eigener Architektimaginationen.
So spricht William Beckford von einem "Reich des Schreckens und der Folter, mit Ketten,
Rädern und grausamen Maschinen, ganz in der Art Piranesis", das seine eigene Phantasie ihm
vorgespiegelt habe (Travel-Diaries, Bd. 1, 98), und er betont den Gleichnischarakter von
Piranesis Architekturen, indem er auf den Stichen gleichsam nicht nur Architekturen, sondern
Metaphern: für Faszination, Grauen und Verzweiflung sieht. In Beckfords Roman "Vathek", der
Geschichte eines Kalifen, der sich in die Labyrinthe der Hölle wagt, weil er von ungeheurem
Erkenntnisdrang getrieben wird und Allah und Mohammed provozieren will, nehmen sich die
geschilderten Topographien wie Hommagen an Piranesi aus, wobei dessen Bildmotive um neue
ergänzt werden. In einer Höllenschilderung Beckfords findet sich "eine unendliche Treppe"
erwähnt, "die, wenn man an ihr heruntersah, so tief wie der Abgrund der Pyramide erschien, und
wenn man emporblickte, sich im Dunst verlor". Von späteren Piranesi-Betrachtern wird gerade
dieses Motiv der endlosen Treppe aufgegriffen. In verschiedenen literarischen Schilderungen der
"Carceri" bewegt sich sogar Piranesi selbst – als Repräsentant künstlerischer Imaginationskraft –
über die eigenen endlosen gewundenen Treppen. – Thomas De Quincey kannte die "Carceri"
zwar nur aus Samuel Taylor Coleridges Schilderungen, doch das ihn nicht daran gehindert
(vielleicht ja sogar gerade dazu inspiriert), in den "Confessions of an English Opium-Eater"
(zuerst im "London Magazine", 1821) ausführlich über die "Carceri" zu schreiben. Anlaß ist die
Thematisierung von Fieberträumen. De Quincey nimmt den Leser selbst gleichsam mit in die
Carceri – und er versetzt Piranesi persönlich in die eigenen Phantasie-Architekturen – um dann
zu verdeutlichen, worum es ihm eigentlich geht: um die abgründigen Welten seiner eigenen
Träume.
"Creeping along the sides of the walls, you perceived a staircase; and upon this, groping
his way upwards, was Piranesi himself. Follow the stairs a little farther, and you perceive
them reaching an abrupt termination, without any balustrade, and allowing no step
onwards to him who should reach the extremity, except into the depths below. Whatever
is to become of poor Piranesi, at least you suppose that his labours must now in some way
terminate. But raise your eyes, and behold a second flight of stairs still higher, in which
again Piranesi is perceived, by this time standing on the very brink of the abyss. Once
again elevate your eye, and a still more aerial flight of stairs is descried; and there, again,
is the delirious Piranesi, busy on his aspiring labours: and so on, until the unfinished
stairs and the hopeless Piranesi both are lost in the upper gloom of the hall. With the same
power of endless growth and self-reproduction did my architecture proceed in my dreams.
In the early stage of the malady, the splendours of my dreams were indeed chiefly
architectural; and I beheld such pomp of cities and palaces as never yet was beheld by the
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waking eye, unless in the clouds." (Thomas de Quincey: Confessions of an English
Opium-Eater, in: Collected Writings. Vol. III. London 1897, S. 438f.)
De Quinceys Piranesi-Phantasie wirkt anregend auf die französisch-romantische PiranesiRezeption, so auf Alfred de Musset, der de Quinceys Text unter dem Titel "L’Anglais mangeur
d’opium" (1828) frei ins Französische übersetzt. In Mussets "Enfant du siècle" wird die
Bewegung des Gedankens als ein zielloser ekstatischer Tanz durch unermeßliche Räumlichkeiten
geschildert; in "La Mouche" (1853) wird der Künstler Piranesi erneut auf einen endlosen Weg
über schwindelerregende Abgründe hinweg geschickt. In Victor Hugos Elegie XIII aus "Les
Rayons et les ombres" (1839) erscheint Piranesi als Baumeister eines neuen Babylon, als Magier
der Phantasie, als Konstrukteur so artifizieller wie abgründiger Welten.
"Puits de l’Inde! tombeaux! monuments constellés!
Vous dont l’intérieur n’offre aux regards troublés
Qu’un amas tournoyant de marches et de rampes,
Froids cachots, corridors où rayonnent des lampes,
Poutres où l’araignée a tendu ses longs fils,
Blocs ébauchant partout de sinistres profils,
Toits de granit, troués comme une frêle toile,
Par où l’œil voit briller quelque profonde étoile,
Et des chaos de murs, de chambres, de paliers,
Où s’écroule au hasard un gouffre d’escaliers!
Cryptes qui remplissez d’horreur religieuse
Votre voûte sans fin, morne et prodigieuse!
Cavernes où l’esprit n’ose aller trop avant!
Devant vos profondeurs j’ai pâli bien souvent
Comme sur un abîme ou sur une fournaise,
Effrayantes Babels que rêvait Piranèse!"
"Brunnen Indiens! Gräber! sternübersäte Monumente!
Ihr, deren Inneres den verwirrten Blicken nichts bietet
Als eine wirbelnde Menge von Stufen und Geländern,
Kalte Verliese und lampenbeschienene Korridore,
Balken, an denen die Spinne ihre langen Fäden gespannt hat,
Holzklötze, die überall ihre düsteren Profile ahnen lassen,
Granitene Dächer, durchlöchert wie brüchige Leinwand,
Durch welche das Auge manch unergründlichen Stern funkeln sieht,
Und ein Chaos von Mauern, von Zimmern, von Pfeilern,
Wo ein Abgrund von Treppen ohne Plan in die Tiefe stürzt!
Krypten, die ihr mit religiösem Entsetzen
Eure endlosen Gewölbe, so düster und gewaltig, erfüllt!
Kavernen, in die sich der Geist nicht zu weit hineinwagt,
Vor Euren Tiefen bin ich oft erbleicht
Wie von einem Abgrund oder einem Feuerofen,
Erschreckendes Babylon, von dem Piranesi träumte!" (Übers. bei Kupfer 100)
Théophile Gautier überträgt die Rolle des unablässig treppensteigenden Wanderers Piranesi in
phantastisch-gigantischen und mysteriösen Räumen in Erweiterung des Ausgangsbildes auf
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andere Figuren und macht sie zum Sinnbild der menschlichen Existenz. Eine neuerliche Version
der Treppenszene findet sich etwa 1838 in seiner Erzählung "Le Club des hachichins":
"Cependant j’étais arrivé sur le palier de l’escalier que j’essayai de descendre; il était à
demi éclairé et prenait à travers mon rêve des proportions cyclopéennes et gigantesques.
Ses deux bouts noyés d’ombre me semblaient plonger dans le ciel et dans l’enfer, deux
gouffres; en levant la tête, j’apercevais indistinctement, dans une perspective prodigieuse,
des superpositions de paliers innombrables, des rampes à gravir comme pour arriver au
sommet de la tour de Lylacq; en la baissant, je pressentais des abimes de degrès, des
tourbillons de spirales, des éblouissements de circonvolutions.
‘Cet escalier doit percer la terre de part en part, me dis-je en continuant ma marche
machinale. Je parviendrai au bas le lendemain du jugement dernier.’"
"J’étais dans la cour.
Pour vous rendre l’effet que me produisit cette sombre architecture, il me faudrait la
pointe dont Piranèse rayait le vernis noir de ses cuivres merveilleux: la cour avait pris les
proportions di Cham-de-Mars, et s’était en quelques heures bordée d’édifices géants qui
découpaient sur l’horizon und dentelure d’aiguilles, de coupoles, de tours, de pignons, de
pyramides, dignes de Rome et de Babylone."
"Inzwischen hatte ich den Absatz der Treppe erreicht und versuchte, sie hinabzusteigen.
Sie lag halb im Dunkel und nahm in den Phantasien meines Traums zyklopische und
gigantische Ausmaße an. Ihre beiden von Schatten überdeckten Enden schienen mir in
den Himmel und in die unterwelt abzustürzen, zwei unermeßliche Abgründe. Wenn ich
meinen Kopf hob, nahm ich undeutlich und in einer verwirrenden Perspektive ungezählte,
übereinander geschobene Treppenläufe, Podeste und Steigleitern wahr, so als könnte man
auf ihnen die Spitze des Turms von Lylacq erklimmen. Und senkte ich meine Augen
nieder, so ahnte ich unter mir tiefe Schluchten, wirbelnde Treppenspiralen und das
Blinken schwindelerregender Umdrehungen. / ‘Diese Treppe muß ja die Erde ganz
durchbohren’, murmelte ich mir zu, während ich mechanisch meinen gang fortsetzte. ‘Ich
werde das Ende am Tag nach dem jüngsten Gericht erreichen’… / Schließlich befand ich
mich im Hof. / Um euch den Eindruck, den diese düstre und schwere Architektur auf
mich machte, ganz zu beschreiben, bedürfte ich der Radiernadel Piranesis, mit der dieser
in den schwarzen Firnis seiner Kupferplatten seine leuchtenden und wunderbaren
Zeichnungen zog: der Hof hatte die Dimensionen des Champ de Mars angenommen und
hatte sich – binnen weniger Stunden – rings mit riesigen Bauwerken gesäumt, die sich vor
dem Horizont wie ein langer Zackenfries aus Kirchturmspitzen, Kuppeln, Rundtürmen,
Giebeln und Pyramiden abhoben, würdig jedes Vergleichs mit Rom oder Babylon."
(Romans et Contes, übers. bei Kupfer, 452 / 454.)
Der russische Romantiker Wladimir Odojewski hybridisiert in "Russische Nächte" (Russkie
noci, 1844) zwei westeuropäische literarische Figuren, die beide mit Abgründigem konnotiert
sind: Seine Version des Architekten Piranesi, der noch posthum als Geist von den abgründigen
Konstrukten der eigenen Imagination nicht losgelassen wird, erinnert zugleich an
E.T.A.Hoffmanns Titelfigur in "Ritter Gluck", die sich auf die unauslotbaren Tiefen des
musikalischen ‚Geisterreichs’ eingelassen hatte.
Eine späte Reminiszenz an romantische Schilderungen der abgründigen, unauslotbaren,
unergründlichen und faszinierenden Imaginationsräume Piranesis bietet Jorge Luis Borges’
Erzählung über die "Bibliothek von Babel". Der Erzähler schildert die Bibliothek nicht nur als
ein unergründliches Universum, sondern verweist anläßlich der scheiternden Deutungsversuche
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der Bibliotheksbewohner auch auf die Kontaminationseffekte, die eine solche Welt auf
diejenigen ausübt, die sich nitgedrungen auf sie einlassen.
"El universo (que otros llaman la Biblioteca) se componte de un número indefinido, y tal
vez infinito, de galerías hexagonales, con vastos pozos de ventilación en el medio,
cercados por barandas bajísimas. Desde cualquier hexágono se ven los pisos inferiores y
superiores: interminablemente. […] La luz procede de unas frutas esféricas que llevan el
nombre de lámparas. […] La luz que emiten es insuficiente, incesante."
"Das Universum (das andere die Bibliothek nennen) setzt sich aus einer unbegrenzten und
vielleicht unendlichen Zahl sechseckiger Galerien zusammen, mit weiten
Entlüftungsschächten in der Mitte, die mit sehr niedrigen Geländern eingefaßt sind. Von
jedem Sechseck aus kann man die unteren und oberen Stockwerke sehen: ohne ein Ende.
[…] Licht spenden ein paar kugelförmige Früchte, die den Namen ‘Lampen’ tragen. […]
Das Licht, das sie aussenden, ist unzureichend, unaufhörlich." (Die Bibliothek von Babel)
Das aus der romantischen Piranesi-Literatur bekannte Motiv der spiraligen Treppe wird explizit
mit dem Bild des Abgrunds verknüpft.
"A izquierda y a derecha del zaguán hay dos gabinetes minúsculos. Uno permite dormir
de pie; otro, satisfacer las necesidades finales. Por ahí pasa la escalera espiral, que se
abisma y se eleva hacia lo remoto […]"
"Links und rechts am Gang befinden sich zwei winzigkleine Kabinette. In dem einen
kann man im Stehen schlafen, in dem anderen seine Notdurft verrichten. Hier führt die
spiralförmige Treppe vorbei, die sich abgrundtief senkt und sich weit empor erhebt." (Die
Bibliothek von Babel)
Räumliche und psychische Abgründe
Spiegelungsbeziehungen zwischen räumlichen und psychischen Abgründen finden sich in der
romantischen und nachromantischen Literatur in vielen Varianten gestaltet. Wenn in Edgar Allan
Poes "The Fall of the House of Usher" (1839) zuletzt das Haus der soeben ausgestorbenen
Ushers in sich zusammenstürzt und ein dunkler Teich sich über seinen Trümmern schließt, so
bespiegelt sich in diesem physischen Zusammenbruch der mentale Kollaps des Roderick Usher,
dessen überspannte Phantasien ihn zu Lebzeiten in Räume tief unter der Erde entführt hatten.
Zentrales und handlungsbestimmendes Motiv sind Abgründe vor allem in "The Pit and the
Pendulum" (1843) und in "A Descent into the Maelström" (1841). Im ersten Fall ist der Abgrund,
in den der Protagonist und Ich-Erzähler zu stürzen droht, ein unermeßlich tiefer Brunnen in
einem Kerker der Inquisition; die ‚abgrundtiefe’ Bösartigkeit dieser Institution findet sich in der
Tiefe des Lochs, aus dem klebrige Dünste aufsteigen und das wie ein Hölleneingang wirkt,
zugleich metaphorisch und metonymisch konkretisiert. Die gefahrvolle Schiffreise des
"Maelström"-Erzählers führt ihn in einen temporär aus unüberschaubaren Wassermassen
gebildeten Trichter, einen Strudel, der schon viele Opfer verschlungen hat, manches aber auch
wieder frei gibt (so den Erzähler). Aus beweglicher flüssiger Materie gebildet, gigantisch, dabei
selbst in ständige, Wandel begriffen, ist der Maelström in mehr als einer Hinsicht Inbegriff des
Unermeßlichen. Wie andere Extremschauplätze einer zutiefst fremden Natur auch, verweist er
auf die Begrenztheit menschlicher Kräfte und Kompetenzen, welche schon die bloße
Selbstabgrenzung gegen das Fremde als aussichtslos erscheinen läßt. – Die von Howard Philipps
Lovecraft geschilderten Abgründe sind dem Bildarsenal Poes verpflichtet. Sie stehen
metonymisch für eine Welt, die dem Menschen unwiderruflich fremd, unauslotbar und im
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qualitativen wie im quantitativen Sinn inkommensurabel ist. Der letztlich endlose Weg in
räumliche Tiefen gestaltet sich vielfach zugleich als Rückweg in die ‚Abgründe’ der Zeit (vgl.
etwa "The Rats in the Walls", 1924).
Der Sog des Unergründlichen. Variationen abgründiger Orte
In Bildern des Abgründigen bespiegelt sich das Unergründliche auch dort, wo kaum mehr
Reminiszenzen an natürliche Landschaften oder Meere vorliegen. In rein metaphorischem, an
keinerlei Raumvorstellung mehr gebundenen Sinn spricht Goethes Werther in einem Brief an
Wilhelm von der Zukunft als einem Abgrund. Um Halt ringend beschreibt er am 15. November,
nicht lange vor seinem Tod, die eigene Gegenwart als einen "schreckliche(n) Augenblick, da
mein ganzes Wesen zwischen Sein und Nichtsein zittert, da die Vergangenheit wie ein Blitz über
dem finsteren Abgrunde der Zukunft leuchtet, und alles um mich her versinkt, und mit mir die
Welt untergeht." ("Die Leiden des jungen Werther", 1774, "Am 15. November").
Mephistopheles führt im Ersten Akt von "Faust II" (1773–1831) den Titelhelden in eine "Finstere
Galerie" und weist ihm von dort aus den Weg zu den Müttern.
"MEPHISTOPHELES.
Schaudert's dich?
FAUST. Die Mütter! Mütter! – 's klingt so wunderlich!
MEPHISTOPHELES.
Das ist es auch. Göttinnen, ungekannt
Euch Sterblichen, von uns nicht gern genannt.
Nach ihrer Wohnung magst ins Tiefste schürfen;
Du selbst bist schuld, daß ihrer wir bedürfen.
FAUST.
Wohin der Weg?
MEPHISTOPHELES.
Kein Weg! Ins Unbetretene,
Nicht zu Betretende; ein Weg ans Unerbetene,
Nicht zu Erbittende. Bist du bereit? –
Nicht Schlösser sind, nicht Riegel wegzuschieben,
Von Einsamkeiten wirst umhergetrieben.
Hast du Begriff von Öd' und Einsamkeit?" (Faust II, 6216–6227)
Als Faust daraufhin andeutet, er habe ja doch schon einiges erlebt, bedeutet ihm Mephisto, das,
was ihn nun erwarte, sei damit aber doch nicht so recht vergleichbar.
"MEPHISTOPHELES.
Und hättest du den Ozean durchschwommen,
Das Grenzenlose dort geschaut,
So sähst du dort doch Well' auf Welle kommen,
Selbst wenn es dir vorm Untergange graut.
Du sähst doch etwas. Sähst wohl in der Grüne
Gestillter Meere streichende Delphine;
Sähst Wolken ziehen, Sonne, Mond und Sterne –
Nichts wirst du sehn in ewig leerer Ferne,
Den Schritt nicht hören, den du tust,
Nichts Festes finden, wo du ruhst." (Faust II, 6239–6248)
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Das Bild eines Ichs, dem keine bleibende Stätte gegeben ist, kein Ort der Ruhe, kein fester Punkt,
keine Heimat, kein ‚Grund’, findet sich in der Literatur um und nach 1800 vielfach variiert. So
etwa heißt es in der dritten Strophe von Hölderlin: "Hyperions Schicksalslied", anschließend an
die Evokation des friedfertigen, lichtumfluteten, zeitentrückten Lebens von "Himmlischen" und
"Genien":
"Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahr lang ins Ungewisse hinab." (1797/98)
Klippen, Erdspalten und Krater (wie in Hölderlins "Tod des Empedokles", 1797–1799),
Gebirgsschluchten, Gletscherspalten und andere Abgründe in erhabenen Gebirgslandschaften
(vgl. George Gordon Lord Byron: "Manfred", 1817) sowie die unauslotbaren Tiefen von Meeren,
Flüssen, Seen und Brunnen bieten die wichtigsten Motivkomplexe, in denen sich Erfahrungen
des ‚Abgründigen’ spiegeln.
Bei Büchner wird der Mensch selbst zum Abgrund deklariert. "Jeder Mensch ist ein Abgrund; es
schwindelt einem, wenn man hinabsieht." So bemerkt Woyzeck zu Marie (Szene: "Straße.
Hauptmann. Doktor. Hauptmann keucht die Straße herunter, hält an; keucht, sieht sich um.")
Und Paul Celan bemerkt in seiner Büchner-Preisrede ("Der Meridian") unter Verweis auf
Büchners Lenz (über den es heißt: "[…] nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf
dem Kopf gehn konnte"): "[…] wer auf dem Kopf geht, der hat den Himmel als Abgrund unter
sich" (Celan, III 195).
Auch andere eigenwillige Modifikationen des Abgrund-Motivs finden sich in der Literatur des
20. Jahrhunderts. So wird das "Aleph" bei Borges, ein die Grenzen des Vorstellbaren
sprengender Punkt, an dem alle möglichen Dinge sich dem Blick gleichzeitig darbieten, in
Orientierung an literarischen Abgrund-Topoi beschrieben – und zum Anlaß genommen, über die
Grenzen des sprachlich Darstellbaren zu reflektieren. Das Aleph ist der "Mikrokosmos der
Alchimisten und Kabbalisten", ein Punkt, in dem die ganze Welt sich spiegelt – "[…] der Ort, an
dem, ohne sich zu vermischen, alle Orte des Erdenrunds sind, von allen Ecken aus gesehen […]"
(Borges, Das Aleph). Es befindet sich an einer Stelle im Keller eines argentinischen Hauses, aber
wer es sieht, sieht alle Dinge der Welt gleichzeitig. Hier ist alles auf einen einzigen Raum- und
Zeitpunkt konzentriert. Die explizit sprachkritischen Reflexionen des Erzählers betreffen vor
allem die Notwendigkeit, Beschreibungen linear und chronologisch – als Aufzählungen, als
Reihungen – anzulegen, was aber dem Aleph nicht gerecht werden könne. Denn das Aleph ist
nichts Zeitliches, da es – als das schlechthin Unendliche – auch die Zeit in sich enthält. Über die
Begegnung mit diesem Aleph schreibt der Erzähler:
"Hiermit komme ich zum unaussprechlichen Kernpunkt meiner Geschichte. Hier hebt
auch für den Schriftsteller das Verzweiflungsvolle seiner Aufgabe an. Alles, was sich
Sprache nennt, ist ein Alphabet aus Symbolen, deren Verwendung die Teilnahme der
Sprechenden an einer Vergangenheit voraussetzt; wie aber soll man den anderen das
unendliche Aleph mitteilen, das mein schauderndes Gedächtnis nur mit Mühe umspannt?
Die Mystiker helfen sich in einer ähnlichen Klemme mit einer Fülle von Emblemen; um
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die Gottheit zu bezeichnen, spricht ein Perser von einem Vogel, der gewissermaßen alle
Vögel ist; Alanus ab Insulis von eine einem Kreis, dessen Mittelpunkt überall, dessen
Umfang aber nirgendwo ist; Ezechiel von einem Engel mit vier Gesichtern, die
gleichzeitig nach Osten und Westen, nach Norden und Süden gekehrt sind. […] Vielleicht
würden auch mir die Götter den Fund eines einschlägigen Bildes nicht versagen, aber
dieser Form der Mitteilung würde etwas Literarisches, etwas Falsches anhaften. Überdies
ist das Kernproblem unauflöslich: die Aufzählung, wenn auch nur die teilweise, eines
unendlichen Ganzen. In diesem gigantischen Augenblick habe ich Millionen
beglückender und gräßlicher Vorgänge gesehen; am meisten war ich darüber erstaunt, daß
sie alle in demselben Punkt stattfanden, ohne Überlagerung und ohne Transparenz. Was
meine Augen schauten, war simultan; was ich beschreiben werde, ist sukzessiv, weil die
Sprache es ist."
Zumindest auf den ersten Blick beruhigend wirkt demgegenüber die Gelassenheit, mit der ‚Raoul
Tranchirer’, der von Ror Wolf erfundene Lexikograph und Verfasser einer mehrbändigen
"Enzyklopädie für unerschrockene Leser" mit dem Lemma "Abgrund" umgeht: Zwar malt er dem
Leser aus, was passieren kann, wenn man sich Abgründen nähert, aber er scheint zunächst die
Vermeidbarkeit der Gefahrensituation zu suggerieren. Bedenkenswert ist aber, daß an dieser
Stelle statt einer spezifischen Schilderung oder Kommentierung des Abgrunds der Bericht
darüber folgt, daß der Spaziergänger in diesen hineinstürzt – so, als lasse sich am Ende doch
nichts dagegen tun:
"Abgrund. Es ist gefährlich, zur Zeit eines Sturmes an einem Abgrund entlangzugehen.
Ein unvermuteter Windstoß kann den Spaziergänger aus dem Gleichgewicht bringen oder
ihm unversehens den Hut vom Kopf wehen. Der Spaziergänger will danach greifen, er
stolpert,. rutscht aus, fällt hinab und verliert am Ende das Leben. Es wird in diesem Fall
nicht darauf ankommen, was danach passiert." (Ror Wolf: Raoul Tranchirers vielseitiger
großer Ratschläger für alle Fälle der Welt Überarb. Neuauflage Frankf./M.1999. Lemma
"Abgrund", 14)
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